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BEILE RATUT

DAS SCHWARZE BUCH DER GIER

Roman

 

 

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Gewidmet den während des 2. Weltkriegs in Pärnu, Estland, ermordeten jüdischen Kindern:

 

Nossan Bell
Blume Birnik
Leie Bloch
Mirjam Bloch
Feige Bub
Sara Bub
Josi Goldberg
Liia Goldberg
Rena Goldberg
Hirsch Gorfinkel
Esther Haitov
Rahel Haitov
David Hirschfeldt
Irene Hirschfeldt
Renate Hirschfeldt
Etel Klein
Peisach Klein
Dvoina Kuschner
Taube Kuschner
Desi Levin
Joseff Levin
Lea Margolius
Meri Margolius
Riva Margolius
Zilla Margolius
Abram Pavlovski
Aron Pavlovski
Shjene Permand
Riva Permand
Daniel Salkind
Rosa Salkind
Sara Salkind
Ette Smiloi
Jakob Smiloi

Der Schmerz ist die überfließende Fährte
in einer Welt der Gleichgültigkeit.

1 
BESUCHER

Wir Menschen erzählen einander Geschichten. Wir tun das, weil wir dadurch zueinanderfinden. Wir erzählen Geschichten, weil zwei Menschen durch sie etwas vor Augen haben, das sie verbindet.

Unsere eigene Geschichte erzählt davon, wie sich Freundschaften und Niederlagen, Liebe, Meisterzüge und Fehltritte ereignet haben. Es ist auch unsere Geschichte, dass der Held in einem Film zu Boden geht, am Ende aber siegt. Es ist unsere Geschichte, wie Kinder in einem Märchen dem bösen Zauberer entkommen und wie unsere Vorfahren Notzeiten und Kriege überlebten. Wir erzählen davon, was uns berührt, fasziniert und aufwühlt und was uns widerfahren ist. Etwas, wodurch wir wurden, wer wir sind.

Wenn man erzählt, dann tut man es, weil man glaubt, dass es etwas enthält, das wahr ist. Etwas, das über uns hinausragt und bleibt, etwas, das uns sagt, wer wir wirklich sind. Wenn man eine Geschichte anhört, dann tut man es, weil man sich danach sehnt, an etwas teilzuhaben, das größer ist als wir selbst.

Eine Geschichte kommt aus dem Inneren des einen Menschen und berührt das Innere eines anderen Menschen. Doch das Innere eines Menschen bleibt ein Geheimnis. Die Geschichten, meine Geschichte bleibt ein Geheimnis. Wer hält denn inne, um einem Menschen zu begegnen, der ihm nichts nützt, und sei es nur einen Augenblick, um ihm eine Frage zu stellen, deren Antwort er nicht schon längst vorweggenommen hat? Wer wendet sich einem Fremden zu? Einen Augenblick nur.

Ein Lächeln. Erkennen.

Ewigkeit.

Ich sitze in einem kleinen Raum, weit fort von den Orten, an denen ich gelebt habe. Draußen höre ich das Rauschen des Waldes. Gleich wird es regnen. Gleich wird die Nacht kommen, am Himmel ist der zinnoberrote Schein.

Ich bin eine zurückhaltende Frau. Wenn ich einen Raum betrete, blickt keiner auf. Ich habe schöne Augen und einen klaren, ruhigen Blick, der die Menschen anerkennt. Doch das ist kaum je einem aufgefallen, denn sie achten auf die Frauen, die um ihre Aufmerksamkeit buhlen, nicht auf ein Wesen wie mich.

Ich bin weder durch meine Erscheinung noch durch meine Aufgaben besonders aufgefallen. Habe ich Wert darauf gelegt aufzufallen? War mir daran gelegen, gesehen zu werden? Mir war nicht einmal daran gelegen, dass man sich an mich erinnert. Vielleicht bin ich eine langweilige Person, aber wer kann das schon beurteilen? Ich habe mir nie etwas aus Komplimenten gemacht, und wer glaubte, mich durch lobende Worte auf seine Seite ziehen zu können, täuschte sich.

Wer aber sollte auf den Gedanken kommen, mich auf seine Seite ziehen zu wollen? Wem hätte meine Freundschaft etwas nützen können? Ich habe nie über Einfluss oder Besitz verfügt. Was ich besaß, reichte für ein anspruchsloses Leben. Mehr wollte ich nicht.

Ich bin eine Frau, die anderen Menschen den Vortritt lässt und nicht an der Krankheit leidet, zu Wort kommen zu müssen. Ich bin klein, von zierlicher Statur. Mein Gesicht ist schmal, und meine Wangen sind immer ein wenig blass gewesen. Obwohl mein Herz still bleibt, erröte ich, wenn man mich beleidigt. Ich habe mir immer gewünscht, dass der Frieden mein ganzes Sein einnehmen und meinen Körper bedecken würde, doch ich habe erkennen müssen, wie verwundbar ich bin und wie schnell die mich umgebenden Bollwerke einstürzen können.

Ich fürchte mich immer noch vor bösen Menschen, obwohl ich weiß, dass ich mich nicht fürchten muss. Ich habe mich ein Leben lang gefürchtet und mit der Furcht gelebt. Wie dumm von mir, mich aufzugeben, nur weil mein Körper sterblich ist.

Heute bin ich in Sicherheit, aber ich kann die Furcht spüren. Sie ist wie ein Gift, das seine Wirkung verloren hat. Doch in all den Jahren hat sie sich an mir festgekrallt. Sie hat sich an mir gesättigt. Wenn ich es zulasse, meldet sie sich zu Wort. Sie drückt meinen Magen und tippt frech gegen mein Herz. Dann spüre ich Übelkeit und Enge, Schweiß bricht mir aus. Doch ich lasse die Furcht nicht mehr zu.

Wir leben in den letzten Stunden der Geschichten. Sie könnten uns verbinden, doch sie erlöschen. Die Geschichten, die uns helfen zu erkennen, wer wir wirklich sind, werden madig. Sie stören und irritieren. Bald wird es nur noch Geschichten geben, die uns zeigen, wer wir gerne sein wollen. Geschichten, die uns erklären, dass unser Wollen richtig ist, egal, was es will.

Der Körper aber. Er hat seine eigene Geschichte. Er erinnert sich an alles, was geschehen ist, an Berührungen und Schrecken, an Anstrengungen und Freuden. Er erinnert sich an das Leben unserer Vorfahren. Die Geschichte meiner Mutter, die Geschichte meines Vaters und die Geschichte all der Menschen, die vor ihnen waren: Heimlich leben sie in mir weiter. Wie sonst könnte ein einziges Leben wie das meine so ausgefüllt sein? In meinem Körper ist alles. In meinem Leben hallen die glücklichen Momente und die Irrtümer meiner Vorfahren wider. Alles ist da, alles wird weitergegeben, die Liebe, aber vor allem die Lieblosigkeit. Es sind die Verstöße und die Verletzungen, die Fehltritte und die Entgleisungen, die mir die Freiheit verwehren. Sie halten mich in einer dubiosen Bindung, die ich nicht erkennen kann, solange ich sie für ein natürliches Erbe halte. Doch ich habe mich aus der Umklammerung befreit.

Die Furcht lässt die Dinge anders erscheinen, als sie wirklich sind. Ich aber kann meine Hände in den Schoß legen und die Furcht in Empfang nehmen wie einen ungebetenen späten Gast. Ich schaue ihn an. Ich sehe, er ist mein vertrauter Begleiter. Wir kennen uns schon lange, fast mein ganzes Leben, seit ich sechs Jahre alt bin. In all den Jahren war er oft bei mir. Meist kam er unangemeldet, doch es gab auch Jahre, da schickte ich nach ihm. Meist blieb er nur wenige Augenblicke, manchmal auch einige Stunden oder einen halben Tag. Aber es gab Zeiten, da lebte er bei mir. Er hatte sich meine Freundschaft erschlichen. Dieser ungebetene Gast wusste alles über mich, über mein Herz, über meine Familie, er wusste mehr als ich selbst, und dieses Wissen benutzte er gegen mich. Er ist ein findiger Zuhörer. Doch er hat mich unterschätzt. Denn ich bin eine noch viel findigere Zuhörerin. Ich kenne seine Schliche. Ich habe ihn beobachtet, ich habe ihn erforscht. Ich habe aus seinen Schritten gelernt und bin über ihn hinausgewachsen.

Auch heute empfange ich ihn, ich mache ihm keine Vorhaltungen. Wenn er mich besucht, ist es, wie wenn man sich alte Fotografien ansieht. Er bleibt einen Augenblick, erkennt, dass er seinen Einfluss verloren hat. Dann geht er seines Weges, denn er weiß, dass es unzählige Menschen gibt, die ohne ihn nicht leben wollen. Vor verschlossenen Türen bleibt er gewiss nicht stehen.

Es ist Nacht geworden. Feiner Regen weht gegen mein Fenster. Die tiefe Stimme eines Vogels ruft. Ich schließe das Fenster, durch das der Geruch des Waldes hereinströmt. Es ist schon kalt. Der Sommer hat sich wacker gehalten, doch seine Tage sind gezählt.

Im Haus ist es still. Dennoch höre ich ihn, er hat die Tiere versorgt und mein Fahrrad gerichtet. Nun fegt er den Kamin aus und bereitet Tee. Er schiebt den Riegel vor, weil ich ihn darum gebeten habe. Doch es gibt keinen Grund dafür. In tausend Jahren hat es in diesem Landstrich keinen Anlass zur Sorge gegeben. Nicht einmal der letzte große Krieg hatte diese Region erfasst. Die Gewalt macht einen weiten Bogen um die riesigen, feuchten Wälder und den langen, zähen Winter. Der Sommer ist zu kurz, um Gier zu wecken, und die Menschen sind zu ehrfürchtig und leben zu verstreut, um einander gefährlich zu werden.

Eines Tages werde ich es ihm sagen. Ich werde ihm sagen, dass es nicht mehr nötig ist, die Tür zu verriegeln. Dass es keinen Grund zur Furcht mehr gibt. Er wird sich darüber freuen.

Unser Haus ist klein und einfach. Wir holen Wasser von dem Brunnen am Waldrand und waschen uns in der Küche. Wir haben Ziegen, Schafe und Gänse. Einmal in der Woche kommt ein Wagen vorbei und verkauft uns Eier, Papier, Seife und was wir sonst zum Leben benötigen. Es ist ein gleichmäßiges Leben in der Stille, das mir bekommt.

Von der körperlichen Arbeit bin ich kräftiger geworden, meine Haut hat Farbe bekommen. Ich arbeite härter als je zuvor. Am Abend bin ich erschöpft, doch diese Erschöpfung ist eine Form der Zufriedenheit. Wenn ich mich nicht um die Tiere oder den Garten kümmere, brenne ich Kacheln, die ich einmal im Monat in der nächsten Stadt auf dem Markt verkaufe. Inzwischen schätzen die Menschen meine Kacheln. Sie sind nicht perfekt, weil ich sie mit der Hand fertige und bemale. Sie sind wie das Leben eines Menschen: brüchig, uneben, einzigartig, jede auf ihre Weise schön. Ich werde kein Vermögen daran verdienen, doch von den Einnahmen kann ich mir die Dinge leisten, die wir uns sonst nicht leisten könnten.

Das Haus ist mein Heim, der Landstrich meine Heimat. In diesem Haus lebe ich, und wer mich besucht, der ist mein Gast. Ich lasse nicht mehr zu, dass Fremde kommen, um in meinem Herzen Unruhe zu stiften.

Als wir kamen, war das Haus in einem heruntergekommenen Zustand. Er zeigte großes Geschick darin, das Dach zu reparieren, die Wände abzudichten und zu streichen, die Fenster zu verglasen und alles in einen reinlichen Zustand zu versetzen. Seine Fertigkeit verwundert mich. Gleichzeitig schäme ich mich, wie sehr auch ich voreingenommen war.

In der Gegend ist er beliebt. Die Leute urteilen anders über ihn. Er repariert die Traktoren der Bauern, geht ihnen bei der Ernte zur Hand und ist ihnen bei allem behilflich, was sie aus eigener Kraft nicht schaffen. Er kümmert sich um die Papiere der Händler, führt ihnen die Bücher, räumt die Ware in die Regale und bessert die Dreiräder ihrer Kinder aus. Die Leute mögen ihn, weil er anspruchslos, freundlich und zuverlässig ist. Er spricht nicht viel, darum stört er sie auch nicht.

Auch ich störe sie nicht. Ich verlasse selten das Grundstück, das sich vom Steinbruch bis hin zur Landstraße erstreckt. Einmal kam es zum Streit, weil die Leute glaubten, ich würde ihnen einige ihrer an das Grundstück gebundenen Nutzungsrechte streitig machen. Sie nahmen an, dass die Eindringlinge sich über sie erheben würden, doch das taten wir nicht. Wir bekamen einen angriffslustigen Brief von der Gemeindeverwaltung. Ich antwortete ihnen mit einem Schriftstück, das ihre Nutzungsrechte bestätigte.

Auf dem Markt duldet man mich, denn keiner in dieser Gegend fertigt Kacheln wie ich. Ich mache niemandem etwas streitig. In einigen Ferienhäusern und im Haus einer wohlhabenden Familie am See habe ich die Küche und das Bad mit Kacheln ausgestattet. Ich verlange nicht viel, doch die einfachen Leute tun sich schwer, bei mir zu kaufen.

Aber ich habe Zeit.

Eines Tages werden sie ihre Scheu verlieren und zu mir kommen.

Es ist kurz nach sieben. Er wird heute ohne mich essen. Ich bin müde, ich habe keinen Hunger. Ich werde ihm später beim Tee Gesellschaft leisten. Den ganzen Tag war ich im Garten und habe mich um die Tiere und die Pflanzen gekümmert. Das Laub der Bäume beginnt sich zu verfärben. Am Himmel waren Vogelschwärme, die in den Süden flogen. Die wenigen Urlauber sind längst verschwunden.

Ich bin ohne Gepäck hier eingetroffen. An Erinnerungsstücken besitze ich nichts mehr. Wenn ich darüber nachdenke, ob es ein Musikstück oder ein Buch gibt, das mir fehlt, dann bemerke ich, dass ich das Interesse daran verloren habe. Ich brauche nicht mehr viel zum Leben. Ich habe die Welt, die ich in mir trage. Ich habe die Vögel, die mich morgens wecken, den Duft des Gartens, der mich durch den Tag begleitet, die kühlen, stillen Herbstabende, die langen Wintermonate, in denen ich mich an den Kristallen erfreue, die das Küchenfenster zieren. Wenn der Frühling kommt, jubelt mein Herz. Das erste zarte Grün des Waldes ist jedes Jahr wie eine Erweckung. Es ist, als ob ein lange Vermisster heimkehrt.

An der Welt aber, die man gemeinhin Welt nennt, habe ich kein Interesse mehr. Vielleicht habe ich zu oft erlebt, dass man mein Leben aus der Warte der Bildung, vordringlicher Notwendigkeiten und der Überlegenheit sprachlichen Geschicks abgeschmettert hat. Meine Geschichte ist madig. Sie stört und irritiert. Aber sie erlischt nicht, weil man sie nicht hören will.

Ich habe es jedoch erlebt. Ich habe gesehen, mit welcher Schärfe man gegen mich angeht, weil ich sehe, was ich sehe, fühle, was ich fühle, und bin, was ich bin. Ich habe das Vertrauen in Worte verloren. Ich lese keine Bücher und keine Zeitungen. Aber wenn ich Besuch habe, lese ich in den Gesichtern.

Wir leben in den letzten Stunden der Geschichten. Sie könnten uns verbinden, doch sie erlöschen. Bald wird es nur noch Geschichten geben, die uns zeigen, wer wir gerne sein wollen. Geschichten, die uns weismachen, dass unsere Absichten nicht zu beanstanden sind, ganz gleich, worauf sie zielen. Doch ich schaue hinter die Absichten. Ich sehe einen Menschen. Ich sehe das Geheimnis. Ich nehme wahr, in welcher Verfassung mein Gast ist. Ich spüre, wenn Dunkelheit sein Inneres einnimmt und Ärger ihn überfällt, auch wenn er davon nicht spricht. Ich erkenne sein Misstrauen, auch wenn seine Stimme freundlich ist und seine Worte den Anschein erwecken, meinem Besucher ginge es gut. Ich bin kein Kind mehr. Ich bin eine Frau, man kann mich nicht mehr irreführen. Man kann mich nicht mehr in Misshelligkeiten verwickeln, die nicht die meinen sind.

Vielleicht hat man mir deshalb Hochmut zum Vorwurf gemacht. Wie sonst kann man auf diesen Gedanken kommen?

Zwischen den Menschen geschehen eigenartige Dinge. Ich habe mich immer verantwortlich gefühlt für das, was geschieht. Aber es gibt Dinge, die entziehen sich meiner Verantwortung. Es gibt Begegnungen, in denen man nur unwissentlich das Reizwort nennt, und der andere gerät insgeheim außer sich. Trägt man dann die Verantwortung für ihn, nur weil man an seiner Seite ist, ihn wahrnimmt, seine Angst spürt? Weil man sieht, wie sein Blick dunkel wird und er sich in Worten windet, obgleich er sich den Anschein von Gelassenheit gibt?

Ich bin nie ein Mensch gewesen, der andere in die Falle ihrer verqueren Emotionen lockt. Ich tadele keinen, weil er schwach und verwundbar ist. Bin ich es doch selbst.

Wäre ich es vielleicht nicht, wenn meine Geschichte anders verlaufen wäre? Wäre ich geworden wie die vielen Menschen, denen ich begegnet bin, wenn es diesen einen Tag nicht gegeben hätte? Wenn die Ereignisse dieses Tages nicht geschehen wären?

Warum erzähle ich meine Geschichte? Warum gab es diesen einen Tag?

Die Ereignisse dieses Tages liegen viele Jahre zurück. Vieles, was sich danach ereignet hat, habe ich vergessen, doch an diesen Tag erinnere ich mich.

Von der kleinen Kammer hinter der Küche, in der ich schlief, konnte ich sehen, wie unser Vater einen verstohlenen Kuss auf Mutters Wange gab. Er trug eine feine blaue Hose, dazu grobe weiße Strümpfe. Mutter schimpfte deshalb mit ihm. Im Badezimmer roch es nach Wacholder. Am Mittag gab es Kartoffeln mit Quark. Ich weiß noch, dass Mutter ihre Schlüssel verlegt hatte und überall im Haus danach suchte. In Vaters Arbeitszimmer konnte man zwischen den Seiten der ausgelesenen Zeitungen und in den aufgeschlagenen Akten noch seine Nähe spüren. Im Zimmer meines Bruders lagen seine schmutzigen Strümpfe und die Schulbücher herum, unten im Treppenhaus standen seine Rollschuhe. An der Hauswand lehnte sein Fahrrad.

Es war Frühling, der Himmel war blau, und durch die Fenster fiel zitronengelbes Licht.

2 
VERÄNDERUNGEN

Unsere Eltern waren nicht reich, aber es fehlte an nichts. Unser Vater besaß einen kleinen Handelsbetrieb in der Stadt. Mutter war Bäuerin. Wir hatten etwas Land und nur noch wenige Tiere. Mutter arbeitete hart. Viel mehr als unser Vater. Sie war eine lebhafte, robuste Frau, die sich vor nichts und niemand zu fürchten schien. Unser Vater wirkte neben ihr immer ein wenig befangen, wie einer, der sich seiner Geschichte nicht bewusst ist. Dabei war er es, der Mutter vor langer Zeit als seine Braut aus der Fremde zu sich in die kleine Stadt geholt hatte, in der jeder ihn, seinen Vater und seinen Großvater kannte und wusste, dass es sich um eine achtbare Familie handelte.

Unser Vater hätte auf seine Geschichte stolz sein können. Seine Familie hatte in der kleinen Stadt einige Häuser errichtet, die nun unter Denkmalschutz standen. Sie waren fleißig und großzügig gewesen und hatten den Menschen Wohlstand gebracht. Das Geburtshaus unseres Vaters beherbergte nun das Landesmuseum, und in den Sommermonaten gingen dort Urlauber ein und aus. Doch unser Vater war ein bescheidener Mann.

Wir lebten in einem kleinen Haus am Stadtrand. Der Garten grenzte an eines der Felder, die Mutter bewirtschaftete. Vor dem Haus stand ein Ahornbaum. Vom Dachboden, auf dem wir spielten, konnte man in den dichten Schopf des Baumes sehen. Dann sahen wir Vögel, Insekten und Eichhörnchen. Im Sommer stand der Baum in vollem Laub, und an den Abenden, bevor wir einschliefen, konnten wir unten im Garten das Flüstern der Gnome hören. Tante Merete, Mutters Schwester, hatte uns von den Gnomen erzählt, die nachts aus ihren Höhlen kommen und in den Gärten der Menschen nach dem Rechten sehen.

Wir glaubten nicht an Märchen. Man hatte uns schon früh für alles eine nüchterne Erklärung gegeben. Wir wussten, welche Gesetze in der Natur herrschten. Wir wussten, weshalb der Wind blies, weshalb der Himmel blau war und woher der Regen kam. Wie die Arten der Tiere und Pflanzen sich entwickelten, hatten wir von Herrn Daum aus der Bibliothek erfahren, und wie Jungtiere und Kinder entstanden, hatte Mutter uns erklärt. In unserem Elternhaus gab es für alles eine nüchterne Erklärung, und wenn man sie nicht kannte, schaute Mutter in einem Buch nach.

Tante Merete roch süß wie der Honig, den der knorrige Herr Altenburger seinen Bienen stahl und uns brachte. Ihre Stimme war tief und melodisch, anders als Mutters Stimme, in der kein Platz für Geheimnisse war. Tante Merete war groß und schlank und bewegte sich wie eine Tänzerin. Sie arbeitete als Näherin in einer großen Fabrik. Sie hatte nie geheiratet. Aber wenn sie mit uns allein war, erzählte sie uns von der Liebe, für die es keine Erklärungen und keine Bedingung gibt. Sie erzählte uns von den Menschen, zerrissen zwischen dem Guten und dem Bösen. Und von den Gnomen, die von Dingen wissen, die den Menschen verborgen sind.

Tante Merete lachte, dann schwieg sie. Draußen dämmerte es. Ein fremder Vogel rief. Das Fenster war geöffnet. Wir waren so voller Aufmerksamkeit, dass wir unterhalb des Fensters Geräusche hörten. War es der Wind, der nach dem Baum fasste? Ein Tier, das in die Zweige kletterte?

Wir wollten zum Fenster hinübereilen, um nachzusehen, aber Tante Merete lächelte, schüttelte den Kopf: „Es ist nicht gut, nach den Gnomen zu sehen. Sie sind dort und beobachten uns. Sie wissen mehr, als wir uns vorstellen können. Aber wir dürfen sie nicht stören. Das haben sie nicht gerne.« Dann sprach sie von anderen Dingen. Von der Kuh, die ihre Nachbarin gekauft hatte und um deren Namensgebung im Nachbarhaus eine Woche lang gestritten worden war. Von der langen Reise zu uns, auf der sie mit unzähligen Menschen gesprochen und ihre Geschichten erfahren hatte. Von den Bergen, in denen sie Halt machte, um am Morgen umherzustreifen und, wenn der Frühnebel sich legte, in die Ebene hinabzublicken.

Manchmal nahm unser Vater uns mit in die Berge, wo wir durch die Wälder streiften, in einem Gasthof zu Mittag aßen, auf einer Wiese in der Sonne lagen und spielten. Unser Vater saß auf einer Bank und las in einem Buch, während wir die Gegend erkundeten. Vater sprach nicht viel, aber er hatte immer ein Auge auf uns, deshalb hatte ich nie Angst. Ich tollte mit meinem Bruder durch die duftende Landschaft. Ich wusste, dass Tante Merete mit ihren leichtfüßigen Schritten hier gewesen war, und dieser Gedanke versetzte mich in Aufregung. Es gab versperrte Schächte von aufgegebenen Minen, und in den von Brombeersträuchern umwucherten Felswänden vermuteten wir Höhlen, die noch keiner entdeckt hatte. Mitten im Wald gab es Löcher in der Erde, die so tief waren, dass man den Grund nicht sehen konnte. Wir warfen Steine und Tannenzapfen hinunter und erschraken, weil sie so lange fielen.

Mein Bruder Samuel war ein Junge wie jeder andere auch. Oft machte er sich einen Spaß daraus, Schokolade und Spielzeug aus meinem Versteck zu stehlen. Er hing sehr an Mutter, obwohl er es nicht zeigte. Wenn sie ihn zurechtwies, trotzte er ihr, und sein Gesicht konnte sehr grimmig dreinschauen. Alle sagten über ihn, dass er eines Tages ein stattlicher Mann sein würde. Er war ein kräftiger Junge mit einem einprägsamen, freundlichen Gesicht und einem Blick, der alles zu sehen schien. Er hatte die langen Wimpern unserer Großmutter geerbt, was ihn ein wenig unergründlich aussehen ließ.

Als er in die Schule kam, hatte man von ihm ein Foto gemacht. Es stand neben den anderen Fotos auf dem Sims neben der Küchentür. Es war ein gelungenes Bild, ich bewunderte es. Er hatte lange posieren müssen, hatte gemurrt und sich darüber beschwert. Doch das Ergebnis übertraf alle Erwartungen.

Weil er mein Bruder war, hatte ich große Achtung vor Samuel. Was er mir sagte, glaubte ich. Einmal sagte er, dass mein Foto neben seinem stehen würde, wenn auch ich zur Schule kam. Es würde immer dort stehen, auch wenn wir groß wären und weit voneinander entfernt lebten. Damals konnte ich mir nicht vorstellen, jemals von meiner Familie getrennt zu sein. Ich kannte nichts anderes als unser etwas abseits liegendes Haus. Es war so natürlich, am Morgen vom Duft des Kaffees und dem Klappern des Geschirrs aufzuwachen. Mutter sorgte für uns, sie wusste, was zu tun war. Unser Vater aber betrat die Küche wie ein Gast, als wäre es nicht sein Haus, das er mit seinen eigenen Händen errichtet hatte.

Er war ein stiller Mann, der wenig sprach, der sich ohne viel Auf hebens um seine Familie kümmerte und seine tägliche Arbeit verrichtete. Manchmal, wenn keiner darauf achtete, zwinkerte er mir zu. Dann lachte mein Herz vor Freude, denn ich wusste, dass er mich wahrnahm, auch wenn kein anderer mich sah.

Um die Stufen, die aus der Küche in den Garten führten, hatte Mutter Küchenkräuter gepf lanzt. Oft saß ich im Sommer auf den Stufen, zwischen Salbei, Gamander, Lavendel und Thymian. Ich betrachtete die Bilder in einem Buch oder spielte auf der Holzf löte, die Tante Merete mir mitgebracht hatte, vor langer Zeit, als ich noch nicht sprechen konnte. Manchmal war mein Bruder da und tollte unter den Obstbäumen umher. Seit Samuel aber zur Schule ging, war beinahe unmerklich alles ganz anders geworden. Früher hatte er oft mit mir gespielt, hatte mir geholfen, in die Bäume zu klettern, und im alten Kirschbaum an der Straße mit dem Bau eines Baumhauses begonnen. Der Boden war schon fertig, man konnte dort sitzen und in den Himmel schauen. Früher hatten wir oft gemeinsam dort oben gesessen, Erdbeeren aus dem Wald gegessen und Pläne geschmiedet, was aus uns werden würde.

„Du bist klug, Alba«, hatte er zu mir gesagt. „Du wirst viel lernen. Die Leute werden zu dir kommen, sie werden bei dir sitzen, und du wirst gut zu ihnen sein. Du bist keine Köchin wie Mutter und auch keine Näherin wie Tante Merete. Du bist meine Schwester.« Er sagte es ruhig und bestimmt, er war stolz, und ich staunte über ihn.

Ich selbst war ein zaghaftes Kind, leise wie mein Vater, den ich verstand. Doch Samuel bewunderte ich. Er roch wie ein Junge und konnte sich gebärden wie ein Junge. Manchmal konnte man in ihm bereits den Mann sehen, der er einmal sein würde. Eindringlich, stattlich und gescheit. Er war für mich da, auch wenn er sich seine Fürsorge nicht anmerken ließ. Er begleitete mich, erzählte mir Geschichten und brachte mir Worte bei, die ich noch nicht kannte. Er spielte mit mir und gab auf mich acht.

In der letzten Zeit aber war ich häuf ig allein im Kirschbaum. Morgens war Samuel in der Schule, und an den Nachmittagen wartete ich vergebens auf ihn. Einmal ging ich in den Laden in der Stadt, um für Mutter Waschpulver zu besorgen. Da sah ich ihn in einer Gruppe von Jungen am Brunnenrand sitzen. Er lehnte sich über das Wasser. Licht besprenkelte ihn, er lachte. Dann kam Unruhe in die Gruppe, sie stiegen auf ihre Fahrräder und fuhren rasch in Richtung der Landstraße davon.

Es schmerzte mich zu sehen, wie sich die Welt verändern konnte. Als sei Veränderung etwas, womit man im Leben nicht zu rechnen hatte. Ich glaubte, es würde so weitergehen, würde immer so bleiben: Ich würde vom Flüstern meiner Eltern geweckt, würde Mutter im Haus und bei den Tieren helfen und Vater am Mittag belegte Brote bringen. Ich glaubte, das Leben bestünde aus dem Duft von Kaffee und Wacholder, aus Haferbrei am Morgen, Kartoffeln mit Pilzen am Mittag und duftender Suppe mit grobkörnigem Brot am Abend, aus den Neckereien meines Bruders und dem Zwinkern meines Vaters. Ich glaubte, ich würde ewig im Garten sitzen und immer zu Samuel aufschauen, der mich in seine Arme schloss und dann auf seinem Fahrrad durch die Wälder fuhr.

Was aber war geschehen? Wie konnte es sein, dass unser gleichförmiges Leben so jäh endete?

Eine Woche vor meinem sechsten Geburtstag kündigte sich Tante Merete an. Ich war in heller Aufregung, denn bisher war sie nie zu meinem Geburtstag gekommen, immer nur an Weihnachten, zu Ostern, an Pfingsten, zum Sommerfest und an Erntedank. Zusammen mit Mutter wusch ich die Wäsche für Tante Meretes Bett, füllte bestickte Baumwollbeutel mit Kräutern, damit es in ihrem Zimmer duftete, wir wischten den Boden und putzten die Fenster. Ich schmückte das ganze Zimmer mit Trockenblumen.

Ich durfte sie vom Bahnhof abholen. Von Stolz erfüllt stand ich auf dem Bahnsteig. Ich trug ein neues Kleid.

Der Zug kam und hielt. Ich sah Tante Merete. Und ich sah sofort, dass sich etwas verändert hatte. Doch ich wusste nicht, was es war. Sie lief auf mich zu, nahm mich in ihre Arme und hob mich empor. Ich spürte ihren Duft, ihre Haut an meiner Wange und hörte ihre Stimme, die auf mich einredete. Noch heute weiß ich, wie ihre Umarmung sich anfühlte, wie der Lärm des Zuges und der Menschen um uns herum in die Ferne rückten. Ein Kuss. Ein melodisches Wort. Ein Lächeln.

Der Himmel ist blau, keine Wolke ist zu sehen. Auf dem Dach über uns sitzt eine fleckige Taube und gurrt.

Hand in Hand gingen wir die Straße entlang zu unserem Haus.

„Die Leute sagen, das Gegenteil von Liebe ist der Hass …«, hörte ich Tante Merete sagen. Ihre Stimme klang brüchig.

„… aber das stimmt nicht.“

Ich blickte zu ihr empor. An der Böschung blühten Gänseblümchen. Während ich sie pflückte, stand sie da und betrachtete mich mit einem Blick, den ich nie zuvor an ihr gesehen hatte.

„… das Gegenteil von Liebe ist Gier … ja, es ist Gier …“

Ich fühlte mich beklommen, erzählte von dem Igel, der im Gestrüpp am Rand unseres Gartens lebte, von den Eichhörnchen und den Singdrosseln, die durch unser Küchenfenster schauten. Tante Merete neigte die Stirn und hörte zu. Schweigend. Geistesabwesend. Etwas war anders, ein Stachel, ein böser Traum, ein erzwungener Kuss. Etwas war fremd, ich spürte es. Meine Freude war unbeschreiblich, doch ich fühlte mich verunsichert.

Tante Merete schien es zu bemerken, sie strich mir über das Haar, wo immer sie mir begegnete, und lobte den Blumenschmuck. Während Mutter die Tiere versorgte, bereitete sie mit mir meinen Geburtstagskuchen zu. Sie erzählte Geschichten, wie sie es immer zu tun pflegte, wenn sie mit uns allein war. Sie brachte mir ein neues Lied und Sprüche bei. Als Mutter den Raum betrat, verstummte sie und fettete die Backform ein, ohne aufzusehen.

Mutter kochte Kaffee, und während sie mit Tante Merete über ihre Familie in der Ferne sprach, lief ich hinaus in den Garten. Ich erklomm den alten Kirschbaum, legte mich flach auf die Holzbretter und lauschte. Es war still. Nur das Dröhnen der Autos drang von der belebten Landstraße im Wald herüber. Ich konnte Vater sehen, der den Weg aus der Stadt zu unserem Haus herüberkam. Ein Hund bellte. Auf dem Dach unseres Hauses ruhte sich ein riesiger schwarzer Vogel aus. Durch das geöffnete Küchenfenster drang Mutters Stimme. Jemand weinte, doch ich konnte mir nicht vorstellen, dass es Tante Merete war. Mutters Stimme klang erbost. Nie hatte ich sie so sprechen hören.

Ich legte meine Wange gegen das Holz, das noch warm war, und lauschte eine Weile. Ich blickte auf, gerade als mein Vater das Haus erreichte und in die Diele trat. Dann wurde es still.

Der schwarze Vogel flog auf und flatterte über mich hinweg. Ich konnte ihn noch lange sehen, so groß war er.

In der Nacht erwachte ich. Zuerst durch die späte Heimkehr meines Bruders. Unsere Eltern hatten lange auf Samuel gewartet und maßregelten ihn in der Diele. Es war zehn Uhr. Ich konnte seine Stimme hören, er hatte mit den Jungen im Wald gespielt und sich nach Einbruch der Dunkelheit verirrt.

Später schreckte ich einige Male aus dem Schlaf auf. Ich wusste nicht, weshalb.

Als ich am nächsten Morgen erwachte, war ich voller Freude. Es war mein Geburtstag, ich war sechs Jahre alt und fühlte mich wie eine Königin. Tante Merete brachte mir Kakao ans Bett. Sie setzte sich zu mir, nahm mich fest in die Arme und drückte mich. Ich lachte und küsste ihre Wange. Ihre Augen waren gerötet. Ich sah es sofort, doch ich wusste nicht, was es bedeutete, was ich hätte sagen können. Ich drückte sie nur, wieder und wieder. Hätte ich sie doch niemals losgelassen.

Meine Eltern kamen herein, dann mein Bruder. Mein Vater trug eine feine blaue Hose mit groben weißen Strümpfen, er wollte zur Arbeit gehen, doch Mutter ließ es nicht zu. Erst als er passende Strümpfe trug, ließ sie ihn gehen. Tante Merete begleitete ihn, denn sie hatte in der Stadt etwas zu erledigen.

An diesem Morgen blieb ich lange im Badezimmer, wusch mich gründlich, betrachtete mein Gesicht im Spiegel. Ich dachte darüber nach, ob ich älter wurde, ob ich wuchs und eines Tages erwachsen sein würde. Oder würde ich immer ein kleines Mädchen bleiben? Ich stand auf einem Hocker vor dem Waschbecken und blickte in den Spiegel. Ich betrachtete meine Wangen, meine Augen, meine Nase und meinen Mund. Sah ich Mutter ähnlich, oder Vater? Oder Tante Merete? Ich posierte und spürte, dass es etwas Wunderbares sein musste, eine Frau zu werden.

Den Vormittag verbrachte ich mit Mutter, wir fegten den Stall aus, setzten Blumen in ein Beet und düngten die Erde. Mutter schnitt einen Strauß Tulpen zurecht. Wir sprachen nicht viel. Sie erklärte mir, was zu tun sei, und lobte meine Arbeit. Wenn ich ihr eine Frage stellte, gab sie mir lächelnd Antwort. Wir saßen in der Küche und wuschen Gemüse. Ich schälte die Kartoffeln und schnitt die Kräuter für den Quark. Als ich fertig war, strich mir Mutter über die Stirn.

„Es ist dein Geburtstag, Alba, geh hinaus in den Garten.“

Aber ich wollte lieber bei ihr sein. Ich saß an ihrer Seite und beobachtete sie. Sie gab mir ein Glas Erdbeermilch, und während ich daran nippte, betrachtete ich sie.

Wir saßen am Mittagstisch. Unser Vater war gekommen, um mit uns zu essen. Tante Merete war auch da. Nur Samuel ließ auf sich warten. Wir waren schon fertig, da kam er den Weg vom Gartentor heraufgestürmt und trat lachend in die Küche. Er hatte einen kleinen Strauß Feldblumen mitgebracht und überreichte ihn mir mit einer galanten Verbeugung.

Mutter wollte ihn für seine Verspätung schelten, aber er strahlte sie an, zuckte mit den Schultern und sagte:

„Zum Abendessen bin ich bestimmt pünktlich … Aber Thomas wartet.“

Damit war er zur Tür hinaus. Er rannte zum Gartentor, wo Thomas stand, und sie radelten davon.

Nach dem Essen zog Tante Merete sich zurück, sie wollte ausruhen. Mutter räumte den Tisch ab, und ich half ihr dabei. Sie bemerkte, dass ihre Schlüssel nicht an ihrem Platz waren, und begann, im ganzen Haus danach zu suchen. Vater suchte auch, doch nach einer Weile verabschiedete er sich, er musste in sein Büro in der Stadt. Ich ging hinaus in den Garten, streunte auf dem Feld und im Wald umher, redete mit den Eichhörnchen, den Vögeln und den Bäumen. Es war ein strahlender Tag, der Himmel war wolkenlos. Kein Wind ging. Ich kletterte in den Kirschbaum und legte mich auf die Holzbretter. Ich schlief ein.

Als ich wieder erwachte, stand die Sonne tief, sie berührte beinahe die Dächer der kleinen Stadt. Ein frischer Wind war aufgekommen, der nach dem Laub des Waldes roch.

Ich erinnere mich, dass ich Tränen in den Augen hatte, doch ich wusste nicht, weshalb. Benommen stieg ich vom Kirschbaum herunter und ging zum Haus hinüber.

Mutter bereitete schon das Abendessen – Hasenbraten, Pfannkuchen und Salat. Dazu für die Erwachsenen Wein und für mich und meinen Bruder Erdbeermilch. Vater war schon da, er saß am kalten Kamin in der Stube und las in der Zeitung.

Ich drückte mich durch seine Arme, kletterte auf seinen Schoß und blieb dort eine Weile, während er las und mich nicht zu beachten schien. Manchmal aber blickte er mich blitzschnell an, zwinkerte und las dann weiter, als sei nichts gewesen.