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Nr. 2884

 

Unter allem Grund

 

Kommandoeinsatz auf dem Flaggschiff – sie enthüllen eine Katastrophe

 

Robert Corvus

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

1. Todesstoß

2. Infiltration

3. Strömung

4. Verhüllung

5. Erkenntnis

Report

Leserkontaktseite

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Im Januar 1519 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ) veränderte sich die Situation in der heimatlichen Milchstraße grundlegend: Die Herrschaft des Atopischen Tribunals, das aus der Zukunft agiert, wurde abgeschüttelt. Gleichzeitig endete der Kriegszug der Tiuphoren, die aus der Vergangenheit aufgetaucht waren. Als eine Folge dieser Ereignisse werden die Milchstraße und die umliegenden Sterneninseln künftig frei sein, was den Einfluss von Superintelligenzen und anderen kosmischen Mächten angeht.

Der Mausbiber Gucky ist mit dem Raumschiff RAS TSCHUBAI auf der Spur der Tiuphoren, die der »Ruf zur Sammlung« in deren Heimat Orpleyd zurückbeordert hatte – und mit ihnen Perry Rhodan.

Tatsächlich ist Perry Rhodan zusammen mit der Larin Pey-Ceyan der Gewalt der Tiuphoren entkommen. Behilflich dabei war ihnen der Gestaltwandler Attilar Leccore. In Orpleyd, der Heimatgalaxis der Tiuphoren, regieren allerdings völlig andere: die Gyanli. Diese träumen zuweilen UNTER ALLEM GRUND ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Perry Rhodan – Der Terraner ahnt für die Zukunft Schreckliches.

Attilar Leccore – Der Gestaltwandler ahnt die Gegenwart von etwas Schrecklichem.

Mixandrac – Der Tiuphore erlebt Schreckliches.

Lutoo – Die Gyanli muss Schreckliches von ihrem Schutzbefohlenen abwenden.

Stimmen

 

»Wie entwickelt sich Ihre Sorge, Tellavely?«

»Sie hat sich vertieft, Nunadai.«

»Können Sie den Grund Ihrer Sorge lokalisieren?«

»Ja, Pushaitis. Ich sehe ihn im System der platzierten Welt.«

»Sollte ich vor Ort sein?«

»Ja. Es ist immer ein Gewinn, die Dinge aus Ihrer Warte zu sehen, Pushaitis.«

 

 

1.

Todesstoß

 

Die CELAXTA war der Stolz der tiuphorischen Flotte. Ein Kilometer lag zwischen dem äußeren Pol der einen Kugel und dem gegenüberliegenden der anderen. Ein sechshundert Meter langer, fünfzig Meter durchmessender Tunnel verband die beiden Zweihundert-Meter-Kugeln.

Chefingenieur Mixandrac trug die Verantwortung für das Transitionstriebwerk, dessen Zentrum in der Mitte des Verbindungstunnels lag und diesen auswölbte. Eine geniale, raumgeborene Konstruktion, nicht dazu gedacht, auf einem Planeten zu landen; im Gegenteil: diesen hinter sich zu lassen, wie es die Legenden verhießen, die zu bewahren er geschworen hatte. Die Legenden von den Faktoten des Pavvat und der Erlösung ...

75.000 Tiuphoren konnten die Kugeln bei voller Belegung aufnehmen. Kaum leistbare Opfer hatte das Volk der geschundenen Welt gebracht, um die CELAXTA zu bauen. Mixandrac empfand es als große Ehre, auf dieses Schiff berufen worden zu sein, als unverdiente Gnade, einen Vorgang der Erwählung durch ein Schicksal, das ihm erlaubte, in seinem Volk den Glauben an ein Ende des Elends lebendig zu halten.

Deswegen empfand er die Explosionen, die die CELAXTA sowohl inwendig als auch an der Hülle zerrissen, als persönliche Demütigung. Er zitterte vor Scham und Wut, während er in das Inferno starrte. Die Generatorblöcke zerflossen in der Hitze des Kernbrands. Wo Sauerstoff frei wurde, etwa weil eine weitere Sicherungswand schmolz oder sich die Energien eines feindlichen Geschützes Bahn brachen, loderten turmhohe Stichflammen.

Der Schutzanzug bewahrte Mixandrac nicht nur vor Hitze und Strahlung, sondern auch vor dem Donner der Explosionen. Anderenfalls wäre er längst taub geworden. Der metallische Boden unter ihm schlug Wellen, um die kinetische Wucht der Treffer abzubauen. Mixandrac war so oft gestürzt, dass das Wiederaufstehen zu einer unbewussten Handlung wurde.

»Vierte Einsatzgruppe!«, schrie er. »Status!«

Die Meldung blieb aus, und das grüne Symbol schimmerte blass eingefroren an der letzten bekannten Position im Lageholo. Die Bordkommunikation wurde zunehmend unzuverlässiger, Strahlung, Überladungen und verlorene Komponenten schufen weitere tote Bereiche. Hinzu kamen Geisterortungen, die grell aufflackerten und sofort wieder verschwanden. Die Hoffnung, durch den Leitstand am Ort des Geschehens eine bessere Koordination zu erreichen, erfüllte sich nur rudimentär.

»Dritte Einsatzgruppe! Ein Viertel der Kräfte abziehen und in Sektor Blau verschieben. Detaillierte Zielvorgabe folgt.«

Mixandrac sah den Plan für Gruppe Vier durch und strich alles bis auf die Dämmungsfeldgeneratoren, die Kühleinheiten und die Primärleitung von der Liste. Er konnte nur hoffen, dass diese Aggregate überhaupt noch existierten. Der Blick ins Inferno ließ das als kühne Annahme erscheinen. Er drehte sich um seine Achse und betrachtete eine Welt aus alles verzehrendem Feuer in verschiedenen Aggregatzuständen, von glühenden Verbundstahlplatten über flüssiges Hartplast zu flammender Luft. Der Schrecken kannte viele Farben: gleißendes Weiß, düster glosendes Rot, trügerisch kühl wirkendes Violett, hellblaue und grüne Fackeln.

Trotzdem, er durfte nicht aufgeben! Er musste die finale Kettenexplosion verhindern oder zumindest hinauszögern. Jede Sekunde gab dem Kommandanten der CELAXTA Gelegenheit, die Flucht zu planen. Wenn schon nicht für das ganze Schiff, dann wenigstens für abgesetzte Rettungsboote.

Oder die Chance, zurückzuschlagen, dachte Mixandrac voller verzweifeltem Grimm. Wenn die CELAXTA ein Schiff der Gyanli rammt, lodert unser Stolz ein allerletztes Mal auf! Soll das Feuer, in dem unsere Träume verbrennen, zugleich die Brandstifter verzehren.

»Kein Durchkommen!«, meldete Zixella, eine Truppführerin der dritten Einsatzgruppe. »Wo der Hauptzugangstunnel war, ist jetzt offener Weltraum.«

Zixella war sehr jung, keine fünfundzwanzig Jahre. Sie gehörte zum Förderkader für technische Führungskräfte. Darin versammelt waren jene Ingenieure, die Mixandrac sich als seine Nachfolger vorstellen konnte. Zupackend, ohne Hemmungen, einen Grestadim-Spanner selbst in die Hand zu nehmen und in die Eingeweide eines Aggregats zu kriechen – aber zugleich mit exzellenten hyperphysikalischen Kenntnissen, dem Charisma, andere zu begeistern, und der Gabe, sogar unter Stress Wichtiges von Nebensächlichem zu unterscheiden. Zixella war auf einem guten Weg. Sie setzte sich unter den Besten durch, unter denen, die auf der CELAXTA arbeiten durften.

Und die jetzt gemeinsam mit dem stolzen Raumschiff starben. Die Aussichtslosigkeit ihrer Lage konnte ihr nicht entgangen sein. Manchmal war Intelligenz ein Fluch.

»Könnt ihr die Roboter hinüberschicken?« Mixandrac rief die Daten des Trupps auf. Zehn Tiuphoren – die Namen blendete er aus – und zwanzig Maschinen.

»Das könnte gelingen«, bestätigte Zixella.

»Zu den Dämmungsfeldgeneratoren!«, entschied Mixandrac.

Ein Ruf auf der Kommandoleitung bewirkte, dass die Projektion eines Gesprächspartners das Statusholo überlagerte. Der junge Offizier trug keinen Schutzanzug, die Rangabzeichen an den Schultern leuchteten golden. Sie sollten wohl Würde ausstrahlen, aber die Panik in den schwarzen Augen und das Flattern der Atemöffnungen machten diesen Eindruck zunichte.

»Viermal habe ich versucht, dich zu erreichen!«, rief der Offizier.

»Zuverlässige Funkverbindungen wiederherzustellen ist nicht unsere dringlichste Aufgabe«, stellte Mixandrac fest. »Fass dich kurz, ich muss meine Teams koordinieren.«

»Wie schlimm ist es?«

Mixandrac trug seit vierzig Jahren Führungsverantwortung. Er erkannte, dass dieser Soldat kurz vor dem Überschnappen stand.

Aber er wollte seine letzten Momente nicht an Lügen verschwenden, nur, um jemanden zu beruhigen, der die Wahrheit nicht vertrug. »Wir können die Sache lediglich verzögern.«

»Zwei Befehle für dich.« Gehetzt sah sich der Offizier um. »Du musst in einer halben Stunde in die Bugkugel kommen. Treffen der Führungsmannschaft.«

Mixandrac schnaubte. »Unmöglich.«

Zu seiner Überraschung bestätigte sein Gegenüber mit einem knappen Kippen des Kopfes. »In dem Fall bleibt nur der Befehl, die Leistung für die Impulstriebwerke zu erhöhen.«

»Was für ein Unfug!«, brauste Mixandrac auf. »Ich fahre hier alles runter, damit die Generatorexplosionen das Schiff nicht zerreißen!«

»Wie lange würde das dauern?«

»Keine zehn Minuten.« Aus offensichtlichen Gründen fehlten zuverlässige Daten. Mixandrac rief die Schadensmeldungen auf oberster Verdichtungsstufe auf. »Höchstens eine Viertelstunde«, präzisierte er.

»Alles, was uns mehr als zwei Minuten verschafft, verlängert unsere Lebenserwartung«, teilte ihm der Offizier mit. »Wir brauchen fünffache Leistung.«

»Unmöglich!«, schrie Mixandrac.

»Dann sind wir tot. Es sind zu viele Gyanli, sie sind zu schnell und zu gut bewaffnet.«

Etwas explodierte schräg unter Mixandrac. Als bräche dort ein Vulkan aus, wölbte die Druckwelle die Decks. Der Chefingenieur beobachtete durch die klaffende Öffnung in der Abschirmwand, die ihm den Blick in das Inferno ermöglichte. Ein weiteres Aufbäumen zerfetzte den Gang, in dem er stand. Mixandrac stürzte.

Die Funkverbindung riss ab.

Vorsichtig richtete sich Mixandrac auf. Der Boden wirkte wie ein gefrorener Bach, auf dem sich die Eisschollen übereinanderschoben. Manche Bruchstücke ragten senkrecht nach oben. Überall knirschte, knackte und zischte es. Es war Wahnsinn, das Monster, das in den Eingeweiden der CELAXTA wütete, mit zusätzlicher Energie zu füttern.

Aber was wurde aus dem Stolz der Tiuphoren, wenn das Flaggschiff einfach im Nichts ausglühte, während im gesamten System die Raumschlacht tobte? Hätte das nicht die Gyanli bestätigt, nachträglich gerechtfertigt, dass sie Mixandracs Volk seit Jahrtausenden mit Abfall überschütteten?

Er öffnete die Kanäle zu sämtlichen Ingenieurteams. »Dreht die Leistung hoch!«, ordnete er an. »Dies ist kein Irrtum. Alle Generatoren, die ihr erreichen könnt, hochfahren, alle Leitungen und Weichen freischalten. Eindämmungsaktivitäten sind ab sofort nachrangig.« Er zögerte. »Wir werden sterben«, fügte er an. Ein Minimum an Ehrlichkeit war er seinen Leuten schuldig.

»Aber nicht ohne Stolz«, funkte Zixella.

»Nein«, flüsterte er. »Nicht ohne Stolz.«

Eklig und lauwarm sickerte die Angst durch sein Fleisch. Fünfundsechzig Jahre hatte er gelebt, wirklich gelebt, viele seiner Träume verwirklicht. Viele Passagen des Kalyptischen Katalogs waren ihm anvertraut worden. Er hatte keinen Grund zur Klage. Aber jetzt fragte er sich, ob es klüger gewesen wäre, bei seinem Bruder auf den Müllhalden von Tiu zu bleiben, und er schämte sich dafür.

Es dauerte weniger als zwei Minuten, bis die Explosionen zu einer übergangslosen Kette zusammenwuchsen. Überall im Holo flammten Ausfallmeldungen auf. Die CELAXTA schüttelte sich wie ein Tier, dem ein Schwarm Pfeile in den Leib schlug. Mixandrac taumelte rückwärts.

Gerade rechtzeitig hielt er sich an einem Träger fest, der in einem gezackten Bruch auslief. Hinter ihm fehlte die Wand. Nein, nicht nur die Wand, sondern die ganze Sektion: Sie trieb hinaus ins All. Metallteile und kleine Gestalten schwebten lautlos in die Leere, Gas fackelte in Stichflammen ab.

»Evakuieren!«, rief Mixandrac. »Ihr habt mehr getan, als irgendjemand verlangen kann! Rettet euch!«

Er hetzte durch den Verbindungstunnel in Richtung Bugkugel. Ob es dieses Modul überhaupt noch gab?

Eine Schockwelle schleuderte ihn vorwärts. Sein Anzug riss an einer Metallkante auf. Er rannte weiter.

Die Autoreparatur versiegelte die Beschädigung. Mixandrac lief, so schnell er konnte. Die Lunge fühlte sich an, als kratzte eine Klaue darin herum. Trotzdem rief er die Übersicht zu seinen Teams auf.

Bei den meisten fehlten zuverlässige Daten.

Der Status von Zixellas Trupp war jedoch bestätigt. Ihr Charisma würde niemals mehr einen Ingenieur dazu inspirieren, Maschinen zu warten, die einen Tiuphoren zu den Sternen trugen.

 

*

 

»Wir brauchen mehr davon«, klagte Jurukao. Ihre braungrüne Hautfärbung nährte die Illusion, ein Wesen aus Holz oder Stein vor sich zu haben. Dieser Eindruck verstärkte sich durch das trockene Krachen, mit dem sie ihren in drei Segmente unterteilten Arm streckte. Perry Rhodan wusste jedoch inzwischen, dass solche Geräusche bei den Bewegungen dieser Spezies so normal waren wie das Knacken der Knie bei einem Menschen.

Die weibliche Wuutuloxo bekleidete den Rang einer Zweitmechanikerin im Mechanischen Orden. Kaadnin und Duxaluk waren ihr gleichgestellt, die anderen drei Wuutuloxo an Bord der ODYSSEUS nicht. Deswegen hielt sich der sonst etwas vorlaute Buutaluk im Hintergrund.

Dass dieser männlich war, konnte Rhodan wegen der abschließenden Silbe -luk in seinem Namen ableiten. Äußerlich waren ihm die Wuutuloxo so fremd, dass er gerade mal die Individuen unterschieden konnte, nicht jedoch Merkmale, die auf Alter oder Geschlecht schließen ließen.

Mit einer Kantenlänge von knapp eineinhalb Metern war der würfelförmige Körper bei allen etwa gleich groß, auch die vier kurzen Säulenbeine und die krallenbewehrten, nackten Klauenfüße ließen keine Rückschlüsse zu. Die auf einem nach vorn ragenden Hals sitzenden Köpfe waren hingegen so individuell ausgeprägt, dass sich Rhodan fragte, ob alle sechs Wuutuloxo demselben Zweig ihrer Spezies angehörten.

Bei Jurukao standen die hornartigen Auswüchse dermaßen weit ab, dass sie krummen Stacheln ähnelten. Die orangefarbenen, einzelnen Schneidezähne in ihrem Ober- und Unterkiefer gaben dem Mund etwas von einem Schnabel, allerdings einem, der mit dreieckigen, nach hinten gebogenen Zähnen eindeutig einem Fleischfresser zuzuordnen war. Er klackte hohl, als sie ihn schloss.

Rhodans Blick folgte ihrer Geste zum Glas mit dem kümmerlichen Rest des grauen, ein wenig rot schimmernden Fluids, das er vom Gyanliraumer PNUUDH geborgen hatte. Es mochten noch zweihundert Milliliter sein. »Wo ist der Rest?«

»Verbraucht«, antwortete Jurukao. »Unsere Untersuchungen deuten auf hyperdimensionale Eigenschaften hin. Leider sind die Experimente nicht verlustfrei möglich.«

»Sind sie denn wenigstens erfolgreich?«

Seit acht Tagen waren sie mit der Raumjacht unterwegs. Wenn die Wuutuloxo das tiuphorische Schiff nicht gerade optimierten oder umbauten, war das Fluid ihr Lieblingsthema.

Krachend zog Jurukao den Arm wieder an den Körper. »Sie bestätigen Duxaluks These.« Ihre Sprache klang, als schüttelte man ein Tongefäß mit Kieselsteinen. Der Translator, ein graues Metallei, das sie mit einer Spange an ihrem beigefarbenen, leinenartigen Gewand befestigte, brauchte eine halbe Sekunde für die Übersetzung. »Die Bezeichnung Neurokrill ist gerechtfertigt. Diese Flüssigkeit wimmelt von Kleinstlebewesen, und wir messen so etwas wie Hirnströme.«

»Das Fluid denkt?«, rief Rhodan überrascht.

»Möglich, aber unbewiesen.« Sie hob eine Hand und bewegte die drei Finger, die das Geschmeidigste an ihrem sonst so sperrigen Körper sein mochten. Eine Geste der Abmilderung? »Jedenfalls messen wir auch Aktivitäten im höherdimensionalen Spektrum. Wir brauchen unbedingt mehr davon.«

Der Bordrechner bat mit einem gelben Lichtsignal, das er in die Mitte des Raums projizierte, um Aufmerksamkeit. Die Wuutuloxo nannten das Schiffsgehirn einen Linear-Nukleus-Meditator, oder zumindest war das die Übersetzung, die der Translator vorschlug. Rhodan fand sie gut gewählt, denn der überlichtschnelle Teil der Rechenoperationen war in den Linearraum ausgelagert, was zum Eindruck führte, dass die Einheit zuweilen meditativ versank und auf eine Eingebung aus einer höheren Sphäre wartete.

»Meldung!«, forderte Rhodan.

»Wir erreichen den programmierten Zielpunkt in weniger als fünf Minuten.«

»Danke«, sagte Rhodan, obwohl der Rechner keine Persönlichkeitssimulation besaß. Seine weiblich modulierte Stimme klang angenehm, aber stets gleich.

»Wir brauchen mehr ...«, setzte Jurukao an.

»Das habe ich verstanden.«

Manchmal beschlich Rhodan das Gefühl, die Wuutuloxo hielten jeden für intellektuell beschränkt, der nicht mit einer Handhabe umgehen konnte, wie sie die Tornister nannten, die sie mit sich führten.

»Ihr findet mich im Cockpit.«

Rhodan trug eine Sportkombination mit leichter Thermofunktion, die die Kühle an Bord eines Schiffs tiuphorischer Bauart ausglich. Während des achttägigen Flugs vom Safaanusystem hatte er es genossen, die Jacht in lockerem Trab zu erkunden.

Zwar war er häufig auf wesentlich größeren Schiffen geflogen, aber das – ohne das neu angebaute Lineartriebwerk – zweihundertzwanzig Meter lange gebogene Raumfahrzeug bot mehr Wege, als das bei den meisten anderen Völkern der Fall gewesen wäre. Tiuphoren liebten enge, gewundene Gänge. Abseits des funktionalen Hauptverbindungswegs gab es so manche überraschende Kehre, und oft kam Rhodan nur weiter, indem er einen Aufstieg oder eine Falltür benutzte.

Anfangs hatte Rhodan mit der Raumaufteilung gehadert, aber durch die Erkundungsläufe wusste er es inzwischen zu schätzen. Es gab immer Neues zu entdecken, kürzere, längere, forderndere Strecken zwischen zwei Orten an Bord.

Diesmal wählte er die schnellste Verbindung zur im Scheitelpunkt der Wölbung angebrachten Kommando-Hemisphäre. Von der zwanzig Meter durchmessenden Halbkugel aus ließen sich verschiedene Schiffsfunktionen steuern, ebenso wie gebündelt aus dem Cockpit, das weitere sieben Meter in Flugrichtung hinausragte.

Dort saß Attilar Leccore im Pilotensitz, die Pneumosessel an beiden Seiten waren leer. Er sah zu dem Neuankömmling auf. Rhodan erkannte das vertraute Muster der grünen Linien in den schwarzen Iriden. Er hatte es im Spiegel gesehen, als der Gestaltwandler ihm erlaubt hatte, diesen nachgebildeten Tiuphorenkörper zu benutzen. Eigentlich gehörte er Paqar Taxmapu, einem Zwitter, der als Orakelpage gedient hatte. Später war er sogar zum Orakel ernannt worden.

Nein, korrigierte sich Rhodan. Nicht der Tiuphore Paqar Taxmapu hat diesen Erfolg errungen, sondern Attilar Leccore in dessen Gestalt.

Wieder ertappte er sich dabei, gegen besseres Wissen nach körperlichen Eigenschaften des Liga-Geheimdienstchefs zu suchen. Aber da war nichts. Der androgyne Körper vereinte Kraft und Eleganz, der hagere Kopf erinnerte durch die fehlende Nase an einen Totenschädel. Rhodan, der zahllose Fremdspezies gesehen hatte, jagte dies freilich keine Angst ein.

Leccore bewegte sich wie ein Tiuphore, in diesem ständigen Bewusstsein, die Glieder zu einem Block einsetzen zu können und keine empfindlichen Trefferzonen zu entblößen, wie eine Kriegerkultur es anerzog. Das sprach auch aus der Geschmeidigkeit, mit der Leccore aufstand. Nur seine weite, weiße Kutte passte nicht zu einem Soldaten.

Leccore bemerkte offenbar Rhodans Nachdenklichkeit. »Wir befinden uns auf einer Tiuphorenjacht, hier ist dieser Körper praktisch.«

Der kühle Luftstrom, den der Pilotensitz emittierte, bestätigte diese Feststellung.

Alles Vertraute lag 131 Millionen Lichtjahre von ihnen entfernt, in der Milchstraße. Dieses Raumschiff war vorläufig ihre Heimat. Sie mussten es sich zu eigen machen. Leccore tat das, indem er sich an seine Umgebung anpasste. Rhodan dagegen erkundete die neue Umgebung zwar, ordnete sie aber in seine tradierten Muster ein. Daher auch der Name, den er dem Schiff gegeben hatte: ODYSSEUS, der Seefahrer, der ins Unbekannte geschleudert wurde, sich jedoch stets treu geblieben und schließlich heimgekehrt war.

Rhodan setzte sich. Die Cockpitwand leuchtete in einem beruhigenden Lindgrün, über das eine gestrichelte Linie lief. Darauf bewegte sich ein roter Punkt, der die Position der Raumjacht anzeigte. Eingeblendete Ziffern verrieten, dass sie eine knappe Minute brauchen würden, bis sie die 60.631 Lichtjahre zwischen dem Safaanu- und dem Lichfahnesystem überbrückt hätten. Durch geschicktes Abwechseln zwischen der Leaper- und der normalen Funktion des neuen Wuutuloxo-Lineartriebwerks hatten sie die gewaltige Distanz in wenigen Tagen bewältigt.

Exakt gemessen hatten sie nur 60.630 Lichtjahre zurückgelegt, weil sie ein wenig vor dem Heimatsystem der Tiuphoren in den Normalraum zurückfallen und sich zunächst umsehen wollten. Ein paar Jahrtausende Lebenserfahrung lehrten Vorsicht.

Leccore setzte sich in den Pneumosessel zu Rhodans Linker. »Du kennst diesen Körper«, nahm er den Faden wieder auf.

»Den anderen kenne ich besser.«

»Wenn ich dir damit eine Freude mache ...«

Attilar Leccores Umwandlung zu beobachten, konnte empfindsame Gemüter den Schlaf kosten. Diesmal war es nur ein kleiner Schritt, von einer humanoiden Form in eine andere. Dennoch sah es aus, als kippte jemand Säure über ihm aus. Das Gesicht zerfloss wie Kerzenwachs in der Schwerelosigkeit, ungleichmäßig, klumpig und ohne einheitliche Richtung. Manche Bereiche bewegten sich seitwärts, andere nach oben, um an die Position zu gelangen, die das neu gewählte Templat vorgab. An den Händen war es dasselbe, und auch unter dem dünnen Stoff des Gewands rührte sich etwas.

Nach zehn Sekunden sah Leccore, der Koda Aratier, menschlich aus. Vielleicht sogar menschlicher als jeder Mensch, den Rhodan je gesehen hatte. Sein Gesicht war absolut nichtssagend, eine Kombination aus Millionen anderer Gesichter, aus der jedes markante Detail herausmassiert war. Wenn man überhaupt einen Eindruck gewann, dann wirkte die untersetzte Gestalt mit dem rundlichen Gesicht, der voluminösen Nase und den weichen Lippen harmlos.

»Besser so?«

 

*

 

Rhodan sah zu, wie der Countdown die letzten Sekunden herunterzählte. Nach dem, was er aus der durchlebten Urkunde über das Lichfahnesystem wusste, konnte Tiu eigentlich nicht mehr existieren. Die Position des Planeten war zu instabil, um die Jahrmillionen seit dem Aufbruch der Sterngewerke überstanden zu haben. Aber die Wuutuloxo behaupteten, dass das Gegenteil der Fall war.

Und sie hatten recht. Das erkannte Rhodan sofort, als das Grün von der Cockpitwandung verschwand und diese auf Transparenzmodus schaltete. Im vorderen Bereich war das Material nun tatsächlich durchsichtig. Zur Kommando-Hemisphäre hin vervollständigten Projektionen den Eindruck, im All zu schweben. Ein halb durchsichtiger Rahmen deutete an, wo sich die Tür befand, durch die man die Illusion verlassen und den Hauptkörper der ODYSSEUS betreten konnte.

Zwei Sonnen brannten vor den Sternen. Auf ein Lichtjahr Entfernung wäre das Doppelsystem kaum auszumachen gewesen, aber die Sensoranzeige projizierte es als vielfach vergrößertes Holo in einen Kubus, mit einer Verbindungslinie zu dem leuchtenden Punkt an der Cockpitwandung. Die Datenkolonnen daneben verrieten, dass es sich um Zwergsterne handelte, die ihre Strahlung hauptsächlich im infraroten Bereich abgaben. Mit 1,24 Astronomischen Einheiten Abstand voneinander umkreisten sie den gemeinsamen Schwerpunkt sehr nah. Und genau dort, in diesem gemeinsamen Schwerpunkt, stand ein Planet.

Tiu.

»Er ist noch da«, murmelte Perry Rhodan.

»Was hast du erwartet?«

»Dass er in eine der Sonnen stürzt.« Rhodan vergrößerte die Anzeige.

Die weiteren Planeten, die die zwei Sonnen allesamt auf äußeren Bahnen umkreisten, verschwanden. Stattdessen erschienen transparente Schalen um die Sterne, die deren habitable Zonen anzeigten. Tiu lag in beiden Fällen außerhalb davon.

»Seltsam, dass sich dort Leben entwickelt hat«, meinte Leccore.

»Das auch. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass an dieser Stelle ein Planet entstanden sein kann. Die Staubscheibe des Protosonnensystems kann an einem solchen Punkt keine so massereiche Verklumpung erzeugt haben.«

»Zugewandert?«, schlug Leccore vor.