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Josef Galert

Gesundheits- und Berufspolitik für Physiotherapeuten und weitere Gesundheitsberufe

Grundlagen, Stand und Ausblick Ein praxisnahes Lehrbuch für Ausbildung, Studium und Beruf

Verlag W. Kohlhammer

Mit Dank an Lena, Oscar, Lore und allen unerwähnten Unterstützern!

 

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Images Gesetzestext

1. Auflage 2016

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-030758-2

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-030759-9

epub:    ISBN 978-3-17-030760-5

mobi:    ISBN 978-3-17-030761-2

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Inhaltsverzeichnis

 

 

 

 

  1. Vorwort
  2. Abkürzungsverzeichnis
  3. 1 Von der Gründung der gesetzlichen Krankenversicherung und der Begründung der Heilgymnastik
  4. 1.1 Gründung der Gesetzlichen Krankenversicherungen
  5. 1.2 Bismarck, Beveridge und das Marktmodell
  6. 1.3 Selbstverwaltung im Gesundheitswesen
  7. 2 Das deutsche Gesundheitswesen – gesundheitspolitische Strukturen, Akteure, Institutionen und die Krankengymnastik
  8. 2.1 Solidarität, Subsidiarität und das Wirtschaftlichkeitsgebot
  9. 2.2 Aufgaben der deutschen Gesundheitspolitik
  10. 2.3 Gesetzgebung
  11. 2.3.1 Gesetzentwurf
  12. 2.3.2 Beratungen
  13. 2.3.3 Bundesrat
  14. 2.3.4 Gegenzeichnung und Veröffentlichung
  15. 2.4 Ausschüsse im Deutschen Bundestag – der Ausschuss für Gesundheit
  16. 2.5 Bundesministerium für Gesundheit (BMG)
  17. 2.6 Landesgesundheitsministerien
  18. 2.7 Kassenärztliche Vereinigung (KV)
  19. 2.8 Kostenträger
  20. 2.8.1 Gesetzliche Krankenversicherung (GKV)
  21. 2.8.2 Private Krankenversicherung (PKV)
  22. 3 Die Entwicklung zum aktuellen Gesundheitssystem und zur Physiotherapie
  23. 3.1 Gesundheitsreformen
  24. 3.1.1 1976 bis 1982: Kabinett Helmut Schmidt II-III – SPD-FDP – Gesundheitsministerin Antje Huber (SPD)
  25. 3.1.2 1982 bis 1998 Kabinett Helmut Kohl I-V – CDU/CSU-FDP
  26. 3.1.3 1998 bis 2005 Kabinett Schröder I-II – SPD-Bündnis 90/Die Grünen – Gesundheitsministerinnen Andrea Fischer (Bündnis 90/Die Grünen, bis 2001) und Ulla Schmidt (SPD)
  27. 3.1.4 2005 bis 2009 Kabinett Merkel I – CDU/CSU-SPD – Gesundheitsministerin Ulla Schmidt SPD
  28. 3.1.5 2009 bis 2013 Kabinett Merkel II – CDU/CSU-FDP – Gesundheitsminister Philipp Rösler/Daniel Bahr (FDP)
  29. 3.1.6 2013–2017 Kabinett Merkel III – CDU/CSU-SPD – Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU)
  30. 3.2 Sachverständigenrat für die Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR-G)
  31. 3.3 Gemeinsamer Bundesausschuss (G-BA)
  32. 3.4 Spitzenverband Bund der Krankenkassen (GKV-SV)
  33. 4 Vom Weisungsempfänger zum emanzipierten Professional
  34. 4.1 Vergütung und Grundlohnsumme
  35. 4.2 Blankoverordnung, FCP und DA
  36. 4.3 Qualifikation und Arbeitsmarkt
  37. 4.4 Eine Kammer für die Heilberufe – Nutzen oder Schaden
  38. 4.5 Verpflichtung zum Qualitätsmanagement
  39. 4.6 Anmerkungen und Ausblick
  40. 5 Physiotherapeutische Vertretung in der Gesundheitspolitik – die Physiotherapie-Verbände
  41. 5.1 IFK – Bundesverband selbstständiger Physiotherapeuten
  42. 5.2 VDB – Berufs- und Wirtschaftsverband der Selbständigen in der Physiotherapie
  43. 5.3 VPT – Verband Physikalische Therapie
  44. 5.4 ZVK – Deutscher Verband für Physiotherapie – Physio Deutschland
  45. 5.5 Bund vereinter Therapeuten e. V. (BvT)
  46. 5.6 SHV – Spitzenverband der Heilmittelverbände e. V.
  47. 5.7 World Confederation for Physical Therapy – WCPT
  48. 6 Der Gesundheitspolitik nahestehende Institute
  49. 6.1 Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM)
  50. 6.2 Bundesversicherungsamt (BVA)
  51. 6.3 Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)
  52. 6.4 Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI)
  53. 6.5 Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTiG)
  54. 6.6 Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG)
  55. 6.7 Paul-Ehrlich-Institut (PEI – Bundesinstitut für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel)
  56. 6.8 Robert Koch Institut (RKI – Bundesinstitut für Infektionskrankheiten und nicht übertragbare Krankheiten)
  57. 6.9 World Health Organization (WHO)
  58. 6.10 Gesundheitspolitik in der Europäischen Union (EU)
  59. Glossar
  60. Adressen
  61. Bundesministerien und -regierung
  62. Physiotherapieverbände
  63. Parteien
  64. Wichtige übergeordnete Einrichtungen
  65. Literaturverzeichnis
  66. Stichwortverzeichnis

Vorwort

 

 

 

 

 

Die erwerbsmäßige Ausübung von Bewegungstherapie hat in den vergangenen rund 100 Jahren verschiedene Wandlungen durchlaufen. Neue Therapiekonzepte und die spezielle Pädagogik für die Physiotherapieausbildung haben dabei viele Dekaden lang das Interesse der berufstätigen und später der sich akademisierenden Kollegen1 bestimmt. Die Gesundheitspolitik stand nie sonderlich im Focus von Ausbildung und Studium. Wer heute in der Praxis tätig ist, hat es somit schwer, relevante gesundheitspolitische Entwicklungen einzuschätzen und für die eigenen beruflichen Interessen mit fundiertem Wissen einzutreten, wohl auch, weil das Gesundheitswesen in dem Ruf steht, die »wahrscheinlich komplexeste Branche der Welt« zu sein.2

Genau hier setzt das Anliegen dieses Buches an: Es soll engagierten und interessierten Therapeuten sowie Studenten und Dozenten der Gesundheitsberufe, also der Physiotherapeutinnen, Ergotherapeuten, Logopädinnen, Masseuren und med. Bademeister, Orthoptistinnen, Podologinnen, Hebammen und im weitesten Sinne auch den Angehörigen der Pflegeberufe, einen gut verständlichen Überblick über die sie betreffenden Strukturen, Institutionen und Akteure des deutschen Gesundheitswesens vermitteln.

Der Aufbau des Buches folgt einem roten Faden, so dass es vom Anfang bis zum Ende durchgehend gelesen werden kann. Zugleich sind die einzelnen Kapitel aber in sich abgeschlossen und somit auch als gezielte Informationsquelle zu bestimmten Themen nutzbar. Im ersten Kapitel wird das deutsche Gesundheitssystem in seinen historischen und systemischen Grundlagen vorgestellt. Das zweite Kapitel befasst sich mit dem deutschen Gesetzgebungsverfahren, den maßgeblichen staatlichen Institutionen im Gesundheitswesen, wie auch mit der Kassenärztlichen Vereinigung und den Kostenträgern wie sie seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland existieren. Im dritten Kapitel werden die gesundheitspolitischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte und die währenddessen neu entstandenen Institutionen in den Blick genommen. Der Fokus liegt dabei auf den für die Heilberufe relevanten Bereichen. Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit den aktuellen berufs- und gesundheitspolitischen Problemen und Forderungen der Heilberufe. Im fünften Kapitel werden die der Physiotherapie nahestehenden Verbände und Organisationen vorgestellt. Das sechste Kapitel benennt die weiteren gesundheitspolitischen Institutionen und deren Rolle innerhalb des Gesamtsystems. Angefügt ist ein Glossar mit über 100 Stichwörtern aus der Gesundheitspolitik und den Gesundheitswissenschaften. Leser des Buches finden im Glossar Erläuterungen zu den Stichwörtern, die im Text kursiv gedruckt sind. Weitere Lesehilfen sind Marginalien sowie die Fettung bestimmter Wörter, die deren Bedeutung im jeweiligen Kontext hervorheben soll. Fette und kursive Wörter sind dementsprechend wichtige Begriffe, die im Glossar erklärt sind. Die Anmerkungen in den Fußnoten beinhalten zahlreiche Zusatzinformationen, die jedoch den Lesefluss im Text nicht unterbrechen sollen. Die gesonderten Exkurs-Blöcke vermitteln schließlich weiteres Wissen zum Umfeld des Gesundheitssystems.

Das vorliegende Buch hat das Ziel, die vor allem ambulant tätigen3 Physiotherapeuten und Angehörige anderer Gesundheitsfachberufe umfassend zu informieren und sie damit zur politischen Mitgestaltung zu befähigen.

Konstruktive Rückmeldungen sind ausdrücklich erbeten und können gerne per E-Mail an die Adresse gp-pt@mail.de geschickt werden.

Josef Galert, Berlin im Februar 2016

 

 

 

1     Wenn in einem Buch die geschlechtsneutrale Personenbeschreibung beibehalten werden soll, stößt man im Deutschen auf die Probleme der Gleichbehandlung oder der Lesegewohnheit. Da es in diesem Buch um die Gesundheitsfachberufe geht, die traditionell und aktuell mehrheitlich von Frauen ausgeübt werden, müsste das grammatische Genus fast durchgehend weiblich sein. Da es aber auch die Akteure aus Politik, Verwaltung und in historischen Kontexten behandelt – die immer noch vornehmlich männlich sind – versuche ich eine Mischung beider Geschlechtsbezeichnungen einzuhalten. Es sind jedoch durchgehend bei jeder Personenbeschreibung beide Geschlechter gemeint.

2     »Remove politicians and other amateurs from operative decision-making in what might well be the most complex industry on the face of the Earth: Healthcare!« (Björnberg 2013).

3     Laut der »Physio-Deutschland Angestellten Umfrage 2015« sind dies gut 77 % aller PTs (Physio-Deutschland 2015a).

Abkürzungsverzeichnis

 

 

 

 

 

BMG

Bundesministerium für Gesundheit

BvT

Bund vereinter Therapeuten

DA

Direct Access

FCP

First Contact Practitioner

G-BA

Gemeinamer Bundesausschuss

GKV

Gesetzliche Krankenversicherung

GKV-SV

Spitzenverband Bund der Krankenkassen (GKV-Spitzenverband)

HeilM-RL

Heilmittel-Richtlinie

HeilprG

Heilpraktikergesetz

MPhG

Masseur- und Physiotherapeutengesetz

IFK

Bundesverband selbstständiger Physiotherapeuten

IQWiG

Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen

IQTiG

Institut für Qualität und Transparenz im Gesundheitswesen

K(Z)V

Kassen(zahnärztliche) Vereinigung

PKV

Private Krankenversicherung

PPV

Private Pflegeversicherung

SGB

Sozialgesetzbuch

SHV

Spitzenverband der Heilmittelverbände

SVR-G

Sachverständigenrat für die Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen

VDB

Berufs- und Wirtschaftsverband der Selbständigen in der Physiotherapie

VPT

Verband Physikalische Therapie

ZVK

Physio Deutschland – Deutscher Verband für Physiotherapie

1          Von der Gründung der gesetzlichen Krankenversicherung und der Begründung der Heilgymnastik

 

 

 

Images Grundsätze Images

Das organisierte deutsche Gesundheitssystem – zusammengehalten von den Grundsätzen der Selbstverwaltung, Solidarität und Subsidiarität – ist eines der ältesten Gesundheitssysteme der Welt. Die Betrachtung des deutschen Gesundheitssystems beginnt am Ende des 19. Jahrhunderts, zeigt die Veränderungen nach dem Zweiten Weltkrieg auf, skizziert die in immer kürzeren Abständen unternommenen Reformbemühungen 100 Jahre später und endet im Jahr 2015. Dabei erfährt die Physiotherapie an ihren markanten Stellen im Zeitstrahl, bis zu ihren aktuellen Problemen und Forderungen, entsprechende Erwähnung.

Die damalig dringlichsten Gesundheitsprobleme hatten häufig hygienische und infektiöse Ursachen (Labisch 1992). Durch wertvolle Weiterentwicklungen der Mikroskopie- und Labortechnik hatte die Medizinwissenschaft seit den 1850er Jahren große Entdeckungen auf den Gebieten der Mikrobiologie und Infektionslehre gemacht. Das förderte die neue »lokalpathologische Idee« (Hunze 2003), wonach der Ort des Symptoms die behandlungsbedürftige Ursache beherbergt. Dieses mechanistische Krankheitsverständnis (biomedizinisches Krankheitsmodell) löste im 19. Jahrhundert die vorherige ganzheitliche Sichtweise sukzessive ab. Die daraus resultierende Spezialisierung der Ärzte verhalf den Orthopäden zur Etablierung ihres Fachbereichs und nebenbei auch zur erfolgreichen Gründung zahlreicher privater Heilanstalten – den Vorläufern ambulanter Rehabilitationseinrichtungen und Therapiepraxen mit noch hauptsächlich männlichen Heilgymnasten als weisungsgebundene Hilfskräfte (Riechardt 2008).

Die Gesundheitspolitik im Kaiserreich Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts bestand vornehmlich noch aus der Bemühung, die Wehr- und Arbeitskraft des Volkes zu erhalten, so die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu steigern und die nationale Sicherheit zu gewährleisten (Schmiedebach 2002). Der Mensch war in der Hochzeit der Industrialisierung wieder Mittel zum Zweck, humanistische Gedanken hatten wenige starke Fürsprecher. Erst als das Gemeinwohl der Gesellschaft und die kommunale Ordnung durch die zunehmenden Arbeitsunfälle, das frühzeitige Versterben und die allgemein schlechten Lebensbedingungen zu zerbrechen drohte, wurde die Bedeutung gesundheitspolitischer Maßnahmen erkannt (Müller 2002, S. 150). Die Gründung des modernen Sozialstaats erfolgte4 durch Reichskanzler Otto von Bismarck, der mit den Gesetzen zu den Sozialversicherungen zwischen 1883 und 1889 eher seine politischen Gegner – die Sozialdemokraten – im Blick hatte. Diesen wollte er die Anhänger aus der Arbeiterklasse von den Gewerkschaften weg an das Kaiserreich binden (Simon 2013, S. 30). Diese Strategie scheiterte jedoch in Teilen, da die sozialpolitischen Parteien ebenso an Zuspruch und Mitgliedern gewannen wie die neu gegründeten Krankenkassen.

1.1       Gründung der Gesetzlichen Krankenversicherungen

Am 15.06.1883 wurde das » Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter« beschlossen (Bismarck 1883) – gegen den Willen Bismarcks,5 dem ursprünglich eine kommunale Einheitsversicherung für alle Arbeiter, Handwerker und kleine Angestellte vorschwebte (Reiners, 2011, S. 194). Vom 01.12.1883 an regulierte dieses Gesetz die zuvor autonomen, aber gemeinnützigen Krankenversicherungen der Zünfte, Innungen und Gilden, ebenso die von einigen Gemeinden gegründeten Armen- und Hilfskassen wie auch die von größeren Unternehmern betriebenen Fabrikkassen6 (Tennstedt 1976, S. 386 ff.). Diese Kassen boten zwar damals schon einfache Unterstützung bei der materiellen Absicherung bei Krankheit, Unfällen und Tod an. Jedoch nur für die in diesen Vereinigungen eingebundenen oder Fabriken tätigen Arbeiter, häufig aber auch schon für deren Ehefrauen und Kinder (Simon 2013, 33 f.). Viele Hilfskassen wurden ab 1884 in umlagefinanzierte gesetzliche Krankenkassen (GKV) umgewandelt.7 Die nun »neu« geschaffene GKV teilte sich in Innungs-, Betriebs- und Knappschaftskassen auf, die ihre Mitglieder – bis zur Einführung der freien Kassenwahl im Jahr 1996 – streng nach Berufszugehörigkeit aufnahmen. Eine Ausnahme bildeten einzig die Ortskrankenkassen (später Allgemeine-Ortskrankenkassen AOK) (ebd.). Einige Beispiele: Technische Angestellte kamen zur Techniker-Kasse (TK); Bergleute in die Bundesknappschaft (BKn); Seeleute in die See-Krankenkasse (SeeKK); Landwirte in die Landwirtschaftliche-Krankenkasse (LKK, das ist als einziges auch heute noch so); Mitarbeiter großer Betriebe in die betriebseigene Betriebskrankenkasse (BKK); bestimmte Metallberufe in die Gmünder-Ersatzkasse (GEK); Mitarbeiter von Betrieben, die einer Innung angehörten, in die Innungs-Krankenkasse (IKK); alle anderen Angestellten entweder in die Barmer-Ersatzkasse (BEK) oder die Deutsche Angestellten-Krankenkasse (DAK) und der Rest in eine Allgemeine-Ortskrankenkasse (AOK). Dabei wurden die TK, GEK, BEK, DAK u. w. zu den Ersatzkassen gezählt, die zwar etwas teurer waren, dafür aber auch lange Zeit ihren Versicherten (und auch den Leistungserbringern) bessere Leistungen anbieten konnten.

Zu Bismarcks Zeit hieß die Physiotherapie noch Heilgymnastik und erfuhr durch die gerade aufkommende medicomechanische-Zander-Therapie (nach Gustaf Zander, Schwedischer Arzt, image Abb. 1) und eine Wiederbelebung der Massage eine zweite Welle der Akzeptanz (Schöler 2005). Die Kosten für Heilgymnastik und Massage, die nicht von Ärzten selbst erbracht wurden, mussten allerdings noch selbst getragen werden. Erst mit dem Unfallversicherungsgesetz vom 10.07.1884 wuchs die Anzahl der Heilgymnastik-Patienten und vor allem die Dauer von deren Behandlung stark an. Die Berufsgenossenschaften sorgten nun dafür, dass ihre an Arbeitsunfällen verletzten und somit ausfallenden Arbeiter bis zur größtmöglichen Genesung u. a. heilgymnastische Therapie erhielten (Schöler 2005, S. 157). Im Unterschied zu den Leistungen der GKV deckten die »Unfallkassen« die Bereiche Rehabilitation, Entschädigung und die Verhütung von Arbeitsunfällen ab, und ab 1925 auch die Prävention von berufsbedingten Erkrankungen.

In den sich nun neu gründenden gesetzlichen Krankenkassen waren alle Arbeiter mit einem Jahreseinkommen von bis zu 2.000 Reichsmark pflichtversichert (dies markierte die erste Pflichtversicherungsgrenze) und somit fast alle Arbeiter, aber dennoch nur rund 10 % der Bevölkerung. Beamte, Kaufleute, höhere Angestellte, Bankiers, Industrielle und vor allem der Adel konnten und sollten ihre Behandlungs- und Lohnausfallkosten selbst absichern, durften sich jedoch in den weiter bestehenden Hilfskassen – den Vorläufern der heutigen Ersatzkassen – versichern. Ab 1902 bestand für sie auch die Möglichkeit, sich bei einer im »Kaiserlichen Aufsichtsamt für Privatversicherung « in Berlin registrierten Privatversicherung zu versichern.

Die Kosten für die neuen GKV wurden einheitlich zu einem Drittel vom Arbeitgeber und zu zwei Dritteln vom Arbeitnehmer getragen. Die Leistungen im Verhältnis zu denen der Hilfskassen erweiterten sich um:

•  die Vergütung ärztlicher Behandlung inklusive Arznei- und Hilfsmitteln,

•  die Krankenhausbehandlung,

•  das Sterbegeld,

•  die Wöchnerinnenunterstützung/Mutterschaftshilfe,

•  das Krankentagegeld ab dem 3. Krankheitstag.

Genauso wie heute war die Höhe des Krankengelds an das Einkommen gekoppelt.

Damals: »in Höhe der Hälfte des ortsüblichen Tagelohnes gewöhnlicher Tagearbeiter« (Bismarck, 1883) für 13 Wochen.

Heute: Etwa 70 % des Brutto-Regelentgelts für 72 Wochen (rund 14 ½ Monate) (§ 47 SGB V).

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Abb. 1: Zander-Apparate

Das Krankentagegeld veranschlagte damals mindestens die Hälfte der Kassenausgaben und war somit einer der größten Ausgabenposten der GKV (Finkenstädt 2010, S. 48). Aktuell sind es nur 5,48 %, mit wieder steigender Tendenz (GKV-SV 2015; SVR-G 2015). Die Versicherungspflichtgrenzen basieren daher noch auf der alten Regel, dass die Kassen zu hohe Krankentagegeld-Ausgaben an die Besserverdienenden vermeiden wollten und diese ihre Lohnausfälle durch Erspartes kompensieren konnten.

Für Arzt- und Krankenhausbehandlung wurde zunehmend das Sachleistungsprinzip angewandt, d. h. die Kosten wurden von der Kasse direkt mit den Leistungserbringern in Einzelverträgen beglichen. Die Erstattung für heilgymnastische Behandlungen war zunächst noch keine gesetzlich vorgeschriebene Pflichtleistung, durfte aber je nach Kassensatzung übernommen werden.

Wann der Heilgymnastik die nächsten Schritte in die Anerkennung gelangen, ist nicht eindeutig überliefert (Hüter-Becker 2004, S. 12 ff.). Hilfreich war sicherlich 1891 die Herausgabe der »Zeitschrift für Orthopädische Chirurgie einschließlich der Heilgymnastik und Massage« vom Orthopäden Dr. Albert Hoffa. Gesundheitspolitisch hielt die preußische Gesundheitsbehörde die Heilgymnastik Ende des 19. Jahrhunderts noch für zu unbedeutend und versagte z. B. die Eröffnung von staatlichen Ausbildungsstätten. Im Jahr 1900 eröffnete in Kiel daher die erste private Lehranstalt für Heilgymnastik. Die Umsetzung der Reichsversicherungsordnung (der Vorläufer der Sozialgesetzbücher) von 1911–1914 fasste die Kranken-, Unfall- und Rentenversicherungsgesetze zusammen und entwickelte sie weiter. Das brachte für die Versicherten und Leistungserbringer den Vorteil, dass u. a. Leistungen und Behandlungskosten klarer definiert wurden. Durch die Ausweitung der Versicherungspflicht um mehrere Berufsgruppen stieg die Versichertenanzahl 1911 auf 13,2 Mio. Menschen, was 18 % der Bevölkerung entsprach (Simon 2008), verteilt auf 22.000 Krankenkassen! (Nagel 2007; Reiners 2011, S. 195). Auch die Krankenanstalten und die zur Verfügung stehenden Betten nahmen zwischen 1900 und 1915 um rund 650 Anstalten und 121.800 Betten zu (Gottstein 1932). Und als zur Jahrhundertwende der »mediko-mechanischen«-Therapie auch von orthopädischer Seite eine Berechtigung zur Behandlung von Unfallopfern zugestanden wurde, bescherte das den Heilgymnastinnen viele Arbeitsverhältnisse mit guter Perspektive. Die besser geregelte medizinische Versorgung durch die GKV nützte somit nicht nur den Patienten im Krankheitsfall, sondern verhalf auch dem medizinischen Personal und den Krankenhäusern zu Existenzsicherung und Wachstum.

Weitere historische Angaben zur damaligen Einbindung der Heilgymnastik in die Gesundheitspolitik sind rar. Es empfehlen sich jedoch die hier genannten Quellen, v. a. die von Hüter-Becker, als weiterführende Literatur.

1.2       Bismarck, Beveridge und das Marktmodell

Images Bismarcksches Sozialversicherungsmodell Images

Eine Pflichtversicherung für (fast) alle Arbeitnehmer, die von ihren Mitgliedern selbst organisiert wird und vom Staat lediglich die sozialrechtlichen Rahmenbedingungen vorgeschrieben bekommt, war damals ein absolutes Novum. Daher hat sich für diese Form eines Gesundheits-Versicherungs-Systems auch der Name seines Gründers als das Bismarcksche Gesundheitsmodell etabliert. Ebenso wie die Kostenträger sind auch die Leistungserbringer (Ärzte, Therapeuten, Krankenhäuser etc.) frei agierende Akteure, die sich an die staatlichen Rahmenvorgaben halten und über ihre Berufskammern, Vereinigungen (Kassenärztliche Vereinigungen) bzw. Verbände, in vertrags- und rechtsverbindlichem Kontakt zu allen anderen Akteuren und Selbstverwaltungsorganen stehen. Dem Bismarckschen Versicherungs-Modell ähnliche Gesundheitssysteme existieren auch in Österreich, Frankreich, den Niederlanden, Belgien, Luxemburg und Japan. Die Verteilung hoheitsrechtlicher Aufgaben auf die Selbstverwaltungskörperschaften der Kostenträger und Leistungserbringer (und vor allem auf den Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA image Kap. 3.3), sind dagegen in keinem Land ähnlich stark ausgeprägt wie in Deutschland.

Images Beveridge Steuerfinanzierungsmodell Images

Eine andere Möglichkeit einer (solidarischen) Kostenbeteiligung für ein nationales Gesundheitssystem besteht auch rein über Steuerabgaben, mit staatlicher Kontrolle der Leistungserbringer. Dieser Weg wurde in den 1940er Jahren in Großbritannien durch den Sozialpolitiker Sir William Beveridge eingeschlagen, der damit nicht nur den Erwerbstätigen, sondern gleich allen Bürgern eine gesundheitliche Absicherung zukommen lassen wollte. Für Sir Beveridge bestand die moralpolitische Aufgabe in der Bekämpfung der » fünf großen Übel«: Elend, Unwissen, Not, Untätigkeit und Krankheit (Beveridge 1942). Dieses Fürsorgekonzept ist dementsprechend als Beveridge-Modell bekannt und später in den skandinavischen und anderen Ländern (z. B. Portugal, Spanien, Italien, Kanada) diesem Vorbild nachempfunden eingeführt worden. Auch das System der DDR entsprach am ehesten dem Beveridge-Modell. Ein wesentlicher Unterschied zum Bismarckschen Versicherungsmodell besteht in der staatlichen Regulierung der Akteure auf dem Gesundheitsmarkt. Der Staat übernimmt hier als Steuereinnehmer auch die besondere Verantwortung für die Ausgaben. In Großbritannien beispielsweise geschieht dies über den »National Health Service« (NHS), der hierarchisch strukturiert vom Gesundheitsminister an oberster Stelle über regionale Versorgungszentren bis hin zu staatlich angestellten Krankenhausärzten, Physiotherapeuten und ambulant tätigen »General Practitioners« die Kontrolle behält.

Images Privatversicherungsmodell Images

Die dritte »idealtypische« Form der Finanzierung und Vorhaltung von Gesundheitsleistungen bildet das sogenannte Marktmodell. Das ökonomische Modell des freien Marktes gründet auf der Überzeugung, dass freie Wettbewerbe mit geregelten Eigentumsrechten (privat vs. Staat) zur effizientesten und gerechtesten Verteilung von Gütern und Dienstleistungen führt. Die Regulierung von staatlicher Seite soll sich darin auf das Minimalste zurückhalten (Nachtwächterfunktion). Versicherte, Versicherer und Leistungserbringer stehen im Marktmodell in privatrechtlichem Vertragsverhältnis zueinander. Im Gesundheitswesen existieren reine Marktmodelle weltweit jedoch nicht (Klemperer 2014, S. 254 f.). In den USA ist dies zwar die vorherrschende Form in der Gesundheitsversorgung der meisten US-Bürger, wo sich jeder privat in einer Krankenversicherung absichern muss bzw. kann. Rund 50 % der Gesundheitsausgaben fallen aber auch dort auf verschiedene staatliche Versicherungsprogramme für Rentner und einige Chronikergruppen (Medicare) sowie für sozial Schwache, Behinderte, Kinder und Veteranen (Medicaid) (ebd.). In Europa beträgt der öffentlich finanzierte Teil etwa 80 %. Die US-amerikanischen Gesundheitsausgaben sind seit Jahren weltweit stets die höchsten, bei im Vergleich zu anderen Ländern niedrigerer Lebenserwartung8 und steigenden Zahlen an chronischen Erkrankungen (Satista 2012). Somit sind die USA auch das Paradebeispiel dafür, dass viel Wettbewerb im Gesundheitswesen nicht gleichzeitig viel Nutzen bedeutet. Präsident Obamas Initiative des »Patient Protection and Affordable Care Act« (»Obama-Care«) soll dem momentanen Zustand entgegen wirken, dass mehrere Dutzend Millionen US-Amerikaner ohne oder mit nur unzureichendem Versicherungsschutz leben müssen.

Mittlerweile findet sich in den wirtschaftlich entwickelten Ländern eine Mischung aller drei idealtypischer Gesundheitssysteme. Die ursprünglichen Gewichtungen zu dem einen oder anderem System sind durchaus noch deutlich zu erkennen, doch haben staatliche Einflussnahme, Steuerfinanzierung, Pflichtversicherungskonzepte bzw. liberale freie marktwirtschaftliche Tendenzen in jedem System ihre Bedeutung. Die typischen Vertreter der drei Systeme – Deutschland, Großbritannien und die USA – haben ihre jeweils eigenen Probleme mit den Vor- und Nachteilen der einzelnen Systeme zu bewältigen. Die kulturell gewachsenen Unterschiede im Umgang mit staatlicher Kontrolle, Bürgerpflichten, freizügigen und unregulierten Märkten etc. bedingen die unterschiedlichen gesellschaftlichen Gewohnheiten. Das Gesundheitswesen mit anderen Produktions- und Dienstleistungsmärkten zu vergleichen, ist allerdings ein Irrglaube, da Gesundheit zum einen zu den Grundbedürfnissen des Menschen gezählt werden muss – mit welchen es sich ethisch verbietet, maximalertragreiche Geschäfte zu treiben (Gesundheit vor Gewinn) (s. UN-Menschenrechtscharta Artikel 25 Abs. 1) – und zum anderen, die »Begrenztheit der Mittel und die Unendlichkeit der Bedürfnisse« (Lüngen 2006, S. 52) einen transparenten und gerechten Markt ausschließen. Die bekannten Theorien zum »freien Markt«, der die Wirtschaft regulierenden »unsichtbaren Hand« (Smith 1776)9, und des rational handelnden »Homo oeconomicus«, dienen Volkswirtschaftlern eher als Labor- und Experimentiergrundlage im Abgleich zur realen Welt (Sinn 2014). Im Gesundheitswesen, wo eine starke Informationsasymmetrie herrscht, die eine angebotsinduzierte Nachfrage befördert, gibt es aber keine freien Märkte. Und wenn es dazu noch um Leid, Schmerz und Tod geht, nicht unbedingt immer mündige und rational handelnde Menschen. Wer in einem akutem Notfall auf Rettungsdienst und nächstgelegenes Krankenhaus angewiesen ist oder eine letale Diagnose erhält, scheidet als klassischer Kunde und Verhandlungspartner mit der nötigen Zeit für die Präferenzbildung nach dem besten Preis-Leistungs-Verhältnis bzw. mit der Option, einen »Handel auszuschlagen«, ebenso aus (s. a. Wernitz & Pelz 2011, S. 169 f).

Die optimale medizinische Expertise dominiert alle anderen Vorlieben, die für den Patienten eine Rolle spielen könnten.

Nagel 2015, S. 49

Die Ökonomisierung von Gesundheit unter dem Motto »Betriebswirtschaft vor Volkswirtschaft« ist dementsprechend eine umstrittene Entwicklung. Dennoch haben sich auch Teile des deutschen Gesundheitswesens im Laufe der Jahre zumindest von einem »Gesundheitssystem« zu einem »Gesundheitsmarkt« (Preusker 2015, S. 2) bzw. die Patienten zu Konsumenten und Kunden gewandelt. Wo die vertretbare Grenze von Wettbewerbs- und Sozialsystem zwischen Notfall und (einem empfundenen, die Lebensqualität mindernden) Bagatellsymptom zu ziehen ist, soll hier jedoch nicht weiter erörtert werden.

1.3       Selbstverwaltung im Gesundheitswesen

Viele Elemente aus den Anfangsjahren des deutschen Gesundheitssystems haben heute noch Bestand. Eines der grundlegendsten und im weltweiten Vergleich ungewöhnlichsten ist das der Selbstverwaltung. Die Organe der Selbstverwaltung nehmen als Körperschaften des öffentlichen Rechts (KöR) Aufgaben des öffentlichen Interesses wahr, die sonst dem Staat zufielen. Der Staat bestimmt zwar den rechtlichen Rahmen, delegiert jedoch die inhaltliche Ausgestaltung an die Organe mit ihrem fachlichen Sachverständnis. Zu den im Gesundheitswesen selbstverwalteten Organen zählen insbesondere: die GKVen, inklusive dem GKV-Spitzenverband, die Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigungen bzw. deren Bundesvereinigung (K(Z)BV) und die berufständigen Landes-Ärztekammern. Vertreter des GKV-SV, der K(Z)BV, der Deutschen Krankenhaus-Gesellschaft (DKG), Patientenvertreter und unparteiische Mitglieder bilden zusammen das oberste gemeinsame Selbstverwaltungsorgan im Gesundheitswesen, den Gemeinsamen-Bundesausschuss (G-BA).10

Images Selbstverwaltung der GKV Images

In der Selbstverwaltung der GKVen bestimmen theoretisch die Beitragszahler selbst – also die Versicherten und die Arbeitgeber – über den Umgang mit den Einnahmen und Ausgaben, in einem vom Gesetzgeber vorgegebenen formalen Rahmen. Für die GKV ist dieser Rahmen maßgeblich im SGB V (Sozialgesetzbuch – Fünftes Buch – Bestimmungen zur Gesetzlichen Krankenversicherung) festgelegt. Die öffentlich-rechtliche Organisation der GKVen war zu deren Anfangszeit eine durchgesetzte Forderung der sozialdemokratischen Verbände und Parteien, um den Mitgliedern der Kassen die Verantwortung über die Geschäfte zu erhalten, die sie in den Hilfskassen z. T. schon seit dem Mittelalter innehatten. Der Staat sollte sich beschränken auf die allgemeine gesetzliche Rahmengebung und deren einheitliche Kontrolle. Die Leistungen und Vertragsverhandlungen mit den Ärzten sollten in der (damals noch) individuellen »Kassenhand« verbleiben. Nur zur Zeit des Nationalsozialismus wurde die Selbstverwaltung der GKVen und vieler anderer Organisationen analog dem »Führerprinzip« faktisch aufgehoben. Die GKVen wurden dem Reichsarbeitsminister unterstellt und die Führungspositionen in den Kassen mit größtenteils fachfremden NS-Funktionären besetzt. Erst mit dem Grundgesetz (1949) wurde Körperschaften des öffentlichen Rechts wieder Rechtssicherheit geboten. Später wurden diese Rechte und Pflichten noch im SGB IV unter § 29 konkretisiert.

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§ 29 SGB IV Rechtsstellung

(1) Die Träger der Sozialversicherung (Versicherungsträger) sind rechtsfähige Körperschaften des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung.

(2) Die Selbstverwaltung wird, soweit § 44 nichts Abweichendes bestimmt, durch die Versicherten und die Arbeitgeber ausgeübt.

(3) Die Versicherungsträger erfüllen im Rahmen des Gesetzes und des sonstigen für sie maßgebenden Rechts ihre Aufgaben in eigener Verantwortung.

Laut Abs. 3 sind Körperschaften des öffentlichen Rechts somit semi-staatliche Organisationen, die entlang des maßgeblichen Rechts in eigener Verantwortung handeln. Die Selbstverwaltungsorgane setzen sich im Verwaltungsrat hälftig aus Versichertenvertretern und Arbeitgebervertretern zusammen (§ 44 SGB IV), bei den Ersatzkassen jedoch nur aus Versichertenvertretern, da diese historisch ohne eine berufsständige Zugehörigkeit entstanden und somit ohne Arbeitgeberbezug sind. In den alle sechs Jahre stattfindenden Sozialwahlen können alle Beiträge zahlenden Versicherten und Arbeitgeber, jeweils getrennt voneinander, ihre ehrenamtlichen Vertreter für die GKV sowie die Renten- und Unfallversicherung wählen. Also i. d. R. alle zuvor Genannten ab dem 16. Lebensjahr und unabhängig der Nationalität, ausgenommen jedoch die beitragsfrei mitversicherten Familienangehörigen. Die zur Wahl stehenden Vertreter der Arbeitnehmer werden dementsprechend von Gewerkschaften, christlichen Arbeitnehmerbewegungen und Versichertengemeinschaften gestellt, die der Arbeitgeber meist von Funktionären der Arbeitgeberverbände.

Der ehrenamtliche Verwaltungsrat ist für die strategische Ausrichtung der Versicherung zuständig und hat nach § 197 SGB V insbesondere:

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(1) 1. die Satzung und sonstiges autonomes Recht zu beschließen,

1a. den Vorstand zu überwachen,

1b. alle Entscheidungen zu treffen, die für die Krankenkasse von grundsätzlicher Bedeutung sind,

2. den Haushaltsplan festzustellen,

3. über die Entlastung des Vorstands wegen der Jahresrechnung zu beschließen,

4. die Krankenkasse gegenüber dem Vorstand und dessen Mitgliedern zu vertreten,

5. über den Erwerb, die Veräußerung oder die Belastung von Grundstücken sowie über die Errichtung von Gebäuden zu beschließen und

6. über die Auflösung der Krankenkasse oder die freiwillige Vereinigung mit anderen Krankenkassen zu beschließen.

(2) Der Verwaltungsrat kann sämtliche Geschäfts- und Verwaltungsunterlagen einsehen und prüfen.

(3) Der Verwaltungsrat soll zur Erfüllung seiner Aufgaben Fachausschüsse bilden.

Daraus ergibt sich z. B. das Recht, die Höhe der Zusatzbeiträge für die Arbeitnehmer zu bestimmen.

Die maximal drei vom Verwaltungsrat benannten Vorstandsmitglieder, die auf sechs Jahre einberufen werden und die die operative und juristische Verantwortung der Kasse tragen, sind seit dem Beschluss des Gesundheitsstrukturgesetzes (GSG, 1992 image Kap. 3.1.2) erstmals hauptamtliche Personen. Im Zuge der Angleichung der verschiedenen Kassenstrukturen sollten Management-Experten »den durch Wahlfreiheit und Wettbewerb gestiegenen Anforderungen an Entscheidungsfähigkeit, Kompetenz und Flexibilität gerecht werden« (BT-Drucksache 12/3608, 1992) und die unternehmerischen Geschicke leiten, z. B. bei Verhandlungen mit den Leistungserbringern.11 Diese Änderung basierte auf der Empfehlung der im Bundestag einberufenen Enquête-Kommission zur Strukturreform der GKV von 1989 (BT-Drucksache 11/6380).

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Die Sozialwahlen mit ihren 48 Mio. Wahlberechtigten sind hinter den Europaparlamentswahlen (63 Mio. Wahlberechtigte) und den Bundestagswahlen (61 Mio. Wahlberechtigte) die drittgrößten demokratischen Wahlen in Deutschland. Die Wahlbeteiligung sank in den letzten Wahlperioden kontinuierlich auf nur noch 30 % im Jahr 2011. Ursächlich für das insgesamt mangelnde Interesse der Versicherten sind wahrscheinlich die geringe Bekanntheit der Kandidaten und deren Kompetenzen, Ziele und Aufgaben. Wahlkundgebungen finden traditionell nicht statt.12 Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass sich in den sogenannten Friedenswahlen Gewerkschaften,

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Abb. 2: Selbstverwaltung in der GKV mit Arbeitgeberbeteiligung bzw. ohne (Deutsche Rentenversicherung Bund sowie Verband der Ersatzkassen e. V. (vdek))

Berufsverbände und unabhängige Versichertengemeinschaften schon im Vorfeld auf die Verteilung der Mandate einigen, für die es zu besetzende Posten gibt. Es findet somit keine Wahlhandlung für die Versicherten statt. Dies wird gern mit dem Kosten-Einspar-Potenzial begründet. Dagegen stehen in den Urwahlen mehr Kandidaten zur Auswahl, als Plätze vorhanden sind, es finden hier somit echte Wahlen statt. Ein Manko des13 paritätisch besetzten Verwaltungsrats ist die Einführung des unparitätischen »Sonderbeitrags zur Anpassung der Finanzierung von Zahnersatz« (und Krankengeld) von 0,9 % im Juli 2005, der nur vom Arbeitnehmer zu leisten ist. Die Versicherten zahlen mehr ein, haben aber nur gleich viel zu sagen (weshalb das Gesetz im Parlament sehr umstritten war). Jeder Versicherte über 18 Jahren hat das Recht, eine eigene »freie Liste« zu gründen und sich für dieses Ehrenamt aufstellen zu lassen – vorausgesetzt er erhält im Vorfeld genügend Unterstützerunterschriften. Je nach Größe des Sozialversicherungsträgers sind das zwischen 5 und 2.000 (§ 48 Abs. 2 SGB IV).

Exkurs: Stellt man für alle Beteiligten im Gesundheitswesen den Patientennutzen an erster Stelle, muss die Frage erlaubt sein, ob die Selbstverwaltung der GKVen für dieses Ziel nicht hinderlich ist. Denn der Verwaltungsrat hat in erster Linie für das Wohlergehen seiner Kasse und Versicherten zu sorgen und nur indirekt für seine Versicherten, wenn sie zu Patienten werden (Rosenbrock & Gerlinger 2014, S. 149).

Weitere Institutionen, die keine Körperschaften des öffentlichen Rechts, allerdings mittlerweile mit zahlreichen Selbstverwaltungsaufgaben betraut sind, sind z. B. die Bundesärztekammer (nicht eingetragener Verein), die Deutsche Krankenhausgesellschaft e. V. (DKG) und die Landeskrankenhausgesellschaften (e. V).

 

 

 

4     Maßgeblich ausgearbeitet vom Sozialreformer Theodor Lohmann (Tennstedt 1994).

5     »Bismarck hatte immer einen Plan B« (Winkler 2015).

6     Die heutigen Betriebskrankenkassen (BKK).

7     Z. B. wurde die heute noch existierende DAK-Gesundheit 1774 in Breslau als »Institut für hilfsbedürftige Handlungsdiener« gegründet.

8     USA = 79 Jahre (Rang 33), BRD = 81 Jahre (Rang 25) (WHO 2013a).

9     Wobei Smith’s Ansichten zur »unsichtbaren Hand« lange Zeit z. T. fehlinterpretiert wurden (s. Hopp 2004).

10  Außerhalb des Gesundheitswesens sind die Renten-, Arbeitslosen- und Unfallversicherungsträger ebenfalls als Körperschaften des öffentlichen Rechts selbstverwaltet.

11  Wie sehr sich diese Änderung positiv für die Kassen ausgezahlt hat lässt sich schwer beziffern. Was sich allerdings objektiv nachvollziehen lässt, sind die Gehaltssteigerungen der Vorstände um bis zu 20 % jährlich seitdem (sogar um 38 % bei der BARMER GEK von 2007–2014) (Bundesanzeiger 2015). Vergleichbare Vorstandpositionen bei den PKVen und in der Privatwirtschaft werden jedoch um ein vielfaches höher entlohnt (Reiners 2011, S. 203 f.).

12  Eine Gesetzesänderung zur Ermöglichung der digitalen Wahlabgabe zur Steigerung der Wahlbeteiligung steht zwar im Koalitionsvertrag (der Großen Koalition von 2013), wird jedoch nicht mehr rechtzeitig vor 2017 umgesetzt werden.

13  In Stimmen – da für die Ersatzkassen keine Arbeitgebervertreter entsandt werden.

2          Das deutsche Gesundheitswesen – gesundheitspolitische Strukturen, Akteure, Institutionen und die Krankengymnastik

 

 

 

Die Arbeitsbedingungen in den Fabriken verursachten trotz erster Präventionskampagnen der Unfallversicherungen weiterhin zahlreiche Arbeitsunfälle und der zunehmende Straßenverkehr zudem immer mehr und immer folgenschwerere Verkehrsunfälle. Insbesondere der Erste und der Zweite Weltkrieg brachten neben dem unermesslichen Leid, dem wirtschaftlichen Zusammenbruch und dem politischen Neuanfang viele Versehrte, die nun medizinische Versorgung benötigten. 1919 wurde nach vielen ärztlichen Diskussionen um die Stellung der hauptsächlich aus den schwedischen Gymnastikschulen kommenden Heilgymnastinnen, neben der seit 1900 bestehenden privaten Kieler »Lehranstalt für Heilgymnastik«, endlich eine zweite, die »Sächsische Staatsanstalt für Krankengymnastik und Massage« in Dresden, eröffnet. Der Begriff Krankengymnastik wurde damit offiziell. Weitere von Ärzten gegründete und geleitete Kranken- bzw. Heilgymnastikschulen folgten. Die Befürchtung der Ärzte bestand allerdings schon 1912 in der Sorge, dass die Ausbildung von »Laien in der allgemeinen orthopädischen Chirurgie« (Bade 1939) zur unkontrollierbaren selbständigen Ausübung der Heilgymnastik den Patienten mehr schaden als nützen könnte. Weniger uneigennützig gab es aber auch die Befürchtung, sich die Heilprofession mit noch mehr nicht akademischen »orthopädischen Kurpfuschern« (Lubinus 1913) teilen zu müssen. Denn durch die Kurierfreiheit – die bis zum Erlass des Heilpraktikergesetzes 1939 galt und die Ausübung der Heilkunde ohne jegliche Ausbildung erlaubte – hatten die approbierten Ärzte aus ihrer Sicht schon genug Konkurrenz. Es gab daher nicht wenige Ärzte, die eine Spezialisierung zum Arzt für Heilgymnastik und Massage befürworteten. Andere sahen in der anstrengenden Arbeit und dem direkten Kontakt (Hands-on), z. T. auch mit den unteren sozialen Schichten, schon einen Nutzen in den heilgymnastischen Assistentinnen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Arbeitslosenquote in Ost- und Westdeutschland offensichtlicherweise sehr hoch, nur der Bedarf an therapeutischem Fachpersonal war so immens groß geworden, dass die ersten staatlich geprüften Heilgymnastinnen nun zunehmend selbst um ihren Stand fürchteten. Sie befanden sich plötzlich im Abgrenzungskampf ihrer Profession zu den zahlreichen (eher weiblichen) Krankenschwestern, Turn- und Gymnastiklehrerinnen und den (eher männlichen) Masseuren und Sanitätern. Sie und viele weitere freiwillige Hilfskräfte wurden als nur angelernte Gehilfen mit in die Bewegungstherapie der Verletzten und Verstümmelten eingebunden (Kohlwes 2009). Die Heil- und Krankengymnastikschulen unterrichteten nach eigenen und unterschiedlichen Lehrplänen, eine Berufsordnung existierte nicht. Zur Gründung einer eigenen Berufsorganisation zur Wahrung und Weiterentwicklung der Berufsinteressen der Krankengymnastik (diese Bezeichnung hatte sich mittlerweile durchgesetzt) engagierten sich die Krankengymnastinnen Irmgard Kolde, Christa Dültgen, Asta von Mülmann und Gertrud Finke bereits 1948 für den Zusammenschluss der vereinzelten seit 1946 bestehenden Landesgruppen zu einem zentralen Berufsverband für Krankengymnastinnen (Hüter-Becker 2004, S. 16 f.) (image Kap. 5.4). Dennoch ging dies damals nicht ohne ärztliche Fürsprecher. 1949 erhielten sie prominente Unterstützung bei der Gründung des »Zentralverbands der krankengymnastischen Landesverbände«14 von ärztlicher Seite. Unter anderem durch Professor Dr. Franz Ludwig Schede (1882–1976), der ein anerkannter Orthopäde und seit 1933 Leiter der »Deutschen Orthopädischen Gesellschaft«, Leiter der Krankengymnastikschule in Leipzig und langjähriger Chef von Irmgard Kolbe war (Grosch 1996, S. 243 f.). Die allerersten Berufsverbände für Heilgymnastinnen wurden allerdings schon Ende der 1920er Jahre von Absolventinnen verschiedener Heilgymnastik-Schulen gegründet (Landesarbeitsamt Westfalen 1929). Da sich diese wahrscheinlich nur sehr regional verbreiteten und in den späteren Kriegsjahren an Bedeutung verloren, ist wenig über ihre berufs- und gesundheitspolitische Rolle bekannt:

•  Vereinigung deutscher staatlich geprüfter Heilgymnastinnen in Kiel,

•  Deutsche Vereinigung für schwedisch-pädagogische Gymnastik in Dresden,