image
Image

FÜR NIKLAS, MORITZ UND FELIX

© Matthias Brandl

edition Lichtland
Stadtplatz 4, 94078 Freyung
Deutschland

Illustrationen: Matthias Brandl
Umschlaggestaltung: Edith Döringer
Satz: Melanie Lehner

1. Auflage 2016

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags
zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,
Übersetzungen und die Einspeicherung und
Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN: 978-3-942509-79-4
ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-942509-54-1

www.lichtland.eu

MATTHIAS BRANDL

DIE
GEDANKENMUSIK

ROMAN

Image

1. KAPITEL

ANKUNFT

Image

Der Zug hielt mit einem lauten Quietschen.

„Maja, wir müssen hier aussteigen.“

Maja rührte sich nicht. Tief in Gedanken versunken starrte sie durch die Fensterscheibe des Zugabteils auf den kleinen Bahnhof. Ihre Mutter strich ihr sanft über den Kopf.

„Na komm, mein Kleines. Das wird bestimmt ganz lustig hier. Hm?“

Maja zuckte mit den Schultern und schnallte sich ihren Rucksack auf den Rücken.

„Na also“, seufzte ihre Mutter. Gemeinsam kämpften sie sich ins Freie vor.

Auf dem Bahnsteig angekommen blieben sie stehen. Majas Mutter reckte den Kopf und sah sich um.

„Wo ist sie denn? Ich habe ihr doch gesagt, dass wir ... Ah, da!“

Sie ließ alles Gepäck auf den Boden fallen und begann, wie wild zu winken.

„Huhu! Christel!“, rief sie.

Maja sah in die Richtung, in die ihre Mutter winkte, und grinste. Tante Christel sah genauso aus wie in ihrer Erinnerung: Ein langes, bunt gemustertes Gewand wehte um ihren zaundürren Körper. Unmengen an Ketten und Bändern schienen das feine Tuch vor dem Davonfliegen zu bewahren. Ihre langen braunen Haare, die hin und wieder von einer grauen Strähne durchsetzt waren, wirbelten, ein lustiges Blitzen lag in ihren von Lachfältchen umgebenen Augen.

Tante Christel war die Schwester ihrer Mutter. „Die verrückte Schwester“, wie Majas Vater zu sagen pflegte. Außerdem war sie die Chefin des kleinen Feriendorfs, in das Maja mit ihrer Mutter unterwegs war. Lieber benutzte Christel aber die Bezeichnung „Häuptlingin“. Maja hatte dieses Wort schon immer lustig gefunden und Tante Christel einmal gefragt, warum sie sich denn nicht einfach „Häuptling“, anstelle von „Häuptlingin“, nannte.

„Weil ich eine Frau bin, Maja“, hatte sie gesagt. „Und das muss betont werden.“

„Aber kann es denn keinen weiblichen Häuptling geben?“

Maja konnte sich noch genau erinnern, dass Tante Christel bei dieser Frage erbost die Augenbrauen in die Höhe gezogen hatte. „Einen weiblichen Häuptling? Mein gutes Kind! Hast Du schon jemals etwas von einem weiblichen König gehört? ‚König Elisabeth’ vielleicht? Nein, nein, das geht nicht. Nicht wahr? Und warum geht es nicht? Na? Ganz klar. Weil es Königin Elisabeth heißt. Also heißt es auch nicht ‚Häuptling Christel’, sondern ‚Häuptlingin Christel’. Punktum!“

„Hach, da seid ihr ja endlich!“ jubelte sie. Heftig umarmte sie ihre Schwester und beugte sich dann zu Maja hinunter. „Groß geworden bist du, Maja. Wie lange ist es her? Drei Jahre? Vier? Na egal. Auf jeden Fall müsstest Du jetzt, na überlegen wir mal kurz, zehn Jahre alt sein. Richtig?“ Sie sah Maja schelmisch an.

Maja nickte. Sie war zehn Jahre alt. Und sie war so groß wie man mit zehn Jahren groß zu sein hatte, zumindest behauptete ihre Mutter das immer. Maja hatte lange kastanienbraune Haare, auf die sie sehr stolz war, denn sie waren genau so lang und genau so weich wie die Haare ihrer Mutter. Immer wenn Maja nachts von Albträumen geplagt aufwachte und in das Bett ihrer Eltern kroch, steckte sie als erstes ihre Nase in das dichte Meer der Haare ihrer Mutter – und der Duft und die Weichheit trugen all die Dämonen und bösen Dinge fort. Maja hatte oft Albträume. Sie wusste nie, woher sie kamen und was sie von ihr wollten. Und obwohl sie sich sehr bemühte, keine Angst vor ihnen zu haben, kamen sie immer wieder. Wenn ihre Mutter sie danach fragte, was sie Schreckliches geträumt hatte, konnte Maja es ihr nie erklären. Sie wusste selbst nicht genau, was es war, das ihr noch vor kurzem Angst gemacht hatte. Sie wusste nur, dass sie sich davor fürchtete, wieder zurück in ihr kleines Zimmer zu gehen. Manchmal dachte sie, dass es vielleicht das Haus selbst war, das nachts seine langen kalten Finger nach ihr ausstreckte und sie nicht schlafen ließ, aber sie war sich nicht sicher. Wenn sie sich einer Sache nicht sicher war, dann wollte sie sie ihren Eltern auch nicht sagen. Schon gar nicht ihrem Vater, für den sie sowieso eine Tagträumerin war. „Geh raus und spiel mit den anderen Kindern”, sagte er oft. „Beim Spielen kommst du schon auf andere Gedanken. Wer den ganzen Tag nur in der Stube hockt, dem kann ja nichts Vernünftiges einfallen.”

Tante Christel verstaute Maja und ihre Mutter im Nu mitsamt Gepäck in ihrem knallbunt angemalten VW-Bus – ihrem „Supergefährt“, wie Christel den Bus liebevoll getauft hatte. Unter lautem Getöse des altersschwachen Motors fuhren sie los. Ihre Mutter und Tante Christel unterhielten sich über so langweilige Dinge wie das Wetter der vergangenen Woche und das Gebaren der Gäste im Feriendorf. Maja zog ihren mp3-Player aus dem Rucksack und setzte sich die Kopfhörer auf. Zur Musik ihrer Lieblingsband ließ sie ihre Gedanken treiben und sah nach draußen. Nichts von dem, was sie erblickte, schien ihr besonders aufregend. Da gewahrte sie aus den Augenwinkeln heraus einen prüfenden und zugleich etwas besorgten Blick ihrer Mutter. Als diese sich wieder abwandte, mit den Schultern zuckte und die Unterhaltung mit Tante Christel wieder aufnahm, wusste Maja, was der Blick bedeutet hatte: Ihre Mutter wollte sichergehen, dass sie nicht zuhörte. Maja ahnte, worüber die beiden Frauen nun sprachen – und obwohl sie das eigentlich gar nicht hören wollte, konnte sie nichts dagegen machen, dass ihr Zeigefinger vorsichtig auf die Stopptaste drückte.

„Ich weiß nicht, ob wir noch eine Chance haben“, sagte Majas Mutter gerade.

Majas Herz durchfuhr ein Stich, doch sie ließ sich nichts anmerken. Bemüht teilnahmslos blickte sie weiter aus dem Fenster, ohne irgendetwas zu sehen. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem, was an ihre Ohren drang.

„Und was meint er zu allem?“, fragte Tante Christel.

Majas Mutter seufzte. „Ich weiß es nicht. Langsam habe ich das Gefühl, dass es ihm egal ist. Alles. Ich bin ihm egal, Maja, unsere ganze Familie.“

„Männer!“

„Hör auf, Christel. Es ist alles viel komplizierter.“ Majas Mutter drehte den Kopf zum Beifahrerfenster. „Zu kompliziert.“

Eine Weile herrschte Stille. Schließlich ergriff Tante Christel wieder das Wort.

„Und wie lange soll diese Trennungsphase dauern?“

„Ich weiß es nicht. Lange genug, hoffe ich.“ Majas Mutter strich sich die Haare aus der Stirn. „Er hat gesagt, dass er uns besuchen kommt.“

„Und wann?“

„Hat er nicht gesagt.“

„Und wenn er nicht kommt?“

In Panik tastete Maja nach der Playtaste. Sie wollte die Antwort ihrer Mutter nicht hören. Auf gar keinen Fall. Doch dieses Mal war ihr Zeigefinger nicht schnell genug. „Dann kommt er überhaupt nicht mehr.“

Hastig stützte sie beide Ellbogen auf die Armlehne, so dass sie ihr Gesicht in den Händen verbergen konnte. Heimlich wischte sie sich die Tränen ab, die sie jetzt nicht mehr zurückhalten konnte. Alles verschwamm vor ihren Augen. Als sie im Feriendorf ankamen, sah Maja nichts als ein seltsam trauriges Meer bunter Farben. In diesem Augenblick wäre sie am liebsten darin ertrunken.

2. KAPITEL

DIE MUSIKANTEN

Image

Die Tage im Feriendorf verstrichen langsam und eintönig. So sehr sich ihre Mutter Mühe gab es zu verbergen, so sehr spürte Maja, dass sie hier, inmitten der bonbonfarbenen Häuser, nichts anderes taten als zu warten. Auf Papa. Fünf lange Tage waren sie nun schon hier und jeden Tag durfte Maja sich dasselbe anhören:

„Willst Du nicht schauen, was die anderen Kinder machen? Gib Dir doch einen Ruck, na komm!“

Aber Maja wollte nicht. Sie blieb meist in ihrem Zimmerchen, las oder malte und beobachtete heimlich ihre Mutter, wie sie still und betrübt einfach nur dasaß. So wie auch an diesem Morgen.

Vom Wohnzimmer aus konnte sie das Gesicht ihrer Mutter gut sehen, die in einem der weiten, weich gepolsterten Korbstühle auf der Veranda saß. Sie konnte auch sehen, dass ihre Mutter traurig war, sehr traurig sogar. Gern hätte Maja diese Traurigkeit einfach weg gewischt. Aber sie wusste, dass sie sich noch so lange in die Arme ihrer Mutter legen konnte – es würde nichts helfen. Nur ihr Vater konnte helfen. Wenn er nur da wäre. Doch er kam nicht. Und wenn Maja an die belauschte Unterhaltung zwischen ihrer Mutter und Tante Christel dachte, bekam sie Angst, dass ihr Vater überhaupt nicht mehr kommen könnte. Wieder stiegen ihr die Tränen in die Augen. Warum konnte es denn nicht so sein wie in anderen Familien, wo die Eltern sich gut verstanden und glücklich waren? Maja fühlte, wie sich heiße Wut in ihre Traurigkeit mischte. Immer weiter stieg dieses Gefühl in ihr nach oben, bis ihr Kopf beinahe zerspringen wollte. Eilig schnappte sie ihre Jacke und rannte nach draußen. Ihre Mutter hörte, wie sie die Tür hinter sich zuschlug und rief ihr noch etwas nach, doch Maja verstand weder die Worte, noch wollte sie irgendeine Antwort geben. Sie rannte einfach kreuz und quer durch die Straßen, bis der Druck in ihrem Kopf endlich nachließ. Dann verlangsamte sie ihren Schritt und blieb schließlich stehen. Schwer atmend sah sie sich um. Vor drei oder vier Jahren war sie schon einmal mit ihren Eltern hier gewesen. Damals war die Welt noch in Ordnung, zumindest hatte sie das damals gedacht. Maja hatte das fröhliche Lachen ihrer Eltern noch im Ohr, das ihre gemeinsamen Spaziergänge durch das Feriendorf begleitet hatte.

Sie ging langsam weiter, einfach dorthin, wohin ihre Füße sie trugen, und die gingen mal nach rechts, mal nach links, manchmal geradeaus und manchmal machten sie kehrt und gingen einfach denselben Weg wieder zurück. Maja sah Häuser in den verschiedensten Farben und Formen: alte Häuser in kräftigem Zinnoberrot, moderne Häuser in grellem Kadmiumgelb, ehemalige Bürobauten in tiefem Kobaltblau. Ein Gebäude, das wie ein kleines Schloss aussah und ganz in Smaragdgrün angestrichen war. Und natürlich die „Residenz“ der Häuptlingin Tante Christel: ein prächtiges altes weißes Haus mit kleinen rosafarbenen Türmchen. Maja erkannte alles wieder, auch wenn es ihr erst dann wieder einfiel, wenn sie direkt davor stand.

Auf der Uhr der kleinen Dorfkirche sah sie, dass es inzwischen fast halb zwölf geworden war. Um zwölf würde ihre Mutter mit dem Essen auf sie warten. Maja befahl ihren Füßen, wieder nach Hause zu laufen, doch sie kam nicht weit. Aus einer Gasse heraus vernahm sie lautes Klatschen und Lachen und blieb neugierig stehen. Dann verstummte der Jubel, und an seine Stelle trat Musik. Erst war es eine Gitarre, dann kamen immer mehr Instrumente hinzu. Maja verstand nicht allzu viel von Musikinstrumenten, aber sie glaubte, eine Flöte, ein Akkordeon und eine Geige herauszuhören. Miteinander spielten sie ein Lied, das Maja unglaublich schön fand. Sie mochte Musik sehr, vor allem die Lieder, die ihr ihre Mutter früher immer vorgesungen hatte. Früher. Jetzt schienen sich die Lieder ihrer Mutter zusammen mit ihrer Fröhlichkeit in Luft aufgelöst zu haben. Ohne lange zu überlegen, schlich sie leise in die Gasse hinein.

Nach ungefähr fünfzig Metern beschrieb die Gasse eine Kurve und weitete sich zu einem kleinen Hof, der voller Menschen war. Maja konnte zuerst nichts sehen, da vor ihr lauter Leute standen, die größer waren als sie. Aber die Musik war jetzt so laut, dass die Musikanten nur noch wenige Schritte entfernt sein konnten. Angestrengt sah Maja sich nach einer Lücke in der Menschenmenge vor ihr um, aber sie fand nur kleine Zwischenräume, durch die sie ab und zu einen schnellen Blick auf die Spielenden erhaschen konnte.

Doch dann entdeckte sie zu ihrer Freude ein altes Holzfass, das am Eingang des kleinen Hofes stand. Was auch immer es dort zu suchen hatte, für Maja war es ideal. In Nullkommanichts war sie hinaufgestiegen und hatte nun einen ausgezeichneten Blick auf die Gruppe der Musikanten. Sie bestand aus fünf lustig gekleideten Menschen, zwei Frauen und drei Männern. Ihre Gewänder waren genauso bunt wie die Farben, die Maja immer zum Malen verwendete. Rote Schnüre banden blaue Kaftane zusammen, große und kleine Hüte in komischen Formen bedeckten ihre Köpfe. Tatsächlich gab es einen Mann mit einer Gitarre, eine Frau mit einer Geige, eine Frau mit einer Querflöte, die silbrig im Sonnenlicht glitzerte, während sie sich zum Rhythmus der Musik bewegte, einen Mann mit einem Akkordeon und einen Mann, der gar kein Instrument spielte. Dieser letzte Mann, der sehr groß und dünn war, sah mit der gemalten Träne auf seiner Wange genau so aus, wie sich Maja einen Clown vorstellte. Er wiegte seinen Körper hin und her, hielt die Augen geschlossen und summte die Melodie ganz leise mit. Dann öffnete er seine Augen und trat einen Schritt näher an die Zuhörer heran. Mit voller Stimme begann er zu singen: Kommt mit in ein Land,

das uns einst verband,

wo man Musik machte,

sang, tanzte und lachte.

Dort gibt´s keine Mauern,

keinen Grund, um zu trauern,

und das einzige Wort

ist Musik immerfort.

Nach dem letzten gesungenen Wort dieser Strophe schwoll die Musik in seinem Rücken an, und er vollführte einen kleinen, tollpatschigen Luftsprung. Jetzt erst sah Maja, dass noch andere Kinder unter den Zuhörern waren. Die Augen der Kinder strahlten, als sie von ihren Plätzen aufstanden und sich neben dem Clown in einer Reihe aufstellten. Offensichtlich kannten die Kinder das Lied bereits, denn als nun der Refrain erklang, sangen sie alle eifrig und laut mit und vollführten zusammen mit dem Clown eine lustige Abfolge von Tanzbewegungen:

Drum Leute und Kinder

vergesst eure Sorgen

uns stört´s auch nicht minder

verschiebt sie auf morgen.

Maja musste lachen. Es war schon lange her, dass sie eine solche Freude erlebt und etwas so Schönes und Lustiges gesehen hatte. Begeistert klatschte sie zusammen mit den anderen Menschen, die auf dem Hof standen, in die Hände und summte die Melodie des Refrains mit, den die Instrumente noch einmal wiederholten. Dann rannten die Kinder wieder zurück auf ihre Plätze und der Clown sang die nächste Strophe:

Das Land, das ist gross,

so riesig famos,

hat Platz für euch alle,

für Hund, Katz’ und Qualle.

Doch eilt euch geschwind,

seid schnell wie der Wind,

so gross es auch ist,

so schnell man´s vergisst.

Und wieder rannten die Kinder zu dem Clown, und der Tanz begann von neuem. Maja lachte, und da der Text und die Melodie so einfach waren, sang sie dieses Mal auch mit:

Drum Leute und Kinder

vergesst eure Sorgen

uns stört´s auch nicht minder

verschiebt sie auf morgen.

Ihr habt´s nun gehört,

vielleicht hat´s gestört,

die Kunde vom Lande

der Musikerbande.

Nun müssen wir gehen,

wie Blätter verwehen,

neue Lieder wir bringen,

um weiter zu singen.

Drum Leute und Kinder

vergesst eure Sorgen

uns stört´s auch nicht minder

verschiebt sie auf morgen.

Dann endeten die Musikanten in einem lauten Schlussakkord und die Menge applaudierte.

„Bravo! Zugabe!”

Auch Maja stimmte in die Beifallsrufe mit ein. Der Clown verbeugte sich und die anderen Mitglieder der Gruppe taten es ihm nach. Er lächelte.

„Tut mir leid, Kinder.” sagte er. „Mein Magen knurrt und wenn ich nicht aufpasse, dann verdirbt er mir damit meinen ganzen Gesang.”

Die Kinder und die Erwachsenen lachten.

„Wir sehen uns wieder.” sagte der Clown. „Wenn ihr wollt, dann schon heute Nachmittag.”

„Ja!” entfuhr es Maja, aber es fiel nicht weiter auf, da beinahe alle Kinder das gleiche geschrien hatten. Auf jeden Fall würde sie heute Nachmittag wiederkommen. Sie sah auf die Uhr und erschrak. Es war bereits nach zwölf. Jetzt musste sie sich aber beeilen! Sie wollte die bedrückte Laune ihrer Mutter nicht noch verschlimmern. Maja sprang von ihrem Fass herunter und mischte sich unter die Leute, die nun alle aus dem kleinen Hof hinausströmten. Geschwind schlängelte sie sich durch die Reihen, und ihre Füße schlugen sofort den Weg nach Hause ein.

3. KAPITEL

WUNDERSAME MELODIEN UND EINE GESCHICHTE

Image

„Was hast du denn den ganzen Vormittag gemacht?”, fragte Majas Mutter beim Essen.

„Bin rumgelaufen”, antwortete Maja.

Maja räumte ihren Teller in die Küche und suchte nach ihrer Jacke.

„Willst du schon wieder raus?”, fragte ihre Mutter erstaunt. So kannte sie ihre Tochter gar nicht.

„Ja”, sagte Maja, umarmte ihre Mutter und gab ihr einen Abschiedskuss auf die Wange.

„Na dann viel Spaß”, sagte ihre Mutter.

Maja nickte und rannte aus der Wohnung. Ihre Füße fanden die Gasse sofort wieder, und ehe sie sich versah, stand sie wieder in dem kleinen Hof, der noch vor kurzem voller Erwachsener und Kinder gewesen war. Jetzt war sie ganz allein. Die Musikinstrumente der Gruppe lagen jedoch noch da. Maja wunderte sich über so viel Leichtsinn. Hatten die keine Angst, dass man ihnen etwas stehlen könnte? Neugierig trat sie näher und betrachtete die Instrumente genauer. Maja selbst machte keine Musik, und es war ihr unvorstellbar, wie aus diesen Geräten Melodien herauskommen konnten. Wenn Leute, die sich damit auskannten, darauf spielten, dann sah das immer so einfach aus. Maja streckte ihre Hand nach der Geige aus, doch da packte sie jemand an der Schulter.

„Wen haben wir denn da?”, sagte eine Stimme hinter ihr. „Du willst uns doch nicht etwa unsere Instrumente stehlen, oder?”

Maja erschrak und fuhr herum. Ihr Gesicht lief so rot an, wie es wahrscheinlich zuvor noch nie der Fall gewesen war. Vor ihr standen alle fünf Musikanten.

„N-n-n-n-nein”, stotterte Maja. „B-b-bestimmt nicht.”

„Bestimmt nicht?”, fragte der Mann, der Maja am nächsten stand. Es war der Sänger.

„Bestimmt nicht”, beteuerte Maja noch einmal. Ihr Gesicht brannte wie Feuer.

„Hmmm“, machte der Sänger und kratzte sich am Kopf. „Was wolltest du denn dann?”

Maja blickte verlegen zu Boden.

“Ich wollte wissen, wie sie funktionieren”, stammelte sie. Irgendwie kam ihr das, was sie sagte, furchtbar dumm vor.

„Du wolltest sehen, wie unsere Instrumente funktionieren?”, fragte der Sänger.

Maja nickte. Langsam ließ die Röte in ihrem Gesicht nach.

„Soso”, machte der Mann und kratzte sich wieder am Kopf. „Naja, das ist deine Version. Es könnte immer noch sein, dass du uns einfach etwas vorlügst und trotz allem vorhattest, unsere Instrumente zu stehlen.”

Langsam bekam Maja Angst. Sie hatte noch nie etwas gestohlen, aber wie sollte sie das beweisen? „Jetzt bloß nicht weinen“, befahl sie sich.

„Ich denke”, fuhr der Sänger mit erhobener Stimme fort, „dass sich der hohe Rat der Musikanten nun für kurze Zeit zurückzieht, um über das weitere Vorgehen im Falle … äh … wie heißt du denn überhaupt?”

„Maja.”

„...um über das weitere Vorgehen im Falle Maja zu entscheiden.”

Daraufhin drehte er sich um und die fünf Männer und Frauen steckten die Köpfe zusammen. Dann, nach nicht einmal zehn Sekunden, hoben die fünf ihre Köpfe, und der Sänger wandte sich wieder an Maja. Ihr wurde ganz mulmig.

„Maja, Maja, Maja”, sagte der Sänger mit tadelnder Stimme. „Wie du bestimmt selber weißt, können wir dir keine Untat nachweisen. Nicht einmal eine böse Absicht können wir dir unterstellen. Und zu alledem kommt auch noch hinzu, dass wir dir ausnahmslos glauben, dass du unsere Instrumente nicht stehlen wolltest. Wenn du die Geige nur wenigstens berührt hättest, dann hätten wir dich zumindest wegen Beschmutzung fremden Eigentums drankriegen können. Aber so? Schade, Schade.”

Der Sänger zog eine lustige Grimasse, die gespielte Enttäuschung widerspiegelte, und Maja fiel ein Stein vom Herzen. Also war doch nur alles Spaß gewesen!

„Aber eine Sache ist dennoch unentschuldbar”, sagte der Sänger und blickte wieder ernst. „Nämlich die Tatsache, dass du nicht weißt, wie ein Instrument funktioniert. Das ist eine Katastrophe. Wir haben eine lange Zeit, ganze sieben Sekunden, darüber beraten, was in diesem Falle zu tun ist. Und wir sind zu einem Entschluss gekommen. Die Entscheidung ist uns nicht leicht gefallen, das kannst du uns glauben. Eine ganze Sekunde lang haben wir darüber nachgedacht, aber es blieb dabei.”

Er hob feierlich den Zeigefinger. „Maja, hiermit verurteilen wir dich zu einem mindestens einstündigen Anschauungsunterricht unserer Musiziererei in der Form von Zuhören, Mitsingen und Mitklatschen. Wir sind uns im Klaren darüber, dass das Urteil übermäßig hart ausgefallen ist, doch das Mittagessen war beinahe unverdaulich und hat einigen Mitgliedern des hohen Rates offensichtlich etwas auf den Magen geschlagen. Wir bitten, das zu entschuldigen.” Er lachte und auch Maja musste lachen. Der Sänger beugte sich zu ihr hinunter und lächelte sie an.

„Wir haben dir doch hoffentlich keine Angst gemacht, oder?”

Maja schüttelte den Kopf und der Sänger legte zweifelnd den Kopf schief. „Auch nicht ein bisschen?” fragte er.

Maja lachte. „Ein bisschen schon”, gestand sie.

„Nicht mehr?” Er machte ein beleidigtes Gesicht, und Maja musste schon wieder lachen.

„Schon gut“, sagte sie. „Ich geb´s ja zu. Ich hatte verdammt große Angst. Zufrieden?” Der Sänger nickte. „Wenn jemand ehrlich zu mir ist, dann bin ich immer zufrieden. Ach, entschuldige meine Unhöflichkeit. Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt.” Theatralisch verbeugte er sich, ergriff Majas Hand, zog sie zu seinem Mund und drückte ihr einen sachten Kuss darauf. „Meine Gnädigste, wenn Sie erlauben, mein Name ist Antonius. Meines Zeichens Antonius der Clown, Antonius der Sänger, Antonius der Mann, Antonius der Antonius.” Maja lachte und erwiderte seine Darbietung mit einem leichten Knicks.

„Freunde und Kinder dürfen mich Anton nennen”, fuhr Antonius fort. „Wollen wir Freunde sein?”

Schüchtern nickte sie. Unter großem Jubel fasste Anton sie an den Händen und tanzte mit ihr durch den ganzen Hof. Auf einmal war es Maja, als würden alle Ängste und Sorgen von ihr abfallen. Das einzige, was sie noch konnte, war lachen. Sie konnte gar nicht mehr aufhören.

Maja blieb den ganzen Nachmittag in dem kleinen Hof, hörte zu und sang und klatschte. Einmal wies Anton sie darauf hin, dass ihre Pflichtstunde schon lange abgelaufen sei und sie eigentlich nach Hause gehen könnte. Maja winkte nur ab und blieb sitzen. Inzwischen waren noch mehr Leute da als am Vormittag. Kinder, allein oder mit ihren Eltern, einige Jugendliche, Pärchen, Menschen im Alter von Majas Eltern und auch richtig alte Leute. Sie alle kamen und gingen, lachten und klatschten und hörten zu. Maja saß diesmal ganz vorne, und wenn die anderen Kinder zum Tanz aufsprangen, sprang sie ebenfalls auf und tanzte mit.

Die Musikanten spielten auch langsame, traurige Melodien. Anton sang dann immer ganz leise. Maja verstand die Worte nicht, sie schienen aus einer anderen Sprache zu kommen. Aber sie fühlte immer ganz genau, was die Worte bedeuteten, und sie spürte, wie sie all ihre Trauer und ihre Angst aus ihr heraus trugen. Manchmal musste sie bei diesen Liedern weinen, weil sie so wunderschön waren. Wenn sie diese Lieder hörte, dann spürte Maja, wie einsam sie eigentlich war und wie sehr sie die Liebe ihrer Eltern vermisste. Sie bemerkte auch, dass es nicht nur ihr so ging: In den meisten Augen war ein feuchter Schimmer zu sehen. Diejenigen, die zu zweit gekommen waren, hielten sich noch fester an den Händen oder in den Armen. Sogar die Kinder, die noch viel kleiner waren als Maja, hörten wie benommen zu. Keines von ihnen schrie oder wollte etwas anderes machen. Niemand schwatzte oder störte. Alle waren still und hörten andächtig zu, so stark war der Zauber dieser seltsamen Worte und dieser seltsamen Melodien.

Anton und seine Begleiter spielten, bis es dunkel wurde. Danach zerstreute sich die Menge der Zuhörer, bis nur noch die Kinder übrig blieben. Auch Maja war noch nicht aufgestanden. Gespannt betrachtete sie die Kinder, die jetzt alle nach vorne drängten und sich neben sie setzten. Sie schienen auf etwas zu warten.

„Wollt ihr nicht nach Hause gehen?”, fragte Anton mit verschmitztem Lächeln, als er die kleine Versammlung sah.

„Nein!”, erscholl es im Chor.

„Warum denn nicht?”

„Eine Geschichte! Bitte, Anton. Erzähl uns eine Geschichte!”, bat ein Mädchen, und die anderen stimmten in ihr Bitten mit ein.

Anton ließ die Schultern hängen. „Ach, ihr Quälgeister. Ihr wisst ganz genau, dass ich bei so vielen bittenden Augen nicht nein sagen kann.” Er winkte seinen Begleitern zu, die sich verabschiedeten, dann setzte er sich zu den Kindern auf den Boden. „Fang an!”, rief eines von ihnen.

„Moment, Moment”, sagte Anton und hob beschwichtigend die Hände. „So einfach kann man keine Geschichte beginnen. Das wisst ihr genau. Eine Geschichte muss immer jemandem gehören. Ich habe sie erfunden und gebe sie jetzt weiter. Ihr alle werdet sie hören, doch einer von euch wird sie besitzen. Derjenige muss sich die Geschichte merken, so gut er nur kann, und sie behalten. Er muss sich um sie kümmern, damit sie nicht verloren geht. Und erst, wenn er sie selbst jemand anderem geschenkt hat, dann darf er sie vergessen. Das war schon immer so.”

„Und wer bekommt die Geschichte?”, fragte jemand. Viele gespannte Augen hefteten sich auf Anton, und er lachte.

„Hier wird doch keiner eifersüchtig werden, oder? Geschichten kann man nicht besitzen wie Geld. Das dürft ihr nie vergessen.” Sein Gesicht wurde wieder ernst. „Geschichten sterben wie jedes andere Wesen auch, wenn man sie einsperrt. Dann können sie nicht leben. Geschichten leben dadurch, dass sie erzählt werden, dass die Worte, die sie tragen, durch die Luft gleiten und gehört werden. Aber sie brauchen uns, damit wir sie erzählen, genauso wie wir sie brauchen, damit sie uns erfreuen. Es ist nichts weiter als ein kleiner Tanz, den wir mit ihnen aufführen und solange die Geschichten leben, werden unzählige Menschen ihre Tanzpartner sein.”

Er machte eine kurze Pause. Dann wandte er den Kopf und sah Maja in die Augen. „Die heutige Geschichte schenke ich Maja. Ein Freundschaftsgeschenk sozusagen.” Maja erschrak ein bisschen und fühlte, wie sie ein klein wenig rot wurde. Noch nie hatte ihr jemand eine Geschichte geschenkt!

„Also pass gut auf.” sagte Anton, und Maja nickte eifrig.

„Es war einmal ein kleiner Junge. Nennen wir ihn doch einfach Antonius.” Die Kinder lachten. „Antonius war der Sohn von König Atrivan und deswegen hieß er eigentlich Prinz Antonius. König Atrivan war ein mächtiger Herrscher über das Land Sastanien. Es war ein großes Land mit vielen Einwohnern, und bei allen war König Atrivan beliebt, denn er war ein tapferer Mann. Seit dem Tag, da Antonius auf die Welt kam, stand es bereits fest, dass auch er eines Tages König von Sastanien werden würde. So weit, so gut. Allerdings hatte die Sache mit dem Königwerden einen kleinen Haken: Um nämlich König von Sastanien zu werden, musste der Nachfolger des amtierenden Königs eine ebenso tapfere, wenn nicht noch tapferere Tat vollbringen, wie der König es selbst getan hatte. Schwierige Sache, sagt ihr vielleicht. Doch wenn ich euch von der tapferen Tat des Königs Atrivan berichte, dann denkt ihr bestimmt, dass die Sache so schwierig doch nicht sein konnte. Die tapfere Tat König Atrivans hatte nämlich darin bestanden, einer alten Frau über die wenig befahrene Hauptstraße Sastaniens zu helfen. Das mag für unsere Verhältnisse hier geradezu lächerlich erscheinen, doch damals war es für König Atrivan eine große Sache. Fortan galt er in Sastanien als der tapferste lebende Mann. Demnach musste Prinz Antonius nur etwas tun, das mehr Tapferkeit erforderte, als einer alten Frau über die Straße zu helfen, und das konnte wahrlich nicht so schwer sein.

Doch leider gab es da noch etwas anderes, das sich zwischen Prinz Antonius und das Königwerden schob: Prinz Antonius wollte nämlich gar kein König werden. Viel lieber wollte er musizieren und Lieder singen. Er wollte Musikant werden. Das kam für König Atrivan und seine Frau, die Königin Issrimilde, natürlich nicht in Frage. Ein Prinz war ein Prinz, und ein Prinz sollte König werden und nicht Musikant. Und so verboten sie Antonius das Musizieren. Nun kann man aber einem Menschen nicht verbieten, was er von tiefstem Herzen liebt. Genauso war es bei Prinz Antonius und der Musik: Heimlich erfand er weiter Lieder und Texte und häufte Melodien um Melodien an, die er aufschrieb und vor seinen Eltern versteckt hielt. Immer mehr fiel ihm ein, immer gewaltiger wurden seine geheimen Werke und schließlich musste er sogar die Federn aus seinem Bettzeug entfernen und sie mit seinen Notizen voller Noten austauschen, weil er einfach nicht mehr wusste, wo er all seine Schöpfungen unterbringen sollte. So verging also die Zeit, und hätten die Einwohner Sastaniens auch nur eines seiner Lieder jemals zu Gehör bekommen, sie hätten ihn für den größten Komponisten auf der ganzen Welt gehalten. Seine Lieder waren einzigartig. Die lustigen wären den Leuten, die ihnen gelauscht hätten, sofort in die Beine gefahren und hätten sie tanzen und lachen lassen, bis sie nicht mehr konnten. Die traurigen Lieder, die er schrieb, hätten die Leute zu Tränen gerührt. Doch leider gab es damals nicht einen einzigen Menschen in ganz Sastanien, der auch nur einen Ton seines gesamten Werkes zu hören bekam. So war die Lage.

Als Antonius schließlich erwachsen war und seine Eltern fanden, dass es an der Zeit sei, seine tapfere Tat zu vollbringen, da dachte Antonius gar nicht daran. In der letzten Nacht, da hatte er eine so großartige Idee gehabt, dass ihm alles andere egal war. Antonius wollte versuchen, die ganze Welt um ihn herum mit all ihren Lauten und Geräuschen zusammenzupacken in eine einzige große Sinfonie. An so ein gewaltiges Vorhaben hatte noch kein anderer vor ihm gedacht, geschweige denn gewusst, wie er das hätte anstellen sollen. Doch Antonius wusste es. Während seine Eltern also annahmen, dass er auf der Suche nach seiner tapferen Tat sei, ging Prinz Antonius mit ganz anderen Plänen jeden Tag aus dem Schloss und wanderte durch das ganze Land. Alle Geräusche und alle Töne, die er hörte, nahm er in sich auf. Das Rauschen des Windes in den Bäumen des Waldes, das Zwitschern der Vögel, des Rufen des Fischverkäufers auf dem Wochenmarkt, das Weinen eines Kindes, das Knirschen des Sandes unter seinen Schuhen, einfach alles. Wochen, Monate, Jahre, ging Prinz Antonius so herum und horchte und lauschte und wartete.

Er wartete, dass sich das alles zusammentun würde zu einer einzigartigen Melodie und eines Tages, mitten im Gehen, begannen die Töne in seinem Kopf zu fließen. Zuerst war es nur ein vages Tröpfeln, doch dann verdichtete sich das sanfte Plätschern zu einem rauschenden Bach von Tönen und Melodien. Prinz Antonius machte einen Luftsprung, als er diese Großartigkeit hörte, und zog sofort ein Blatt Papier aus der Tasche, um alles zu notieren, bevor er es vergaß. Das war ihm nämlich schon öfter passiert: Da hatte er einen Einfall gehabt und war zu faul gewesen, ihn aufzuschreiben – und zack! Am nächsten Tag war der wundervolle Einfall verschwunden. Deswegen machte sich der Prinz eiligst daran, die größte aller Melodien aufzuschreiben. Hastig malte er eine Note nach der anderen auf das zerknitterte Papier.

Doch er war kaum einige Takte weit gekommen, als er etwas anderes hörte, das nicht aus seinem Kopf kam. Es kam ganz aus der Nähe, und es war ein Hilferuf.

„Hilfe! So helft mir doch!”, rief eine zarte Stimme, die voller Angst war. Prinz Antonius sah sich um und entdeckte, dass in dem nahen Fluss eine junge Frau wild um sich schlug.

„Hilfe! Ich kann nicht schwimmen! So helft mir doch!”

Da stand Prinz Antonius, in seinen Händen der Anfang seiner großartigen Melodie und vor seinen Augen eine ertrinkende Frau. Was sollte er tun?”

Anton sah die Kinder an, die mit leuchtenden Augen um ihn herum saßen.

„Was sollte er tun?” fragte er noch einmal.

„Er muss sie doch retten!”, rief ein kleines Mädchen entsetzt. „Sie ertrinkt doch!”

„Aber die große Melodie!”, widersprach ein Junge energisch. „Wenn er sie nicht aufschreibt, dann ist sie für immer weg!”

„Die Frau retten!”

„Die Melodie aufschreiben!”

Anton hob die Hände und bat um Ruhe. „Ihr seht, dass er in einer echten Zwickmühle steckte. Beides war wichtig. Er konnte die Frau nicht ertrinken lassen, und er musste die Melodie festhalten, solange sie noch da war. Und da kam ihm die rettende Idee: Er würde zum ersten Mal in seinem Leben mit der Heimlichtuerei brechen und seine Melodie, die ihm im Kopf herumschwebte, laut vor sich hin singen. Dadurch konnte er die Frau aus dem Wasser retten, und sich selbst immer wieder an die Melodie erinnern. Sogleich setzte er diesen Entschluss in die Tat um und rannte laut singend auf den Fluss zu. Es muss eine seltsame Szene gewesen sein, aber zum Glück wissen wir ja, wieso Antonius unbedingt singen musste.”

Die Kinder lachten.

„Antonius sprang also ins Wasser und packte die junge Frau, um sie ans Ufer zu ziehen. Doch irgendwie musste die große Melodie ihm ein bisschen den Verstand vernebelt haben, denn in dem Augenblick als er prustend und immer noch singend neben der jungen Frau auftauchte und sie ergriff, fiel ihm ein, dass er ja selber auch nicht schwimmen konnte.”

Die Kinder stöhnten auf, und Anton lachte. „Ja, tatsächlich. Er hatte es einfach vergessen und jetzt befanden sich zwei Ertrinkende in dem Fluss, mit dem einzigen Unterschied, dass die eine laut um Hilfe schrie und der andere laut sang. Eine absurde und hoffnungslose Situation. Doch sie sollte sich zum Guten wenden: Obwohl Antonius schon halb untergegangen war, sang er immer noch weiter und selbst unter Wasser pustete er die Töne noch aus seinem Mund. Und dann geschah etwas Unglaubliches: Antonius und die junge Frau wurden an eine seichte Stelle gespült, an der sie stehen konnten und wieder Luft bekamen. Die Welt, aus der die Melodie in Antonius Kopf geboren worden war, musste die Melodie gehört und erkannt haben – und beschloss, sie zu retten. Und mit der Melodie rettete sie auch Antonius. Dass dadurch auch die junge Frau vor dem Ertrinken bewahrt wurde, ist wohl mehr ein Zufall gewesen. Dennoch galt es fortan als Antonius’ tapfere Tat, die junge Frau gerettet zu haben. Natürlich erfuhr nie jemand ganz genau, wie und auf welche Art und Weise die Rettung schlussendlich vor sich gegangen war. Auch nicht, nachdem Prinz Antonius schließlich König geworden war, und die junge Frau, die er gerettet hatte, seine Frau und Königin. Es blieb ihrer beider Geheimnis. Nur die großartige Weltmelodie, die machten die beiden dem Volk zum Geschenk und fortan galt Antonius nicht nur als der tapferste Mann im ganzen Land, sondern auch als der größte Komponist, der je gelebt hatte.”

Anton lehnte sich zurück und betrachtete amüsiert die verträumten Gesichter der Kinder.

„Aber was, so frage ich euch, war nun seine tapfere Tat?”, fragte er.

Die Kinder sahen ihn verständnislos an. „Na, die Rettung der Frau,” sagte ein Mädchen. „Das hast du doch selbst gesagt.”

Anton schüttelte den Kopf. „Oh nein. Ich habe gesagt, dass die Bewohner von Sastanien die Rettung der Frau fortan für Antonius’ tapfere Tat gehalten haben.”

Ratlos saßen die Kinder da. Keines von ihnen hatte eine Idee, was es sonst hätte sein können.

„Es war Antonius’ Entschluss, das Geheimnis um seine Leidenschaft zu brechen. Seine wirklich große Tat war, dass er sich dazu entschloss, seine Melodie laut zu singen und nicht nur aufzuschreiben. Er hat sich endlich getraut, das zu sein, was er schon immer heimlich war und sein wollte: ein Musikant, ein Sänger und ein Komponist. Und er wurde damit belohnt, dass die Melodie ihm geholfen hat.”

Majas Wangen glühten. Was für eine wunderschöne Geschichte! Und sie gehörte ihr ganz alleine! Sie würde gut darauf Acht geben. Das stand fest.

Anton stand auf. „So, jetzt wird es aber Zeit”, sagte er. „Wir können uns ja morgen wieder sehen.”

„Ach, morgen muss ich zum Zahnarzt. Da kann ich nicht”, sagte ein kleiner Junge.

„Meine Eltern lassen mich nicht jeden Tag hierher kommen”, sagte ein kleines Mädchen.

„Und wir fahren morgen für eine Woche ans Meer”, sagte ein Geschwisterpaar.

„Ich komme morgen wieder”, sagte Maja. Es rutschte ihr einfach so heraus.

Anton lächelte ihr zu. „Etwas anderes hätte ich von dir auch gar nicht erwartet.” Er beugte sich zu ihr hinunter und flüsterte in ihr Ohr: „Echte Freunde müssen schließlich zusammenhalten.” Maja nickte und lächelte zurück.

Anton richtete sich wieder auf und klatschte in beide Hände. „Und jetzt fort mit euch. Hopp, hopp.”

Maja rannte mit den anderen Kindern davon. Bevor sie in die Dunkelheit der Gasse eintauchte, drehte sie sich noch einmal kurz um und winkte Anton zum Abschied zu. Dann war auch sie verschwunden.

Anton blieb allein zurück und sah hinauf in den Himmel.

„Maja, Maja”, murmelte er. „Dein Lachen ist voller Freude, und doch sind deine Gedanken so traurig, wie ich sie selten bei einem Menschen erlebt habe. Was für ein Glück, dass du mich gefunden hast.”

Dann sah er sich prüfend nach allen Seiten um und ging geradewegs in die massive Hauswand hinein.

4. KAPITEL

EIN MISSGLÜCKTER VERSUCH

Image

Maja ging nun jeden Tag zu Anton in den kleinen Hof. Sie mochte den Gedanken, nun endlich einen Freund gefunden zu haben. Zu Hause im Ferienhaus ging es ihr nicht so gut. Ihr Vater hatte noch immer nicht angerufen, und ihre Mutter tat den ganzen Tag nichts anderes als traurig vor sich hin zu starren oder mit Tante Christel zu reden. Da gefiel es ihr hier bei Anton viel besser. Tagsüber sang und tanzte sie zu der wunderbaren Musik und abends lauschte sie gemeinsam mit den anderen Kindern den immer neuen Geschichten aus Antons Mund. Es dauerte auch nicht lange, da hatte sie ein paar von den anderen Kindern näher kennen gelernt. Wenn Anton und die Musiker eine Pause einlegten, spielte sie mit ihnen.

Nach jedem gemeinsamen Abend bummelte Anton nach Majas Abschied zur Sicherheit noch ein bisschen alleine auf dem Hof herum. Bevor er dann in einer Wand verschwand.

Und dann geschah endlich, worauf Maja und ihre Mutter so lange gewartet hatten: Majas Vater meldete sich und kündigte an, dass er sie am Sonntag besuchen würde. Früher war der Sonntag immer ein schöner Tag gewesen. Maja hatte zusammen mit ihren Eltern Spiele gespielt, war mit ihnen in den Zoo gegangen oder irgendwo hingefahren. Sie hatte sich immer auf den Sonntag gefreut. Doch damit war es vorbei, als plötzlich irgendetwas zwischen ihren Eltern kaputtging. So wie eine Feder, der man ständig beim Tanz in der Luft zugesehen hatte, auf einmal leblos zu Boden sinkt und liegen bleibt. Von da an freute sich Maja nicht mehr auf den Sonntag, denn von da an bedeutete er nicht mehr ein lustiges Beisammensein. Falls überhaupt beide Eltern zu Hause waren, gab es unvermeidlichen Streit und vergiftete Atmosphäre. Der Sonntag hatte sich von dem Tag, an dem sie die Liebe ihrer Eltern am meisten spürte, in den Tag verwandelt, an dem Maja am deutlichsten sah, dass ihre Eltern nicht mehr miteinander zurechtkamen.