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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Gedicht

Vorwort

1 Der Ruf der Wolken. Wiedersehen mit Patagonien

2 Die „Bosques Petrificados de Jaramillo“

3 Fahrt nach Westen

4 Vom Lago Cardiel ins Valle Guanaco

5 Symmetrien sind die Bausteine der Welt

5.1.0 Alles ist Symmetrie

5.1.1 Symmetrie: (Definition)

5.1.2 Verborgene Symmetrien

5.1.3. Die Symmetrie der Naturgesetze

5.1.4. Die Symmetrien in der Mathematik

6 Ins Tal des Cerro Torre

6.1.0 Die Suche nach der allumfassenden Erkenntnis

7 Laguna Capri, Entropie

7.1.0 Kann uns Naturwissenschaft zu einem tieferen Verständnis des Lebens führen?

7.1.1 Makroskopische Definition der Entropie

7.1.2 Mikroskopisch, statistische Natur der Entropie

7.1.3 Innere Energie

7.2.0 Entropie und Information

7.2.0.1 Entropie und Information als Ordnungsbegriffe

7.2.0.2 Information und Computer

7.2.1.0 Intelligenz

7.2.1.1 Komplementarität

7.2.1.2 Unschärfe-Relation (UR)

7.2.2.0 Entstehung der Materie. Hochenergetische Informationstransformation

7.2.2.1 Evolution. Niederenergetische Informationstransformation

7.2.2.2 Komplementaritäten sind die Bausteine der Evolution

7.2.2.3 Entstehung des Bewusstseins. Logik als ordnendes Prinzip

7.2.3.0 Information als physikalischer Begriff

7.2.3.1 Sinnspezifische Information

7.3.0.0 Informationsmenge und Komplexität

7.3.1.0 Entropie, Bewusstheit und Zeit

7.3.2.0 Selbstorganisation

7.3.2.1 Maxwell’scher Dämon

7.3.3.0 Leben als „kosmisches Prinzip“

8 Evolution

8.1.0 Hat die Mathematik in der Evolutionstheorie eine Vorhersagekraft?

8.1.1 Erste Lebewesen

8.1.2 Definition der Evolution

8.1.3 Evolution beginnt im mentalen System (Logistikzentrum)

8.1.4 Vererbung neuer Eigenschaften

8.1.5 Kurzer Gang durch die Erdgeschichte

8.2.0 Definition: Was ist Leben?

8.2.1 Ist künstliches Leben möglich?

8.3.0 Darwins Theorie von Zufall und Selektion

8.3.1 Gleichgewichtssysteme

8.4.0 Wie würde ein Neubeginn der Evolution verlaufen?

8.5.0 Von sozialen Strukturen und dem Sinn des Todes

9 An den Grenzen der Erkenntnis

9.1.0 Wahrheit oder Gleichnis?

9.1.1 Gleichnisse sind die Schatten der Wahrheit

10 Nachtwanderung

11 El Chalten

12 Regentag

13 Monte Fitz Roy

14 Sturmnacht

15 Laguna Sucia

16 Die Loma del Pliegue Tumbado

16.1 Am Anfang aller Dinge

17 Feenzauber

Anhang

A. 7.1.2.0 Mikroskopische, statistische Natur der Entropie

A. 7.1.2.1 Entropie als Endzustand einer jeden Folge von Wechselwirkungen

A. 7.2.3.0 Information als physikalischer Begriff

A. 7.3.0.0 Informationsmenge und Komplexität

A. 7.3.1.0 Reale Zeit und Physikalische Zeit

A. 7.3.2.0 Selbstorganisation als Vorstufe des Lebens

A. 7.3.3.0 Lässt sich die Evolution als Programm darstellen?

A. 7.3.3.1 Hypothese zur Entwicklung bildauflösender Augen

Schlussbetrachtungen

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2016 novum Verlag

ISBN Printausgabe: 978-3-903067-74-5

ISBN e-book: 978-3-903067-75-2

Lektorat: Mag. Nicole Schlaffer

Umschlagfoto: Rolf Willach

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum Verlag

Innenabbildungen: Rolf Willach (59)

www.novumverlag.com

Gedicht

Musik des Weltalls und Musik der Meister

Sind wir bereit in Ehrfurcht anzuhören,

Zu reiner Feier die verehrten Geister

Begnadeter Zeiten zu beschwören

Wir lassen vom Geheimnis uns erheben

Der magischen Formelschrift, in deren Bann

Das Uferlose, das Stürmende, das Leben

Zu klaren Gleichnissen gerann.

Sternbildern gleich ertönen sie kristallen

In ihrem Dienst ward unserem Leben Sinn,

Und keiner kann aus ihren Kreisen fallen,

Als nach der heiligen Mitte hin.

Letztes Gedicht von Joseph Knecht.

Aus: Herman Hesses „Das Glasperlenspiel“

Vorwort

Am 27. Dezember 1831 verließ die Dreimastbark „H. M. S. Beagle“ den Hafen von Devonport (Plymouth, Cornwall) in Südengland. Kapitän war der erst 26 Jahre alte Robert Fitz Roy, welcher drei Jahre zuvor das Kommando über dieses Schiff erhalten hatte. Seine Aufgabe war es, Ost- und Westküste des südamerikanischen Kontinentes zu vermessen und zu kartografieren. An Bord befand sich auch der damals 22 Jahre alte Charles Darwin.

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Bild 1: Luftbild von Cerro Torre (3.133 m, links außen) und Monte Fitz Roy (3.406 m, rechts)

Darwin hatte zuvor vielfältigste Studien mit Fleiß begonnen und jeweils nach mehr oder weniger kurzer Zeit auch wieder enttäuscht abgebrochen. Anfänglich sollte er, wie sein Vater, Arzt werden. Er begann ein Medizinstudium in Edinburgh. Doch die Vorlesungen langweilten ihn, er betrachtete sie als reine Zeitverschwendung und beschäftigte sich weit mehr mit der Lamarck’schen Evolutionslehre, mit Meeresbiologie und der Präparation von Vögeln. Als sein Vater merkte, dass sich sein Sohn offenbar für die Medizin nicht eignete, schlug er das Studium der Theologie vor. Nach einiger Bedenkzeit willigte Darwin in den Vorschlag ein. Er begann das Studium in Cambridge am Christ Church College, und schon drei Jahre später, am 26. April 1831, bestand er die Abschlussprüfung als zehntbester von 178 Teilnehmern. Zusätzlich zur Theologie beschäftigte er sich auch mit Geologie. Doch auch diese bricht er ab und gibt zu, dass er in Edinburgh gelernt habe, die Geologie als völlig nutzloses Fach zu verachten.

In Cambridge war Darwin mit Professor Henslow zusammengetroffen. Dieser war Botaniker und Mineraloge. Die beiden unternahmen häufig längere Wanderungen und wurden gute Freunde. Als Folge dieser gemeinsamen langen Gespräche begann Darwin, seine abschätzigen Ansichten über die Geologie wieder etwas zu relativieren.

Dies also war der Darwin, welcher mit 22 Jahren zu dieser fast 5 Jahre dauernden Weltreise aufbrach, um dann nach zahlreichen, langjährigen Untersuchungen am 22. November 1859 mit „On the origin of species“, dem riesigen Schatz der auf dieser Reise gewonnenen Erkenntnisse und Einsichten, die Welt in Aufruhr zu bringen.

Danach, so glaubte man damals, ließ Darwins Werk nur einen Schluss zu: „Der Mensch ist nicht das Ebenbild Gottes, sondern ein Nachkomme der Affen.“

Im August 1831 erhielt Darwin einen Brief von Henslow, worin ihm dieser mitteilte, dass Kapitän Robert Fitz Roy die Order erhalten habe, mit seinem Schiff, der H. M. S. Beagle, die Küsten von Patagonien und Feuerland sowie von Chile und Peru und anschließend einige Südseeinseln zu vermessen, und dafür einen naturwissenschaftlich gebildeten Begleiter suche. Er, Henslow, habe nun ihn, Darwin, als für diese Aufgabe sehr geeignet empfohlen.

Zum Abschied schenkte ihm Henslow den ersten Band von Lyells „Principles of Geology“.

Durch dieses Buch, das zu lesen Darwin auf den langen, eintönigen Fahrten über das Meer Muße genug hatte, wurde im Laufe der Wochen aus dem anfänglichen Verächter der Geologie einer ihrer glühenden Anhänger.

Die biologischen und geologischen Erkenntnisse, welche Darwin auf dieser Reise und ganz besonders eindrücklich auf den Galapagosinseln gewann, waren der Beginn seiner späteren Überzeugung, dass alles Leben auf der Erde die Folge langer, vielfältigster Entwicklungen sein musste. Er veröffentlichte sie allerdings erst zwanzig Jahre später. Die Tatsache, dass alles Leben auf der Erde einem immerwährenden Wandel unterworfen war und immer noch ist, wurde zwar durch seine Beobachtungen der Pflanzern und Tiere, aber auch der Geologie dieser unberührten Gebiete mit erdrückender Überzeugungskraft bewiesen. Doch für den Antrieb, welcher die Natur dazu brachte, diese riesige Vielfalt im Laufe langer Zeiträume hervorzubringen, fand Darwin lange Jahre keine befriedigende Antwort.

Doch mit der Vorstellung, dass zufällige Veränderungen in den Lebewesen und der anschließend stattfindenden Selektion der Durchsetzungsfähigsten die riesige Vielfalt des Lebens erzeugt hätten, glaubte er schließlich die Antwort auf diese Frage in Händen zu halten.

Zeit meines Lebens habe ich mir immer wieder Gedanken zur Evolutionslehre Darwins gemacht. Ihre Haupterkenntnis, die Entwicklung der Lebewesen im Verlauf der Erdgeschichte, stand für mich dabei nie zur Diskussion.

Doch im Unterschied zu Darwin ging ich das Problem der Zufallsveränderung und der Selektion mit weitgehend physikalischen Fragestellungen an. Und da zeigte sich bald einmal, dass in der Betrachtungsweise Darwins diese Vorgänge, so wie sie in seiner Theorie ablaufen müssten, zwei der fundamentalsten Naturgesetze verletzen würden.

Weiter zeigte es sich, dass es sogar völlig ausgeschlossen ist, die Evolutionstheorie in ihrer Gesamtheit, ohne die heutigen Kenntnisse der Physik, überhaupt zu verstehen.

Darwin versuchte, dieses Problem rein phänomenologisch zu lösen. Es blieben ihm auch gar keine anderen Möglichkeiten offen, denn zu seiner Zeit beschränkte sich die Physik auf Newtons Naturlehre sowie die magnetischen und elektrischen Erscheinungen, welche damals von Oerstedt, Ampère u. a., und an vorderster Front von Michael Faraday untersucht wurden. Doch all dies hatte natürlich mit der Entwicklung des Lebens nichts zu tun.

Die rein naturwissenschaftlichen Werkzeuge, welche Darwin zur Verfügung standen, waren somit damals noch sehr beschränkt.

Auf meiner ersten Reise in den südlichen Teil Patagoniens 2004/05 war ich Teilnehmer einer kleinen Gruppe. Der Eindruck dieser nur drei Wochen dauernden Trekkingtour hinterließ in mir einen unauslöschlichen Eindruck. Auf meinen vielen Reisen und ausgedehnten Wanderungen in den Bergen meiner Heimat, aber auch in Deutschland, Österreich und Frankreich, bin ich immer wieder ebenso schönen und eindrücklichen Landschaften begegnet. Und doch unterschied sich dies alles von den gewaltigen, unberührten Weiten Patagoniens auf ganz grundsätzliche Weise. Denn in Europa hat sich derjenige Teil der Natur, welcher noch verschont geblieben ist vor den Eingriffen menschlichen Nützlichkeitsdenkens, mit wenigen Ausnahmen überall auf kleinräumige Refugien zurückgezogen.

Eigentlich ist es klar. Wenn man über die lebendige Natur nachdenken will und das Ganze nicht abstrakte Theorie bleiben soll, dann muss man sie auch so intensiv wie möglich, am eigenen Leibe erfahren. Denn es ist eine immer erneute Fragestellung, und die Antworten der Natur wird man nur dann verstehen können, wenn man selber Teil dieser unverfälschten Natur geworden ist.

Doch dazu heißt es Abschied nehmen von zahlreichen, lieb gewordenen Dingen unserer Zivilisation. Denn vorwiegend im Laufe der letzten Jahrzehnte haben wir uns immer mehr mit einem festen Panzer abgekapselt, welcher uns, so unser Glaube, möglichst viele der Unberechenbarkeiten der Natur abwehren und uns vor ihnen beschützen sollte. Es ist von Jahr zu Jahr immer mehr eine künstlich geschaffene Welt geworden, worin wir uns in vermeintlicher Sicherheit wiegen, um dann trotzdem immer wieder von dieser Sicherheit enttäuscht zu werden.

Nun, ich muss es gestehen. Diese Loslösung ist mir nur teilweise gelungen. Denn auch ich bin ein Kind dieser Welt und lebe jetzt schon eine ganze Reihe von Jahrzehnten in ihr. Trotzdem bin ich von meiner zweiten Reise nach Patagonien reich zurückgekehrt, denn ich habe auf viele meiner Fragen von der Natur bedeutende Antworten bekommen. Ich habe auf dieser Reise in zahlreichen Erfahrungen und Begegnungen den gesuchten Schlüssel gefunden, welcher mir in den Jahren danach die Übersetzung des Erkannten in die uns geläufige Sprache der Naturwissenschaft ermöglicht hat.

Das Buch ist in einen Hauptteil und einen Anhang A aufgeteilt.

Im Hauptteil findet sich die gesamte Reisebeschreibung. Die Ereignisse und Erlebnisse werden hier in ihrer zeitlichen Reihenfolge erzählt, wobei allerdings, um nicht lang zu werden, nur die eindrücklichsten Tage beschrieben sind. Aber immer wieder sind Ruhepunkte eingeführt, an welchen Fragen gestellt wurden und wo sich im stummen Dialog mit der Natur neue Schlüssel zu ihrer Lösung finden ließen.

Dieser Weg der Vermischung von Naturwissenschaft und Naturerlebnis ist für ein Sachbuch ziemlich ungewöhnlich. Er wurde aber bewusst gewählt. Die Naturwissenschaft verliert ihren wahren Sinn, wenn sie abgehoben vom wirklichen Leben sich einzig und allein nur noch Laborexperimenten und der Interpretation ihrer Ergebnisse widmet. Deren Aussagekraft ist zwar von grundsätzlicher Wichtigkeit und Bedeutung. Aber sie ist nur ein Teil des Ganzen. Erst der Blick auf die Gesamtheit des Lebens erlaubt es, auch in der rein naturwissenschaftlichen Teilbetrachtung den in ihrer Tiefe liegenden Sinn zu erkennen.

Es sind die Kapitel 5 bis 9, worin die wichtigsten dieser Gedanken behandelt werden. Und zwar in allgemein verständlicher Sprache, wodurch auch der naturwissenschaftlich nicht speziell geschulte Leser durchaus folgen und damit das großartige Schauspiel der Entwicklung des Lebens seit seinem Urbeginn, so wie wir es bis heute kennen, selber miterleben kann.

In den Kapiteln 1 bis 4 und 10 bis 17 werden dann ausschließlich die unvergesslichen Erlebnisse in diesem schönen, noch in sehr weiten Teilen unverändert gebliebenen Land beschrieben. Man wird allerdings hierin vergeblich nach irgendwelchen Abenteuern suchen. Denn diese waren nicht der Sinn der Reise. Es ist hauptsächlich die gesuchte, aber in diesem Ausmaß von mir noch nie zuvor erlebte tiefe Verbundenheit mit der Natur.

Der Anhang A ist für Leser gedacht, welche sich für die naturwissenschaftlichen Erklärungen ganz besonders interessieren. In ihm finden sie, immer mit Bezug auf den Hauptteil, zusätzliche vertiefte Einblicke.

Wem hingegen der naturwissenschaftliche Teil generell als zu schwierig erscheint oder wen er gar nicht interessiert, der kann diese Kapitel auch einfach überspringen und sich ganz dem Erleben der grandiosen Natur mit ihrer ganzen zauberhaften Schönheit und Wildheit hingeben.

Tägerwilen, im August 2013

Rolf Willach

1 Der Ruf der Wolken. Wiedersehen mit Patagonien

Meine erste Reise nach Patagonien habe ich als Teilnehmer einer kleinen Gruppe unternommen und die dabei gewonnenen unvergesslichen Eindrücke in einem Erinnerungsbuch festgehalten, welches mit den folgenden Zeilen endet.

„… Doch in meinem Inneren habe ich hier, am schönen Carrerasee, mit seinen weitestgehend unberührten, einsamen Ufern und dem leuchtenden Kranz seiner fernen Schneeberge, Abschied genommen von Patagonien. Der Wind hatte erneut aufgefrischt und wühlte die Oberfläche des Sees zu weißen Schaumkronen auf. Über den Himmel trieben die Wolken dahin, in wunderschönen, vielfältigsten, wechselhaften Gestalten. Die Wolken, jene Sinnbilder des Lebens, seines Entstehens und Wachsens, seiner immerwährenden Veränderung und seines Vergehens. ‚Komm wieder!‘, riefen sie mir zu. Ich hörte ihre Stimmen zwischen dem Rauschen der Wellen und den heftigen Böen des Windes. ‚Komm wieder!‘

Heute spüre ich es ganz deutlich. Ich habe zu viel der Zauber-Beeren gegessen und ihre Wirkung lässt mich nun nicht mehr los. Trotzdem werde ich in meinem Leben, welches sich jetzt langsam dem Abend zuneigt, nie wieder nach Patagonien zurückkehren. Wenn ich es aber wieder einmal gar nicht mehr aushalten sollte, dann werde ich in meinen Erinnerungen lesen und auf diese Weise, wenigstens im Geiste, für einige Stunden wieder in jenem schönen Lande weilen.“

Ich habe es dann wirklich nicht mehr ausgehalten, und das Lesen in meinen Erinnerungen hat die Sehnsucht nach einer Rückkehr nur noch unbezwingbarer gemacht. In meiner Heimat habe ich in den vielen vergangenen Jahren auch zahlreiche schöne Wanderungen und Touren unternommen. Auf Schritt und Tritt war ich dort aber immer von der Anwesenheit unserer Zivilisation und der Sicherheit, welche sie uns damit auch gibt, umfangen, ja, gefangen.

Ganz anders die ungeheuren, einsamen Weiten Patagoniens. Bis an die fernsten Horizonte war keine andere Straße außer der unsrigen zu sehen. Kein Weg, kein Haus und keine Hütte. Das einzige Geräusch war das Wehen des Windes und die einzigen Bewegungen die vielfältig, ewig sich wandelnden Wolken, welche in unablässigem Lauf über den weiten Himmel zogen. Nie zuvor hatte ich in dem dort erlebten Ausmaße das Gefühl, selbst Teil dieser Natur zu sein. Und ich fühlte mich in ihr geborgen. Es war ein Gefühl der Geborgenheit, wie es mir alle Sicherheiten unserer künstlich geschaffenen Umwelt nie zu geben vermocht haben.

Nach und nach wurde der Drang in mir zur Gewissheit, dass ich nach Patagonien zurückkehren musste. Und gleichzeitig wusste ich auch, dass es dieses Mal eine einsame Reise, nur mit mir allein werden würde. Nicht etwa, dass ich einen Hang zum Einsiedler hätte. In gar keiner Weise. Ich brauche und liebe den Kontakt zu Mitmenschen und den Austausch von verschiedenstem Gedankengut und unterschiedlichsten Ansichten. Doch immer mehr begannen sich im Laufe der Zeit unverarbeitete Gedanken aufzustauen, welche einer Beantwortung harrten. Und damit überkam mich immer stärker der unbezwingbare Drang nach Stille. Abstand vom täglichen Treiben der Umwelt zu nehmen. Abstand auch von meinen eigenen zahlreichen Interessen, welche mich zu Hause ständig beschäftigten, und damit der Wunsch nach Stille auch in mir selber. Man mag hier einwenden, bloß um Stille in sich selbst zu finden, brauche man keine sechzehntausend Flugkilometer zurückzulegen, um in ein so fernes Land zu reisen. Das könne man, im Gegenteil, viel besser zu Hause durch Selbstversenkung und Meditation. Ich widerspreche dieser Ansicht in keiner Weise. Aber genau eine solche Stille suchte ich nicht. Ich suchte das ungestörte Zwiegespräch mit der Schöpferkraft, deren Kind ich bin. Und es drängte mich unwiderstehlich, dorthin zurückzukehren, wo ich ihre Stimme am deutlichsten vernommen habe.

Und ich sollte sie wieder vernehmen. In der majestätischen Unnahbarkeit der Gebirge, im wilden Tosen ihrer gewaltigen Stürme und in der alles durchdringenden Stille ihrer einsamen Urwälder.

2 Die „Bosques Petrificados de Jaramillo“

Ich hatte mir vorgenommen, zuerst einmal während einer Woche mit einem kleinen Mietwagen kreuz und quer durch die Pampa zu fahren. Jetzt stand die Sonne schon tief im Westen, und ich begann mich darauf einzustellen, einige Meter abseits vom Weg, in dieser riesigen Ebene, deren Horizont nur durch gelegentliche, lang gestreckte, niedrige Hügelzüge unterbrochen wurde, mein Zelt aufzubauen. Es war der Abend nach meiner Ankunft in Rio Gallegos, der Hauptstadt der Provinz Santa Cruz. Etwa fünfhundert Kilometer bin ich an diesem Tag auf der Ruta 3 gefahren. Sie zieht sich, mal näher, mal ferner der Atlantikküste, immer nach Norden. Bis Bahia Blanca, dem nördlichen Ende Patagoniens und war eine der wenigen Straßen mit festem Belag. Das letzte kleine Dorf, bevor ich nach Westen abbog, war Tres Cerros. Eigentlich nur eine Tankstelle und einige wenige Häuser.

Die ganze Ebene war bewachsen mit Büscheln eines niedrigen, braungrünen, harten Grases. Ein idealer Untergrund zum Zelten. Der Boden war nämlich feiner, sehr dichter und fester Sand. Die Heringe ließen sich mit dem Hammer bestens einschlagen und hatten dann ausgezeichneten Halt. Ein Umstand von großer Wichtigkeit, wie ich wenige Tage später feststellen sollte.

Lange noch saß ich vor meiner Behausung, sah dem langsam verblassenden Farbenspiel des Abendhimmels zu, dem Erdschatten, welcher wie ein Dunkelheit verströmender Schleier vom Osten heraufzog, über den Zenit eilte, um dann im Westen den letzten rötlichen Abendschimmer auszulöschen. Dann gleißte tief im Ostsüdosten Sirius auf, und fast genau im Osten erhob sich Orion und erstrahlte in einem Glanz, wie ich ihn nie zuvor gesehen hatte. Ebenfalls am Südosthimmel, aber näher am Pol, stand ein weiterer Stern, nur wenig schwächer als Sirius. Es musste Canopus im Sternbild Carina sein. Das bekannte südliche Kreuz hingegen stand noch verborgen hinter fernen Hügelzügen. Da fiel mir die totale Stille auf. Nur mein eigener Atem und die feinen Laute, wenn ich mich etwas bewegte, berührten zart mein Ohr. Eine derart absolute Ruhe hatte ich bis dahin erst einmal erlebt. Damals, vor vielen Jahren, in den Höhlen der Pyrenäen. Aber diese Stille war anders. Auch das leiseste eigene Geräusch wurde damals von den mich umgebenden Wänden zurückgeworfen, und nach einer Weile vernahm ich den eigenen Pulsschlag als schwaches, pochendes Rauschen im Ohr. Hier hingegen entschwand jedes eigene Geräusch sofort in einer endlos dunklen Ferne.

Als schließlich Sirius das östliche Vertikal durchschritt, knipste ich meine Lampe an, kroch ins Zelt und in meinen Schlafsack. Im Geiste versuchte ich mir den morgigen Tag vorzustellen. Die versteinerten Bäume, welche etwa noch dreißig Kilometer westlich von hier auf einem Gebiet von 150 km2 überall zu finden sind. Stumme Zeugen einer fernen Vergangenheit, als die Gegend hier noch mit großen Urwäldern aus riesigen Araukarien und anderen Nadelhölzern bedeckt war.

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Ein heller Schein erfüllte mein Zelt, als ich die Augen aufschlug. Ich trat hinaus und wurde von der Sonne, welche tief an einem wolkenlosen Himmel strahlte, empfangen. Nach dem Frühstück fuhr ich weiter auf dem holprigen Weg. Eine gute halbe Stunde später tauchte vor mir eine lange Reihe von kleinen Vulkanen auf. Sie mussten geologisch noch jung sein. Wahrscheinlich Quartär. Also bloß einige hunderttausend Jahre alt. Ihre Asche und Lavakegel waren noch weitgehend erhalten, und an ihren Spitzen saß, wie eine flache, schwarze, dünne Mütze, das obere Ende ihres Schlotes. Das erstarrte Basaltgestein der Tiefe. Bei Vulkanen, welche mehrere Millionen Jahre alt sind, hat sich nur noch der harte, aus schwarzem Basalt oder grauem Phonolith bestehende Schlot erhalten. Der eigentliche Kegel, welcher aus der ausgeworfenen Asche und Lava besteht und das charakteristische Zeichen der heute noch aktiven Vulkane ist, hat jeweils die Erosion in der langen Zeit dazwischen längst weggewaschen.

Der Weg begann sich jetzt kurvenreich zwischen diesen vielen Vulkanbergen hindurch zu winden. Die Vegetation, schon vorher alles andere als üppig, wurde sehr karg und bestand weitgehend nur noch aus harten, braungrünen Grasbüscheln. Doch eine ganz eigenartige Faszination strahlte diese archaische Landschaft auf mich aus. Mal schmutzig weiß, mal schwarzgrau und in allen Zwischenstufen gefärbt, waren die Hänge der Kegelberge, aber auch der zahlreichen runden Hügel. Kleine Täler, voll mit dunklem Geröll, dann wieder größere Flächen, wo der Untergrund offenbar mit Asche bedeckt und teilweise mit den erwähnten Grasbüscheln bewachsen war. Die Landschaft strömte einen bizarren, urweltlichen Hauch aus.

Ich begann mich nach den versteinerten Bäumen umzusehen. Aber noch war nichts zu erkennen. Langsam fuhr ich weiter, immer wieder gelegentlich einhaltend, einen größeren Hügel besteigend, um einen breiten Rundblick zu bekommen. Aber selbst in der weiten Runde nichts als Vulkanberge, schwarze und graue Hügel und mit Geröll gefüllte, kleine Täler.

Ich fühlte mich wieder zurückversetzt in jene Zeit, als es hier immer wieder aus Schloten rauchte und gelegentlich da und dort mit dumpfem Donner glühende Lavabrocken hoch in die Luft geschleudert wurden. Es war die Zeit, in welcher der Mensch noch in kleinen Gruppen in der „Alten Welt“ Mammut, Wollnashorn und Bison jagte und diesen Teil der Erde noch nie betreten hatte.

Dann langsam wurden die Vulkane weiter gestreut und immer weniger. Eine unregelmäßige Ebene begann sich zu öffnen, und nur in der Ferne, im Westen, war noch ein weiterer Doppelvulkan zu erkennen. „Madre y Hija“, „Mutter und Tochter“, wie sie sinnigerweise genannt werden. Und dann sah ich sie. Die ganze Ebene und die Anhöhe hinauf war vollgestreut mit teils mächtigen Stämmen, Stammstücken, Brocken zerfallener Stämme und Millionen von schwarzen, braunen und ockerfarbenen Splittern bedeckten den Boden der ganzen Landschaft. Und alles war Stein. Harter, klingender, kalter Stein. Das heißt, genauer ausgedrückt, es war amorph kristallisierter Quarz, welcher mit verschiedenen Elementen, wie Mangan, Eisen und gelegentlich Kupfer verunreinigt und dadurch gefärbt war.

Eine kleine Rangerstation befand sich hier an diesem so einsamen Ort. Der Ranger empfing mich freundlich und führte mich durch das kleine Museum, worin einige recht spektakuläre Funde zu sehen waren. Zum Beispiel verkieselte Aststücke, wo die schuppenartigen Blätter der Araukarien, denn um diese Bäume handelte es sich hier vorwiegend, in großer Deutlichkeit zu erkennen waren. Zapfen in verschiedenen Größen, an denen sich jede Schuppe in braunen oder gelben Farben abzeichnete, als ob die Frucht erst gestern von den Bäumen gefallen wäre. Es ist lange, lange her. Mehr als hundert Millionen Jahre bevor sich das gewaltige Andengebirge im Spättertiär, selbst in einem Zeitraum von mehreren Jahrmillionen auffaltete, als hier große Araukarienwälder die weiten Ebenen bedeckten, und die verschiedensten Dinosaurier zwischen ihnen herumstreiften. Es mögen vielleicht hundertfünfzig Millionen Jahre vergangen sein, in der sogenannten „Jurazeit“ (benannt nach unserem Juragebirge, weil dort die geologischen Schichten dasselbe Alter aufweisen), da kam es hier zu gewaltigen Vulkanausbrüchen. Der Druck der Explosionen war so gewaltig, dass die mächtigen Stämme umgerissen wurden. Kreuz und quer lagen sie herum und wurden alle von dem nachfolgenden Ascheregen metertief zugedeckt. Völlig vom Sauerstoff der Luft abgeschlossen, konnten sich jetzt keine aeroben Bakterien entwickeln und das Holz der toten Stämme abbauen. Ganz langsam kam es trotzdem zu chemischen Umwandlungen. Auch das Wasser des Regens drang durch die Ascheschicht, löste das darin reichlich enthaltene Silikat im Laufe von Jahrhunderttausenden langsam auf und baute es in der sich auflösenden Holzstruktur der darin liegenden Stämme wieder ein. Das Lignin des Holzes wurde in geologischen Zeiträumen durch amorphen Quarz ersetzt, welcher durch verschiedene Mineralien schwarz, braun, gelb und gelegentlich rot gefärbt war. Ohne ihre ursprüngliche Gestalt und ihren inneren Aufbau zu verändern, verwandelten sich so die Stämme, Äste und Früchte der Araukarien zu Stein. Die größten der herumliegenden Stämme hatten Durchmesser von gut zwei Metern. Der längste Stamm, er war in mehrere, zusammenhängende Stücke zerbrochen, war an die 35 m lang, und beide Enden wiesen nahezu dieselbe Dicke auf. Daraus muss man schließen, dass die ursprüngliche Höhe der Bäume über hundert Meter betragen haben dürfte. Vereinzelt konnte man in kleinen Hohlräumen der Stämme kleine Quarzkristalle finden. Sonst lag der Quarz überall in amorpher Form vor. Die längsfaserige Holzstruktur ließ sich auch an den zahllosen Bruchstücken, welche den Boden bedeckten, leicht erkennen, und dort, wo größere Querschnittsflächen freilagen, zeichneten sich auch die Jahrringe in aller Deutlichkeit ab. Langsam wanderte ich im Laufe mehrerer Stunden durch das Gebiet, wo vor so langer Zeit diese Katastrophe für den alten Wald stattgefunden hatte.

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Es war schon früher Nachmittag, als ich mich entschloss weiterzufahren. Weiter in Richtung Westen, bis zur Ruta 12 und dann auf ihr zurück nach Süden. Doch der Ranger hielt mich von der Fahrt auf dem hiesigen Weg ab. Er werde jetzt sofort sehr viel schlechter und sei voll mit tiefen Löchern und großen Steinen. Nichts für meinen kleinen Wagen. Weiter im Norden sei eine bessere Verbindung auf die Ruta 12. Also fuhr ich auf dem Weg, auf dem ich am frühen Morgen hergefahren war, zurück zur Ruta 3, um dort weiter nördlich eine bessere Straße zu finden. Aber mehrmals hielt ich an, weil sich immer neue Ausblicke in diese urweltliche Szenerie eröffneten. Auch konnte ich mich nicht zurückhalten, einen dieser Vulkane zu besteigen. Sie waren ja mit etwa hundert Metern sehr niedrig. Trotzdem war der Aufstieg nicht ganz einfach, denn immer wieder brach ich in der, nur oberflächlich festen, Ascheschicht ein. Auf die oberste schwarze Basaltspitze allerdings kletterte ich nicht. Doch war der Ausblick beeindruckend, denn bis zum Horizont standen überall die Zeugen einer vergangenen Zeit, wo es hier gewaltig rumort, gedonnert und gefeuert haben musste.

Doch schließlich verschwanden die letzten und höchsten Kegel hinter mir am Horizont, und die einsame Weite der Pampa hatte mich wieder umfangen. Ich fuhr nicht rascher als 40 bis max. 50 Stundenkilometer. Die Straße war sehr holperig und immer wieder knallten größere Steine, von den Reifen weggekickt weit ins Land hinaus. Da vernahm ich plötzlich ein eigenartiges „flappendes“ Geräusch an meinem linken, offenen Fenster. Mit ungutem Gefühl hielt ich an, stieg aus und – ach herrje – das linke Vorderrad war platt. Das fängt ja gut an. Eine ganze Woche wollte ich jetzt auf solchen Naturstraßen durch das Land fahren. Und nun, nach bloß etwa drei Fahrstunden, war schon ein Loch im Reifen.

Nun, langes Philosophieren über die mögliche Zukunft half hier nicht weiter. Ich war froh, dass ich mich bei der jungen Frau, der Tochter des Autovermieters, auf dem Flughafen von Rio Gallegos, nach dem „herramienta“ erkundigt hatte und kontrollierte, ob alles Notwendige noch darin vorhanden sei. Ich machte also die Schrauben locker und holte den Wagenheber. Ein seltsames Ding. Eigentlich nur ein veränderlicher Winkel. „USA Patent“ stand darauf. Wenn man den Haken, der sich dabei befand, in die Öse der einen Schraube steckte und drehte, begann sich der Winkel weiter zu öffnen. Dies sollte dann offenbar die Hebung des Wagens bewirken. Sicher ein tolles amerikanisches Patent. Beim Wagen handelte es sich nämlich um einen kleinen „Chevrolet“. Ich hoffte nur, der Erfinder habe die Wirkung seiner Konstruktion selber ausprobiert.

Ich suchte mir dann eine Stelle unter dem Wagenrand, von welcher ich hoffte, dass sich das Blech beim Heben nicht sofort verbiegt. Denn eine Verstärkung war nirgendwo zu erkennen.

Nein, der Erfinder hatte sein Patent nicht ausprobiert. Jedes Mal wenn der Wagen sich zu heben begann, rutschte der Winkel auf der Straße aus. Nach mehreren erfolglosen Versuchen wollte ich schon in meinem Gepäck den Geologenhammer hervorholen, um damit ein Loch in die Straße zu hacken, sodass das dumme Ding nicht mehr wegrutschen konnte.

Da hielt hinter meinem Rücken ein großer 4x4 Pick-up. Ein Gesicht voll tiefer Falten und einem lachenden Mund, worin zwei braune Zähne prangten, strahlte mich an.

Ob ich ein Problem hätte? Ich wies auf das luftleere Vorderrad und auf den patentierten Wagenheber. Der Estanciero sprang aus seinem Gefährt und holte aus dem hinteren Wagenteil einen prächtigen, stabilen, großen Wagenheber hervor, rammte ihn unter die Wagenkante, und nach wenigen Umdrehungen schwebte die linke Seite meines Wägelchens einen halben Meter über dem Boden. Währenddessen hatte ich das Reserverad hervorgeholt, wir wechselten es aus, ich suchte eifrig nach spanischen Dankesworten, er aber grinste nur, drückte mir die Hand und fuhr davon.

Das wäre also wieder mal gut gegangen. Doch der Einfluss auf meine Routenplanung war ziemlich umstürzend. Selbstverständlich konnte ich es nicht wagen, ohne Reserverad die Ruta 12 zu fahren. Sie war auf der Karte mit demselben Schwierigkeitsgrad eingezeichnet wie die 49, auf welcher ich mich jetzt befand. Aber auf ca. 250 km kein einziges Dorf. Nur einige, weit im Land herumverstreute Estancias. Da hätte ich möglicherweise tagelang auf Hilfe warten können. Nein, der Reifen musste natürlich geflickt werden, und dies möglichst bald. Die am nächsten liegende Werkstatt, welche mit geringem Risiko zu erreichen war, befand sich in Puerto San Julian, etwa 180 km südlich, aber auf der asphaltierten Straße erreichbar, wo eine neue Reifenpanne ziemlich unwahrscheinlich war, abgesehen davon, dass man auf dieser Straße doch immerhin alle 15 bis 30 Minuten einem Lastwagen begegnet. Erst gestern hatte ich in diesem kleinen Dorf meinen Proviant eingekauft.

Ich fuhr also los und zwei Stunden später, gegen sechs Uhr abends, erreichte ich Puerto San Julian. Dort befand sich eine große Tankstelle und ich war etwas erstaunt darüber, dass kein einziger der großen Lorries dort zum Dieselauftanken zu sehen war.

Als sich nach längerem Suchen endlich ein Tankwart finden ließ, eröffnete er mir, dass hier in der ganzen Gegend kein Treibstoff mehr erhältlich sei. Wann wird denn neuer angeliefert? „Manana“, war die vielsagende Antwort. Das heißt nun zwar wörtlich „morgen“, was ja kein Problem wäre. Aber realistisch kann es auch „übermorgen“ oder schlicht einfach „irgendwann“ heißen. Aber schließlich bin ich ja nach Patagonien gekommen, um auf das europäische perfekte Funktionieren einmal für längere Zeit zu verzichten. Also, den schönen Abend genießen und voller Freude und Optimismus auf „manana“ warten.

So fuhr ich denn auf der Ruta 25, ebenfalls einer Naturstraße, aber breit wie eine sechsspurige Autobahn, in Richtung Westen, bis ich nach wenigen Kilometern in eine schöne, grüne Buschlandschaft kam. Dort bog ich links von der Straße ab in einen schmalen Pfad hinein, und schon bald sah ich rechterhand eine sicher hundert Quadratmeter große, freie, ebene Fläche. Ein herrlicher Zeltplatz in Einsamkeit und Stille. Es war ein Kaninchen-Klo. Alles übersäht mit trockenen, perfekt runden, murmelgroßen Kügelchen. Die Eingänge zu den Höhlen befanden sich alle am Rand. Ich scharrte also eine Fläche für mein Zelt frei und baute es auf. Von den rechtmäßigen Bewohnern wollte sich keiner zeigen, obschon ich nach der Abendmahlzeit ganz still vor dem Zelt hockte. In der Ferne, am Hang eines sanften Hügels, sah ich Pferde weiden, und hoch unter verstreuten Wolken zog langsam ein Adler seine Kreise. Er war zu hoch und selbst im Feldstecher nicht deutlich erkennbar. Aber ein Kondor war es wohl nicht, denn diese Vögel sind hier im östlichen Flachland doch eher selten zu sehen, da sie sich hauptsächlich im Gebirge und dessen Nähe aufhalten.

3 Fahrt nach Westen

„Manana“ begann erneut mit strahlendem Sonnenschein. Hier in Ostpatagonien ist dies durchaus keine Ausnahme, sondern sogar eher recht häufig der Fall. Das berüchtigte Regenwetter ist hauptsächlich im Westen zu finden und auch dort beschränkt es sich weitgehend auf das Gebirge. Voller Hoffnung fuhr ich wieder zur Tankstelle zurück, und schon aus der Entfernung nahm ich gleich eine ganze Reihe von Lastwagen davor wahr. Eine kleine Säule stand leer. Sie war für PKW’ vorgesehen. Ich machte den Tank gestrichen voll und suchte mir dann eine Werkstatt zur Reparatur meines Reifens. Sie bestand aus einem einzigen, großen Raum und in ihrer Mitte stapelten sich wohl über hundert große Reifen von Lastwagen. Wahrscheinlich alle defekt. Bei den hiesigen Naturstraßen konnte offenbar diese Werkstatt allein vom Reifenflicken leben.

Ich wurde denn auch gleich freundlich empfangen, brachte das Rad hinein, wo es sogleich von der Felge gelöst und untersucht wurde. Ein etwa drei Zentimeter langer Schlitz befand sich auf der Innenseite. Für mich etwas rätselhaft, wie das geschehen konnte. Nach längstens 45 Minuten war der Schaden durch einen großen, aufvulkanisierten Flicken behoben. Kostenpunkt 20 Pesos, ungefähr 7 Franken. Dies war die „andere Seite“ des „nicht perfekten Patagoniens“. In Europa hätte ich gleich einen neuen Reifen kaufen und wahrscheinlich erst noch einen ganzen Tag darauf warten müssen.

Ich fuhr jetzt also auf der Ruta 25 direkt in westlicher Richtung. Das nächste Dorf war Gobernador Gregores. 210 km entfernt. Die Straße erwies sich, was die groben Steine und damit das Rattern und Rütteln anbelangte, kaum spürbar besser als die schmale Straße gestern zu dem versteinerten Wald. Allerdings ganz wesentlich breiter und das sollte ich im Laufe des Tages durchaus schätzen lernen. Verkehr war zwar kaum vorhanden. Aber immerhin begegnete mir eines jener fahrbaren „Einfamilienhäuser“. Gewaltige Lastwagen mit Anhänger, Vehikel, wie sie auf Europas Straßen nicht zugelassen wären, und wohl auch kaum um die Kurven drehen könnten. Kurven gibt es in diesem Land ja eigentlich keine. Nur ganz schwache Biegungen, welche, wenn sie nach mehreren Kilometern Länge schließlich wieder in die Gerade übergehen, allerdings auch einem Richtungswechsel von 90 Grad entsprechen konnten. Vor jeder dieser „Kurven“ war jeweils eine Warntafel aufgestellt, welche die Biegung dieses „gefährlichen“ Richtungswechsels anzeigte. Aber hier ging es immer geradeaus. Die Straße verjüngte sich perspektivisch in der Ferne zum gestreckten Faden, und gegen Mittag, wenn die Sonne recht heiß herunterbrannte, vollführten gelegentlich glänzende Luftspiegelungen bald nah, bald fern, ihr närrisches Spiel.

Immer wieder zogen Wolkenbänke über die Weite des Landes. Ihre stetige Wandelbarkeit war ungeheuer. Innerhalb weniger Minuten konnten oft kompakte Wolkenkörper in zahlreiche Kissen zerfallen, um sich dann wiederum zu vielen, parallel laufenden Streifen zu vereinen. Und eine halbe Stunde später war alles wieder aufgelöst und kaum noch eine einzige Wolke am Himmel zu erkennen.

Manchmal querten kleine Herden von Guanakos, der kleinsten der verschiedenen Lama-Arten, in raschem Lauf die Straße, liefen dann noch etwas in die Pampa hinein, drehten sich um und sahen mir nach. Auch Nandus, diese südamerikanischen Laufvögel, rannten hastig vorüber und ohne einzuhalten immer weiter, bis sie als graue Punkte im Grau der kargen Flora in der Ferne verschwanden. Gelegentlich traf ich auf Stellen, wo eine wasserundurchlässige Schicht im Untergrund bis nahe an die Oberfläche reichte. Hier war der Boden, trotz der spärlichen Regenfälle in diesem Gebiet, feucht und oft sogar sumpfig nass. Dort fanden sich kleinere oder größere Herden von Schafen. Sie hatten alle vor Kurzem gelammt und bei meinem Auftauchen rannten die Kleinen mit heftig wackelnden Schwänzen davon und hinter ihren Müttern her. Zweimal tauchte auf der Straße ein Gürteltier auf. Sofort hielt ich an und stieg mit der Kamera aus. Das Gürteltier rannte davon, ich hinterher, und es war wie verhext, trotz der niedrigen und sehr lockeren Vegetation, welche ein Verstecken eigentlich nicht erlaubte, war das Tier plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Selbst wenn ich unverzüglich zu der Stelle hinging, wo ich das Tier zuletzt gesehen hatte, war dort kein Gürteltier zu sehen. Nichts als braune Grasbüschel und nackter Sand.

Da tauchten vor mir in der Ferne lang gestreckte, niedrige Hügelzüge auf. Dort angekommen, hielt ich ein, um einen der Hügel, kaum höher als zwanzig Meter, zu besteigen. Aber diese geringe Höhe genügte schon, um den Horizont weit hinauszuschieben. Neue Wolkenzüge überschritten die ferne Linie, wo Erde und Himmel verschmolzen, und bald einmal war wiederum der ganze Himmel mit lockerem Gewölk überzogen.

Überall auf dem kargen Boden sah ich kleine bunte Blumen. Gelb war die vorherrschende Farbe, ähnlich unserem Pippau und dem Kreuzkraut. Aber auch Bodenkriecher mit blauen Blüten wie unser Ehrenpreis und daneben rot blühender Ackergauchheil. Aber eigentlich kannte ich sie alle nicht. Die Flora Patagoniens hat wenig Ähnlichkeit mit der Flora Europas. Wenn es sich um identische Pflanzen handelt, dann wurden sie im Laufe der letzten Jahrhunderte eingeschleppt. So wie der Löwenzahn und die Lupine.

Vor mir lag eine schnurgerade, scheinbar in den Himmel hineinführende Straße. Da erschien an ihrem Ende am Horizont ein winziger, weißer Punkt. Langsam wurde er größer und begann sich in die Länge zu ziehen.

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Dann entstand an seiner Unterseite ein dunkler Punkt. Es war ein, in eine mächtige Staubwolke eingehüllter Lastwagen, wahrscheinlich einer jener Straßengiganten, welche die einsamen Dörfer der Pampa allwöchentlich mit Lebensmitteln und Treibstoff versorgen. Es dauerte noch mehrere Minuten, ehe die Umrisse auf der Vorderseite der Staubwolke deutlich wurden. Doch bald darauf begann sich der Gigant vor mir aufzubauen. Ich grüßte mit einem Handwinken, dann drehte ich eilig die Fenster hoch. Mein Gruß wurde erwidert mit einem kurzen, tiefen Hornsignal, welches mich an das Nebelhorn eines Ozeandampfers erinnerte. Dann brummte er an mir vorbei, und unmittelbar danach sah ich nur noch weiß. Aber der stetige Wind blies die Wolke nach wenigen Sekunden hinweg, und hinter mir sah ich nichts als einen riesigen, wirbelnden Nebel langsam wieder in der Ferne verschwinden.

Die Sonne stand jetzt schon wieder tiefer im Westen, und es ging gegen sechs Uhr. Nach meiner Rechnung hätte ich Gobernador Gregores schon vor einer Stunde erreichen sollen. Aber es ist kaum möglich, auf diesen Straßen in der Geschwindigkeit so etwas wie einen bestimmbaren Durchschnitt einzuhalten. Es dauerte immer noch eine halbe Stunde, ehe ich vor mir die ersten Häuser sah. Die Pampa-Dörfer sind alle nach einem ähnlichen Schema aufgebaut. Es sind lang gestreckte Straßendörfer, d. h. sie haben sich im Laufe der Jahre langsam entlang des Verkehrsweges entwickelt. Ihre Einwohnerzahl dürfte nach meiner Schätzung wohl eher selten mehr als tausend betragen. Sehr oft sicher nur wenige hundert. So auch Gobernador Gregores. Der Herr „Gregores“ war wohl kaum ein besonders hoch dekorierter Gouverneur, dass man zu seinen Ehren dieses kleine Dörflein mit seinem Namen bedachte. Langsam fuhr ich die „Avenida“ entlang. So wird hier überall die Hauptstraße genannt. Sie war allerdings sehr nett mit Bäumen bepflanzt und die kleinen Häuschen hatten oft einen mit Blumen gezierten Vorgarten. Am Dorfeingang stand ein offenbar ganz neues, sauber weiß gestrichenes Haus. „Policia“ stand in großen Lettern über dem Eingang.

Da ich auftanken wollte, hielt ich hier ein und betrat das Haus, um mich nach der Tankstelle zu erkundigen. Der freundliche Dorfpolizist kam noch mit mir auf die Straße und zeigte mir, wo am anderen Ende des Dorfes sich die Gesuchte befindet. Dort am Ende bog dann mein Weg ab in den linken Ast der Ruta 40, welche zum Cardiel-See führte. Nach der Brücke über den Rio Chico und rechts hinauf in die Berge. Es ist dies ein Mittelgebirge, nur wenige hundert Meter hoch, und doch fast so breit wie die Alpen zwischen Interlaken und Domodossola.

Der Rio Chico ist hier noch ein kleiner Fluss, eigentlich erst ein Bach. Kurz nach Piedra Buena hatte ich ihn vor drei Tagen schon einmal überquert. Dort, kurz vor seiner Einmündung in den Atlantik, ist er dann ein breiter, träge fließender Strom. Nach der Brücke wollte ich, gemäß der Karte, nach rechts abbiegen. Aber da war nichts. D. h. nur ein kleiner Weg, welcher schon nach wenigen Metern in einem Geröllhaufen endete. Die linke Straße war die Ruta 27, welche direkt wieder nach Piedra Buena führte. Ich war ziemlich ratlos und starrte auf die Karte, so als ob ich durch meinen Blick die irreführenden Angaben verändern könnte. Wie ich so dastand und nachsann, wie das Problem wohl zu lösen sei, fuhr ein großer Pick-up über die kleine Brücke. Ich lief, die Hände schwenkend, darauf zu. Eine auffallend hübsche, junge Frau saß am Steuer, neben ihr zwei Kinder im Alter von etwa vier und sechs Jahren. Ich sprach sie gleich auf Englisch an, in der Hoffnung, dass sie mich verstehe, und erklärte ihr kurz meine Lage. Sie antwortete mir in bestem Englisch, und erst im weiteren Gespräch merkte ich an ihrem leicht spanischen Akzent, dass sie doch Argentinierin war. Die Straße hier den Berg hinauf sei schon richtig. Man habe in diesem und dem letzten Jahr hier viel verändert und neu gebaut. Ich soll jetzt hier hinauf fahren, nach drei Kilometern die Gabelung links, dann die nächste Gabelung geradeaus usw. Nach all den vielen links und rechts, geradeaus und rundherum wusste ich nicht mehr, wie der Anfang war. Sie lachte und meinte, da sie teilweise dieselbe Strecke fahren werde, soll ich einfach hinter ihr nachfolgen. Nach siebzehn Kilometern gebe sie mir ein Zeichen. Sie würde dann nach rechts abbiegen auf den Weg „to my home“, und ich soll weiter geradeaus fahren, auf der Straße zum Cardiel-See. Also alles wieder bestens. Sie fuhr los und ich hinterher. Es wurde eine Art Rennen. In ihrem schweren Wagen merkte sie offenbar von den Schwierigkeiten der Straße wenig. Ich schwamm auf dem losen Geröll oft nur so hin und her. Die siebzehn Kilometer kamen mir unheimlich lange vor. Doch schließlich winkte sie mit der Hand zum Fenster hinaus, ich winkte zum Dank zurück und sie bog ab.

Ich befand mich jetzt auf der berühmten Ruta 40, welche vom obersten Norden Patagoniens bis nahe an dessen südliche Grenze führt, und dann nach Osten bis Rio Gallegos, der Stadt wo ich vier Tage zuvor zu meiner Fahrt aufgebrochen war. Bis jetzt ging es immer den Berg hoch. Doch bald darauf erreichte ich eine Art Hochplateau. Links und rechts, im Abstand von nur wenigen Kilometern, zogen sich zwei parallel laufende Gebirgszüge dahin, vielleicht noch etwa hundert Meter höher als das Plateau. Direkt vor mir waren keine Hügelzüge. Nur die gerade Linie des Horizontes, welche im Licht der Abendsonne leuchtete. Es war eine fast unheimliche Szenerie. Vor mir, knapp über dem Horizont, von langen, dunklen Wolkenstreifen teilweise verdeckt, die Sonne, unmittelbar vor ihrem Untergang. Über mir ein schwarzes, chaotisches Wolkengewirr, an dessen Rändern es überall blendend hell strahlte und in deren Innerem ein blutroter Brand lohte. Der ganze Himmel war ein einziger Aufruhr aus Feuer, Glut und Rauch. Ein zuvor nicht gekanntes Gefühl totaler, verlassener Einsamkeit überkam mich.