Sprengel, Leni Jane und Jack – Dir gehört mein Herz

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ISBN 978-3-492-98278-8

Juli 2016

© Piper Fahrenheit, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2016

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: © Aleshyn_Andrei/Shutterstock.com

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

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Mittelaltererfahrungen

Ich habe nie zu diesen Mädchen gehört, die schon mit ihrer Schultüte in der Hand genau wussten, was sie einmal werden wollen. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, meiner Barbie den neuesten Haarschnitt zu verpassen und alle Verwandlungsstufen der Pokémon zu lernen. Ich war keines von diesen Wendy-Gören, die schon immer davon träumten, eines Tages Tierärztin zu sein. Mich hatte meine eigene Planlosigkeit nie gestört. Ich dachte immer, dass mich der Geistesblitz noch rechtzeitig treffen würde. Ich war mir so sicher, dass der Tag kommen würde, an dem ich wissen würde, was ich mit meinem Leben anstellen werde. Irrtum! Nun war ich 18 Jahre alt, hatte mein Abitur in der Tasche und noch immer keinen blassen Schimmer, womit ich meine Brötchen verdienen sollte.

Aus diesem Grund hatte ich jetzt den Salat: Ich saß in einem VW-Bus, der gerade auf der State Route 1 durch Kalifornien fuhr. Roadtrip! Das hörte sich jetzt vielleicht aufregend an, doch der erste Eindruck täuschte. Man stellt sich einen Roadtrip richtig cool vor. Man fährt mit seinen besten Freunden durchs Land, hört gute Musik, übernachtet jeden Tag auf einem anderen Zeltplatz, wo man abends Marshmallows über dem Lagerfeuer röstet und ein Surferboy romantische Songs auf der Gitarre performt. So schön könnte ein Roadtrip sein. Aber nicht meiner! Denn ich war nicht mit meinen besten Freunden durch Kalifornien unterwegs, sondern mit meiner schrecklich netten Familie. Bei uns liefen nicht die Beach Boys, sondern »100 Sing Along Songs for Kids«. Während meine kleine Schwester Lara jedes Mal fröhlich in die Hände klatschte, wenn »If you’re happy and you know it« erklang, donnerte ich meinen Kopf gegen die Scheibe, worauf ich mir jedes Mal einen mahnenden Blick meiner Mutter einfing.

Anstatt abends am Lagerfeuer zu sitzen, übernachteten wir in zwielichtigen Motels. Das nächtliche Gestöhne aus dem Nachbarzimmer hielt Lara für das Monster im Schrank. Das war auch der Grund, weshalb sie stets bei mir im Bett schlief. Dementsprechend kurz waren meine Nächte, denn es schien so, als würde Lara in ihren Träumen zur Kung-Fu-Kämpferin ausgebildet werden. Kaum war sie eingeschlafen, begann sie auch schon mit ihren Kampfeinlagen. Sie war erst sechs Jahre alt, doch sie schaffte es trotzdem, mir mit ihrem zierlichen Körper diverse blaue Flecken zuzufügen. Frühmorgens sprang meine kleine Schwester dann ausgeschlafen aus dem Bett, während ich die Idealbesetzung für eine Horrorverfilmung von Schneewittchen gewesen wäre. Die passenden schwarzen Haare und die blasse Haut hatte ich eh. Augenringe und ein leerer Blick kamen nun hinzu.

»Jane, mach schon! Wir wollen pünktlich sein!«, rief meine Mutter, während sie gegen die Badtür hämmerte.

Ich verdrehte die Augen. Die fünf Minuten machten doch jetzt auch keinen Unterschied mehr.

Auch wenn meine Mutter draußen wahrscheinlich schon einen Tobsuchtsanfall bekam, entschied ich mich trotzdem dazu, eine Dusche zu nehmen und meinen Körper somit dem chlorverseuchten Wasser auszusetzen, das meine Haare in den letzten Wochen in Stacheldraht verwandelt hatte. Seit unserem Amerikaaufenthalt hatte ich die Erfahrung machen dürfen, dass die Bedienung einer Dusche in den USA stets eine Herausforderung war. Während es bei mir zu Hause einfach nur einen Hebel gab, den man nach rechts oder links drehen konnte, um die Temperatur zu regeln, sah ich mich nun einem Armaturenbrett ausgeliefert, welches einem Flugzeugcockpit Konkurrenz machte. Zwei Wochen war ich nun schon in dem Land der Waffennarren und botoxgespritzten Filmstars. Während dieser Zeit hatte ich bestimmt ein Dutzend verschiedener Duschen kennengelernt. Bei manchen musste man drücken, bei anderen ziehen und bei wieder anderen drehen. Auf gut Glück drückte ich einfach einen der Knöpfe. Ich hatte den Größten genommen. Fehler! Erinnerung an mich: Drück nie wieder in fremden Duschen irgendwelche Knöpfe. Immerhin konnte ich nun nachempfinden, wie sich die Menschen im Mittelalter gefühlt haben mussten, wenn sie mit heißem Teer übergossen worden waren. Schreiend und splitterfasernackt machte ich einen Satz aus der Dusche und drückte meinen Körper gegen die kalte Fliesenwand. Ich hätte schwören können, ein abkühlendes Zischen gehört zu haben. Einen Moment verharrte ich in dieser Position. Erst als meine Haut wieder auf Normaltemperatur heruntergefahren war, löste ich mich. Das Badzimmer glich mittlerweile einer Dampfsauna, da noch immer das Wasser aus dem Duschkopf prasselte. Ich griff nach meiner Zahnbürste und drückte damit den großen Knopf, dem ich meine Mittelaltererfahrung zu verdanken hatte. Ich wollte nicht auch noch meine Hand opfern, nachdem schon mein Rücken daran glaubenmusste. Ich rechnete damit, dass der kochend heiße Wasserstrahl nun stoppen würde, doch stattdessen wurde das Wasser arktisch kalt. Ich fragte mich, ob überhaupt eine Logik hinter dieser Armatur steckte oder ob Amerikaner einfach nur eine Vorliebe für Überraschungseffekte hatten. Wie auch immer: Ich entschied mich, lieber eiskalt zu duschen, anstatt noch einmal einen Knopf auszuprobieren. Wer wusste schon, was dann passieren würde? Mittlerweile traute ich amerikanischen Duschen alles zu. Das kalte Wasser war am Anfang noch angenehm auf meiner verbrannten Haut, doch das änderte sich schnell. Ich reduzierte meinen Waschvorgang auf das Minimum und ließ ausnahmsweise meine üblichen Gesangseinlagen aus. Trotzdem floss am Ende mein Blut nur noch als Sorbet durch meine Adern.

»Was hast du die ganze Zeit da drin gemacht?«

Mum hatte die Hände in die Seite gestemmt und sah mich musternd an. Ich zog eine abwertende Grimasse. Ich war gerade mal eine halbe Stunde im Bad gewesen. Sie hatte eine geschlagene Stunde darin zugebracht, und das auch nur, um einer Frau zu gefallen, die sie nicht einmal mochte: ihrer Schwiegermutter. Ich selbst hatte meine Oma erst ein Mal gesehen. Sie lebte in der Nähe von San Francisco. Als ich zehn Jahre alt gewesen war, hatten wir sie das letzte Mal besucht. Ich kann mich noch an unzählige Porzellankätzchen erinnern sowie an eine beachtliche Sammlung von Puppen, die sie alle in einem Raum aufbewahrt hatte. Einmal hatte ich mich in dieses Zimmer verirrt und wurde sogleich traumatisiert. Nichtsahnend war ich in das Puppenzimmer gestolpert und wurde schlagartig von Hunderten von Glasaugenpaaren angeglotzt. Noch Wochen später wurde ich von Chucky, der Mörderpuppe, in meinen Träumen verfolgt. Nach diesem einen Besuch hatte ich meine Oma nicht mehr wiedergesehen. Sie selbst stieg in kein Flugzeug, und nachdem Lara geboren war, waren lange Flugreisen für uns erst einmal abgehakt, was mich bezüglich meiner Oma auch nicht sonderlich störte. Sie war eine seltsame Frau. Sie verließ so gut wie nie das Haus. Stattdessen hockte sie immer vor ihrem Fernseher und zog sich die üblichen Soap-Operas rein, in denen jeder mit jedem schlief, alle aber irgendwie auch verwandt waren und jeder irgendwann mal im Koma lag. Meine Oma konnte sich an den Dramen nicht sattsehen. So hatte ich es zumindest in Erinnerung, und Dad hatte neulich diese Erinnerung bestätigt. Er war mit ihr allein in diesem Haus groß geworden. Einen Vater hatte es nicht gegeben. Ich konnte gut verstehen, dass er schon mit 16 die Flucht von zu Hause angetreten hatte. Als mittelguter Musiker war er durch Europa gezogen und hatte in Deutschland meine Mutter getroffen. Zwei Jahre später kam ich dann nicht ganz geplant auf die Welt. Sie heirateten, und aus dem einstigen rebellischen Punker wurde ein Spießer in einer deutschen Reihenhaussiedlung, der – um das Klischee zu komplettieren – auch noch als Steuerberater arbeitete. Lediglich sein ausgeblichenes Anker-Tattoo auf dem Oberarm erinnerte noch daran, was er mal für ein verrückter Junge gewesen war. Meine Mutter hingegen war immer schon ein Hippie gewesen. Nicht die Art Hippie, die sich auf Festivals zukiffte und den Spruch »All we need is love« sehr wörtlich nahm. Nein, sie war mehr so ein Ökohippie. Sie aß kein Fleisch, kaufte nur Bio, engagierte sich sozial und versuchte auch sonst, ein Gutmensch schlechthin zu sein. John Lennon war ihr Idol, und wehe einer von uns sagte ein schlechtes Wort über ihn. Von Geburt an versuchte sie, mich zu einer Kopie von sich zu erziehen, doch den Appetit auf Döner und Burger würde sie mir nie abgewöhnen können.

»Jane, hast du’s endlich?«

Mum beobachtete ganz genau, wie ich meine restlichen Sachen hastig in den Rucksack stopfte und ihn mir elegant über die Schultern schwang.

»Ja, fertig!«

Eine Stunde brauchten wir von hier noch bis zu meiner Oma. Es war die letzte Stunde, die ich mit meinen Eltern und Lara vorerst allein verbringen würde, denn während sie in drei Tagen zurück nach Deutschland fliegen würden, blieb ich für neun Monate hier. Aufgrund meiner Planlosigkeit, was meine Zukunft betraf, hatte ich mich erst einmal zur Selbstfindung für einen Auslandsaufenthalt entschieden. Ich hätte jetzt wie all die anderen in irgendeinem afrikanischen Land – von dem man mit Glück die Hauptstadt benennen konnte, sonst aber nichts weiter wusste – Englisch unterrichten können. Ich hätte auch in Kanada Wölfe bändigen oder Wale zählen können. Auch Schildkröteneier in südamerikanischen Nationalparks auszugraben, wäre eine beliebte Alternative gewesen, doch nicht für mich. Tiere schienen grundsätzlich in mir nur ihren Todfeind zu sehen, und in Afrika krabbelte mir einfach zu viel Viehzeug rum. Und so war ich bei meiner Oma in Kalifornien gelandet. Ich konnte mir natürlich Schöneres vorstellen, als nach dem Abitur zu einer schrulligen, alten Frau zu ziehen, doch es war eine billige Variante gewesen, um ein Auslandsjahr zu machen. Außerdem war ihr Haus groß, und wenn ich Glück hatte, dann lief ich ihr nicht allzu oft über den Weg. Zumindest redete ich mir das immer sehr erfolgreich ein. Wahrscheinlich würde ich eh nicht viel Zeit in diesem Haus zubringen, denn ich würde mich bei einer amerikanischen Familie um zwei Kinder kümmern. Zwei Brüder im Alter von vier und elf Jahren würden ab übermorgen meine persönliche Herausforderung sein. Schließlich sollte ich ja auch etwas zu tun haben im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Doch für heute stand erst einmal eine ganz andere Herausforderung an: Ich musste dem prüfenden Blick meiner Oma standhalten.

Die eine Stunde Fahrtzeit nutzte Dad, um mich vor all den Macken seiner Mutter zu warnen. Mein ganzes Leben hatte er dazu Zeit gehabt, doch erst jetzt – auf dem letzten Drücker – kaute er mir ein Ohr ab, wie furchtbar anstrengend seine Mutter doch war und machte mir damit Angst. Warum zur Hölle hatte er mir nicht vorher erzählt, dass sie nicht nur wie ein Holzfäller schnarchte, sondern dass sie auch noch die Angewohnheit hatte, jeden Morgen um sechs Uhr dreißig Klavier zu spielen? Ich wusste ja, dass sie früher Klavierlehrerin gewesen war, aber um sechs Uhr dreißig? Ich verstand nicht, warum Rentner immer so früh aufstehen mussten. Das ganze Leben lang sehnt man sich doch danach, endlich mal so lange schlafen zu können wie man will, und kaum ist man in dem Alter, wo man alle Zeit der Welt hat, steht man offensichtlich freiwillig zu der Uhrzeit auf, wo sonst nur noch Nerds vor ihren Bildschirmen hocken und die Alkoholiker aus der Bar geschmissen werden.

Dann waren wir da. Schon von außen sah das Haus irgendwie unheimlich aus. Ich hatte es gar nicht so riesig in Erinnerung. Was machte eine alte Frau mit so einem riesigen Haus? Auf der Veranda saß ein dicker grauer Kater. Er hatte ein Glöckchen um den Hals und starrte mich arrogant an. Ich ging auf sein Blickduell ein. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte ich, ihn niederzustarren. Gut eine halbe Minute hielt ich seinem Todesblick stand. Dann musste ich feststellen, dass Mr. Ich-bin-auch-mit-Glöckchen-um-den-Hals-cool gut war, sogar sehr gut. Ich gab mich letztendlich geschlagen. Na, das fing ja schon mal gut an! Keine fünf Minuten war ich hier, und schon hatte ich meine erste Niederlage einstecken müssen, und das gegen einen Kater, der dringend in ein Camp für adipöse Katzen gehörte. Ich konnte den triumphierenden Blick dieses Stubentigers in meinem Nacken förmlich spüren, als ich auf dem Klingelschild »Harrison« las. Dann sah ich, wie sich eine Gestalt aus dem Schaukelstuhl erhob. Bis jetzt hatte ich gar nicht wahrgenommen, dass dort jemand gesessen hatte. Ein Windspiel erklang, und die Dielen der Veranda knarrten unter dem Gewicht meiner Oma. Das wirkte alles wie aus einem billigen Horrorfilm. Ich hoffte, dass es kein schlechtes Zeichen für meine kommenden neun Monate war.

Meine schwedischen Freunde

Nun stand ich hier mit meiner Oma. Allein. Meine Eltern hatten eben die Fliege gemacht. Ganze zwei Stunden hatten sie es hier ausgehalten und sich ein paar überlagerte Kekse hineingezwungen. Dann hatte meine Mutter hinterm Rücken meiner Oma wilde Handzeichen gegeben, sodass mein Dad endlich verstand, dass es Zeit war, zu gehen. Dad nahm das freudig an und hatte bereits eine Ausrede parat, warum sie schon wieder losmussten. Angeblich mussten sie den Mietwagen schon in drei Stunden in San Francisco abgeben. Diese Lügner! Aus zuverlässiger Quelle wusste ich, dass sie noch einen Abstecher nach San José machen wollten. Das Auto hatten sie noch zwei Tage. Meine Grandma und Dad hatten nicht gerade das beste Verhältnis. Ich fragte mich, wie ich es hier neun Monate aushalten sollte, wenn meine Eltern es keinen Tag schafften.

Lediglich Lara schien enttäuscht zu sein, dass sie schon wieder wegfuhren. Dabei war ich mit ihr gleich zu Beginn des Besuches in das Gruselzimmer mit den Puppen gegangen. Ich wollte sie ein bisschen ärgern und mich für ihre nächtlichen Mordversuche rächen. Doch dieser Plan ging leider nicht auf. Sie liebte dieses Zimmer, und das machte mir echt Angst. Als sie dann auch noch eine Puppe Chucky nannte, ohne von der Mörderpuppe jemals gehört zu haben, hätte ich am liebsten sofort einen Exorzisten aufgetrieben. Der kam dann auch in Form von Mum, die sichtlich Mühe hatte, Lara wieder aus dem Zimmer zu bekommen.

Der Abschied von meiner Familie war wie erwartet emotional ausgefallen. Besonders Mum machte aus so was gern ein riesiges Drama. Sie hatte so laut zu heulen angefangen, dass man meinen könnte, sie würde mich gerade zur Zwangsprostitution weggeben. Sie konnte es auch übertreiben! Aber darin war sie schon immer unangefochtener Champion gewesen. Nur ungern erinnerte ich mich an meine Einschulung zurück, als Sturzbäche bei ihr geflossen waren. Sie war die einzige Mutter gewesen, die geweint hatte, und so war mein Start ins Schulleben alles andere als optimal verlaufen. Denn wenn deine Mutter wie ein Schlosshund laut rumheult und sich dabei wie eine sterbende Katze anhört, bist du nicht gerade das coolste Kind der Schule. Da half es auch nichts, wenn dein Vater mal in einer amerikanischen Rockband gespielt hatte.

Dad hatte beim Abschied nach außen hin zwar den Coolen gemacht, doch so leicht konnte er mich nicht täuschen. Ich wusste genau, dass er ein schlechtes Gewissen hatte, mich hier bei seiner Mutter zu lassen. 16 Jahre hatte er es hier ausgehalten oder eher aushalten müssen, und er schien genau zu wissen, dass ich es nicht leicht haben würde. Doch ich hatte es ja selbst so gewollt, und nun musste ich damit klarkommen. Es waren letztendlich nur neun Monate, und ich musste keine Miete zahlen. Das war ein klarer Pluspunkt. Von so einer alten Frau würde ich mir schon nicht mein Kalifornienabenteuer kaputt machen lassen.

Lara hatte zum Abschied ihre kleinen Arme um mich geschlungen und war wie ein Äffchen an mir hochgeklettert. Ich würde sie vermissen, auch wenn sie mir manchmal verdammt auf die Nerven gehen konnte. Ich hatte ihr einen letzten Kuss auf die Wange gedrückt.

»Ich mag das nicht! Das ist eklig«, hatte sie sofort gemeckert und sich mit dem Ärmel durchs Gesicht gewischt. Diese kleine Diva! Von jedem Köter ließ sie sich abschlabbern, aber sobald ich ihr mal einen Abschiedskuss gab, war das eklig.

Schließlich waren sie alle ins Auto gestiegen. Durch die Heckscheibe hatte Lara mir noch so lange gewunken, bis das Auto um die Ecke abgebogen war.

»Ich lege sehr viel Wert auf Ordnung und Sauberkeit!«, ließ mich meine Oma wissen, sobald wir allein waren.

Ordnung und Sauberkeit? Ich? Mein Zimmer war immer ein einziges Chaos und ein ideales Motiv für ein Suchbild. Würde meine Mum mich nicht stets zum Aufräumen zwingen, wäre ich wohl schon längst in einer diese Messie-Sendungen im Nachmittagsprogramm aufgetaucht. Ich war faul und vergesslich. Das konnte ich nicht abstreiten. Vor den Ferien ignorierte ich es regelmäßig, meine Brotbüchse, in der noch ein halbes Sandwich lag, aus dem Rucksack zu nehmen. Es war jedes Jahr das Gleiche. Trotzdem war es immer wieder eine Überraschung zu sehen, wie sich innerhalb von ein paar Wochen ein Biotop in meiner Tasche bilden konnte. Wenn es nur die Büchse betraf, hatte ich immerhin noch Glück. Doch einmal hatte ich einen Apfel in der Tasche vergessen. Die Folge war, dass der gesamte Rucksack vom grünblauen, flauschigen Monster namens Schimmel betroffen war. So Öko wie Mum auch immer drauf war, aber das fand sie dann auch nicht mehr lustig.

»Hast du gehört?«, hakte meine Oma streng nach.

»Ja«, antworte ich wahrheitsgemäß. Gehört hatte ich es. Nur mit der Umsetzung haperte es bei mir.

»Gut, dann werde ich dir jetzt mal dein Zimmer zeigen«, brummte sie und stapfte los. Mit einer Handbewegung wies sie mich an, ihr zu folgen. Also lief ich den grauen Haaren, die zu einem strengen Dutt gebunden waren, hinterher.

Diese Frau war alles andere als herzlich, so viel war klar. Mit Bedauern musste ich feststellen, dass mein Zimmer im ersten Stock lag. Eine Flucht aus dem Fenster war also immer auch mit dem Risiko eines Beinbruchs verbunden, was mich nicht gerade erfreute.

»Es war früher das Zimmer deines Vaters«, ließ sie mich wissen und öffnete die Tür.

Beim Anblick des Raumes war es völlig überflüssig, dass sie den letzten Satz gesagt hatte. Dieses Zimmer hatte eindeutig mein Vater bewohnt. Ich fühlte mich wie in die 90er-Jahre versetzt und stellte mir bildlich vor, wie das 15-jährige Punker-Ich meines Vaters auf dem Bett saß und das neuste Album von Metallica hörte. Es sah wirklich so aus, als wäre mein Vater hier gestern erst ausgezogen.

An der Wand hingen unzählige Poster. Neben den Rolling Stones fand mein Blick auch eins von Bonnie Tyler. Allein das verriet schon, dass mein Vater hier gewohnt hatte. Er hatte schon immer eine Schwäche für die Blondine mit der Kratzstimme gehabt, womit ich ihn nur zu gern aufzog. Auf den Möbeln lag eine dicke Staubschicht. Selbst ich als Hobbymessie war ein wenig angewidert. Man konnte die ursprüngliche Farbe der Möbel nur noch erraten.

»Ich war hier schon seit Jahren nicht mehr drin. Du müsstest ein bisschen wischen und saugen. Dann lässt es sich hier drin aushalten«, raunte Grandma und hatte ausnahmsweise mal recht. Hier musste ich definitiv mal saugen und wischen. »Der Abstellraum ist nebenan. Da findest du alles«, fügte sie noch hinzu. Dann drehte sie sich auf der Türschwelle um und verschwand. Also, sonderliches Interesse hatte sie ja offensichtlich nicht an ihrer Enkelin, doch das konnte mir nur recht sein. Stellte sich nur die Frage, warum sie mich überhaupt aufgenommen hatte.

Ich zog als erstes die Vorhänge vor dem Fenster auf. Mit ein bisschen Tageslicht sah das Zimmer viel freundlicher aus. Allerdings sah man nun auch die Staubkörner in der Luft herumtanzen. Das mit dem Atmen sollte ich vielleicht lieber etwas einschränken, bis hier der Staubwedel sein Werk vollendet hatte. Durch das Fenster hatte ich einen schönen Blick in den Garten und stellte fest, dass praktischerweise sogar ein Baum vor meinem Fenster stand, an dem ich mit ein bisschen Übung sogar ziemlich elegant zu Boden gelangen konnte. Somit hatte ich für den Notfall doch einen Fluchtweg. Ansonsten war das Zimmer recht unspektakulär. Es gab ein Bett, einen Wandschrank, einen Schreibtisch und eine kleine Kommode. Das war es. Die Möbel waren durch Dad schon mächtig ramponiert worden. Er hatte mit dem Taschenmesser allerhand Kritzeleien eingeritzt, inklusive Penissen und Brüsten. Er war halt auch nur ein normaler pubertierender Junge gewesen. Als ich das Bett sah, wollte ich lieber gar nicht wissen, was hier noch so abgegangen war. Mir war allgemein bekannt, dass Dad in seiner Jugend kein Junge von Traurigkeit gewesen war. Er sagte immer, dass die Highschoolzeit die Zeit war, in der er sich die Hörner abgestoßen hatte. Was immer das auch bedeuten mochte. Hätte er mir das mal lieber nicht erzählt. Ich kramte aus meinem Rucksack einen Notizblock und beschloss, eine Einkaufsliste zu erstellen. Ganz oben notierte ich Bettwäsche.

Ich entschied mich, diesem Zimmer meine eigene Note zu verpassen. Also entfernte ich als erstes alle Poster und nahm mir vor, sie Dad bei Gelegenheit zu schicken. Ich wischte Staub, saugte, befreite die Fenster von einem Schmierfilm und sah jetzt erst, dass es gar nicht bewölkt war. Doch so richtig gefiel mir der Raum immer noch nicht. Tapeten in Senfgelb und mit Karomuster waren jetzt auch nicht der Hingucker. Ich googelte Baumärkte in der Nähe und stellte erfreut fest, dass Ikea gleich um die Ecke war. Meine schwedischen Freunde! Auf euch war wirklich Verlass! Ich schnappte mir meinen Rucksack und zog los. Grandma, die im Wohnzimmer saß und auf den Fernseher glotzte, beachtete ich nicht weiter. Sie würde schon merken, dass ich nicht da war.

Kaum hatte ich das Haus verlassen, sah ich, wie auch bei den Nachbarn die Tür aufging. Das war mein Moment, mich als Musterenkelin vorzustellen. Ich konnte den ersten Schritt machen, um Teil dieser amerikanischen, spießigen Nachbarschaft zu werden. Vielleicht wurde ich ja auch mal zu einem Barbecue eingeladen und konnte mich mit majoverseuchten Salaten und fetten Burgern vollstopfen. Vielleicht fand ich ja auch ein bisschen Anschluss und es würde der Beginn einer tollen Freundschaft werden. Doch als die Tür aufging, überlegte ich mir das mit der Freundschaft noch mal. Ein kleines Teeniebiest stöckelte die Veranda herunter. Sie trug ein Shirt, auf dem in großen Buchstaben »OMG, WTF!« stand. Genau das dachte ich mir auch bei ihrem Anblick. Sie kaute mit offenem Mund Kaugummi, was sie mit der Eleganz eines Kamels machte. Dabei präsentierte sie mir auch gleich ihre wunderschön blinkende Zahnspange in Pink. Ihre Pickel hatte sie unter einer fetten Make-up-Schicht verschwinden lassen, was jedoch eher so aussah, als wäre sie gerade vom Kinderschminken gekommen. Ihr Blick war auf ihr Smartphone gerichtet, auf dem sie wild mit den Fingern herumhämmerte, was angesichts ihrer künstlichen Krallen durchaus eine bewundernswerte Leistung war. An ihre Frisur wollte ich lieber erst gar nicht denken. Es sah so aus, als hätte sich Edward mit den Scherenhänden daran versucht und sie anschließend einmal durch den Regenbogen gezogen.

Nichtsdestotrotz sagte ich mir selbst: keine Vorurteile! Vielleicht ist sie ja auch ganz nett. Man soll nicht vom Äußeren auf die inneren Werte schließen. Na ja, was Mütter halt immer versuchen, einem einzutrichtern. Doch Mütter hatten nicht immer recht, wie ich mal wieder feststellen durfte. Während ich ihr freundlich zunickte und ein oberflächliches Grinsen aufsetzte, so wie es die Amerikaner doch so gern mochten, verdrehte sie einfach dreist die Augen, ohne meine Freundlichkeit zu erwidern. Stattdessen tippte sie weiter auf ihrem Handy herum. Dieses kleine Gör!

Ich ließ es mir nicht nehmen, ihr noch einen abwertenden Blick zuzuwerfen und machte mich dann auf in Richtung Ikea. Ein Gefühl der puren Euphorie machte sich in mir breit, als ich den Ort der Regallabyrinthe und Möbel mit skandinavischen Vornamen betrat. Das war wie das Paradies auf Erden für mich! Es war kein Geheimnis, dass Ikea so aufgebaut war, dass man erst nach Stunden wieder das Tageslicht erblickte, doch das amerikanische Ikea übertraf noch einmal alles. Zwischenzeitlich war ich mir nicht mehr sicher, ob es hier wirklich einen Ausgang gab. Eigentlich hatte ich nur ein oder zwei Bilder kaufen wollen, doch nach drei Stunden in diesem Laden fand ich mich an der Kasse mit einem Kissen, einer Nachtlampe, einmal Bettwäsche, zwei Bilderrahmen, einem Eimer rote Wandfarbe und drei Postern wieder. Keine Ahnung, wie das alles in meinen Einkaufswagen gekommen war. Meine Hände hatten sich scheinbar von meinem Gehirn abgekapselt und alles gegriffen, was mir vor die Nase gekommen war.

Es war ein wahrer Balanceakt, das alles wieder nach Hause zu transportieren. Wie es der Zufall so wollte, traf ich auf meinem Rückweg das Teeniebiest wieder. Jede Sekunde drohte mein mühevoll aufgebautes Tragekonstrukt in sich zusammenzufallen. In den mit falschen Wimpern umrahmten Augen blitzte Schadenfreude auf – oder wollte sie mir etwa helfen? Zumindest steuerte sie direkt auf mich zu. Verkrampft schlang ich meine Arme um meine Errungenschaften. Sie kam tatsächlich direkt auf mich zu. Vielleicht war sie ja doch nicht so schlimm.

Zwei Sekunden später wusste ich: Sie war schlimmer.

Mit einem gezielten Schultercheck in der Manier eines NFL-Spielers brachte sie mich ins Wanken. Mit einer spontanen Verrenkung, die meine Wirbelsäule aufs Äußerste strapazierte, versuchte ich noch zu retten, was zu retten war. Vergeblich. Meine Beute purzelte zu Boden. Bitterböse funkelte ich sie an. Das war zweifelsfrei mit Absicht gewesen.

»Sorry, hab dich wohl nicht gesehen«, quietschte sie mit ihrer Barbiestimme und hielt sich gekünstelt die Hände vor den Mund. Dummes Huhn! Besonders den Farbeimer hatte es arg mitgenommen. Er war aufgesprungen, und ein Großteil des Inhalts hatte sich über meiner Kleidung entleert. Warum hatte ich mich ausgerechnet für Rot entschieden? Jetzt hielt mich jeder für eine flüchtige Mörderin. Wut breitete sich in mir aus. Und Wut resultierte bei mir immer in dem Verlangen nach Rache. Ich tunkte meine Hände in die Farbpfütze auf dem Boden und klopfte dann dem Teeniebiest auf die Schulter.

»Schon okay, ich verzeih dir«, sagte ich und grinste sie provokant an. Es war eine stumme Kriegserklärung. Das wussten wir beide. Kaum war ich einen Tag hier, hatte ich schon einen Nachbarschaftskrieg angezettelt.

Ich begutachtete den wundervollen Abdruck meiner Hand auf ihrer Schulter. Ich fand, dass es durchaus eine Aufwertung des Kleidungsstückes war. Sie schien das irgendwie anders zu sehen.

»Miststück«, zischte sie.

Ich konnte sehen, dass sie kurzzeitig überlegte, mir eine zu klatschen, doch sie entschied sich dagegen. Stattdessen drehte sie sich um und schwang dabei dramatisch ihre Haare. Ob sie wusste, dass hier keine Kameras waren und das auch kein Werbespot für ein Shampoo war? Dann ging sie einfach weg. War für sie auch besser so. Ich suchte mir derweil meinen ganzen Kram wieder zusammen und versuchte zu retten, was zu retten war. Zum Glück war es nicht mehr weit, und ich wurde auch sogleich herzlich begrüßt, als ich bei meinem neuen Zuhause wieder ankam. Mr. Ich-bin-auch-mit-Glöckchen-um-den-Hals-cool erwartete mich bereits.

»Verpiss dich!«, giftete ich, als er fauchend ankam.

Als hätte er mich verstanden, verpasste er mir eine mit seiner Tatze. Seine Krallen bohrten sich durch meine Jeans und dann tief in mein Fleisch.

»Blödes Mistvieh!«, fluchte ich und zappelte, als hätte man mir gerade einen Elektroschock gegeben, um diesen Kater von meinem Körper abzuschütteln. Mit einem jämmerlichen Schrei seinerseits schleuderte ich ihn von mir. Er landete gekonnt auf allen Vieren. Wieder duellierten wir uns mit Blicken. Dieses Mal würde ich nicht klein beigeben.

Gut, die Hälfte meines Farbeimers war noch gefüllt. Ich hätte damit zumindest eine Wand streichen können, doch mir fiel eine deutlich bessere Verwendung ein. Mit Schwung kippte ich den Inhalt des Eimers in Richtung Kater, sodass sich die rote Soße über ihn ergoss. Sofort sprang er jaulend weg. Ich hoffe, dass ihm das eine Lektion war.

Der nervende Specht

Meine erste Nacht in dem Haus meiner Oma war alles andere als erholsam gewesen. Auch wenn ihr Zimmer im Erdgeschoss war und meins im ersten Stock, konnte ich sie so laut schnarchen hören, als würde sie direkt neben mir liegen. Gegen Mitternacht hatte das Schnarchkonzert begonnen, und sie hatte es sich nicht nehmen lassen, diverse Zugaben zu geben, und das trotz meines Verzichtes auf Standing Ovations. Um vier Uhr morgens war dann endlich Ruhe gewesen. Zumindest für gut zwei Stunden, denn dann begann sie mit dem Klavierspielen, vor dem Dad mich schon gewarnt hatte. Wütend zog ich das Kissen über meine Ohren. Ich wollte einfach nur schlafen, doch es war vergebens. Ich war wach, und ich würde auch nicht mehr einschlafen. Ohne Ohropax würde ich hier sehr bald zu einem Zombie mutieren.

Um sieben stand ich mit halb offenen Augen in der Küche und schüttete aus einem Kanister Milch über meine Cornflakes. Im zweiten Anlauf schaffte ich es dann auch, die Schüssel zu treffen.

»Das wischst du aber noch weg«, hörte ich plötzlich meine Oma sagen. Ein knochiger Finger schlich sich in mein Blickfeld und zeigte auf die Milchpfütze am Boden.

Dir auch einen wunderschönen guten Morgen, liebe Grandma. »Ja, mach ich«, entgegnete ich genervt und stellte die Milch zurück in den Kühlschrank. Dann zog ich eine Schublade nach der anderen auf, mit der Hoffnung, dass ich irgendwo einen Löffel finden würde.

»Ganz rechts«, raunte Grandma mir zu, der meine Suchaktion offensichtlich nicht entgangen war. Bei ihrer tiefen, rauen Stimme war ich zusammengezuckt. Man könnte meinen, dass ihre Stimmbänder aus Stacheldraht waren.

»Danke«, murmelte ich und fand mithilfe des Tipps tatsächlich den Besteckkasten.

Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass ich bald losmusste. Ich könnte den Bus nehmen, aber natürlich wäre es mit dem Auto deutlich bequemer. Vielleicht hätte ich eben doch eine liebenswürdigere Seite von mir zeigen sollen, denn ich hatte noch eine Bitte an meine Grandma. Ich drehte mich nun zu ihr um und stellte fest, dass ich ihr das erste Mal wirklich in die Augen sah. Es war das Dunkelblau, das alle in der Familie Harrison als Augenfarbe besaßen. Grandmas Blick schüchterte mich etwas ein, doch ich versuchte, es mir nicht anmerken zu lassen, und setzte ein liebenswürdiges Lächeln auf.

»Ich habe heute meinen ersten Arbeitstag«, begann ich vorsichtig und kaute mir auf der Unterlippe herum. Ich wollte nicht mit dem Bus fahren. »Kann ich mir das Auto ausborgen?«, rutschte es mir dann doch direkter über die Lippen, als ich es geplant hatte. Nervös drehte ich den Löffel in meiner Hand und sah gebannt zu ihr.

»Kannst du haben, aber ich brauche es am Dienstag und am Freitag immer für meine Einkäufe«, gab sie mit ihrer gewohnt schroffen Art von sich. Ob sie jemals im Leben gelächelt hatte? Ihre Zornesfalte war jedenfalls deutlich ausgeprägter als die Lachfältchen um die Augen herum.

Immerhin war es die Antwort gewesen, auf die ich gehofft hatte. Kurz überlegte ich, sie zu umarmen, doch dann traf mich ihr kritischer Blick, der mich an meinen Mathelehrer erinnerte, und ich zog zurück.

Während ich allein am Frühstückstisch saß und mir einem Löffel nach dem anderen mit den farbenfrohen Cornflakes in den Mund schob, bemerkte ich im Augenwinkel, wie sich der Kater mir näherte. Noch immer kannte ich nicht seinen Namen. Da sein Fell von der gestrigen Farbaktion noch rot glänzte, beschloss ich, ihn ab sofort Mr. Weasley zu nennen. Mr. Weasley hatte den gesamten gestrigen Abend damit verbracht, sich von oben bis unten abzuschlecken, um irgendwie seine Typveränderung wieder loszuwerden. Jedoch vergebens. Irgendwann hatte ich sogar Mitleid mit ihm bekommen und angeboten, ihn zu duschen. Mit aller Sanftmut, die ich hatte aufbringen können, hatte ich versucht, ihn ins Bad zu locken, doch er verweigerte schlichtweg meine Dienste. Am Anfang hatte ich noch geduldig mit Leckerlis vor seiner Nase herumgewedelt, doch als er seine Krallen im Stil eines ausgewachsenen Löwen gegen mich ausgefahren hatte, war mir klar geworden, dass er zu stolz war, um sich von mir helfen zu lassen. Dann musste er eben noch länger ein Dasein als Punkkater führen.

Um acht Uhr dreißig war es Zeit, den Weg zur Arbeit anzutreten. Ich packte meinen ganzen Krempel zusammen und warf einen abschließenden Blick in den Spiegel, bevor ich das Haus verließ. Meine schwarzen Haare hatte ich zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, da sie heute mal wieder beschlossen hatten, eine Rebellion gegen mich zu starten. Meine Haut hatte sich dem Widerstand angeschlossen und weigerte sich vehement, durch die kalifornische Sonne auch nur ein bisschen Bräune zuzulassen, und dank des Schlafmangels hatte ich unter den Augen dunkle Ringe. Eine kalifornische Schönheit sah definitiv anders aus.

Kaum hatte ich das Haus verlassen, schickte mir das Schicksal eine gute Bekannte vorbei: das Teeniemonster. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich meinen, dass sie mich verfolgte. Ihren Schulrucksack hatte sie ganz cool über eine Schulter geworfen. Wie schon die letzten beiden Male war ihr Blick auf das Handy gerichtet. Sie war so fixiert darauf, dass sie eine Wurzel am Boden übersah. Ich vermutete, dass die Wurzel nicht über Nacht aus dem Boden geschossen war, doch offensichtlich hatte sie das Teeniemonster für einen Moment aus dem Bewusstsein gestrichen. Selbst wenn ich sie hätte warnen wollen, wäre ich nicht schnell genug gewesen. Ehe ich reagieren konnte, geriet sie ins Stolpern. Für einen kurzen Augenblick dachte ich noch, dass sie sich halten könne, doch dann fiel sie. Das Handy flog im hohen Bogen durch die Luft und zerschmetterte auf der Bordsteinkante. 600 Dollar waren damit schon mal futsch. Langsam begann sie, mir leidzutun. Dann legte sie auch noch eine saubere Landung mit dem Gesicht hin. Autsch! Das tat mit Sicherheit weh. Kurz blieb sie benommen liegen. Sofort eilte ich zu ihr. In meinem Gehirn suchte ich verzweifelt nach dem Wissen aus meinem Erste-Hilfe-Kurs. Leider war da nicht viel hängengeblieben, was vielleicht auch damit zu tun hatte, dass ich damals viel zu sehr von dem gutaussehenden Sanitäter abgelenkt gewesen war, der den Kurs geleitet hatte. Ich wusste aber immerhin noch, dass ich zum Rhythmus von Staying Alive von den Bee Gees auf das Herz drücken sollte. Mehr war mir leider nicht im Gedächtnis geblieben. Ich hätte lediglich die Tattoos beschreiben können, die den Arm des Sanitäters gezierten hatten. Immer hatte ich mir diese detailliert in den Block gekritzelt und dafür auf Notizen zur Erstversorgung verzichtet.

Das arme Mädchen rappelte sich mittlerweile tapfer auf, noch bevor ich sie erreichen konnte. Sofort blickte sie sich um, ob jemand ihren actionreichen Sturz gesehen hatte. Solange das ihr erster Gedanke war, konnte es ja nicht allzu schlimm sein. Dann sah sie mich und ihr Gesicht wurde knallrot, sodass man nicht mehr genau wusste, was jetzt Blut und was Schamesröte war. Selbst ihre zentimeterdicke Make-up-Schicht hatte eine Schürfwunde im Gesicht nicht verhindern können.

»Alles okay?«, fragte ich und reichte ihr kameradschaftlich die Hand, damit ich sie hochziehen konnte. Nachbarschaftskrieg hin oder her: Ich war ja auch kein Unmensch.

Ich war mir sicher, dass sie Schmerzen hatte, doch sie konnte es gut hinter ihrem arroganten Blick verstecken.

»Verpiss dich!«, fuhr sich mich mit falschem Stolz an.

Ich baute mich mit mütterlicher Autorität vor ihr auf. Immerhin war ich seit drei Monaten volljährig und somit ganz offiziell erwachsen. Da durfte man auch schon mal einen auf Mutti machen.

»Können wir das mit den Beschimpfungen lassen und noch mal von vorne anfangen? Ich bin Jane und will dir helfen.«

Meine Hand wartete immer noch auf ihre, was sie konsequent ignorierte.

»Tu doch nicht so, als würde es dich interessieren. Du hast dir doch grad bestimmt den Arsch abgelacht.«

Mittlerweile lief Blut aus ihrem Mund, und sie sah aus, als wäre sie mit einer Horde Vampire gerade auf der Jagd gewesen.

»Komm schon! Sehe ich in irgendeiner Art und Weise amüsiert aus?«

Kritisch beobachtete sie mich und schien nach einer Antwort auf diese Frage zu suchen. Schließlich legte sie ihre Finger auf meine Handfläche, sodass ich sie hochziehen konnte. Ihr zierlicher Körper ließ sich leicht wieder aufstellen, doch ihr Kopf hatte wohl mehr abbekommen, als ich zunächst angenommen hatte. Sie taumelte ein wenig von rechts nach links. Ich stützte sie und führte sie zu ihrem Haus.

»Ich bin Christie«, nuschelte sie schwer verständlich. Ich sah zu ihr und bemerkte, dass ihre Lippen angeschwollen waren. Sie konnte sich damit locker in eine Reihe mit all den Schlauchbootlippenträgerinnen aus Hollywood stellen, doch diesen Kommentar behielt ich lieber für mich.

Ich klingelte. Von drinnen kamen Schritte näher. Dann machte eine Frau mittleren Alters die Tür auf, und mich wunderte nicht mehr, warum Christie aussah, wie sie eben aussah. Nicht weil ihre Mutter ihr mit der äußeren Erscheinung ähnelte, sondern vielmehr, weil sie das komplette Gegenteil war. Sie wirkte wie eine klassische graue Maus, die schon länger keine Dusche mehr gesehen hatte. Die Haare waren fettig und ungekämmt. Der graue Ansatz war deutlich sichtbar. Sie trug ein ausgeleiertes Shirt, das wohl ihre Fettpölsterchen verstecken sollte. Sie sah nicht so aus, als ob sie oft das Haus verlässt. Die Haut war blass, und auf ihrer Jogginghose hatten sich schon Flecken von diversen Mahlzeiten angesammelt. An ihren gelben Zähnen und dem penetranten Geruch erkannte ich sofort, dass sie Kettenraucherin war. Es war einer dieser Momente, in dem ich mir eine Wäscheklammer wünschte, um sie mir über die Nase stülpen zu können. Ich hasste diese Mischung aus Schweiß und Zigarettenrauch. Da ich zur Schule immer mit S-Bahn gefahren war, war ich diesem Geruch öfter ausgeliefert gewesen, als mir lieb war. Doch gewöhnt hatte ich mich daran nie.

Der Blick der Frau blieb an ihrer demolierten Tochter hängen. Meine eigene Mutter hätte schon längst ein Ärzteteam beordert und versucht, mich sicherheitshalber ganz oben auf die Empfängerliste von Organen zu setzen. Christies Mutter war da deutlich entspannter.

»Was ist denn mit dir passiert?«, erkundigte sie sich, während sie das Gesicht ihrer Tochter musterte.

»Sie ist hingefallen«, berichtete ich, da Christie keine Anstalten machte den Mund aufzumachen.

Ihre Mutter nickte ernst.

»Wasch dir drinnen mal den Dreck und das Blut aus dem Gesicht! Dann gucken wir mal, ob du einen Arzt brauchst.«

Ihre Stimme wirkte sehr sanft, doch Christie ließ sich davon nicht beeindrucken. Stattdessen löste sie sich von mir und folgte der Anweisung ihrer Mutter, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Christie verschwand wortlos im Haus, während sie sich die Hände vor das Gesicht hielt. Noch immer taumelte sie leicht und konnte nur mit größter Mühe einem Schuh ausweichen, der mitten im Flur lag.

»Danke, dass du sie vorbeigebracht hast. Du bist das Mädchen von nebenan, oder? Deine Großmutter meinte, dass sie bald Besuch von ihrer Enkelin bekommt. Das bist du, oder?«

Sie musterte mich. Jedoch nicht auf eine kritische Art und Weise, sondern vielmehr interessiert.

»Ja, bin ich. Ich bin Jane.«

Ein freundliches Lächeln kam über ihre trockenen Lippen.

»Ich würde mich gerne mit dir noch unterhalten, aber ich muss jetzt wirklich nach Christie sehen«, würgte sie mich etwas abrupt ab und machte eine entschuldigende Geste.

Verständnisvoll nickte ich trotzdem.

»Richten Sie ihr gute Besserung aus, Mrs. …« Ich sah schnell auf das Klingelschild. »Mrs. Kostner.«

»Nenn mich Holly«, verbesserte sie mich augenblicklich.

»War nett, dich kennenzulernen, aber ich muss jetzt zur Arbeit«, entschuldigte ich mich nun ebenfalls, denn ich wollte an meinem ersten Arbeitstag nicht zu spät kommen. Immerhin erfüllte ich das deutsche Klischee in Bezug auf Pünktlichkeit. Ich hatte extra zehn Minuten Puffer eingeplant. Wenn jetzt keine Zwischenfälle mehr kamen, würde ich noch rechtzeitig bei meinem neuen Job sein. Ich deutete noch ein Winken an, spurtete zum Auto und schmiss meine Tasche auf die Rückbank. Dann fuhr ich los. Es waren laut Navi nur fünf Kilometer bis zur Familie Bush, wo ich in Zukunft viel Zeit verbringen würde. Ich hatte erst seit einem halben Jahr den Führerschein, doch ich fühlte mich hinter dem Steuer sicher. Das Auto meiner Oma war ein alter VW-Käfer und auch nicht viel schneller als seine krabbeligen Namensvettern. Da dieser Wagen noch aus den Siebzigern war und ich für die Gangschaltung jedes Mal den Hulk in mir wecken musste, kam ich zusehends unter Zeitdruck. Ich drehte die Musik laut auf, um mich etwas abzulenken. Meine Oma hatte einen Radiosender eingestellt, der Musik aus den Sechzigern spielte. Ich konnte mir Schlimmeres als Elvis und die Beatles in Dauerschleife vorstellen. Am Spiegel hing sogar eine Miniausgabe des King of Rock’n’Roll. Bei jeder Kurve schwang er in seinem hautengen weißen Anzug hin und her, während ich lauthals Jailhouse Rock mitsang und versuchte, Elvis’ Gesichtszüge zu imitieren. Zum Glück mussten sich nur die Plastikohren von Elvis meine Gesangskünste anhören, denn es war leider eine Tatsache, dass meine Stimme und die Kontrolle darüber genauso gut ausgeprägt waren wie Christies Modegeschmack. Ein jaulender Hund würde mich bei Singstar locker schlagen. Doch deshalb wollte ich nicht auf das Singen verzichten, denn ich tat es aus Leidenschaft. Wie hatte Van Dyke es so schön gesagt: »Wenn nur die talentiertesten Vögel singen würden, wäre der Wald sehr still.« Dann war ich eben der nervende Specht und nicht die anmutige Nachtigall. Damit konnte ich leben.

Ich war schon fast am Ziel, als ein Wagen vor mir plötzlich einscherte. Sofort stieg ich auf die Bremsen, wodurch der Mini-Elvis einen unnatürlichen Dancemove hinlegte, bei dem sich jeder normale Mensch wohl die Hüfte gebrochen hätte. Ich kannte mich mit Autos nicht aus, aber der Besitzer des Autos vor mir wusste mit Sicherheit nicht, wie die Billigschokolade aus dem Supermarkt schmeckte. Wer so ein Auto fuhr, hatte nicht nur jede Menge Geld, sondern noch mehr Statuskomplexe.

»Sie haben ihr Ziel erreicht«, informierte mich die freundliche Navistimme in dem Moment, als ich meinen ersten Schock über die Notbremsung hinter mich gebracht hatte.

Ich brachte das Auto nun endgültig zum Stillstand und musste feststellen, dass auch der andere Wagen gehalten hatte. Wutentbrannt riss ich die Tür auf.

»Sag mal, geht's noch?«, brüllte ich in seine Richtung.

Ich war mir sicher, dass der Fahrer ein Mann sein musste, auch wenn noch niemand ausgestiegen war. Keine Frau würde so einen Fahrstil an den Tag legen und sich auch noch einen Aufkleber mit dem Spruch »No fat chicks« auf die Heckklappe kleben.