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Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien
zur Einführung

Nicolas Pethes

Kulturwissenschaftliche
Gedächtnistheorien
zur Einführung

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Wissenschaftlicher Beirat
Michael Hagner, Zürich
Dieter Thomä, St. Gallen
Cornelia Vismann, Frankfurt a.M. †

Junius Verlag GmbH

Stresemannstraße 375

22761 Hamburg

Im Internet: www.junius-verlag.de

© 2008 by Junius Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Florian Zietz
Titelbild Sigrid Sigurdsson,
Karl Ernst Osthaus Museum, Hagen
Fotografie: Achim Kukulies
Veröffentlichung der E-Book-Ausgabe März 2016
ISBN 978-3-96060-011-4
Basierend auf Printausgabe:
ISBN 978-3-88506-073-4
2., überarb. Aufl. 2013

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Zur Einführung …

… hat diese Taschenbuchreihe seit ihrer Gründung 1978 gedient. Zunächst als sozialistische Initiative gestartet, die philosophisches Wissen allgemein zugänglich machen und so den Marsch durch die Institutionen theoretisch ausrüsten sollte, wurden die Bände in den achtziger Jahren zu einem verlässlichen Leitfaden durch das Labyrinth der neuen Unübersichtlichkeit. Mit der Kombination von Wissensvermittlung und kritischer Analyse haben die Junius-Bände stilbildend gewirkt.

Von Zeit zu Zeit müssen im ausufernden Gebiet der Wissenschaften neue Wegweiser aufgestellt werden. Teile der Geisteswissenschaften haben sich als Kulturwissenschaften reformiert und neue Fächer und Schwerpunkte wie Medienwissenschaften, Wissenschaftsgeschichte oder Bildwissenschaften hervorgebracht; auch im Verhältnis zu den Naturwissenschaften sind die traditionellen Kernfächer der Geistes- und Sozialwissenschaften neuen Herausforderungen ausgesetzt. Diese Veränderungen sind nicht bloß Rochaden auf dem Schachbrett der akademischen Disziplinen. Sie tragen vielmehr grundlegenden Transformationen in der Genealogie, Anordnung und Geltung des Wissens Rechnung. Angesichts dieser Prozesse besteht die Aufgabe der Einführungsreihe darin, regelmäßig, kompetent und anschaulich Inventur zu halten.

Zur Einführung ist für Leute geschrieben, denen daran gelegen ist, sich über bekannte und manchmal weniger bekannte Autor(inn)en und Themen zu orientieren. Sie wollen klassische Fragen in neuem Licht und neue Forschungsfelder in gültiger Form dargestellt sehen.

Zur Einführung ist von Leuten geschrieben, die nicht nur einen souveränen Überblick geben, sondern ihren eigenen Standpunkt markieren. Vermittlung heißt nicht Verwässerung, Repräsentativität nicht Vollständigkeit. Die Autorinnen und Autoren der Reihe haben eine eigene Perspektive auf ihren Gegenstand, und ihre Handschrift ist in den einzelnen Bänden deutlich erkennbar.

Zur Einführung ist in verstärktem Maß ein Ort für Themen, die unter dem weiten Mantel der Kulturwissenschaften Platz haben und exemplarisch zeigen, was das Denken heute jenseits der Naturwissenschaften zu leisten vermag.

Zur Einführung bleibt seinem ursprünglichen Konzept treu, indem es die Zirkulation von Ideen, Erkenntnissen und Wissen befördert.

Michael Hagner
Dieter Thomä
Cornelia Vismann

Inhalt

Einleitung: Was, wie und warum erinnern Kulturen?

I.Geschichte und Probleme kultureller Gedächtnistheorien

1.Natur oder Technik? Von der antiken Philosophie zur modernen Psychologie

2.Vergangenheit oder Gegenwart? Die kulturelle Funktion der Erinnerung bei Nietzsche

3.Politik oder Kunst? Ursprung und Überlieferung bei Freud und Warburg

4.Individuelles oder soziales Erinnern? Das kollektive Gedächtnis nach Halbwachs

5.Kommunikatives oder kulturelles Gedächtnis? Tradition und Identität nach Assmann

6.Erinnern oder Vergessen? Kultur als Gedächtnis der Gesellschaft in der Systemtheorie

II.Techniken und Funktionen des kulturellen Gedächtnisses

1.Rituale: Feiertage und Gedächtnisorte

2.Rhetorik: Mündlichkeit und Schriftlichkeit

3.Medien: Speichertechniken und Gedächtnismetaphern

4.Tradition: Kanon, Zensur und die Opfer der Geschichte

5.Ästhetik: Erinnerungskulturen in Musik, Kunst und Literatur

Schluss: Die Erzählbarkeit des Vergangenen zwischen Dokumentation und Fiktion

Anhang

Literatur

Über den Autor

1. Einleitung: Was, wie und warum erinnern Kulturen?

2006 erschien in einem Leipziger Verlag ein bemerkenswertes Buch: Die Historikerin Christine Fischer-Defoy publizierte das Adressbuch, das der Philosoph und Literaturkritiker Walter Benjamin (1892-1940) während des aufgrund seiner jüdischen Herkunft erzwungenen Exils in Frankreich ab 1933 geführt hatte. Der Band enthält fotografische Reproduktionen sowie Transkriptionen der 25 handschriftlich beschriebenen Seiten und Einlegeblätter, einen Kommentar zur Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte des kleinen Büchleins sowie mehr oder weniger ausführliche Kommentare zu den von Benjamin nicht selten mit wechselnden Adressen verzeichneten Personen.

Inwiefern ist eine solche Publikation für eine Einführung in kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien von Interesse? Unter kulturwissenschaftlichen Theorien des Gedächtnisses kann man solche verstehen, die sich von psychologischen oder neurobiologischen Beschreibungen von Erinnerungsprozessen unterscheiden und stattdessen ›kulturelle‹ – also soziale, historische, philosophische, künstlerische usw. – Aspekte des Phänomens ›Gedächtnis‹ in den Blick nehmen. Ein Vademecum wie Walter Benjamins Adressbuch erscheint nun auf den ersten Blick als Hilfsmittel für das Gedächtnis eines Individuums und obendrein als eines, das möglicherweise private und für keine Öffentlichkeit bestimmte Einträge enthält. Als ein solches Hilfsmittel verdeutlicht ein Adressbuch aber, dass das Erinnerungsvermögen des Menschen mangelhaft ist und zumal im Fall einer großen Menge abstrakter und veränderbarer Daten eines Mediums bedarf, das die gewünschten Informationen auf eine Weise speichert, die sie jederzeit und zuverlässig abrufbar macht. Ein solches Speichermedium stellt im Abendland seit mehreren Jahrtausenden die Schrift dar, die als kulturell gewachsene und tradierte Technik zum jeweils individuellen Gedächtnis hinzutritt.

Benjamin bediente sich also zur Stütze seines persönlichen Gedächtnisses einer bestimmten Kulturtechnik und stellt dieses Gedächtnis auf diese Weise in einen bestimmten kulturhistorischen Zusammenhang. Dieser kulturhistorische Zusammenhang gewinnt nun aber im Fall der Publikation seines Adressbuchs ganz die Überhand, da seine Edition ja nicht mehr als Gedächtnisstütze für seinen 1940 gestorbenen Besitzer dient, sondern als Erinnerung an diesen Besitzer und die besonderen historischen und politischen Umstände, innerhalb deren das kleine Bändchen entstanden ist und genutzt wurde.

Die Publikation von Walter Benjamins Adressbuch ist mithin ein exemplarischer Fall für denjenigen Umschlag bzw. Perspektivwechsel, der am Beginn aller kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorien steht: der Übergang von den persönlichen und damit an die Lebensspanne eines Individuums gebundenen Erinnerungen zur Ausbildung eines Gedächtnisses, das einer Gruppe von Menschen und generationsübergreifend zur Verfügung steht. Von einem solchen Gedächtnis kann nicht mehr im psychologischen oder neurobiologischen Sinne die Rede sein, da Träger, Nutzer und Erinnerungsprozesse nicht in der Weise ›individuell‹ und ›intern‹ beschrieben werden können, wie die Etymologie des deutschen Worts ›Erinnerung‹ es noch impliziert. Stattdessen ist in den Kulturwissenschaften von einem Gedächtnis die Rede, das auf wie immer gearteten, externen Speichermedien einerseits sowie auf deren kollektivem Abruf andererseits beruht und so auf doppelte Weise in einem Zusammenhang mit dem steht, was wir ›Kultur‹ nennen: erstens, insofern Speichermedien von der Schrift bis zum Computer historisch spezifische Hervorbringungen menschlicher Gemeinschaften sind und somit Teil ihrer Emanzipation von der ›Natur‹ (oder der ›zweiten Evolution‹); und zweitens, insofern der Umgang mit dem derart Gespeicherten – vom mündlichen Vortrag antiker Epen bis zur Verwaltung digitaler Datenbanken – einen Zusammenhang zwischen den einzelnen, individuellen Bezugnahmen stiftet: eine ›Tradition‹.

Neben dieser Übertragung persönlicher Gedächtnisinhalte in ein Speichermedium und dem Umschlag einer individuellen Erinnerungsstütze in ein Dokument des kulturellen Gedächtnisses erlaubt es die Edition von Walter Benjamins Adressbuch des Exils, zwei weitere zentrale Aspekte kulturwissenschaftlicher Gedächtnistheorien anzusprechen: Der eine Aspekt betrifft die Tatsache, dass dieses Adressbuch während der in der Zeit zwischen 1933 und 1945 (und oft länger) durch den Nationalsozialismus in Deutschland erzwungenen Phase des Exils einer Vielzahl führender Intellektueller (und nicht nur ihrer) der Weimarer Republik entstanden ist. Benjamin emigrierte 1933 nach Paris, wo er unter schwierigen persönlichen und ökonomischen Bedingungen lebte, bis er 1940, nachdem die Judenverfolgung die französische Hauptstadt erreicht hatte, über Marseille nach Spanien zu gelangen versuchte und angesichts des drohenden Scheiterns dieses Vorhabens in einem Pyrenäendorf an der Grenze Selbstmord beging. Unter diesen Umständen ein Adressbuch zu führen bedeutet mehr, als nur der eigenen Vergesslichkeit vorzugreifen: Benjamin selbst wechselte in den sieben Exiljahren dreizehn Mal die Adresse, und mit ihm tat das eine ganze Reihe der Personen, deren verschlungenen Lebenswegen er durch die Einträge und Korrekturen zu folgen bemüht war. Bedenkt man dazu die vielfältigen emotionalen und biografischen Unwägbarkeiten der Emigranten, so wird deutlich, dass das Exil vor allem auch eine Bedrohung von Gedächtnis und Erinnerung darstellt: Vertrieben aus einer Heimat, die sich nichts weniger als die Vernichtung einer ganzen Kultur in Deutschland zum Ziel gesetzt hatte, durchlebten die Exilierten eine tief gehende Verlust- und Brucherfahrung, die nicht ohne Weiteres mit dem Bestreben von Gedächtnis und Erinnerung, die Kontinuität der Selbstwahrnehmung von Individuen und Gemeinschaften sicherzustellen, vereinbar war. Das Zitat aus einem Brief Benjamins, »wie überall hin die Leute verstreut sind«, das der Publikation seines Adressbuchs als Untertitel dient, führt eindringlich vor Augen, wie sehr kulturelle Erinnerungstechniken auf Krisenerfahrungen und Bedrohungen jener Kontinuitäten reagieren. Und dies gilt für Benjamins Exilexistenz, in der er versuchen musste, zumindest einen Teil seiner vormaligen Sozialkontakte aufrechtzuerhalten, ebenso wie für die heutige Erinnerung an bzw. Geschichtsschreibung über dieses Exil, für die das Adressbuch mehr als siebzig Namen und Adressen bereitstellt: Für Benjamins geschiedene Frau Dora, bei der er ebenso Unterschlupf findet wie bei Bertolt Brecht in Skovsbostrand, sind nicht weniger als fünf verschiedene Anschriften verzeichnet. Die Moskauer Adresse seiner großen Liebe Asja Lacis hält er ebenso fest wie einige nicht näher identifizierbare Frauennamen. Daneben sind die Namen französischer Kollegen notiert: Pierre Klossowski und Georges Bataille, der einen Teil von Benjamins Nachlass in der Bibliothèque Nationale verstecken und damit retten wird. Und schließlich ein nahezu komplettes Panorama des geistigen Lebens der Weimarer Republik von Siegfried Kracauer und Ernst Bloch über Kurt Weill bis zu Theodor Wiesengrund Adorno, Anna Seghers und Hannah Arendt, deren mäandernde Wege durchs Exil Benjamin auf eingelegten Postkarten festhält. Auch in dieser Hinsicht ist die Publikation einer privaten Erinnerungshilfe ein Beitrag zur Wahrung des Gedächtnisses einer kulturellen Epoche.

Ein letzter Aspekt, der diese Publikation als Illustration der Probleme und Fragestellungen kulturwissenschaftlicher Gedächtnistheorien geeignet erscheinen lässt, betrifft schlicht den Besitzer des Adressbuchs, Walter Benjamin selbst. Denn Benjamin ist nicht nur als Exilierter Gegenstand einer Erinnerung an die Zeit von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg. Er ist vor allem auch einer der zentralen Autoren, die am Beginn des 20. Jahrhunderts erste Ansätze für kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien verfasst haben. Und in den vielfältigen und teilweise verstreuten Ausführungen Benjamins zur kulturellen Bedeutung des Gedächtnisses finden sich zudem Skizzen einer Theorie, die der oben gemachten Beobachtung gelten, dass das Gedächtnis stets auf krisenhafte Bedrohungen von Erinnerungsprozessen oder Traditionszusammenhängen zielt.

Damit sind die zentralen Gesichtspunkte benannt, die Anliegen und Aufbau dieser Einführung prägen: Als Einführung in kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien wird sie zuerst einmal entwickeln müssen, was aus der Sicht einer Theorie von Kultur überhaupt unter Gedächtnis und Erinnerung zu verstehen ist. Hierzu ist zunächst zu klären, was es bedeutet, die Kategorie des ›Gedächtnisses‹ nicht auf einzelne Individuen, sondern für Kollektive anzuwenden. Dieser Frage widmet sich der erste Teil dieser Einführung, der unter der Überschrift »Geschichte und Probleme kultureller Gedächtnistheorien« rekonstruiert, mittels welcher theoretischer Konzepte es überhaupt möglich ist, von einem Gedächtnis von Kollektiven, Gesellschaften oder Kulturen zu sprechen. Hier werden die wichtigsten kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheoretiker von Friedrich Nietzsche über Maurice Halbwachs bis Jan Assmann vorgestellt, und es wird ihr Beitrag zum Verständnis von Überlieferungsprozessen und Traditionszusammenhängen erläutert: Auf welche Weise gerät das Gedächtnis überhaupt in den Blick von Beschreibungsversuchen kultureller Zusammenhänge? Und wie wird seine Funktion bezüglich der Geschichte der Kunst und der Gesellschaft beurteilt?

Wenn aber diese Aspekte nicht unter Rückgriff auf psychologische und neurobiologische Theorien beschrieben werden können (obgleich die diesbezüglichen Metaphern so naheliegend scheinen), weil eine Kultur auf einer sozialen Kommunikations- und Überlieferungspraxis und nicht auf den Operationen eines individuellen biologisches Gehirns beruht, dann betrifft diese Frage offensichtlich nicht nur den gewandelten Gegenstandsbereich, sondern auch das gegenüber den Naturwissenschaften verschiedene Erkenntnisinteresse der Kulturwissenschaften: Psychologische und neurobiologische Beschreibungen von Gedächtnisstrukturen und Erinnerungsprozessen verstehen sich als empirisch validierte Theorien über kognitive und biologische Zusammenhänge, d. h., sie beanspruchen, einen Teil der Welt, so wie sie ist, zu beschreiben. Insofern diese Theorien einander widerlegen und ablösen, sind sie durchaus auch historisch zu betrachten. Die jeweils aktuelle Version dieser Theorien wird aber stets beanspruchen, Gedächtnis und Erinnerung so zu beschreiben, wie sie für den Menschen immer schon funktioniert haben.

Von diesem Anspruch unterscheiden sich kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien, wie sie hier verstanden und vorgestellt werden, grundsätzlich: Kulturwissenschaften – und unter ihnen seien, neben der jüngeren Fachdisziplin desselben Namens, zunächst die vormals als ›Geisteswissenschaften‹ bezeichneten Disziplinen der Philosophie, der Ethnologie und Religionswissenschaft, der Geschichte, der alten und neuen Philologien, der Kunst- und Altertumswissenschaften sowie der Medienwissenschaften verstanden – betrachten ihre Gegenstände grundsätzlich historisch. Für eine Theorie des Gedächtnisses bedeutet das, dass die Kulturwissenschaften nicht fragen, was das Gedächtnis ›ist‹, sondern wie es zu unterschiedlichen Zeiten und auf jeweils verschiedene Weise verstanden wurde, beschrieben wurde und innerhalb spezifischer gesellschaftlicher Zusammenhänge funktioniert hat. Diesem letztgenannten Aspekt widmet sich der zweite Teil der vorliegenden Einführung unter der Überschrift »Techniken und Funktionen des kulturellen Gedächtnisses«. Hinsichtlich der Techniken wird dabei auf die Geschichte der verschiedenen Speichermedien von der Schrift bis zum Computernetzwerk einzugehen sein, die eine ganz andere Organisation des Vergangenheitsbezugs von Kulturen erlauben als im Fall der Rituale und Inszenierungsformen oraler Gesellschaften. Nichtsdestotrotz zeigt die Tradition der antiken Rhetorik und ihrer Anweisungen zu einer räumlichen und bildlichen Organisation der Erinnerung bzw. die Markierung konkreter geografischer Räume als Gedächtnisorte, dass auch für mündliche Kommunikationsformen Erinnerungstechniken entworfen wurden. Dieses Nebeneinander von mündlichen Tradierungsweisen und externen Speichertechniken, die in den vergangenen drei Jahrtausenden eine anhaltende und in den letzen zwei Jahrhunderten eine immens beschleunigte Entwicklung genommen haben, macht deutlich, dass aus kulturwissenschaftlicher Perspektive gar nicht von einem Gedächtnis die Rede sein kann: Speichermedien sind nie nur passive Instrumente, die immergleiche Informationen aufsaugen, sondern in ihrer jeweils neuen Form immer auch an den Inhalten und Abrufweisen beteiligt – nicht zuletzt in Gestalt der vielfältigen Metaphern für das Gedächtnis, die sich aus Medientechnologien ableiten. Vor allem aber provozieren Speichermedien die entscheidende Frage nach dem Übergang von einer bloß passiven Sicherung von Daten zum aktiven Gebrauch des Überlieferten, der nur in Form einer Auswahl denkbar ist. Da diese Auswahl zumeist interessengesteuert ist, erweist sich der Bezug einer Kultur auf eine Vergangenheit als politisch relevant. Daneben aber existieren Inszenierungsformen des Vergangenheitsbezugs innerhalb desjenigen Bereichs der Kultur, der alltagssprachlich oft mit dieser gleichgesetzt wird: Darstellungen, aber auch Reflexionen der Erinnerung in den Künsten, insbesondere der Literatur.

Die Kulturwissenschaften, von denen in diesem Sinn erst seit gut 150 Jahren die Rede sein kann, bemühen sich um eine Beschreibung und Deutung dieser verschiedenen Gedächtnisformen, -techniken und -praktiken. Indem sie dies tun, leisten sie aber selbst einen Beitrag zur Erinnerung an diese Formen, Techniken und Praktiken und sind aus diesem Grund selbst Bestandteil dessen, was sie beschreiben: Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien sind, insofern sie sich um die Spielarten kultureller Überliefung kümmern, ein Teil der Kulturgeschichtsschreibung und mithin selbst Gegenstand der kulturellen Überlieferung. Anders gesagt: Indem kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien beschreiben, wie Kulturen erinnern, erinnern sie zugleich an historische Kulturformen und stehen somit in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis zu ihrem Gegenstand. Dieser Zusammenhang lässt sich wissenschaftshistorisch insofern plausibel belegen, als die zentralen Beiträge zu einer kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorie, wie sie im ersten Teil vorgestellt werden, in Gestalt einer Theorie des Gedächtnisses von Kulturen immer auch eine Aussage über das Selbstverständnis kulturwissenschaftlichen Arbeitens enthalten. Insofern Kultur nichts anderes ist als der Traditionszusammenhang einer Gemeinschaft, sind die Kulturwissenschaften von vornherein und zumindest implizit immer auch Theorien des kulturellen Gedächtnisses (A. Assmann 2002; Matussek 2003).

Wenn die vorliegende Einführung kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien als jeweils historisch spezifische Entwürfe eines kulturellen Selbstverständnisses versteht, so grenzt sie sich deutlich von phänomenologischen oder empirisch-ontologischen, aber auch theoriegeschichtlichen Einführungen in die Gedächtnistheorie ab. Stattdessen wird jede der hier vorgestellten kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorien auf ihre eigenen historischen und diskursiven Entstehungskontexte zu befragen und als Reaktion auf diese Kontexte zu interpretieren sein: Welche Funktion wird dem Vergangenheitsbezug einer Gesellschaft jeweils zugesprochen? Welche wissenschaftlichen Erklärungsmodelle werden hierzu herangezogen, welche neu entwickelt? Und auf welche historischen, gesellschaftlichen und politischen Bedürfnisse haben die jeweiligen Theorien dabei reagiert? Es wird, mit anderen Worten, immer auch um eine Kulturgeschichte der kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorien selbst gehen.

Die Publikation einer Gedächtnisstütze aus den 1930er Jahren zu Beginn des 21. Jahrhunderts wie diejenige von Walter Benjamins Adressbuch steckt für dieses Vorhaben auch den systematischen und historischen Rahmen ab: Die Phase des Nationalsozialismus, aber zuvor bereits die Jahrhundertwende, der Erste Weltkrieg und die politischen, technischen und ästhetischen Umbruchsbewegungen der 1920er Jahre wurden zeitgenössisch als massiver Einschnitt in die bis dahin vergleichsweise kontinuierlich wahrgenommene Geschichte erlebt. Benjamin selbst sprach in diesem Zusammenhang und angesichts der destruktiven und disruptiven Energien der modernen Waffen-, Verkehrs- und Medientechniken vom Ende tradierbarer menschlicher Erfahrungen. Kulturkritische Autoren wie Oswald Spengler prognostizierten den Untergang des Abendlands, Sigmund Freud relativierte das Selbstbewusstsein der Menschen, Herr im eigenen Hause zu sein, der Faschismus ließ die dünne Trennlinie zwischen europäischer Zivilisation und Barbarei offenkundig werden. All diese Aspekte konvergieren in der Feststellung eines Bruchs mit herkömmlichen Denkweisen, Wahrnehmungsformen und historischen Kontinuitäten, der zugleich eine Bedrohung von Erinnerungszusammenhängen darstellte. Die wissenschaftshistorisch entscheidende Beobachtung ist aber, dass die heute so genannten Kulturwissenschaften (und mit ihnen, in Form des beschriebenen Wechselverhältnisses, die kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorien) just zu jenem Zeitpunkt entstehen, als die Kontinuitätslinien, die das Abendland überhaupt erst als einen Traditionszusammenhang zu betrachten erlaubt hatten, in Auflösung begriffen zu sein schienen: Philosophen wie Henri Bergson, Psychologen wie Sigmund Freud, Literaten wie Marcel Proust und Soziologen wie Maurice Halbwachs etablieren innerhalb weniger Jahrzehnte einen theoretischen Diskurs über die kulturelle Funktion von Gedächtnis und Erinnerung, der im Rückblick als Kompensation der gleichzeitigen Bruch- und Krisenerfahrungen gelesen werden kann.

Das Bedingungsverhältnis zwischen dem Bruch mit Erinnerungszusammenhängen und den verstärkten Bemühungen um ihre Rekonstituierung, das mit Blick auf das Exil 1933 bis 1945 bereits angesprochen wurde, lässt sich mithin theoriegeschichtlich dahingehend generalisieren, dass die erste Konjunktur kulturwissenschaftlicher Gedächtnistheorien im Zeichen der vielfältigen Brucherfahrungen der Moderne stattfindet. Aber das Erscheinungsdatum der Edition von Benjamins Adressbuch, mit dem das Bändchen seine Funktion als individuelle Erinnerungsstütze gegen die eines Gegenstands der kulturellen Überlieferung vertauscht, ist nicht minder bedeutsam: So wie die erste Welle kulturwissenschaftlicher Gedächtnistheorien im Zeichen der (klassischen) Moderne anrollt, bricht sich eine zweite angesichts derjenigen ›Postmoderne‹, die in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts den neuerlichen Zusammenbruch eines Traditionskontinuums markiert. Während die Brucherfahrung der Jahrhundertwende um 1900 den Verlust von Kontinuitäten im Überlieferungszusammenhang der kulturellen Kommunikation meinte, sah man an der Wende zum 21. Jahrhundert den gemeinsamen Deutungsrahmen (Jean-François Lyotard spricht von den »großen Erzählungen«, die den ideologischen Überbau von Geschichtsphilosophien bilden) schwinden, der eine Anordnung der überlieferten Daten zu einem zusammenhängenden Ganzen erlaubt habe (Lyotard 1979/1993; Niethammer 1989). Genau wie die erste Diskontinuitätserfahrung führte auch die zweite zu einer massiven kompensatorischen Bewegung in den Kulturwissenschaften, die in Frankreich durch die Arbeiten Pierre Noras zu den lieux de mémoire und in Deutschland durch Jan Assmanns Theorie des kulturellen Gedächtnisses initiiert wurde.

Zur Erläuterung, Kontextualisierung und Relationierung beider Konjunkturwellen einer kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorie möchte diese Einführung beitragen. Sie bewegt sich damit auf einem mittlerweile breit entfalteten und gut dokumentierten Forschungsgebiet (Pethes/Ruchatz 2001, Oesterle 2005, Erll/Nünning 2008, Boyer/Wertsch 2009, Gudehus/Eichenberg/Welzer 2010). Darüber hinaus versteht sie sich aber auch als Anregung, aus der theoriehistorischen Beobachtung, dass kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien besonders in sozial- und medienhistorischen Krisen- und Umbruchszeiten Konjunktur haben, systematische Konsequenzen zu ziehen: Neben der kompensatorischen Leistung einer solchen Theoriekonjunktur, die auf die bedrohte Kontinuität des Überlieferungszusammenhangs mit Konzepten wie ›Identität‹ und ›Dauer‹ reagiert, stehen dieselben Theorien in Gestalt dieser Reaktion stets im Zeichen jener Diskontinuitäten und Brucherfahrungen, denen sie ihre Artikulation allererst verdanken. Es ist daher immer zu hinterfragen, ob kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien zwangsläufig als Modelle einer gelingenden Stabilisierung des Vergangenheitsbezugs einer Kultur (und ihrer Wissenschaft) verstanden werden müssen oder ob nicht vielmehr der Stellenwert von Wandel und Abwandlung und also von Differenz und Alterität innerhalb medialer und kultureller Erinnerungsprozesse verstärkt zu berücksichtigen wäre (Zierold 2006, Borsò 2008). Kollektive Gedächtnisse stehen ja nicht nur im Dienst der Stabilisierung und Homogenisierung nationaler Überlieferungszusammenhänge, sondern müssen auch dem Umstand Rechnung tragen, dass zumal gegenwärtige Gesellschaften hochgradig hybride und asynchrone (Bhabha 1994/2000, Creet 2011) sowie zugleich globalisierte und regional binnendifferenzierte (Levy/Sznaider 2001, Dewes/Duhm 2008) Gebilde sind, in denen eine Vielzahl konkurrierender Versionen verschiedener Vergangenheiten um Aufmerksamkeit und Medienpräsenz buhlen (Bhabha 1994/2000). An diesem Punkt münden kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien in eine Theorie des kulturellen Vergessens (Huyssen 1995).

I. Geschichte und Probleme kultureller Gedächtnistheorien

1. Natur oder Technik? Von der antiken Philosophie zur modernen Psychologie

Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien machen ein Angebot, historisch entstandene und medial gestützte gesellschaftliche Kommunikationsformen und Überlieferungszusammenhänge mittels einer Semantik von Erinnern und Vergessen zu beschreiben. Die Alltagssemantik der Erinnerung, die den Bezug eines gegenwärtigen Bewusstseins auf ein vergangenes Ereignis meint, das in dieser Bezugnahme erneut wahrgenommen, rekonstruiert, kontextualisiert und interpretiert wird, bietet dabei eine ganze Reihe von Anschlussmöglichkeiten für die Beschreibung von Prozessen, die innerhalb kultureller Zusammenhänge beobachtet werden können. Möglicherweise ist ein solcher ›kultureller Zusammenhang‹ nichts anderes als die entsprechende Aktivierung von Erinnerungen. So leitet sich die sogenannte abendländische Kultur beispielsweise aus der griechischen Antike her, da sich politische, philosophische und ästhetische Vorstellungen der Gegenwart – man denke in dieser Reihenfolge etwa an demokratische Verfassungen, ontologische Erkenntnistheorien oder klassische Kunstkonzeptionen – auf antike Modelle beziehen können. Wirft man umgekehrt einen Blick in die aufgrund solcher Bezugnahmen bis heute überlieferten Texte, so stellt man fest, dass sie ihrerseits bereits von einem immensen Bewusstsein für die kulturelle Bedeutung der Erinnerung geprägt sind: In Hesiods Dichtung von der Entstehung der Welt, der Theogonie, findet sich z. B. der Hinweis auf den Mythos, dem zufolge die Musen, die die verschiedenen technischen und künstlerischen Leistungen des Menschen befördern, gemeinsame Töchter einer Göttin namens Mnemosyne, Erinnerung, seien. Wenn weiter die beiden Homer zugeschriebenen klassischen Epen der griechischen Antike, die Ilias und die Odyssee, beide mit einem Anruf an die Musen anheben, so verweisen sie damit die Dichtung an die Kompetenz dieser Erinnerung. Und dass dieses Gedächtnis ein anderes ist, wenn ein fahrender Sänger die Verse der Epen auswendig vorträgt, als wenn sie abgeschrieben und in Bibliotheken aufbewahrt werden, deutet Platon an. In seinem Dialog Phaidros erzählt er den Mythos, dem zufolge der ägyptische König, dem der Gott Theut die Erfindung der Schrift präsentierte, diese Erfindung für eine Schwächung des Gedächtnisses hielt.

Damit unterscheidet Platon zwischen einem ›natürlichen‹ Gedächtnis, das dadurch ausgezeichnet ist, dass es über seine Inhalte verfügt und sie nicht nur reproduzieren, sondern auch verstehen und erläutern kann, und einem ›technischen‹ Gedächtnis, das diese Inhalte außerhalb eines solchen natürlichen Bewusstseins speichert und keine Sorge für ihre angemessene Reproduktion trägt. Diese Unterscheidung ist deshalb so zentral, weil Platons Philosophie über weite Strecken auf dem erstgenannten, dem verinnerlichten Gedächtnis beruht: Indem Platon die Welt in diejenige der Ideen und diejenige der Erscheinungen aufteilt und den Menschen nicht nur mit einem (zur Sphäre der Erscheinungen gehörigen) Körper, sondern auch mit einer (zur Ideenwelt gehörigen) Seele ausgestattet sieht, hat der Mensch die Möglichkeit, Zugang zur Welt der Ideen zu finden, wenn sich seine Seele – die, da sie unsterblich ist, vor ihrer Inkarnation zu dieser Welt gehörte – an das vormals Geschaute und im Zuge der Inkarnation Vergessene erinnert. Die Erkenntnis der Wahrheit ist bei Platon also ein Prozess der Erinnerung (anámnesis), der aber keinerlei externer Hilfsmittel bedarf.

Diese Vorstellung einer ›inwendigen‹ Erinnerung hat das christliche Abendland maßgeblich geprägt: Der Kirchenvater Augustinus überträgt im vierten Jahrhundert n. Chr. in seiner Lebensbeichte ConfessionesConfessions