S h o r t – S t o r i e s
von
Thom Delißen



 

Verlag TD Textdesign
Short-Stories
Copyright by Thom Delißen

1. Neuauflage 07.2016
 

 

Inhalt 



Statt eines Vorwortes 

Haus Nr. 17  

Heim 

Jänner 

Mein Arm geht nicht mehr  

Die Oase 

Schulwissen 

Spinnennetz  

Die große Flucht 

Lautlose Rufe 

Kugeln 

Der letzte Herbst 

Das Versprechen 

Morgenlicht 

Der Herr der Fliegen  

Melody 

Begegnungen 

Achara 

Aus dem Licht, in das Licht 

Der Weg 

Charon – Many rivers to cross 

Erntezeit 

Favela 

In die Farben Afghanistans 

Woods  

Der Taucher 

Amparo 

Blumen für Abessinien 

Erdgebunden 

Vergossene Milch 

Ein Märchen 

Zu den Trommeln  

Die Traumstufen 

Die Traumstufen 

Daphneosos negroido  

Duft 

Das Präsent 

Wider den Stachel löcken 

Herzsteine 

Die Jacke 

Der Astronaut 

Der Herr Bullerdick 

Materialbericht 

Die Gemüsefee 

Einer von Tausend 

Die Reise des Herrn Brösigmann 

Greisenwut 

Donnervogel 

 

Statt eines Vorwortes

Zitat von Hermann Hesse:

„... Diese Heiterkeit zu erreichen, ist mir, und vielen mit mir, das höchste und edelste aller Ziele ... Diese Heiterkeit ist weder Tändelei noch Selbstgefälligkeit, sie ist höchste Erkenntnis und Liebe, ist Bejahen aller Wirklichkeit, Wachsein am Rand aller Abgründe und Tiefen, sie ist eine Tugend der Heiligen und der Ritter, sie ist unstörbar und nimmt mit dem Alter und der Todesnähe nur immer zu. Sie ist das Geheimnis des Schönen und die eigentliche Substanz jeder Kunst.
Der Dichter, der das Herrliche und Schreckliche des Lebens im Tanzschritt seiner Verse preist, der Musiker, der es als reine Gegenwart erklingen lässt, ist Lichtbringer, Mehrer der Freude und Helligkeit auf Erden, auch wenn er uns erst durch Tränen und schmerzliche Spannung führt.

Vielleicht ist der Dichter, dessen Verse uns entzücken, ein trauriger Einsamer und der Musiker ein schwermütiger Träumer gewesen, aber auch dann hat sein Werk teil an der Heiterkeit der Götter und Sterne. Was er uns gibt, das ist nicht mehr sein Dunkel, sein Leiden oder Bangen,
es ist ein Tropfen reinen Lichts, ewiger Heiterkeit. Auch wenn ganze Völker und Sprachen die Tiefe der Welt zu ergründen suchen, in Mythen, Kosmogonien, Religionen, ist das Letzte und Höchste, was sie erreichen können, diese Heiterkeit ...“

Hermann Hesse



 

Haus Nr. 17

Der zwölfjährige Latif blickte aus schwarz-geränderten Augen aus dem glaslosen Fenster auf die menschenleere Straße vor der Nummer Siebzehn.
Tränen purer Hilflosigkeit liefen ihm über die verschmutzten Wangen. Die Verantwortung, die man ihm auferlegt hatte, erdrückte ihn.
„Pass gut auf die Kleinen auf!“, hatte seine Mutter gesagt.
Das war gestern gegen Mittag gewesen. Die Gründe für ihr Fortbleiben zu hinterfragen, weigerte sich sein kindlicher Verstand.
Es war ein schwerer Angriff dieses Mal. Der heftigste, den er bisher erlebt hatte.
Sein kleiner Bruder Erandi saß, den zerscheuerten Stoffhasen fest mit seinen Ärmchen umschlungen, auf der gemeinsamen Matratze. Neben ihm krabbelte die acht Monate alte Hanife schluchzend herum.
Erandi zitterte, seine verschwitzten Haare hingen ihm ins Gesicht. Er sah sich ständig um, die Augen flackernd, wie ein Wolf in der Falle, die Lippen zusammengepresst zu einem Strich. Jetzt, als die Flugzeuge wieder zu hören waren, die nächste Angriffswelle im Anflug, begann er wie ein Hund zu heulen. Ein furchtbares Geräusch, das im Lärm der nahen Explosion einen Augenblick unterging.
Latif hatte sich instinktiv zu Boden geworfen. Er spürte, wie das Haus zitterte, die Balken ächzten. Kalk rieselte auf sein Haar.
Immer heftiger wurden die Erschütterungswellen, die durch das Haus liefen.

Latif blickte an sich herunter und sah mit Abscheu, dass sich seine Hose nass verfärbt hatte. Trotzdem er wirklich andere Sorgen hatte, schämte er sich dafür.
In diesem Augenblick tat es einen unheimlichen Schlag, gleichzeitig öffnete sich die Tür. Ein alter Mann, gekleidet in einen blauen Kaftan, stand im Rahmen. Der Fremde lachte aus bärtigem Gesicht: „Besser wir machen, dass wir hier wegkommen? Findet ihr nicht?“
Latif lächelte schüchtern zurück und nickte. Der Unbekannte kniete sich neben seinen Bruder und legte ihm die Hände an die Schläfen.
„Nun schön ruhig, mein Erandi! Es ist alles gut. Ich bringe euch jetzt fort von hier, von den Bomben und Raketen!“
Sofort beruhigte der Junge sich. Mit wehendem Gewand stand der Mann nun neben dem Bett, hob Hanife hoch und drückte sie an seine breite Brust.
„Kommt mit!“ Er trat auf die Straße und die beiden Knaben beeilten sich, ihm zu folgen.
„Wo gehen wir denn hin?“, fragte Latif, als sie vor dem Haus standen.
Überall war Verwüstung zu sehen, brennende Wohnhäuser, riesige Krater in den Straßen, schwelende Autowracks.
Der graubärtige Alte sah ihn aus seltsamen, freundlich leuchtenden Augen an.
„Ich bringe euch über den Fluss“, sagte er, „dort seid ihr in Sicherheit. Ihr werdet sehen, es wird euch gefallen.“
Latif schwieg. Es gab keinen Fluss in der Stadt.
Was hatte der Mann mit ihnen vor? Er empfand keine Angst, fühlte, dass hier jemand war, der es ihnen gut meinte.
Der Fremde hob seinen Arm, in einer fließenden Bewegung entfaltete sich ein großes Stück von seinem Kaftan.
„Hüllt euch ein!“, forderte er die Buben auf, die kleine Hanife sanft umfassend. Sie traten zu ihm und er warf mit leichter Hand den Mantel um sie.
So gingen sie, wunderbar geschützt, durch die anbrechende Dämmerung, durch die Explo-sionen rechts und links, vorbei an Toten und Verletzten.

Schließlich gelangten sie an einen Fluss, den Latif und Erandi mit staunenden Augen betrachteten. Ein großes Boot war dort vertäut. Ohne ein Wort hob der Alte die beiden Knaben hoch und setzte sie hinein, Hanife platzierte er auf Erandis Schoß. Er ruderte los.
„Wer bist du, Onkel?“, fragte Latif und zupfte am Saum des Kaftans.
„Ich bin der Freund, der Überwinder. Der, der alles gut werden lässt“, antwortete er und nickte dem Kleinen zu.
Bald schon konnte Latif, der sich mit der Auskunft zufriedengab, das andere Ufer ahnen. Da waren Lichter, fröhliches Kindergeschrei, ein Duft wie auf dem Basar, von Zuckerwerk und Mandeln.

Eine unbändige Freude machte sich in seinem Brustkorb breit. Da waren die Ruhe und der Frieden. Keine Bomben. Da waren Kinder, die glücklich lachten.
Dennoch drehte Latif sich noch einmal um. Hinter ihm zerfiel alles in grauen Staub.
„Lebe wohl, Mutter“, flüsterte er und wusste.

In der Rugova-Straße bemühten sich Nachbarn um die zusammengebrochene Mutter der drei toten Kinder. Nur Wasser hatte sie besorgen wollen, war festgenommen worden..

„Ja“, nickte eine zahnlose Alte, „die Siebzehn bringt nichts Gutes. Die Bombe muss das Haus genau getroffen haben, ist ja nur noch Schutt und Asche.“
 

 

 

Heim

Dort stehen die Särge. Vater, Mutter, zwei Schwestern.
Der Junge, einen Meter ist er wohl groß, lehnt an der grauen Mauer, sieht auf den Vorgarten seines Zuhauses.
Der Beton, der über die Ziegel des Zaunes geschmiert ist, wirkt nebelig. Vor diesem Hintergrund wirkt es, als sei der Bub in feuchtes, kühles Tuch gehüllt.
Sein Kopf ist von einer Mütze bedeckt, ein Farbton zwischen Grün, Blau und Braun, undefinierbar, auf gewisse Weise, verwaschen, doch gleichzeitig Aussage. Die von der Mama fein gestrickten Fäden trotzen dem Schmutz, dem Regen. Sie geben dem schmächtigen Burschen einen Hauch von „Mein Sohn, ich habe dich lieb, du sollst nicht frieren. Pass auf dich auf, mein Engel.“

Sein kleines Gesicht ist oval, eine blasse Ellipse. Nur um die Nase sind deutlich Sommersprossen zu erkennen, sie wirken wie Schmutz, als ob ihn jemand mit Dreck beworfen hätte.
Seine braunen Augen, das eine verschwindet beinahe unter dem Wollrand der Mütze, sehen stumpf aus. Nichtssagend. Da ist keine Trauer zu erkennen, nirgendwo zeichnet sich auch nur ein Hauch Verzweiflung ab. Nur Hornhäute, die Geschehenes reflektieren.
Seine schmale Nase, ein wenig krumm. Aus dem rechten Nasenloch ein getrockneter, streichholz-dicker Faden Blut. Er läuft bis auf die Partie zwischen Nasenspitze und Oberlippe, fast wäre man geneigt zu glauben, eine Hasenscharte. Der Mund mit schmalen Lippen, leicht nach unten gezogen. Kritisch. Abwägend. Auf dem dicken Pulli, den er über einem Hemd trägt, prangt eine Art Adler, darunter ist der Name Gucci eingestickt. Die Jeans, zerrissen, voller Lehm, der Hosenladen halb geöffnet.
Er zuckt, reißt die geballten Fäuste hoch. Doch stumm, kein Laut.

Mit einem enormen Staubwirbel fällt brausend der Kamin des völlig zerbombten Hauses in sich zusammen. Wie eine Lawine wischt die Staubwolke auf den Knaben zu, der sich nicht von der Stelle bewegt.
Als sich der Dunst langsam senkt, steht er mit seinen Gummistiefeln inmitten der Ruine, wühlt, bückt sich, tritt Steine mit dem Fuß zur Seite, stochert in qualmenden Möbelteilen.

Dann schreit er auf, stolpert vor Eile, stürzt zu einem von der Hitze verbogenen Bettgestell.
Hält dann mit einem Juchzer, einem triumphierenden, verzerrtem Grinsen, voller Freude über seinen unglaublichen Fund, mit beiden Händen in Siegerpose, ein verkohltes Spielzeugpferd über den Kopf.
 

 

 

Jänner

Ich saß an diesem Tisch in dem Garten des kleinen Cafés und rührte melancholisch in meiner Tasse Milchkaffee. Ich befand mich in Cerbere, wie schon so oft.
Ein kleines Dorf direkt an der spanischen Grenze.
Sie kam, mit einer langhaarigen Perserkatze auf den Schultern, über den Kiesweg hinauf zu den Tischen. Jung war sie, vielleicht fünfundzwanzig Jahre alt.
Und sie lief direkt auf meinen Platz zu.
„Hi!“, sagte sie und setzte sich, ohne zu fragen, auf den Stuhl mir gegenüber. „Du siehst traurig aus!“, meinte sie auf Deutsch.
Ich blickte sie über den Rand meiner großen Porzellantasse an.
Ein ansprechendes, interessantes Gesicht, nicht gerade puppenhübsch, ihr Körper nicht übertrieben schlank. Ihre grünen Augen blickten mich interessiert an.
„Hm“, sagte ich.
Sie deutete auf die kleine Bundeswehrtasche mit dem aufgeschnallten Schlafsack und der Iso-Matte.
„Urlaub oder on the road?“
„Von beidem etwas.”
Der Kellner kam an den Tisch, und sie bestellte sich ein Glas roten Hausweines.
„Bist wohl nicht sehr gesprächig, was?“
„Hm.“
„Ich heiße Jänner“, meinte sie, was schon deshalb ungewöhnlich war, weil der Januar gerade zu Ende gegangen war. Doch hier im äußersten Süden Frankreichs hatte der Frühling bereits seine Flügel ausgebreitet.
„Ich will rüber nach Spanien. Aber mein Pass ist mir verloren gegangen. Kennst du dich hier aus?“
„Könnte man so sagen“, antwortete ich, leicht verstimmt durch ihr lässiges Geplauder, ihre direkte Art.
„Wie kommt man denn rüber, ohne kontrolliert zu werden?“
„Zu Fuß. Einfach über die Berge.“
„Das funktioniert so einfach?“
„Ja, hab’s schon oft genug getan. Ist halt ein hübscher Marsch.“
„Prost!“ sagte sie und der halbe Inhalt des Glases verschwand.
„Meinst du, du kannst mich rüber führen?“
Ich hatte vorgehabt direkt nach Barcelona weiter zu fahren, doch nun zögerte ich.
Die Zugfahrt war lang genug gewesen – warum nicht eine kleine Bergwanderung?
„Hm.“
So kam es dann es, dass wir nach einer halben Stunde etwa, zusammen auf dem Pfad der Richtung Berge führte, unterwegs waren. Die Katze nach wie vor auf ihrer Schulter balancierend.
Jänner hatte ein unbeschreibliches Wesen, eine faszinierende Art mit der Realität umzugehen.
Immer wieder lief sie ein paar Schritte voraus, setzte sich dann zum Beispiel mit einem vollkommen ungeheuchelten Freudenschrei in eine Wiese, bückte sich nieder und rief mir zu:
„Komm doch! Sieh mal, das musst du dir ansehen!“
Da war dann ein kleiner Käfer, der an dem schwankenden Stängel einer Blume hinauf kletterte, eine frühe Biene, die in einem Blütenkelch saugte oder irgendein Gewächs, das sie besonders beeindruckte.
„Ist das nicht schön?“
Ihre Ausgelassenheit, Fröhlichkeit schien mich, wie ich merkte, langsam einzuholen, zu überrollen, anzustecken.
Einmal auf unserem Weg geriet sie völlig außer sich, als sie in einem Gebüsch das noch taubenetzte, fein gesponnene Netz einer kleinen Spinne entdeckte, das tatsächlich faszinierend im Sonnenlicht glitzerte.
So hüpfte sie sozusagen von einer erstaunlichen Entdeckung zur anderen, ohne dabei, trotzdem es teilweise steil bergauf ging, auch nur ein wenig Müdigkeit zu zeigen.
Auf dem Kamm der Bergformation angekommen, sahen wir einen großen Käfig aus Zaundraht,
in dem etwa fünfzehn Hunde verschiedenster Rassen vor sich hindösten und bei unserem Anblick natürlich vollkommen außer sich gerieten.
Sofort hastete sie zu dem Verschlag, versuchte die Hunde durch das Gitterwerk zu streicheln, sprach liebevoll auf sie ein.
Als ich neben ihr stand, sah sie mich mit großen, ehrlichen Augen an und meinte:
„Freiheit! Weißt du? Freiheit!“
Wir bearbeiteten zusammen mit verbissener Energie das Drahtgeflecht so lange, bis sich ein Durchschlupf, groß genug auch für den mächtigsten der Hunde aufgetan hatte.
Es dauerten keine fünf Minuten und alle Tiere waren entflohen.
Nur zwei der schönsten der Mischlinge beschlossen, uns ihre Dankbarkeit zu beweisen, indem sie uns auf unserem weiteren Weg talwärts begleiteten.
Als wir uns nach längerer Marschzeit dem kleinen Städtchen auf der spanischen Seite näherten, schnallten wir sie mit den Riemen, die ursprünglich meinen Schlafsack zusammengehalten hatten, an.
Wir erreichten die Ortschaft und sie sagte zu mir: „Und jetzt pass mal auf!“
Wir setzten uns an den Straßenrand der verträumten Flaniermeile, die sich, langsam schlich sich schon die Dämmerung heran, gemächlich mit Leuten füllte. Sie nahm mir den alten Hut vom Kopf, legte ihn vor uns auf die Straße und warf einige Peseten hinein.
Nahezu jede zweite alte oder ältere Dame hielt an, bewunderte die Katze auf ihrer Schulter, wollte sie streicheln und hinterließ gutes Geld. Natürlich nur um Futter für das arme Tier zu kaufen.

Es dauerte keine Dreiviertelstunde und wir hatten eine Summe zusammen, die durchaus für die Übernachtung in einem Hotel oder einer Pension gereicht hätte.
Wir jedoch erhoben uns, mischten uns unter die abendlichen Spaziergänger, kauften in einem kleinen Gemischtwarenladen etliche Tetra Packs Roséwein und machten uns dann auf den Weg in Richtung Hafen.
Dort fanden wir direkt an der Mole, eine Art winziger Grotte, mehr eine Einbuchtung in einer Felswand, in die wir uns setzten und uns auf meinem kleinen, improvisierten Spirituskocher etwas Gemüse und Kartoffeln zubereiteten, die wir vorher zusammen mit dem Wein erstanden hatten. So erhielten auch die Hunde, die sich im Übrigen ausgezeichnet mit der Katze verstanden, wohl seit längerer Zeit wieder eine Mahlzeit, die sie gierig verschlangen.
Ich war über die Stunden der Wanderung und ihrer erfrischenden Art aufgetaut, – wir führten ein wunderbares Gespräch. Ich offenbarte ihr den Grund für meine depressive Stimmung, erzählte ihr, dass meine Lebensgefährtin vor nicht allzu langer Zeit gestorben sei – zu meinem Erstaunen erzählte sie mir, vollkommen unbefangen, auch ihr Freund sei vor etwa einem halben Jahr bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen.
„Der Tod gehört zum Leben“, meinte sie, doch über diesen althergebrachten Spruch konnte ich nur bitter lächeln.
Nach etlichen Stunden waren wir beide recht angeheitert.
Genau gegenüber der Nische, in der wir es uns gemütlich gemacht hatten, lag ein winziges Segel-Motorboot verankert.
„Komm!“, drängte sie, „lass uns doch ein Stück die Küste entlang fahren, nur bis zum nächsten Dörfchen!“
Wir fanden tatsächlich den Mut, das Boot zu kapern, die Leinen zu lösen.
Mit geschickten Griffen schloss sie zu meiner Verblüffung die Zündung kurz und einige Minuten darauf tuckerten wir, mit den zwei Hunden und der Katze, etliche Kilometer den Küstenstreifen entlang, wo uns natürlich an der Haltestelle, die wir dann anliefen, bereits die Polizei erwartete, uns ohne Umschweife in der örtlichen Polizeistation einsperrte.
Die Hunde wurden draußen an einen Zaun gebunden und veranstalteten einen gigantisch lauten Aufstand, der die Polizisten ganz offen-sichtlich bald nervte.
Dann wurde ich als Erster vernommen – doch damals war ich des Spanischen noch nicht mächtig, so brachte es dem vernehmenden Beamten herzlich wenig.
Kurz nachdem Jänner mit dem Polizisten gesprochen hatte, ließ man uns frei. Es stellte sich heraus, dass sie fließend Spanisch sprach.
Erst später sollte ich erfahren, wie es ihr gelungen war, uns in die Freiheit zu bekommen.

An diesem Abend schliefen wir in einem alten Fischerboot in einem Verschlag am Steinufer in der der Näher des Hafens. Wir liebten uns stundenlang, zärtlich, voller Glückseligkeit.
Am nächsten Morgen, nachdem wir uns in der Stadt einen Kaffee geleistet hatten, erklärte sie, sie wolle nun ihren Vater besuchen, der etliche fünfzig Kilometer im Landesinneren eine Finca besaß.

Wir erreichten den Wohnort ihre Vaters, der sich als intelligenter, gesprächiger und umgänglicher Mann herausstellte, noch am Nachmittag mit dem Zug. Hier fand sich nun auch die Erklärung für unsere plötzliche Freilassung: Das Boot hatte ihrem Vater gehört.
Eine zweite wundervolle Nacht, dieses Mal in einem frisch bezogenen, weichen Bett, folgte.
Als ich am Morgen erwachte, war ich allein. Jänner, ihr Hund und ihre Katze waren verschwunden.
Ihr Vater erklärte mir, als ich mich von ihm verabschiedete: „Sie bleibt nie lang an einem Platz...“
 

 

 

schattierungen

am grund
so fahl
unauffällig

pulsen
aus der zeit
gelockt

lobsingen
trügem schein
gelenkt

die toten
nicht gezählt
sprießen

neue mörder
 

 

 

Mein Arm geht nicht mehr

Ich laufe um mein Leben, die staubige Straße hinunter, entlang der Wellblechkioske des kleinen Basars, an umgestürzten Obstständen vorbei. Überall Menschen in Panik.
Frauen knien auf dem Boden, bedecken ihre Kinder mit dem Körper, lediglich die Kopftücher sind zu sehen.
Heulend nähert sich eine neue Rakete, ein unheilvoller Ton, noch flach, seufzend. Er schwillt an, wird zu lautem Wimmern, zu einem pfeifenden, donnernden Orkan, der in der Vernichtung der Häuserzeile vor mir sein Finale findet. Ich habe mich im letzten Augenblick in eine Seitengasse gerollt, die Zerstörung zieht mit einer Staubwolke vorbei.
Wieder auf die Hauptstraße, sehe ich das Ausmaß der Zerstörung. In einem der mehr-stöckigen Ziegelsteinbauten klafft ein metergroßes Loch. Aus dem geborstenen Dachstuhl züngeln gelbe Flammen, die gierig auf die Nachbargebäude übergreifen.
Zwischen den Trümmern auf der Straße, inmitten dem Lärm steht eine Frau, wohl dreißig Jahre alt, in weiches Hellblau gekleidet, ein weißes Tuch über dem Kopf. Die nächste Angriffswelle, deren Ankunft ein Jaulen über dem Geschrei sanft ankündigt, nimmt sie nicht wahr.
Ein ums andere Mal zeigt sie auf das brennende Haus, ruft verzweifelt nach ihren Kinder.
Ich eile zu ihr, nehme sie am Arm. Vollkommen fassungslos stammelt sie:
„Meine Kinder! Meine Tochter! Mein Sohn! Dort!“
„Ich werde nachsehen.“
Ich lasse sie stehen, humple durch den Rauch, den brenzligen Gestank zur Eingangstür, die morsch wie fauliges Holz ist und schief im Rahmen hängt. Dahinter finde ich ein Szenario wie nach einem Erdbeben vor. Die Decke des zweistöckigen Hauses hängt halb herunter, der Großteil der Möbel ist zertrümmert. Einzig der Fernseher scheint unversehrt geblieben, das weiße Deckchen, auf dem er steht, angerußt.
Über mir höre ich leise, schwache Rufe.
„Mama!“
Ich haste die Treppe hinauf, bete, die Konstruktion möge halten.
Oben, auf dem brüchigen Rest des Zimmerbodens zwei kleine Gestalten.
Vorsichtig rutsche ich auf den Knien zu ihnen hinüber.
Die beiden Kinder liegen nebeneinander an der Wand, die Schwester hält mit einer Hand den
kleinen Bruder umklammert, der mit leeren Augen ins Nichts sieht.
Sein Hinterkopf gleicht einer geplatzten Wassermelone, das Fruchtfleisch zerfetzt. Der Mund ist wie zu einem Stöhnen geöffnet, ein Rinnsaal helles Blut läuft aus dem Winkel. Unter dem linken Auge und auf der Stirn weiße Flecken, die zu seinem Gehirn gehören.
Seine
Schwester wiegt ihn, Tränen laufen ihre Wangen hinunter, tropfen auf ihr blutiges T-Shirt.

„Mama!“ ruft sie immer wieder. „Mutter, hilf mir! Mutter hilf Joschi! Bitte. Mama!“
Sie erkennt mich, zumindest jemanden, der vor ihr steht.
„Mama!“ sagt sie erneut, sieht mich mit umschleierten Augen an.
Sie hat ein wunderschönes Gesicht. Auf der hohen Stirne über der schmalen, geschwungenen Nase sind ein paar kleine Schürfwunden zu sehen. Ihre Nasenflügel sind geweitet, sie zittern vor Erregung. Die schwarzen Haare hängen in ihrem Mundwinkel, über das zierliche Kinn.
Die linke Körperhälfte ist voll Blut, es schießt aus ihr heraus, quillt Schwarzrot aus der Arterie in der offenen Wunde der Schulter, an der einmal ein Arm hing.
„Mama!“ sagt sie, „Mama! Mein Arm, er geht nicht mehr!“
Dann schließt sie die Augen, ihr Kopf fällt zur Seite, auf die Brust des Bruders. Sie scheint erlöst zu lächeln.
 

 

 

Die Oase

Wir kamen gerne hier her.
Zuerst bereitete das Sitzen auf den Kissen vor dem niedrigen Tisch zwar noch etwas Probleme. Doch die Muskeln und Sehnen wurden mit der Zeit lockerer, sodass man, im angeregten Gespräch, schnell die ungewohnte Beanspruchung vergaß.
Der von Nussbraun bis hin zu glänzendem Schwarz gebeizte Tisch hatte seinen Platz ursprünglich als Mittelpunkt des Altarraumes in einem tibetischen Kloster gehabt.
Die Seiten des Holzwerkes, kunstfertig geschnitztes Gitterwerk, zeigten Kampfelefanten, Krieger in gewaltigen Rüstungen, meditierende Mönche.
Die niedrige Decke mit den dicken, knotigen Querbalken von Generationen mit allen möglichen Sorten von Rauch gefärbt, verlieh dem Raum ein wenig den Anstrich einer heimeligen Höhle, das Teefeuerchen in dem gusseisernen Ofen rechts neben den Sitzgelegenheiten unterstrich diesen Eindruck noch
Das Licht kam aus drei flackernden Gaslampen in den Ecken der Teestube.
Ein behaglicher Ort, an dem Freunde bei dem einen oder anderen Tässchen glühend heißem Tee Sorgen und Neuigkeiten austauschten, wo das Leben auf einer ruhigen Ebene dahin plätscherte. Für eine Zeit lang sorgenfrei, das Jetzt ruhig wie ein einsamer See in der Morgendämmerung, leichte Nebelschwaden über dem dunklen Wasser.
Eine Oase der wahren Gedanken und Meinungen.
Ich lebte nun seit vier Jahren mit meiner Frau in Lhasa, geflüchtet aus der Glitzerwelt des Westens.
An diesem Abend erzählte Jampal, eine junge Frau, ehrgeizige Journalistin und auf der schwarzen Liste der chinesischen Regierung.
„Sie haben dieses riesige Problem in China. Die weibliche Population macht gerade einmal zwanzig Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Das Ergebnis jahrelangen Kindermordes.“
Tendsin, der Wirt der Stube, ein gebeugt sich bewegender, sicherlich uralter Mann mit langem Ziegenbart, stellte gefüllte, dampfende Tässchen vor uns.
Jampal legte ihre Hände um eine der Schalen und fuhr fort.
„Und nun haben sie eine Lösung gefunden. Oben in den Bergen, zwischen Janbajein und Horru existiert eine ganze Stadt, nur um künstlich befruchtete Mütter einzusperren, die, weil das so gewollt ist, Drillinge oder Vierlinge gebären werden.“
Sie lehnte sich zurück.
„Die Mädchen und Frauen werden ihren Familien ohne Erklärung einfach entrissen, die Jüngsten haben gerade die Geschlechtsreife hinter sich.“
Sie sah in die Runde.
„Ich bin im Besitz von Fotos und Tonbandaussagen. Heute Abend werde ich sie ins Netz stellen.“
Von meinem Sitzplatz aus konnte man durch ein Fliegengitter auf die belebte Straße blicken. Fußgänger, schwer beladene Fahrräder, Rikschas, Taxis, Lastkraftwagen.
Ein Jeep, olivgrün, besetzt mit chinesischen Soldaten.
Er fährt langsam an der Teestube vorbei.
Zwei Handgranaten.
Keine Oase mehr.
Und keine Geschichte über Drillinge in den Bergen Tibets.
 

 

 

Schulwissen

Es war tatsächlich mehr als skurril.
Keiner von uns beiden, weder Basyang, meine vietnamesische Frau, noch ich konnten uns später erklären, warum der Einbrecher in der Nacht zum 14. August 1970, ausgerechnet unsere Wohnung ausgesucht hatte.
Vielleicht weil wir die Balkontür unseres im Erdgeschoss liegenden Appartements einen Spalt weit offen gelassen hatten? Oder weil er uns schon länger beobachtet hatte und auf kleine Frauen mit mandelförmigen Augen stand?
Doch das ist nicht mehr von Belang, Tatsache war, er stand mit einem Mal vor unserem Bett. Wir hatten uns gerade geliebt, danach eine Zigarette geraucht, eine neue Flasche Wein geöffnet und lasen nun.
Basyang blätterte in einer Modezeitschrift, ich war in Ferdinand Celines „Reise“ vertieft.
Auf einmal stand er da, in dieser drückend heißen Sommerluft, mit gespreizten Beinen, in bester Polizistenmanier eine riesige Pistole auf uns richtend.
Ich wurde erst auf ihn aufmerksam, als Basyang einen leisen Schrei ausstieß.
„Hinlegen!“, brüllte er. Seltsam, denn wir lagen ja bereits.
„Rührt euch nicht, oder ich blase euch die Schädel weg!“
Es dauerte einen Augenblick, bis ich die Situation realisierte, und ob Mann oder Memme, ich muss gestehen, ich hatte von einem Moment zum anderen Panik, eine Mordsangst. Der Mann, der uns da bedrohte, sah aber auch zum Fürchten aus.
Sein Gesicht verzerrt, unrasiert. Die Augen weit aufgerissen, glasig.
Seine Kleidung zerrissen und verdreckt.
Ein Verrückter, schoss mir durch den Kopf, aus der Irrenanstalt entwichen.
„Geld!“, brüllte er, „Schmuck! Wo ist eure Kohle?“
Ich wollte aufstehen, ihm meine Brieftasche geben, die sich in dem Jackett befand, das ich auf den Stuhl hinter gehängt hatte.
„Keine Bewegung!“ Er kreischte nahezu, seine Stimme überschlug sich.
Ich hob die Hände. „Ok. Ok. Ganz ruhig“, sagte ich mit vor Furcht belegter Stimme. „Ganz ruhig. Das Geld ist da in der Jacke. Im Schrank in der Küche ist noch ein wenig mehr.“
„Schmuck? Wo ist der Schmuck? Diese chinesische Schlampe hat doch bestimmt Schmuck?“
„In dem Kästlein hier“, flüsterte Basyang. „In diesem Kästlein.“ Sie deutet auf den Nachtisch, wo es stand.
Er nestelte eine Rolle Klebeband aus seiner Armeehose, warf sie auf das Bett neben Basyang. „Fessele ihn, aber anständig! Kleb’ ihm den Mund zu.“
Basyang band mir Hände und Beine fest zusammen. Wir zitterten beide.
„Jetzt komm her!“ herrschte er sie an.
Sie stand zögerlich auf. „Hol das Geld aus dem Jackett!“
Basyang hatte nur ein durchsichtiges Nachthemd an, man konnte ihren zierlichen Körper nicht nur ahnen.
Das schien den Mann zu erregen, er griff sich an den Schritt. Er nahm die Brieftasche aus ihren Händen, steckte sie ein. Dann sagte er mit heiserer Stimme zu Basyang: „Du wirst jetzt deinem Mann hier die Füße losbinden. Dann ab mit ihm in die Küche. Dort fesselst du ihn an einen Stuhl. Und dann wollen wir beide mal sehen.“
Er winkte mit der Waffe.
Ich konnte unter dem Klebeband nur unartikulierte Laute produzieren, Töne, die mein Entsetzen ausdrückten. Er wollte ganz offensichtlich meine Frau vergewaltigen und ich war machtlos, so komplett ausgeliefert.
Vollkommen verständnislos sah ich Basyang lächeln. „Du möchtest mit mir schlafen, nicht?“, sagte sie mit süßer, verführerischer Stimme.
Der Einbrecher war verblüfft.
„Genau! Ich mach’s dir jetzt“, knurrte er.
„In Ordnung.“ Sie trat neben ihn, schmiegte sich an ihn, streichelte ihn über die Beule der Hose in seiner Körpermitte.
Ich kapierte die Welt nicht mehr. Hatte die Angst ihr den Verstand genommen?
Sie ging zum Bett, der Lauf der Pistole folgte ihr.
„Los! Ab jetzt! In die Küche!“
Basyang musste mich auf einen Küchenstuhl binden.
Noch rätselhafter war ihr Benehmen als vorhin, denn ich konnte aus dem Augenwinkel erkennen, wie sie den Korken der Weinflasche, der auf der Arbeitsfläche lag, unbemerkt in ihrer Handfläche verbarg.
„Darf ich noch schnell auf die Toilette?“, fragte sie guttural.
„Wo ist die?“
Sie deutete nach links zum Bad.
Er tat die paar Schritte rückwärts, riss die Tür auf, sah sich um.
„Na schön. Du sollst mich ja nicht anpinkeln.“
„Nein, das möchte ich nicht.“
Wieder lächelte sie ihn an, streifte ihn im Vorbeigehen in Höhe seines Geschlechts.
Er grinste dümmlich, wurde immer geiler.
Basyang verschwand im Bad.
Er wandte sich mir zu, riss mir das Klebeband vom Mund. Hautfetzen gingen mit, es tat höllisch weh.
„Wo ist das Geld in dem Schrank, von dem du erzählt hast?“
„Dort, über der Spüle“, nuschelte ich.
Nach einer Weile des Suchens hatte er die Notreserve gefunden, trat zu mir und verklebte mir erneut den Mund.
Basyang war immer noch im Bad.
Er trat an die Tür. Mit einem winzigen Rest Anstandes klopfte er.
„Komm jetzt du Schlampe!“
Man hörte die Spülung.
Basyang erschien, griff ihm an die Hose und zog ihn in Richtung Schlafzimmer.
Die beiden verschwanden aus meinem Blickfeld.
Etwa fünf Minuten vernahm ich überhaupt nichts.
Dann ein wirklich schrecklicher, schriller Schrei, sich überschlagend, es klang wahrhaftig wie ein Todesschrei, wie das Entsetzen persönlich.
Der Mann taumelte aus dem Schlafzimmer, ohne Hosen, die Hände auf seine Körpermitte gedrückt, aus der Blut in einem Strahl schoss.
„Was? Was? Was?“, kreischte er, taumelte gegen den Tisch, warf die Stühle um.
Das Blut spitzte in einer kleinen Fontäne.
Basyang erschien in der Tür, die Pistole in ihren kleinen Händen. Sie zielte kurz und kaltblütig, schoss dem vor Schmerz johlenden, blutverschmierten Typen in das rechte Bein.
Der fiel jetzt um, ohnmächtig. Sein Penis, denn der war offensichtlich verletzt, blutete weiter, als sei einem Schwein die Halsschlagader durchgeschnitten worden.
Basyang trat zu mir, befreite mich.
„Was hast du mit ihm gemacht?“, keuchte ich.
Sie lächelte.
„Alter Trick der vietnamesischen Mädel für die amerikanischen Soldaten. Schau!“
Sie gab mir den Korken der Weinflasche. Sie hatte ihn etwa einen Zentimeter ausgehöhlt. In das Loch hatte sie Bruchstücke einer meiner Rasierklingen appliziert, deren Spitzen nun, scharf wie Rasierklingen eben, nach vorne ragten.
„Tja es passen nicht nur Tampons hinein!“
 

 

 

Spinnennetz

Frierend stand er vor der Unmenge an Namensschildern, den schwarzen Briefkastenschlitzen an der Glasfront des Wohnblockes, dort in den Außenbezirken der großen Stadt.
Er hatte geklingelt. Ja.
Es war so, – er tat den ersten Schritt zur Versöhnung.
Er hörte ihre Stimme, sekundenlang. Zart, verletzlich, piepsig. Wie er sie kannte.
Als er zu sprechen ansetzte, knackte es in der Leitung, aufgelegt.
Woher konnte sie wissen?