...


 

Deutsche Erstauflage (ePub) September 2012

 

© 2012 by Nora »SnowWhite« Wolff

 

Verlagsrechte © 2012 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk, Fürstenfeldbruck

 

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

 

Umschlag- und Textillustration: Lancha

 

ISBN ePub: 978-3-95823-508-3

 

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-verlag.de



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Vielen Dank!

Ihr Cursed-Team

 

 

 

 

Klappentext:

 

Als der Ausreißer Maxi das altersschwache Fahrrad des mittellosen Abiturienten Vincent mitgehen lässt, ahnt er noch nicht, wie schnell er diesem wieder gegenüberstehen wird. Mit einer Lüge bringt er Vince dazu, ihn bei sich aufzunehmen und nicht nur der mürrische Gastgeber fühlt sich schon bald mehr zu seinem Untermieter hingezogen, als gut für ihn ist. Denn hinter Maxi steckt mehr, als die Fassade des frechen Punks vermuten lässt. Schnell sind beide in einem Netz aus Heimlichkeiten, Zuneigung und Misstrauen gefangen, aus dem es kein Entkommen gibt...


 

...

 

Nora »SnowWhite« Wolff

mit Illustrationen von Lancha


 

Widmung

 

 

Für Hilda,

die wieder mal großartige Arbeit geleistet hat,

auch wenn sie immer wieder daran zweifelt.

 

 

Und für Julia,

die mehrere Panikattacken meinerseits

erfolgreich abgewehrt hat

und auf jede Frage eine Antwort wusste.



1

 

Vincent

Ich glaube, meine Finger frieren gerade ab.

Mit zusammengebissenen Zähnen krampfe ich die Hände fester um den Fahrradlenker, aber genauso gut könnte ich versuchen, mit einem Fön Staub zu saugen. Der eiskalte Wind bohrt sich gnadenlos durch meine bloße Haut hindurch und setzt sich in meinen Knochen fest. Zum tausendsten Mal verfluche ich mich dafür, meine Handschuhe vergessen zu haben, und klammere mich grimmig an dem Gedanken fest, in ein paar Minuten da zu sein.

Als ich um die nächste Ecke biege, taucht dann auch endlich der Weihnachtsmarkt vor mir auf, auf dem um kurz vor elf jedoch noch nichts los ist. Ohne irgendwelchen Hindernissen ausweichen zu müssen, fahre ich direkt auf Fredericks Glühweinstand zu. Piet, ein Student, mit dem ich mir heute die erste Schicht teilen werde, kommt ebenfalls gerade aus einer anderen Richtung angeradelt.

»Hey, Vincent«, begrüßt er mich und springt quietschfidel von seinem Superbike.

Ich steige etwas gemäßigter von meiner schrottreifen Rostlaube und lehne sie an der Rückseite der Glühweinbude an. Anschließen muss ich sie nicht, weil das Teil sowieso niemand klauen würde, was so ziemlich der einzige Vorteil von dem Mistding ist. Aber ein neues Fahrrad ist zur Zeit finanziell einfach nicht drin.

»Piet«, nicke ich ihm zu und gehe anschließend zur Tür in der Holzhütte hinüber.

»Und? Bist du schon in Weihnachtsstimmung?«, fängt Piet sofort Smalltalk an. Er hat unheimliches Talent dafür, was ihm während einer Schicht wesentlich mehr Trinkgeld einbringt als mir. Darauf könnte ich neidisch sein. Wenn es mir nicht so geheuchelt vorkäme, alle Leute mit einem Monstergrinsen im Gesicht zu begrüßen. Ist nicht so ganz mein Ding.

»Geht«, antworte ich sparsam, während er gleich drauf los quasselt und mir was von den Weihnachtsgeschenken erzählt, die er alle schon besorgt hat und die er noch besorgen muss.

Zugegeben, jetzt werde ich doch ein bisschen neidisch. Einen iPod für seinen kleinen Bruder, eine romantische Reise für sich und seine Freundin nach Andalusien und für seine Eltern eine Kiste voller Exklusivweine. Piet hat’s ja. Ich frage mich immer noch, was zum Teufel er in den Wintermonaten in einer abgewrackten Glühweinbude mit Hungerlohn will. Wenn ich mir solche Weihnachtsgeschenke so locker-flockig leisten könnte, würde ich mir hier nie und nimmer den Arsch abfrieren. Zum Glück muss ich nicht allzu viele Leute beschenken. Seit meine Eltern vor fünf Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind, ist da eigentlich nur noch meine Oma.

Aber die Weihnachtsgeschenke sind gerade, ehrlich gesagt, mein geringstes Problem. Bei dem Gedanken daran, wie es nach der Schule weitergehen soll, wird mir jetzt schon ganz schlecht.

Ich krame in meiner Hosentasche nach dem Schlüssel für das Türschloss der Bude und höre nebenbei mit halbem Ohr Piet zu, nicke hin und wieder und sage: »Hm-hm«, oder: »So?« Das reicht ihm. Keine Ahnung, ob er weiß, dass mich sein Gerede nicht sonderlich interessiert.

Leicht überrascht stelle ich fest, dass Frederick gestern gar nicht abgeschlossen hat, was absolut nicht zu ihm passt. Aber da Samstag gewesen ist, kann es gut sein, dass er mit Bekannten noch was getrunken und es dann schlicht vergessen hat.

Ich nehme das Schloss ab und stecke es ein, damit uns niemand während unserer Arbeitszeit in der Bude einsperren kann, öffne die Tür und –

»Ach du Scheiße.«

»Was?« Piet tritt neben mich. »Ist etwa...« Er stockt, als er ebenfalls die zusammengekauerte Gestalt in der hinteren Ecke entdeckt, die sich in einen Haufen Stoff eingemummelt hat und uns noch nicht bemerkt zu haben scheint. »... eingebrochen worden«, beendet Piet etwas verspätet den Satz. »Du meine Güte, was ist das denn?«

»Nach was sieht’s denn aus?« Leicht genervt rolle ich mit den Augen und will die Glühweinbude betreten, aber Piet hält mich augenblicklich am Arm zurück.

»Hey, was hast du vor?«

»Ihn wecken und rauswerfen. Oder willst du vielleicht Glühwein ausschenken, während Dornröschen zu deinen Füßen schnarcht?«

»Ähm, nee. Aber... ich weiß nicht. Was ist, wenn er... na ja, gefährlich ist?«

Gefährlich? Mann, was liest der nachts nur zum Einschlafen? Einen abgewrackten Landstreicher, Penner oder was auch immer werde ich gerade noch aus einer Glühweinbude rauswerfen können, ohne danach mit der Ambulanz ins Krankenhaus gefahren werden zu müssen.

»Ist er nicht«, antworte ich daher nur und gehe zu dem Bündel Mensch in der Ecke hinüber. Nicht wirklich hart, aber auch nicht gerade sanft stoße ich ihn mit dem Fuß an. »Hey. Hey, aufwachen!«

Der Stoffberg, der bei näherer Betrachtung aus ein paar bunt zusammen gewürfelten Klamotten zu bestehen scheint, bewegt sich leicht und ich höre ein schläfriges Brummeln. Dann ist alles wieder ruhig.

Na, der hat aber einen gesunden Schlaf! Hat der keine Angst, dass man ihn nachts auf offener Straße absticht?

»HEY!«, werde ich lauter und stupse ihn noch mal mit dem Fuß an.

Das wirkt.

Aus dem Stoffberg ruckt ein Kopf hervor wie ein Springteufel, der aus einer Kiste saust.


 

...

 


 

»Ach du Scheiße«, wiederhole ich, als ich in aufgerissene, hellgrüne Augen blicke, die in einem viel zu jungen Gesicht sitzen. Jünger als meins. Der kann nicht älter als sechzehn sein. Ein Ausreißer? Grandios! Hätte der nicht wenigstens so schlau sein können, im Sommer abzuhauen? Dann hätte ich ihn jetzt nicht in Fredericks Glühweinbude finden müssen.

»Fuck.« Hektisch reibt sich der Ausreißer über die Augen, um wohl auch die letzte Dösigkeit zu vertreiben, rührt ansonsten aber keinen Finger, um seinen Kram zusammenzupacken. »Wie spät ist es?«

»Kurz nach elf«, erwidere ich automatisch. »Noch genug Zeit für dich, deinen Kram zu packen und zu verschwinden, ehe hier viel los sein wird.«

»Oh, nur nich’ so freundlich.«

»Entschuldige mal?« Piet schiebt sich ebenfalls in die Bude hinein, nachdem er die Gefahr, von einem betrunkenen Landstreicher angepöbelt zu werden, als nicht existent erkannt hat. Was für ein Held – und der will vier Jahre älter sein als ich? »Du bist hier in Privatbesitz eingebrochen. Wir sollten die Polizei rufen und ihn nicht laufen lassen«, meint er an mich gewandt und hat mit dieser Feststellung vermutlich auf sein frisch erworbenes Wissen zurückgegriffen; Piet studiert Jura im Nebenfach.

»Privatbesitz?«, bollert der Ausreißer los, ehe ich was dazu sagen kann. »Alter, sieh’ dich hier doch mal um – eine kleine Holzhütte. Ach was, Kabuff! Kein Grund, hier so ’nen Terror zu schieben. Wenn ich wollte, hätte ich mir so ein Teil auch schnell selbst zimmern können.«

»Hast du aber nicht, und genau das macht dich zu einem Einbrecher.«

»Toll. Verklag’ mich.«

Der Ausreißer schüttelt verspottend den Kopf, ehe er sich aufrappelt und uns seine stolze Größe von... herrje, er reicht mir gerade mal bis zur Schulter. Beziehungsweise das, was auf seinem Kopf los ist, reicht mir gerade mal bis zur Schulter. Sieht sehr danach aus, als hätte er allein und ohne Spiegel oder auch nur die geringste Ahnung versucht, sich die Haare schwarz zu färben. Herausgekommen ist ein zotteliges Etwas, das an manchen Stellen tiefschwarz und an anderen hellgrau bis dunkelgrau ist. An seiner linken Augenbraue steckt ein unauffälliges Piercing und seine Klamotten sehen ziemlich verlottert aus. Da bin ich mir allerdings nicht sicher, ob das Absicht ist oder von den Tagen zeugt, die er schon auf der Straße lebt.

Als er sich aus dem Stoffhaufen eine schwarze Jacke mit zig Buttons und Aufnähern fischt, die ein erstaunlich dickes Innenfutter zu haben scheint, bemerkt er, dass Piet und ich ihn beobachten.

»Was denn, zur Hölle? Ich bin doch schon dabei, meinen Kram zu packen!«

»Vielleicht...«, setzt Piet ein wenig unsicher an und tauscht einen kurzen Blick mit mir aus. »Vielleicht würde es dir ganz gut tun, von der Polizei gefunden zu werden. Deine... deine Eltern machen sich bestimmt Sorgen.«

Der Ausreißer – oder sollte ich besser sagen: Freak? – runzelt verärgert die Stirn, während er in seine Jacke schlüpft. »Kümmer’ dich doch einfach um dein’ eigenen Scheiß, ja?«

»Würden wir ja«, antworte ich. »Wir warten nur noch darauf, dass du hier endlich verschwindest.«

Mittlerweile geht es auf zwanzig nach elf zu und mehrere Buden um uns herum sind ebenfalls dabei, sich für die Kundschaft fertig zu machen, oder haben gar schon alles aufgestellt. Die ersten Weihnachtsmarktverrückten tummeln sich auch bereits zwischen den einzelnen Buden, obwohl es eigentlich immer noch viel zu früh ist.

Allerdings habe ich keine Lust, dass plötzlich Frederick um die Ecke kommt, weil er meint, nach uns sehen zu müssen. Auch wenn’s nur ein Hungerlohn ist, ich hänge an dem Geld und will nicht riskieren, dass Frederick uns aus einer Laune heraus raus wirft.

»Vincent... wir können doch nicht –«

»Natürlich können wir. Bin ich die Wohlfahrt? Er hat sich das doch wohl selbst eingebrockt.« Ich sehe zu dem Freak hinüber, dem meine Worte offensichtlich nicht so ganz schmecken, so, wie der mich anfunkelt. Was, hat er vielleicht geglaubt, ich spendiere ihm aus Nächstenliebe einen Glühwein?

»Geh’ wieder nach Hause. Da musst du nirgendwo einbrechen, um dir nachts nicht den Arsch abzufrieren.«

Er sieht aus hellen Augen zu mir hoch. »Steck’ dir deine Samaritertipps sonst wohin.«

»Gleich, nachdem du verschwunden bist, versprochen.« Ich packe ihn am Arm, ziehe ihn an mir und dem verblüfften Piet vorbei und schubse ihn in Richtung der Tür.

»Hey!« Er stolpert nach draußen in die Kälte, wirbelt aber gleich darauf wieder herum und blafft: »Meine Sa-«

Ich werfe ihm seinen voll gestopften Rucksack direkt in die Arme, was ihm augenblicklich die Sprache verschlägt und obendrein einen Schritt zurücktaumeln lässt. Dann ziehe ich die Tür demonstrativ zu, auch wenn Piet und ich daraufhin in einem diffusen Halbdunkeln stehen.

Draußen tritt der Freak einmal kräftig gegen das Holz und brüllt: »ARSCHLOCH!«, dann ist es ruhig.

»Das war zu hart«, meint Piet sofort und macht sich gleichzeitig an der Fensterluke der Bude zu schaffen, damit wir auch endlich öffnen können.

»Findest du?«, frage ich gelangweilt zurück und erhitze die Glühweinbehälter.

»Natürlich! Allein schon aus Trotz wird er jetzt nicht zurückgehen.«

Ich blinke ihn etwas irritiert an. »Na und? Wenn das so kalt bleibt, rennt er spätestens nach Hause, wenn er Frostbeulen bekommen hat. Oder die Grippe.«

Ich sehe nicht ein, warum ich mir um irgendeinen verblödeten Ausreißer Gedanken oder gar Sorgen machen soll, wenn ich nicht einmal weiß, was ich selbst nach der Schule machen werde. Einen Ausbildungsplatz habe ich nicht bekommen und Studieren übersteigt eindeutig meine Verhältnisse. Wenn das jetzt bei diversen Fast-Food-Ketten oder Cafés auch nichts mit einer Einstellung wird, habe ich ein echtes Problem. Vielleicht bin ich ein bisschen zu schnell dabei gewesen, mich beim Bund ausmustern zu lassen. Hätte ich bei der Musterung nicht so viel herumgeschwindelt, weil mir zu der Zeit der Gedanke an Wehrdienst noch ziemlich quer gegangen ist, hätte ich wenigstens erst einmal für neun Monate so was wie einen Job gehabt. Scheiße, ich kann mich ja nicht mal in einer anderen Stadt bewerben, weil ich es mir nicht leisten kann, umzuziehen.

Mag ja sein, dass der wohlbehütete und wohlhabende Piet irgendeinen unbekannten Helferkomplex hat, der ihn dazu zwingt, dem Ausreißer helfen zu wollen, aber dann bitte ohne mich.

 

***

Neidisch sehe ich zum nahenden Schichtwechsel auf Piets eingenommenes Trinkgeld, das er gerade – ohne auch nur einen näheren Blick darauf zu werfen – in seine Brieftasche stopft. Ich habe keine Ahnung, wie er das anstellt, dass ihm die Kunden bei einer Gesamtsumme von, sagen wir, 7,50 Euro einen Zehner in die Hand drücken und freundlich – oder betrunken – lächelnd: »Passt so!«, sagen.

Ich kriege – wenn überhaupt – die fünfzig Cent, und das ist auch eher ein Seltenheitsfall. Vielleicht sollte ich doch mal versuchen, dieses unverbindliche Lächeln auf meinen Lippen festzukleben. Scheint ja doch irgendwie zu helfen. Aber dann würde mir immer noch das Smalltalk-Talent fehlen. Schätzungsweise ist es genau das, was Piet so reich macht. Noch reicher.

Frederick kreuzt um kurz vor sechs auf und entgegen meiner Erwartungen hält Piet bezüglich unseres ungebetenen Übernachtungsgastes sogar die Klappe. Da der Ausreißer allerdings auch tatsächlich nichts angefasst und noch beinahe alles auf seinem Platz gestanden hat, besteht dazu auch gar keine Veranlassung.

Mit einem zufriedenen Brummen nimmt Frederick das viele Geld in der Kassette wahr, ist aber wohl auch nicht so glücklich damit, dass er unseren Lohn spontan etwas anhebt.

Um kurz nach sechs, als gerade eine größere Verkaufslücke ist, räumen Piet und ich für Frederick und seinen Freund, der ihm in seiner Schicht aushilft, die Bude.

»Mann!« Piet reibt sich die Hände, formt dann einen Hohlraum mit ihnen und pustet kräftig hinein. »Noch zwei Minuten länger und ihr hättet mich als Eisskulptur da raus holen können!«

»Hm-hm«, mache ich zustimmend und vergrabe mein Gesicht tiefer im Schal. Diese Erkenntnis habe ich schon heute morgen gehabt.

»Und, was machst du jetzt noch?«, versucht Piet, das Gespräch nicht einschlafen zu lassen. Er scheint immer noch nicht begriffen zu haben, dass Smalltalk im Allgemeinen nicht so ganz mein Fall ist – völlig egal ob vor, nach oder während unserer gemeinsamen Schichten.

Ich zucke mit den Schultern. »Nach Hause fahren. Mal gucken.«

»Also, ich werde meine Freundin gleich erst mal überreden, ein heißes Bad mit mir zu nehmen!« Er wackelt vielsagend mit den Augenbrauen. »Das ist das beste Mittel, um wieder aufzutauen.«

»Wenn du das sagst.«

Piet blinkt mich ein paar Sekunden sprachlos an, dann bricht er in schallendes Gelächter aus und schlägt mir freundschaftlich auf die Schulter. »Entschuldige, Kumpel, da du neunzehn bist, dachte ich irgendwie, du hättest von solchen Dingen eine Ahnung.«

Unwillig verziehe ich den Mund. »Mach’ dir mal um meine Ahnungen keine Gedanken. Die reichen wahrscheinlich sogar noch weiter als deine.« Im Falle von Patrizia heißt das allerdings eher leider. Auf diese Erfahrung hätte ich gut und gerne verzichten können.

»Hä?«, macht Piet wenig ästhetisch und folgt mir automatisch, als ich mich in Bewegung setze, um hinter der Bude endlich mein Fahrrad abzuholen. Allerdings hält Piet mich verwirrt am Arm zurück. »Wie meinst du das denn?«

»Ich bin schwul«, sage ich unumwunden und biege um die Holzbude herum. Ich strecke schon die Hände nach meinem Fahrrad aus, als ich mitten in der Bewegung verwundert inne halte. »Hey, wo... wo ist mein Rad?«

Piet kommt um die Ecke. »Was?«

»Mein Fahrrad!« Ich deute auf den leeren Fleck an der Glühweinbudenwand. Piets Superbike steht ein paar Meter entfernt unangetastet in einem Fahrradständer.

»Nein, ich meine... du stehst auf Männer?«

Beinahe sprachlos drehe ich mich zu ihm um. »Hast du gerade mitgekriegt, was ich gesagt habe?«

»Du bist schwul«, verkündet er im Brustton der Überzeugung.

Oh Mann! »Mein Fahrrad ist weg!«

»Dein...« Sein Blick gleitet automatisch zur Rückwand der Glühweinbude. »Oh. Hast...« Piet versucht sichtlich, zum wichtigeren Thema zurückzukommen. »Hast du es denn nicht angeschlossen?«

»Ich schließe es schon die ganze Woche nicht an.«

»Hm, na... dann darfst du dich aber nicht wundern.«

Wie bitte? Fehlt nur noch, dass er vor meinem Gesicht mit seinem Zeigefinger herumfuchtelt, weil er ja der Erwachsene ist, der alles besser weiß.

»Du, ähm... du stehst aber nicht auf mich, nein?«

Ich starre ihn an, als hätte er mich gerade gefragt, ob ich – nur um mir meiner sexuellen Neigung auch wirklich sicher zu sein – nicht mal seine Freundin flachlegen will. Am besten noch während ihres romantischen Urlaubs in Andalusien.

»Nur weil ich dir sage, dass ich schwul bin, mache ich dir nicht automatisch eine Liebeserklärung.«

»Oh.« Er lacht erleichtert auf. »Na, da bin ich aber beruhigt.«

Und ich erst. Fälschlicherweise habe ich Piet für einen etwas intelligenteren Menschen gehalten.

»Könnten wir jetzt wieder zum Diebstahl meines Fahrrads zurückkommen?«

»Was? Natürlich. – Vielleicht hat der Kleine es gestohlen.«

»Der Kleine?«

»Der Ausreißer. Immerhin war der ganz schön sauer auf dich, als du ihn rausgeschmissen hast.«

Noch mal: Der Kleine? Damit verbinde ich irgendwie etwas Süßes und Niedliches. Als wir bei dem Freak heute Mittag Weckruf gespielt haben, ist der ganz sicher nicht süß oder niedlich gewesen. Aber vielleicht hat er gerade deswegen mein Rad gestohlen. Zuzutrauen wäre es ihm auf alle Fälle.

Scheiße. Wenn ich den erwische, schleife ich ihn persönlich zur nächsten Polizeistation.

»Du wolltest die Polizei rufen – warum hat er deins nicht geklaut? Oder wenigstens die Reifen aufgeschlitzt, weil er das Schloss nicht knacken konnte?«

Piet verzieht über meine offensichtliche Missgunst auf sein Glück etwas pikiert den Mund. »Ich war dabei wenigstens noch nett. Außerdem stand mein Rad nicht direkt an der Bude. Vielleicht hat er gedacht, ich bin zu Fuß oder so.«

Grandios. Wenn der Typ denken könnte, wäre er sicherlich nicht von zu Hause ausgerissen.

»Soll ich dich vielleicht mitnehmen? Auf dem Gepäckträger?«

»Nein, danke. Du musst ja in eine ganz andere Richtung. Ich laufe.«

»Okay, wie du willst.« Er zuckt mit den Schultern und verabschiedet sich dann von mir.

Vielleicht wäre es besser gewesen, ich hätte bezüglich meines Schwulseins noch ein bisschen länger die Klappe gehalten, aber wenn es nicht gerade um meine Oma geht, sehe ich da keinen Grund für. Ich hoffe, Piet gewöhnt sich schnell daran, weil ich nämlich keine Lust habe, die letzten zweieinhalb Wochen bis Weihnachten immer wieder schräg von ihm angesehen zu werden.

Verstimmt ramme ich die Hände in meine Manteltaschen und gehe los. Mit dem Fahrrad brauche ich bis hierher fünfzehn Minuten – zu Fuß würde das also wie lange dauern?

Keine Ahnung. Ist vielleicht auch besser, ich grüble nicht darüber nach, sonst komme ich noch sehr schlecht gelaunt zu Hause an. Hoffentlich bekommt meine Oma vor lauter Sorge wegen meiner Verspätung keinen Herzkasper. Der letzte hat sie schon ins Krankenhaus gebracht; noch mal muss ich das nicht mitmachen. Ich würde sie ja anrufen, wenn ich nicht zum letzten Monat meinen Handyvertrag gekündigt hätte, weil das auf die Dauer zu teuer geworden ist. Jetzt schleppe ich nur noch rund drei Euro auf meiner Prepaid-Karte mit mir rum, aber die müssen für wirklich, wirklich wichtige Notfälle reichen. Und das bis zum Januar.

Allmählich lasse ich die Lichter und den Lärm des Weihnachtsmarkts und der Einkaufsstraße hinter mir und tauche in etwas ruhigere Wohnviertel ab. Wirklich ruhig ist es natürlich nicht, aber man gewöhnt sich an alles. Besonders, wenn man hier aufgewachsen ist. Dann kann man auch die lichtscheuen, finsteren Gestalten rechts und links ignorieren oder die Streitgespräche, die aus offenen Fenstern auf die Straße schallen.

»Oh, zu Fuß unterwegs?«, tönt es da auf einmal laut hinter mir. »Was ist mit deinem Rad passiert?«

Dieser...!

Ich drehe mich um und sehe wie erwartet den Freak von heute Mittag vor mir stehen, den Rucksack lässig über eine Schulter gehangen, die Jacke fröstelnd bis oben hin zugezogen. Er hat weder einen Schal noch Handschuhe dabei, und dass ihm arschkalt ist, kann ich ihm an der roten Nasenspitze ansehen.

»Ich weiß auch nicht. Frag’ den Dieb.« Ich mache einen Satz nach vorne und packe ihn am Arm, ehe er mir ausbüxen kann. »Also, was ist mit meinem Rad passiert?«

»Autsch!«, zetert er los und rüttelt erfolglos in meinem Griff herum, ehe er mich wütend anblitzt. »Alter, an deiner Stelle wär’ ich etwas netter zu mir. Ich müsste nur einmal laut schreien und schon bist du der Kinderschänder vom Dienst.«

Ich glaube, der überschätzt sich selbst ganz gewaltig. Und er scheint nicht in dieser Stadt zu wohnen, sonst wüsste er, dass er, wenn er so viel Zivilcourage erwartet, einen anderen Stadtteil hätte wählen müssen.

Daher verstärke ich meinen Griff noch ein wenig und ziehe ihn so dicht an mich heran, dass er den Kopf in den Nacken legen muss, wenn er den Augenkontakt nicht unterbrechen will. Das helle Grün flackert unsicher.

»Nur zu«, raune ich bewusst bedrohlich, woraufhin sich seine Augen ein wenig weiten.

»Hey. Cool bleiben. Schon gut. Schon gut. Lass mich los.«

Bin ich denn von allen guten Geistern verlassen?

Ich lasse ihn zwar nicht los, aber ich lockere den Griff etwas und rücke wieder von ihm ab. Keine Ahnung, wie lange er schon auf der Straße unterwegs ist, aber eine Dusche hat er auch schon länger nicht mehr von innnen gesehen.

»Mein Rad?«, hake ich nach.

»Weg«, antwortet er genauso kurz angebunden.

Ich rolle genervt mit den Augen. »Wie, weg?« Er zögert eindeutig zu lange, als dass es was Gutes heißen könnte. Ich schüttle ihn kurz. »Was heißt weg?«

Er versucht wieder, sich aus meinem Griff zu winden, aber ich bleibe unnachgiebig. »Das heißt«, raunzt er, als er erkennt, dass ich stärker bin, »dass es momentan unabkömmlich ist. Du kriegst es wieder, wenn... wenn du mich die Nacht bei dir schlafen lässt. Und duschen. Mit einem kleinen Snack. Oder so.«

Entgeistert starre ich ihn an. Das kann ja wohl nicht sein Ernst sein. Ich hole mir doch nicht freiwillig so einen freakigen Flohzirkus ins Haus, ganz egal, ob mein Fahrrad dabei drauf gehen muss.

»Du spinnst. Ich lasse dich höchstens in irgendeiner Zelle schlafen, weil ich jetzt nämlich doch die Polizei rufen werde. Vielleicht lassen die sich ja mit einem gestohlenen Fahrrad erpressen.«

Ich glaube, er wird ein wenig blass, weil seine rote Nase, die roten Wangen und Ohren plötzlich noch ein bisschen stärker glühen. Er kann ja nicht wissen, dass ich nur bluffe. Wenn es geht, vermeide ich den Kontakt mit jedweden Beamten und Ordnungshütern, und das hier scheint mir kein so großer Notfall zu sein, dass ich mit diesem Grundsatz brechen müsste.

»Shit. Okay.« Er leckt sich in einer nervösen Geste über die trockenen Lippen. »Soll ich dir erzählen, warum ich von zu Hause weg bin?«

»Nein. Das ist mir scheißegal. Ich will mein Fahrrad und fertig.« Um ihm ein bisschen Beine zu machen, fische ich mit der freien Hand mein Handy aus der Hosentasche. Die Aussicht, bald von der Polizei gefunden zu werden, scheint ihn in eine sehr redselige Stimmung zu versetzen.

Sein Atem kommt ein bisschen abgehackt und er zappelt schon wieder in meinem Griff herum. »Du kriegst es morgen, versprochen. Aber ruf’ bitte nicht die Bullen.«

Ich lasse das Handy aufklappen und schiele auf die Tasten, als müsste ich irgendwelche Zahlen suchen.

»Warte! Shit! Er schlägt mich, verdammt! Mein Vater schlägt mich!«, platzt es dann aus ihm heraus.

Skeptisch schaue ich von meinem Handy wieder in sein Gesicht.

»Glotz nicht so!«, keift er angriffslustig. »Deswegen bin ich da weg!«

Ich weiß nicht, wieso, aber irgendwie kann ich ihm das nicht ganz abnehmen. Das und seine merkwürdige Sprechweise. Passt irgendwie nicht zu ihm.

»Was sagt deine Mutter dazu?«

Damit bringe ich ihn leicht aus dem Konzept, denn er blinzelt mich verwirrt an. Das hat er sich garantiert gerade nur aus den Fingern gesogen. Und mit dieser Frage hat er jetzt nicht gerechnet.

»Sie... ist... tot«, sagt er so bedächtig, als wäre es entweder gerade gestern geschehen – oder aber als müsste er sich die Worte beim Sprechen erst zurechtlegen.

»Dann bist du ein Fall für das Jugendamt«, stelle ich klar. »Die Polizei kann dir da bestimmt weiterhelfen.«

»Fuck! Hast du Watte in den Ohren? Mein Vater prügelt mich windelweich und was soll das scheiß Jugendamt tun? Mich wahlweise in ein beknacktes Heim stecken, wo die Gott weiß was mit mir anstellen, oder zu Pflegeeltern, wo ich noch am besten vergewaltigt werde?!«

Meine Güte, der hat ja eine blühende Phantasie. Fast ein bisschen zu blühend. Und warum habe ich das Gefühl... andererseits – kann man sich so was ausdenken?

Ich mustere ihn kritisch. »Ich würde sagen, du hast dir zeitweise zu viel Schwachsinn im Fernsehen angeguckt.«

Er knirscht mit den Zähnen. »Du glaubst mir nicht.«

»Warum sollte ich? – Hey.«

Unvermittelt wirft er mir seinen Rucksack vor die Füße und öffnet mit der linken Hand seine Jacke. Dann zieht er etwas ungelenk den linken Arm heraus und hält ihn mir hin, weil ich seinen rechten immer noch festhalte.

Irritiert sehe ich ihm dabei zu, ohne mich zu rühren. Als er fertig ist, frage ich ruhig: »Was soll das werden?«

»Du glaubst mir nicht, also sieh’ nach. Sieh’ nach!«, befiehlt er fast, als ich ihn weiterhin etwas begriffsstutzig anblicke.

Nach wie vor argwöhnisch stecke ich das Handy weg und schnappe mir nun seinen linken Arm, allerdings zuckt er dieses Mal zu meiner Überraschung tatsächlich etwas schmerzhaft zusammen. Vorsichtiger, als wahrscheinlich angebracht wäre, schiebe ich den Ärmel seines weiten, dunkelblauen Kapuzenpullovers, auf dem irgendein unkenntlicher Aufdruck prangt, hoch und frage mich in derselben Sekunde, worauf ich mich da eigentlich einlasse. Eigentlich sollte ich nicht lang fackeln und die Polizei rufen. Interessiert mich doch nicht, wenn ihn sein Vater...

Unwillkürlich stocke ich, als ich die bläuliche Verfärbung erblicke, die an seinem Ellenbogen losgeht und sich noch ein bisschen weiter nach oben zieht. Sieht sehr frisch aus.

»Hör mal«, fange ich leicht betreten an; nicht, dass der Freak am Ende noch die Wahrheit gesagt hat, »nur weil du einen blauen Fleck hast, heißt das nicht... Ich meine, hast du dich irgendwo gestoßen?«

»Ich bin die Treppe runter gefallen«, faucht er biestig. »Ich bin so ungeschickt und tollpatschig, es ist alles meine Schuld.«

Da kann ich irgendwie nicht drüber lachen.

»Außerdem... wer hat gesagt, dass es einer ist?«

Ohne auf eine Aufforderung zu warten, zerrt er mit der rechten Hand seinen Pullover und das T-Shirt darunter hoch und präsentiert mir seinen nackten, flachen Bauch, auf dem... ach du Scheiße.

Seine linke Seite ist ein einziger blauer Fleck, der sich bis zu den Rippen hochzieht, als hätte ihn jemand getreten, während er schon am Boden gelegen hat.

Mir wird ein bisschen schlecht.

»Sind das genug Beweise, Herr Hauptkommissar?«, fragt er leicht bibbernd, weil die Kälte ihm so wohl ganz schön zu schaffen macht. Kein Wunder. Ist auch der reinste Hungerhaken.

Grimmig zieht er den Pulli wieder runter und rupft seinen anderen Arm aus meiner Umklammerung, die ich plötzlich ganz locker lasse, um seine Jacke wieder zuzuziehen. Dann hebt er den Rucksack auf und schwingt ihn sich über die Schulter.

»Keine gehässige Bemerkung?«

»Du solltest damit wirklich zur Polizei«, sage ich dumpf, weil mich diese offensichtlichen Beweise seiner Geschichte unvorbereitet erwischt haben. »Oder zu einem Arzt. Vielleicht ist was gebrochen oder angeknackst.«

Er verzieht höhnisch den Mund. »Wenn du mir helfen willst, dann biete mir einen Schlafplatz an. Auf alles andere scheiß’ ich.«

Oh Mann. Wie zum Henker bin ich denn da jetzt nur reingeraten?! Scheiße. Ich hätte standhaft bleiben und ihn einfach ignorieren sollen. Wie kann ich ihn denn jetzt noch ignorieren? Außerdem soll’s in der Nacht minus acht Grad werden. Und wenn ich morgen einfach die Polizei rufe, ohne ihm etwas davon zu erzählen? Bevor sie ihn zurück zu seinem Vater stecken, müssen bei solchen Anschuldigungen doch Untersuchungen eingeleitet werden? Und vielleicht hat er ja irgendwo noch eine Tante oder einen Onkel des x-ten Grades, die ihn aufnehmen würden.

Oder eine Oma.

Wenn meine Oma nicht gewesen wäre, wäre ich mit Sicherheit auch im Heim gelandet. Mit vierzehn lebt es sich schlecht allein.

Mist. Ich lasse mich doch tatsächlich von ihm einlullen.

»Eine Nacht«, bestimme ich hart und sehe, wie noch im selben Moment ein wahres Monstergrinsen auf seinen Lippen explodiert. »Morgen verschwindest du wieder, klar? Und wenn du vorhast, mich abzustechen oder zu bestehlen, dann wird mein verschwundenes Fahrrad deine geringste Sorge sein, verstanden?«

»Absolut!« Er salutiert halbherzig und sieht sich dann neugierig um. »Wo geht’s lang? Ich frier’ mir hier draußen schon seit Stunden den Arsch ab.«


2

 

Maxi

 

Was für ein Trottel. Hat mir doch tatsächlich alles abgekauft, was ich ihm da aufgetischt habe!

Aber gut, ich muss mich da wirklich mal selbst loben: Meine Performance ist schon nicht von schlechten Eltern gewesen, dafür hätte ich eindeutig einen Oscar verdient. Bei nächster Gelegenheit muss ich Britta unbedingt dafür danken, dass sie mich an diesem einen schicksalhaften Tag mit in die Theater-AG geschleppt hat. Hätte ja nie gedacht, dass das was für mich wäre, aber Britta hat mich wohl schon damals besser gekannt als ich mich selbst.

Dabei fällt mir ein: Hoffentlich hat der Kerl eine funktionierende Steckdose in seiner Wohnung, damit ich endlich mein Handy aufladen kann. Seit das Teil gestern Mittag den Geist aufgegeben hat, rotiert Britta zu Hause bestimmt. Ich hoffe, die hat meinen Eltern gegenüber nicht aus Versehen was verlauten lassen.

Auweia, die würden mir beide mit Vergnügen den Kopf abschlagen, wenn die mein kleines Ammenmärchen gerade mitbekommen hätten. Mutter tot, Vater ein Schläger – die werden höchstens dazu, wenn die das erfahren und wenn ich wieder zu Hause bin. Na ja, oder in England.

Heilige Scheiße, nicht dran denken! Das ist ja wohl hoffentlich bald gegessen.

Stattdessen sollte ich mich lieber darüber freuen, ein warmes Plätzchen zum Schlafen gefunden zu haben. Meine Fresse, als das gestern plötzlich so kalt geworden ist, dachte ich schon, mein letztes Stündlein hätte geschlagen. Zum Glück sind diese albernen Schlösser beim Weihnachtsmarkt kein Hindernis gewesen, sonst wäre ich wohl noch versehentlich erfroren.

Und auch jetzt bin ich am Zittern ohne Ende. Dabei habe ich schon extra versucht, mich den ganzen Tag lang in irgendwelchen Kaufhäusern und Klamottengeschäften aufzuhalten, aber das ist schwieriger, als man denkt. Vor allem diese allumfassende Weihnachtsliederbeschallung macht mich ganz meschugge. Ich glaube, ich kann mittlerweile jedes beknackte Weihnachtslied auswendig und diesen verdammten Ohrwurm von ‚Last Christmas‘ werde ich wohl auch nie wieder los.

»Hey!«, blökt mich mein unverhoffter Samariter an und ich drehe mich verwundert um.

»Was’n?«

Er deutet genervt auf das quietschgelbe, schmale Häuschen neben sich, das sich zwischen einem abgeblätterten roten mit blinden Fenstern und einem... ist das Türkis? Jedenfalls sehen die Häuser hier alle gleich aus, bis auf die potthässlichen Anstreichfarben. Und sie sind phänomenal winzig und mit teils frischem, teils altem Graffiti verziert. Das könnte die etwas zwielichtigen Gestalten erklären, die zwanzig Meter weiter weg in einem dichten Kreis stehen und düster zu uns rüberstieren. Eindeutig nicht gerade die beste Gegend, obwohl es sicher noch schlimmer geht. Die Bahnhofsgegend hier ist zum Beispiel total zum Fürchten.

»Wir sind da. Oder hast du es dir anders überlegt?«

Mann, wenn der noch ein bisschen hoffnungsvoller klingt, kommt gleich ein Weihnachtsengel vom Himmel herabgeschwebt.

»Nee. Keine Chance.«

Ich trotte die paar Meter, die ich zu viel gelaufen bin, wieder zurück zu ihm und sehe ihn abwartend an. Hat der heute noch vor, die Tür aufzuschließen, oder warum schaut der mich so an?

Ernsthaft, als der mich vorhin so in die Mangel genommen hat, hab’ ich doch glatt ein wenig Panik gekriegt. Dachte schon, das war’s, und gleich werde ich im nächsten Straßengraben entsorgt. Der hat aber auch einen Killerblick drauf mit seinen eigentlich ganz ansehnlichen Schokoladenaugen. Viel zu lecker, um so finster drein zu starren. Aber die gutaussehenden sind ja bekanntlich die Schlimmsten.

Auf dem Weihnachtsmarkt bin ich auch drauf und dran gewesen, mich für den anderen Kerl zu entscheiden. Der hat eindeutig was Freundliches an sich gehabt und wäre vermutlich wesentlich leichter zu überzeugen gewesen, mich mitzunehmen, als der hier. Aber dann habe ich nur die Worte ‚Freundin’ und ‚schwul’ gehört und die Sache war gegessen. Also hab’ ich mich an die Fersen von... wie hat der andere ihn genannt? Vincent? Ein kolossal beknackter Name.

Jedenfalls bin ich dann Vince gefolgt und prompt habe ich mir einen Schlafplatz ergattert. Dass es rein zufällig auch seine Schrottlaube gewesen ist, die ich da an diesen Kauz verschachert habe, habe ich ja nicht wissen können. Und noch viel weniger, dass er das alte Teil wiederhaben will. Ich dachte, der stellt das da quasi als Einladung zum Klauen hin.

Na, bis Vince gemerkt hat, dass er sich sein geliebtes Rad abschminken kann, bin ich hoffentlich schon über alle Berge.

»Möchtest du ’n Foto?«, frage ich, als er sich immer noch nicht rührt.

Der zuckt nicht mal mit der Wimper, als er stoisch antwortet: »Nein, danke. Hör zu... wenn ich dich mit rein nehme, hältst du die Klappe, bis wir im ersten Stock sind, verstanden?«

»Hältst du mich für ’nen Köter, oder was? Wenn ich dich mit rein nehme...«, äffe ich ihn nach, was er aber nicht besonders lustig zu finden scheint.

»Sei einfach leise, okay?«

Ich kann mir ein kleines Grinsen nicht verkneifen und trete noch einen Schritt weiter auf ihn zu, bis ich dicht vor ihm stehe und ihn von unten her anblinke. Aus dieser Perspektive heraus kommen meine langen, dichten Wimpern in Kombination mit dem hellen Grün meiner Augen besonders gut zur Geltung – und das weiß ich auch.

»Wieso?«, säusle ich. »Hat jemand was dagegen, wenn du dir einen Übernachtungsgast mit nach Hause nimmst?«

Er reagiert mit der einzigen Empfindung, mit der ich absolut nicht gerechnet hätte: Gleichmut. Die meisten sind stinksauer und die restlichen zutiefst aufgegeilt. Ihn scheint’s schlicht nicht zu interessieren.

»Ja – ich.« Er packt mich wieder am Arm, als wäre ich irgendein lästiges Gepäckstück. Der glaubt auch, dass ich nur so aufnahmefähig bin, was? »Wenn du also mit rein willst, tust du, was ich dir sage. Und in diesem Moment bedeutet das: Klappe halten.«

»Meine Fresse, geht klar«, brummle ich ein bisschen eingeschnappt und warte kommentarlos darauf, dass er endlich die behämmerte Tür aufschließt. Wenn’s heute Nacht schön warm ist, kann ich wohl auch mal zwei Sekunden die Zähne zusammenbeißen.

Er schiebt mich vor sich her in einen winzig kleinen Hausflur rein, von dem aus eine Treppe nach oben und eine nach unten führt. Links ist eine Tür aus dunklem Holz mit einem Spion – offensichtlich eine Wohnung – und den restlichen Platz nimmt ein gigantischer Schirmständer ein, in dem genau ein mickriger Schirm steckt.

Was jedoch am schlimmsten ist, ist, dass es extrem stark nach Essen riecht; warmem, selbst gekochtem Essen. Mir läuft das Wasser augenblicklich im Mund zusammen, so dass ich kaum schlucken kann, und mein Magen zieht sich beinahe schmerzhaft fest zusammen, ehe er laut losröhrt. Shit.

Von hinten stößt mich Vince unsanft an, woraufhin ich ihn verärgert über die Schulter anblitze. »Als ob ich da was für könnte!«

Er macht große Augen, wohl weil ich mein Schweigegelübde gebrochen habe, und scheucht mich dann die Treppe nach oben. Bevor wir jedoch oben ankommen, ruft plötzlich jemand: »Vincent?«

»Mist«, höre ich ihn zischen, dann brüllt er lauter zurück: »Ich komme gleich!«

Die Person scheint das nicht zu interessieren, weil sie besorgt meint: »Du bist spät dran. Ist was passiert?« Gleichzeitig wird ein Schlüssel im Schloss der unteren Tür herumgedreht und Vince drückt mir hektisch seinen in die Hand.

»Geh’ schon mal vor. Und verhalt dich ruhig!«

»Ja, ja, ich hab’s begriffen, bin ja nich’ blöd.«

»Dann mach!«, drängelt er und schiebt mich die letzten Stufen zur ersten Etage hoch, während er die Treppe wieder runterpoltert. Täusche ich mich oder wackelt das ganze Haus dabei? Die Baufirma muss ja eindeutig was von ihrem Job verstanden haben!

»Vincent?«

Die Tür im Erdgeschoss ist mittlerweile offen, aber da ich oben ebenfalls schon in die Wohnung geschlüpft bin, kann ich die Person unten nicht sehen. Der Stimme nach zu urteilen, eine weibliche, ältere Person. Sehr viel älter. Seine... Großmutter? Warum wohnt ein Kerl wie Vince – der doch bestimmt schon Student ist? – über seiner Großmutter? Würd’ mich ja total kirre machen, wenn ich als wilder Student immer einen so mühseligen Aufpasser an der Backe hätte. Kann ja keine Partys feiern und kein nix, ohne dass seine Omi unten aus ihrem Bettchen fällt.

Trotzdem mich der leckere Essensgeruch halb wahnsinnig vor Hunger macht, lasse ich die Wohnungstür einen Spalt breit auf und hocke mich neugierig dahinter, um dem anheimelnden Gespräch zu lauschen.

»Entschuldige, ich habe noch schnell was hoch gebracht.«

Was? Ich bin kein Was!

»Ah.« Die Alte lacht rau. »Verstehe schon, es geht auf Weihnachten zu, hm? Aber wir haben doch schon darüber gesprochen, Vincent. Du musst mir nichts schenken.«

»Ich möchte aber.«

Wahnsinn, wie aalglatt der lügen kann, denn ich werde ja wohl kaum das Weihnachtsgeschenk für seine Großmutter sein.

»Schau mal, Oma – ein zweiter Enkel! Nur für dich! Willst du ihn nicht auspacken?« – Nee, nie im Leben.

»Ach, Junge«, seufzt sie. »Kauf’ dir von deinem Geld lieber was Anständiges. Immerhin arbeitest du so hart dafür.«

Pff, an ein paar Tagen die Woche, und das auch nur vor Weihnachten, ein bisschen Glühwein ausschenken – was kann daran schon hart sein? Ich meine, nicht, dass ich das schon mal gemacht hätte, aber die Stellenbeschreibung hört sich nach einer für Idioten an.

»Möchtest du noch etwas essen? Du bist doch bestimmt ganz durchgefroren?«

Ha! Wenn hier einer durchgefroren ist, dann ja wohl ich! Vince hat es die ganze Zeit wenigstens schön windgeschützt gehabt und einen heißen Bottich Glühwein direkt vor der Nase. Und Kakao. Und Kinderpunsch. Und weiß der Teufel, was noch alles.

»Ich habe noch ein Schnitzel und Kartoffeln für dich. Gemüse ist auch noch da.«

WAS?! Her damit!

Unvermittelt fängt mein Magen wieder zu grollen an wie ein Bär, dem man auf den Schwanz getreten ist. Fuck, wie hoch ist wohl die Chance, dass er was von den Leckereien für mich mit nach oben nimmt? Oder gleich oben isst?

Verschwindend gering, schätzungsweise.

Aber irgendetwas muss ich jetzt essen!

Mit einem Ohr kriege ich noch mit, dass Vince dankend ablehnt – dieser Volltrottel! –, was er dann aber noch zu sagen hat, bekomme ich nicht mehr mit, weil ich schon auf der Suche nach was zu essen durch die Wohnung schleiche.

Der Flur ist lang und zieht sich quer zur Eingangstür durch die ganze Wohnung. Ich wende mich zuerst der Tür mir schräg gegenüber zu und finde dahinter ein mit lauter Gerümpel voll gestelltes Zimmer vor. Weiß der Kuckuck, was das ursprünglich mal gewesen ist, jetzt scheint es der Lagerraum für alles Mögliche zu sein. Ich sehe zwei große, klobige Schränke, zig Kisten und Kartons, Lampen, einen Koffer und noch mehr Kram. Ganz vorne links scheint Vince ein paar Putzsachen aufzubewahren. Staubsauger, Wischer, Putzmittel... was der gute Hausmann halt so braucht.

Aber eindeutig nicht die Küche.

Ich schließe die Tür wieder und begebe mich nach rechts, wo noch zwei Türen auf mich warten. Die linke steht sperrangelweit offen und dahinter kann ich so etwas wie ein Wohnzimmer erkennen. Die rechte ist leicht angelehnt und sieht stark nach Küche aus.

Hungrig schlüpfe ich hinein und reiße als erstes die Kühlschranktür auf.

Heilige Scheiße! Lebt der Kerl nur von Luft und Liebe, oder was?!

Ich greife nach dem einzigen Joghurtbecher da drin und stelle grimmig fest, dass er Donnerstag abgelaufen ist. Scheiß drauf, die schreiben das Verfallsdatum eh nur zur Zierde hin.

Ich werfe die Kühlschranktür zu und bin gerade dabei, die Schubladen nach einem Löffel zu durchstöbern, als Vince zur Tür rein kommt.

»Scheiße.« Er schließt die Tür hinter sich. »Nennst du das leise?«

»Wieso?« Ich sehe nicht mal auf. »Du bist doch jetzt oben, kannst doch genauso gut du sein. Außerdem hätte deine Oma sicher nichts dagegen, wenn du deinen Freund bei dir übernachten lässt. Ganz harmlos. Musst da mal ein bisschen kreativer werden.«

»Du hast gelauscht«, stellt er beinahe etwas erschüttert fest.

»Ich durfte mich doch nicht bewegen«, feixe ich über die Schulter und ziehe dann endlich einen Löffel aus einer Schublade heraus. »Ta-da! Guten Appetit.« Ich reiße den Joghurt auf. »Du solltest übrigens echt mal deinen Kühlschrank auffüllen, Vince. Da finde ich ja in jedem Mülleimer mehr zu essen.« Nicht, dass ich schon mal aus einem Mülleimer gegessen hätte – zum Teufel, nein! Aber die meisten sind besser gespickt als sein Kühlschrank.

Er verzieht ein wenig angewidert das Gesicht, als würde ihm allein schon bei der Vorstellung übel werden. Dann jedoch meint er beinahe gequält: »Vince?«

»Klar.« Genüsslich schiebe ich mir den nächsten Löffel zwischen die Lippen. »Vincent ist ja wohl voll für’n Arsch.«

»Wenn du das sagst.«