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Impressum
Anschrift des Autors:
Prof. Dr. Dr. Kai Vogeley
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Uniklinik Köln
Kerpener Straße 62
50937 Köln
E-Mail: kai.vogeley@uk-koeln.de
Dieses E-Book ist auch als Printausgabe erhältlich
(ISBN 978-3-621-28360-1)
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2., überarbeitete Auflage 2016
1. Auflage 2012, Beltz, Weinheim, Basel
© Beltz Verlag, Weinheim, Basel 2016
Werderstraße 10, 69469 Weinheim
Programm PVU Psychologie Verlags Union
http://www.beltz.de
Lektorat: Antje Raden
Herstellung: Lelia Rehm
Umschlagbild: Getty Images / Colin Anderson
E-Book: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
ISBN 978-3-621-28361-8

Inhaltsübersicht

Geleitwort
Vorwort zur 2. Auflage
Vorwort zur 1. Auflage
1»Menschliche Begegnungen
2»Problemzonen
3»Krankheitsbegriff und Klassifikation
4»Diagnosestellung
5»Ursachen und Forschungsmethoden
6»Behandlung und Betreuung
7»Anders sein
Danksagungen
Literaturempfehlungen
Informationen zum Autor
Informationen zur Kölner Spezialambulanz »Autismus im Erwachsenenalter«
Informationen zu »autismus Deutschland e.V.«
Sachwortverzeichnis

Inhalt

Vorwort zur 2. Auflage
Vorwort zur 1. Auflage
1Menschliche Begegnungen
1.1Personen und Dinge
1.2Verbale Kommunikation
1.3Nonverbale Kommunikation
1.4Situation und Kontext
1.5Vorwissen über Personen
1.6Integration und Interaktion
1.7Evolutionäre Entwicklung
1.8Individuelle Entwicklung
1.9Die beiden »sozialen Gehirne«
2Problemzonen
2.1Mentalisierungsdefizit
2.2Begegnungen mit anderen
2.3Sprachliche Kompetenz
2.4Gestik und Mimik
2.5Regelmäßigkeit und Rituale
2.6Verlauf über die Lebensspanne
2.7Die »doppelte Unsichtbarkeit«
3Krankheitsbegriff und Klassifikation
3.1Krankheitsbegriff in der Psychiatrie
3.2Psychische Störungen als Störungen der Kommunikation
3.3Klassifikation psychischer Störungen
4Diagnosestellung
4.1Wann liegt eine autistische Störung vor?
4.1.1Kernsymptome autistischer Störungen
4.1.2Alternative Kriterien
4.2Patienten-Gespräch
4.2.1Eigen-Anamnese
4.2.2Fremdanamnese
4.2.3Strukturiertes Interview
4.3Testpsychologische Untersuchungen
4.4Weitere diagnostische Hilfsmittel
4.5Andere Erkrankungen
4.5.1Abgrenzbare Erkrankungen
4.5.2Begleiterkrankungen
5Ursachen und Forschungsmethoden
5.1Modelle psychischer Störungen
5.2Genetische Faktoren
5.3Geschlechtsunterschiede
5.4Vorgeburtliche Risikofaktoren
5.5Psychologische Prozesse
5.6Veränderungen der Gehirnfunktionen
6Behandlung und Betreuung
6.1Ziele der Betroffenen
6.2Psychotherapie
6.3Selbsthilfegruppen
6.4Berufliche und soziale (Wieder-)Eingliederung
6.5Behandlung mit Medikamenten
6.6Wirksamkeit von Therapien
7Anders sein
7.1Eigene Identität
7.2Akzeptanz in der Gesellschaft
Sachwortverzeichnis

Geleitwort

Lange Zeit wurden autistische Störungen als behandlungsbedürftige Auffälligkeiten angesehen, die nur im Kindes- und Jugendalter vorkommen. Es waren ja auch Kinder- und Jugendpsychiater, die diese Störungen erstmals beschrieben haben. So beschrieb der austro-amerikanische Kinder- und Jugendpsychiater Leo Kanner (1896–1981) im Jahre 1943  den »Frühkindlichen Autismus« (auch »Kanner-Syndrom« genannt) und der österreichische Pädiater Hans Asperger (1906–1980) die »Autistische Psychopathie«, die heute nach ihm als »Asperger-Syndrom« benannt wird. Der Begriff Autismus wurde aber schon viel früher von dem Schweizer Psychiater Eugen Bleuler (1911) eingeführt, der mit dieser Bezeichnung ein Grundsymptom der Schizophrenie identifizierte. Bleuler charakterisierte mit der Bezeichnung Autismus das Verhalten schizophren Erkrankter, die dazu neigten, sich in eine gedankliche Binnenwelt zurückzuziehen, zunehmend weniger Kontakt zu ihren Mitmenschen aufrecht erhielten und die sich traumhaft-phantastischen Gedanken in sich gekehrt und der Umwelt abgewandt hingaben. Diesen Begriff aufnehmend beschrieben nahezu gleichzeitig Leo Kanner und Hans Asperger autistische Störungsbilder bei Kindern. Der Unterschied zu dem von Bleuler beschriebenen Phänomen besteht aber darin, dass sich autistische Kinder nicht aktiv in eine Phantasiewelt zurückziehen, sondern bereits primär (von Geburt an) unfähig bzw. nur eingeschränkt fähig sind, natürliche soziale Kontakte zu entwickeln mit der Folge, dass sie dadurch in ihrer gesamten Entwicklung nachhaltig beeinträchtigt sind. Während der frühkindliche Autismus (Kanner-Syndrom) dadurch gekennzeichnet ist, dass, neben den Beeinträchtigungen in der sozialen Interaktion und Kommunikation, auch auffällige stereotype Verhaltensweisen dominieren, ebenso wie eine Sprachentwicklungsverzögerung und häufig eine Minderung der intellektuellen Funktionen, ist dies beim Asperger-Syndrom anders. Hier ist die Beeinträchtigung der Interaktion und Kommunikation weniger ausgeprägt, es findet sich seltener ein ausgeprägtes stereotypes Verhalten und vor allem keine Sprachentwicklungsverzögerung und keine nennenswerten Beeinträchtigungen der intellektuellen Funktionen.
Unter der Bezeichnung »hochfunktionaler Autismus« wurde zunächst eine Variante des frühkindlichen Autismus (Kanner-Syndrom) verstanden, bei dem zwar die Grundsymptome autistischer Störungen festzustellen sind, aber eine weitgehend normale kognitive Entwicklung stattfindet. In der Folgezeit haben verschiedene Arbeitsgruppen versucht, den hochfunktionalen Autismus vom Asperger-Syndrom abzugrenzen, was jedoch nicht gelungen ist. Deshalb geht man heute im sogenannten Spektrum-Ansatz autistischer Störungen davon aus, dass sich beide Störungsmuster weitgehend überlappen und insofern nicht scharf voneinander abzugrenzen sind.
Diesem Personenkreis ist das Buch von Kai Vogeley gewidmet, das sich auf erwachsene Menschen mit derartigen Störungsmustern bezieht. Diese Betrachtung ist insofern neu, als dass Jahrzehnte hindurch das Syndrom »hochfunktionaler Autismus« im Erwachsenenalter nicht existent schien, obwohl man schon lange wusste, dass die Störung »sich nicht auswächst«, sondern vom Kindesalter über das Jugendalter im Erwachsenenalter fortdauert. Vielleicht wurde das Störungsmuster auch im Erwachsenenalter deshalb nicht als Autismusvariante erkannt, weil die Symptome nicht so schwerwiegend in Erscheinung traten wie bei Kindern und Jugendlichen, die ja bereits im Kindergarten und in der Schule so auffällig werden, dass in der Regel ärztliche Hilfe in Anspruch genommen werden muss. Von daher stellt sich auch die Frage, ob sich jene Menschen, bei denen die Diagnose »hochfunktionaler Autismus« erst im Erwachsenenalter gestellt wird, von jenen unterscheiden, die durch diese Störung bereits im Kindes- und Jugendalter auffällig werden.
Es ist das große Verdienst von Kai Vogeley, dass er dieser Gruppe von Menschen sein klinisches und wissenschaftliches Interesse gewidmet hat, klinisch durch die Gründung einer Spezialambulanz an der Psychiatrischen Universitätsklinik zu Köln und wissenschaftlich durch eine Reihe von Projekten, in denen es darum geht, im Rahmen eines neurokognitiven Ansatzes die Ursachen zu ergründen und das Erleben und Verhalten dieser Personengruppe zu verstehen und zu erklären.
Das Buch geht von der Alltagssituation der menschlichen Begegnung aus und erläutert schrittweise die Besonderheiten der verbalen und nonverbalen Kommunikation, die Abhängigkeit der Kommunikation vom Kontext, auch die Art und Weise, wie wir das Verhalten von Menschen intuitiv erfassen können und wie unser Gehirn in der Lage ist, soziales Verhalten wahrzunehmen und zu steuern.
Unter der Überschrift Problemzonen werden die Varianten des »Anders-Seins« autistischer Menschen beschrieben und es wird aufgezeigt, warum sie bestimmte Situationen und Interaktionen anders verstehen als nicht-autistische Menschen und dadurch häufig in kommunikative Missverständnisse geraten. Aus den inadäquaten Verhaltensweisen und den kommunikativen Missverständnissen entsteht sehr oft die Einsicht, sowohl bei den Betroffenen selbst als auch bei ihren Angehörigen, dass eine diagnostische Einschätzung erforderlich ist. Diese wird im vierten Kapitel des Buches ausführlich beschrieben unter Hinweis auf Symptomatik, Klassifikation, Gesprächsführung, testpsychologische und andere diagnostische Hilfsmittel.
Das fünfte Kapitel, das von den Ursachen handelt, gibt einen aktuellen und allgemeinverständlichen Überblick über die zahlreichen Faktoren, die an der Entstehung von Autismusspektrumstörungen beteiligt sind.
Im sechsten Kapitel schließlich geht es um die Möglichkeiten der Intervention. Hier, wie auch bei anderen psychischen Störungen, kommt es darauf an, klare Behandlungsziele zu definieren und diese nach Maßgabe der verfügbaren und empirisch fundierten Erkenntnisse zu verfolgen. Dabei ist von vornherein klar, dass es keine einzige Behandlungsmaßnahme gibt, die allein erfolgversprechend ist, sondern dass nur ein mehrdimensionaler Ansatz unter Einbeziehung von Umfeldfaktoren weiterführt. In diesem Ansatz haben psychotherapeutische Maßnahmen ebenso wie der Einsatz von Medikamenten und rehabilitative Maßnahmen ihren Platz.
Kai Vogeley ist ein Buch gelungen, das allen, die sich mit Menschen befassen, die an hochfunktionalem Autismus leiden, Orientierung bietet, über typische Symptome und Problemfelder aufklärt, Erklärungen für Verhaltensweisen gibt, die auf den ersten Blick unverständlich erscheinen, und Wege aufzeigt, wie über eine kompetente Diagnostik und Therapie eine angemessene Eingliederung in das Familien- und Berufsleben erreicht werden kann. Das Buch ist in verständlicher Sprache verfasst und führt, über die Beschreibung von Beispielen und Situationen, zu einem tieferen Verständnis einer Variante menschlichen Verhaltens, die häufig durch eine besondere Originalität fasziniert, aber immer auch Hilfe für die Betroffenen notwendig macht.
Marburg, im Frühjahr 2012
Prof. Dr. Dr. Helmut Remschmidt

Vorwort zur 2. Auflage

Das öffentliche Interesse an Autismus im Erwachsenenalter ist ungebrochen. Darüber hinaus besteht sowohl in wissenschaftlicher Hinsicht als auch aus der Perspektive von den betroffenen Personen mit Autismus selbst, ihren Angehörigen und aus Sicht der verschiedenen Berufsgruppen, die sich um die Betreuung von Menschen mit Autismus bemühen, nachhaltig großes Interesse am Thema Autismus. Dieser Ratgeber erscheint nun in seiner zweiten Auflage. Ich freue mich aus zwei Gründen darüber. Zum einen ist das ein Zeichen dafür, dass dieser Ratgeber offenbar eine größere Gruppe von Menschen erreicht hat, die sich zum Thema Autismus im Erwachsenenalter informieren wollen, damit ist die wichtigste Funktion dieses Ratgebers erfüllt. Zum anderen gibt mir die zweite Auflage die Möglichkeit, den Ratgeber zu aktualisieren. Der Ratgeber ist nun komplett durchgesehen, korrigiert und auch substanziell erweitert. Die Erweiterungen beziehen sich auf die folgenden Aspekte.
Ich habe mich dazu entschlossen, in der zweiten Auflage durchgängig von Autismus-Spektrum-Störungen zu sprechen, entsprechend wird dieser Begriff auch bereits im Untertitel verwendet. Ich nehme damit Befunde aus der medizinischen Weltliteratur auf, die zeigen, dass zwischen den verschiedenen Formen von Autismus, die in der bis heute in Deutschland gültigen Klassifikation psychischer Störungen (»International Classification of Disease«, 10. Version, ICD-10) aufgelistet werden, keine scharfe Grenze gezogen werden kann. Vielmehr scheint es innerhalb des Spektrums autistischer Störungen nur graduelle Unterschiede zu geben. Entsprechend wurde in der Neufassung der nordamerikanischen Klassifikation psychischer Störungen aus dem Jahr 2013 (»Diagnostic and Statistical Manual«, 5. Version, DSM-5) die Differenzierung in verschiedene Unterformen von Autismus aufgegeben. Diesem Konzept eines Spektrums autistischer Störungen folgen auch die in 2016 veröffentlichten S3-Leitlinien der »Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie« (DGKJP) und der »Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde« (DGPPN). Die bisher gebräuchlichen Differenzierungen finden Erwähnung, werden aber nun dem Konzept eines Spektrums nach geordnet. Der Einfachheit halber werde ich durchgängig von Autismus sprechen und nur dann, wenn es um diagnostische Aspekte geht, auf den Begriff Autismus-Spektrum-Störungen zurückgreifen. Durchgängig wird im Text auf relevante Veränderungen hingewiesen, die in der Klassifikation DSM-5 eingeführt worden sind.
Ich führe in der zweiten Auflage des Ratgebers nun die Metapher der »doppelten Unsichtbarkeit« für die autistische Verfassung ein. Mit der ersten Unsichtbarkeit ist gemeint, dass psychische Störungen oder Normvarianten sämtlich unsichtbar sind, insofern, als sie das innere Erleben betreffen und psychische Störungen im Allgemeinen nicht unmittelbar sichtbar sind. Diese erste Unsichtbarkeit hat Autismus mit anderen psychischen Störungen gemeinsam. Hinter der zweiten Unsichtbarkeit verbirgt sich der Aspekt, dass die Kernschwierigkeiten, die Menschen mit Autismus haben, darüber hinaus in einem zweiten Sinn unsichtbar sind, weil sie ganz überwiegend die nonverbale Kommunikation betreffen. Diese nutzen wir üblicherweise automatisch oder intuitiv, ohne über ihre Verwendung und Wahrnehmung nachzudenken. Ich hoffe, dass damit die spezifischen Besonderheiten des »Andersseins« autistischer Verfassungen noch besser verdeutlicht werden können.
Eine wesentliche konzeptuelle Erweiterung, die in der ersten Auflage noch nicht in der gleichen Weise ausgeführt ist, betrifft das Verständnis von psychiatrisch relevanten Störungen als Kommunikationsstörungen. Das ist für Autismus von besonderer Relevanz, weil sich Kernsymptome von Autismus auf die Kommunikationsfähigkeit beziehen oder, präziser, auf das Format ihrer Kommunikation, ob sie also über Sprache oder verbal vermittelt ist oder nonverbal. Psychiater, Psychologen und Anthropologen haben versucht, diesen Gedanken zu verfolgen und zu entwickeln (Harry Stack Sullivan, Jürgen Ruesch, Gregory Bateson, Paul Watzlawick, Johann Glatzel). Diese Grundüberlegung wird nun in den Ratgeber aufgenommen und skizziert, ohne dass der Charakter eines in die Thematik einführenden Ratgebers verlassen werden soll. Eine Konzeption von psychischen Störungen als Störungen der Kommunikation hat auch Konsequenzen für den Krankheitsbegriff psychischer Störungen.
Ich versuche, in der neuen Auflage über weite Strecken in diesem Ratgeber den Begriff der autistischen Verfassung zu benutzen, um damit eine nicht wertende Beschreibung des Andersseins von Menschen mit Autismus zu vermitteln. Ich benutze aber zugleich auch weiter den Begriff der Störung. Mir ist bewusst, dass nicht alle Menschen mit Autismus diesem Verständnis von Autismus als Störung folgen wollen oder können. Viele Menschen mit Autismus, die wir in den mittlerweile 10 Jahren, in der die Sprechstunde existiert, kennengelernt haben, fühlen sich nicht gestört oder krank oder behindert, sondern lediglich als »anders« oder »nicht passend« im Sinne einer autistischen Verfassung. Ich akzeptiere und respektiere das. Aber es gibt auf der anderen Seite auch Personen, die unter der autistischen Verfassung leiden und die Hilfe vom Gesundheits- und Sozialsystem brauchen. Aus diesen pragmatischen Gründen behalte ich auch den Störungsbegriff bei. Dieser Gedanke wird in den Ausführungen zum Krankheitsbegriff aufgenommen. Vor diesem Hintergrund wird auch die Akzeptanz, die Menschen mit Autismus von nicht-autistischen Menschen entgegengebracht bekommen sollten, nun deutlich betont.
Weitere Themen, die in der zweiten Auflage stärker ausgearbeitet sind, sind die Themen der Geschlechtsdifferenzen zwischen Frauen und Männern mit Autismus sowie die berufliche Integration oder Re-Integration von Menschen mit Autismus. Außerdem wurden die Ausführungen zu von Autismus abgrenzbaren Erkrankungen im Sinne sogenannter medizinischer Differenzialdiagnosen erweitert.
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit werden im Folgenden nicht beide Geschlechtsformen durchgehend genannt – selbstverständlich sind jedoch immer Frauen und Männer gleichermaßen gemeint.
Die grundsätzliche Struktur des Buches ist gegenüber der ersten Auflage nicht verändert. Der Ratgeber wendet sich auch in seiner aktualisierten Form wieder an einen breiten Leserkreis, der nicht nur Menschen mit Autismus selbst, sondern auch alle ihnen verbundenen Personen einschließen soll. Wie bereits in der ersten Auflage soll der Ratgeber weiter dazu beitragen, das Thema Autismus in der Öffentlichkeit bekannt zu machen, um damit Menschen mit Autismus die Teilhabe am beruflichen, kulturellen und gesellschaftlichen Leben zu erleichtern.
Köln, im Frühjahr 2016
Prof. Dr. Dr. Kai Vogeley

Vorwort zur 1. Auflage

Wir begegnen in unserem Alltag immer wieder anderen Menschen. Das ist ganz unvermeidlich. Diese Begegnungen finden unter unterschiedlichen Rahmenbedingungen statt, nämlich in der Familie, in der Freizeitgestaltung mit Freunden und Bekannten, am Arbeitsplatz oder auch beim Einkaufen, bei Behördengängen oder Arztbesuchen. Manchmal sind uns die Personen, denen wir begegnen, gut bekannt. Wir können dann recht gut vorhersagen, was sie denken oder fühlen oder wünschen oder »was in ihnen vorgeht«. Das ist aber nicht in gleichem Umfang der Fall bei Menschen, die wir bisher nicht ausreichend kennenlernen konnten. Wir müssen uns dann spontan und intuitiv in diese Personen »hineinversetzen« oder – wie es ein englisches Sprichwort bildlich ausdrückt – »in ihre Schuhe stellen«, also ihre Perspektive übernehmen, um angemessen mit ihnen kommunizieren zu können. Wir nutzen dabei zu einem großen Anteil auch Informationen, die nicht sprachlich vermittelt sind, also nonverbale Signale. Dazu gehören Gestik, Mimik und Blickverhalten, die eine Person zum Ausdruck bringt. Auf dieser Grundlage können wir eine Vorstellung von dem inneren Erleben dieser Person bekommen. Diese Leistung, sich einen Eindruck von der anderen Person zu bilden, ist besonders dann gefordert, wenn die Person möglicherweise verbal etwas anderes zum Ausdruck bringt als nonverbal. So kann eine Person etwa sagen, dass es ihr gut gehe, aber dennoch über Mimik und Gestik genau den gegenteiligen Eindruck vermitteln. Wir müssen dann die verschiedenen Signale erst ordnen, integrieren und abschließend gemeinsam bewerten.
Ebenso wie die Personen selbst können uns auch die Umstände, unter denen wir anderen Personen begegnen, gut bekannt sein oder nicht. In bekannten Situationen folgen die Begegnungen mit anderen häufig bestimmten Regeln: So folgen etwa Arzt-Patienten-Gespräche einem bestimmten formalen Ablauf. Die Fragen, die Ärzte ihren Patienten stellen, sind meist gut für die Patienten vorhersehbar. Weniger gut oder gar nicht vorhersehbar dagegen ist das Verhalten anderer in Situationen, die einen informellen Charakter haben. Solche Situationen wie beispielsweise das Zusammentreffen mit anderen auf einer Party oder beim Einkauf oder in einem öffentlichen Verkehrsmittel sind vergleichsweise wenig oder gar nicht durch Ablaufregeln bestimmt. Wir können auf keine Regeln mehr zurückgreifen, die vorgeben würden, wie man sich verhalten soll, und wir müssen uns auf unsere »Intuitionen« verlassen.
Solche Überlegungen, die unseren Blick auf die einzelnen Teilschritte lenken, die bei der Interaktion und Kommunikation mit anderen Menschen relevant werden, mögen für viele Leser auf den ersten Blick künstlich oder sogar überflüssig erscheinen. Die meisten nicht-autistischen Menschen würden vermutlich sagen, wir verhalten uns eben einfach immer »irgendwie«, mehr oder weniger erfolgreich, und in aller Regel gibt es gar keinen Bedarf darüber nachzudenken, wie wir das eigentlich genau tun und welche Aspekte hier genau zu berücksichtigen sind. Hier aber liegt eine Hauptschwierigkeit autistischer Personen. Sie machen häufig »Fehler«: Sie schätzen die innere Verfassung anderer falsch ein oder machen Äußerungen, die auf andere ungewollt beleidigend oder kränkend wirken und damit missverstanden werden. Diese Prozesse, die unsere Begegnungen mit anderen steuern, verlaufen bei Menschen mit Autismus also offenbar anders. Oft sind wir uns dieser Phänomene und der zugrunde liegenden Prozesse gar nicht bewusst, weil sie automatisch oder spontan ablaufen. Daraus entsteht eine weitere Schwierigkeit beim Erkennen und Verstehen von Autismus: Das mitunter befremdlich wirkende Verhalten autistischer Menschen wird von der ungeschulten und nicht vorbereiteten Umgebung zwar wahrgenommen, in der Regel aber gar nicht als Teil einer Störung erkannt. Autismus ist »äußerlich« nicht zu erkennen, während jedem von uns zum Beispiel direkt klar ist, dass eine Person mit einer Beinverletzung weniger gut laufen kann.
In den letzten Jahren ist ein stetig wachsendes Interesse am autistischen Anderssein zu verzeichnen, das sowohl in der Öffentlichkeit als auch in wissenschaftlicher Hinsicht deutlich wird. Das stark wachsende öffentliche Interesse zeigt sich insbesondere in Medienbeiträgen, die Fernsehsendungen, Kinofilme (z. B. »Rain Man«), Berichte in Printmedien und viele Buchpublikationen umfassen. Viele Betroffene, die uns in Köln in unserer Spezialambulanz aufgesucht haben, kommen aufgrund solcher Medienberichte zum Thema Autismus zu dem Verdacht, selbst von Autismus betroffen zu sein. Die Spezialambulanz »Autismus im Erwachsenenalter« ist an der Kölner Psychiatrischen Universitätsklinik angesiedelt. Sie bietet erwachsenen Personen, bei denen der Verdacht auf eine Störung im Bereich des Autismus-Spektrums besteht, Diagnosestellung und Beratung. Für autistische Personen, die in Köln oder Umgebung wohnen, können auch therapeutische Angebote gemacht werden. Andere kommen darauf, weil Verwandte, beispielsweise eigene Kinder, von Autismus betroffen sind.
Es sind aber auch wissenschaftliche Entwicklungen zu verzeichnen, die zu einem verstärkten Interesse an Autismus geführt haben. Hier ist besonders die moderne Hirnforschung zu nennen, die heute mittels moderner Technologien Denkprozesse und ihre Hirnkorrelate auch an Lebenden studieren kann. Dabei handelt es sich um die funktionell bildgebenden Verfahren des Gehirns. In diesem Feld der sogenannten »kognitiven Neurowissenschaft« ist in den letzten Jahren ein besonderes Interesse an Prozessen entstanden, die der Interaktion und Kommunikation mit anderen Menschen dienen. Diese Forschungsrichtung wird auch als »soziale Neurowissenschaft« oder »sozial kognitive Neurowissenschaft« bezeichnet. Sie untersucht, welche neuralen Mechanismen den Prozessen zugrunde liegen, die bei der Interaktion und Kommunikation mit anderen benötigt werden: Wie gelingt es uns, uns spontan in andere Menschen hineinzuversetzen, zuverlässige Eindrücke davon zu gewinnen, wie es anderen Menschen geht, wie sie sich fühlen, wie sie denken? Gerade diese Fähigkeiten fallen autistischen Menschen besonders schwer, sodass hier ein großer Forschungsbedarf besteht und erfreulicherweise auch großes Forschungsinteresse entstanden ist.
Dieses Buch widmet sich vor diesem Hintergrund dem Hochfunktionalen Autismus im Erwachsenenalter. Die Bezeichnung »hochfunktional« bezieht sich darauf, dass bei dieser Personengruppe keine relevante Intelligenzminderung vorliegt. Diese Gruppe von autistischen Personen erreicht häufig das Erwachsenenalter, ohne dass bis dahin die autistische Störung diagnostiziert worden wäre. Das vorliegende Buch soll daher den Lesern erste Informationen über die Erscheinungsformen autistischen Erlebens und Verhaltens vermitteln. Es möchte darüber hinaus aber auch über Ursachen, Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten informieren. Schließlich wird im Schlusskapitel darauf eingegangen, welche Auswirkungen die Diagnose Autismus für die betroffene Person und ihre Angehörigen hat.
Im ersten Kapitel wird analysiert, wie die Verarbeitung sozialer Information genau abläuft und welche internen und externen Faktoren dabei eine Rolle spielen. Im zweiten Kapitel erfolgt dann eine Erläuterung des Störungsbildes des Hochfunktionalen Autismus mit den Besonderheiten, die im Erwachsenenalter zu beobachten sind. Im Anschluss wird im dritten Kapitel die Diagnosestellung aus ärztlicher Sicht besprochen. Dies führt zum vierten Kapitel, das mögliche Ursachen für die Entstehung von Autismus diskutiert. Behandlungsmöglichkeiten und der Umgang mit autistischen Personen werden im fünften Kapitel erörtert. Das Buch wendet sich damit an einen breiten Leserkreis, der nicht nur (potenziell) Betroffene umfassen soll, sondern auch alle, die mit autistischen Menschen in Kontakt sind, wie Familienangehörige, Freunde, Bekannte oder Arbeitskollegen. Meine Hoffnung ist, dass dieses Buch nicht nur (potenziell) Betroffenen hilft, die autistische Störung schneller zu erkennen und besser zu behandeln, sondern auch dazu beiträgt, das Störungsbild einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, um damit ein tieferes Verständnis zu wecken.
Köln, im Frühjahr 2012
Prof. Dr. Dr. Kai Vogeley

1 Menschliche Begegnungen

Der soziale Mensch. In diesem ersten Kapitel soll einleitend erörtert werden, wie wir mit anderen Menschen in Kontakt treten, wie wir mit ihnen kommunizieren können. Das Thema ist deshalb besonders wichtig, weil es von zentraler Bedeutung für autistische Verfassungen ist. Kontakte mit anderen Menschen erleben wir lebenslang, und es gibt fast keinen Lebensbereich, in dem wir ganz ohne Kontakte zu anderen auskommen können. Lediglich in unserem Privatleben und in unserer Freizeit können wir selbst entscheiden, wie wir unsere Zeit gestalten wollen, ob wir sie mit anderen Menschen verbringen möchten oder nicht. Wir können uns also im Großen und Ganzen anderen Menschen gar nicht konsequent entziehen. Menschen mit Autismus haben im zwischenmenschlichen Bereich in der Regel größere Schwierigkeiten damit, sich in andere Menschen »hineinzuversetzen«. Gerade weil dieser Bereich aber einen so großen Stellenwert in unserem Leben einnimmt und Auswirkungen auf Erfolg und Misserfolg im Berufsleben oder im privaten Alltag hat, ist es wichtig, einerseits Menschen mit Autismus die grundlegenden kommunikativen Prozesse näher zu bringen und andererseits Menschen ohne Autismus auf diese Besonderheiten aufmerksam zu machen.
Verständnis schaffen. Für »außenstehende«, nicht-autistische Menschen werden die Inhalte vermutlich weitgehend »selbstverständlich« klingen. Hier liegt ein wichtiges Ziel des Buches: Es soll nämlich auch Nicht-Betroffenen vor Augen führen, wie wir mit anderen Personen umgehen. Dies ist so wichtig, weil diese eben die Probleme in der Gestaltung zwischenmenschlicher Kontakte nicht haben und sich daher nur schwer in die Situation ihrer autistischen Mitmenschen hineinversetzen können. Mit diesem Umstand sind verschiedene Aspekte verbunden, die im Folgenden besprochen werden. Der vermutlich wichtigste Aspekt dabei ist die Tatsache, dass uns die Leistungen, die zur Kommunikation und Interaktion mit anderen benötigt werden, normalerweise nicht bewusst sind. Mit anderen Worten: Wir müssen gar nicht erst darüber nachdenken, wie wir mit anderen Menschen umgehen, sondern »wir tun es einfach irgendwie«. Wenn es um das Verständnis von Autismus geht, müssen wir aber gerade an diesem Punkt Aufklärung betreiben, weil genau hier die Schwierigkeiten autistischer Menschen liegen. Metaphorisch könnte man auch sagen, dass die Schwierigkeiten, die Menschen mit Autismus in der Interaktion und Kommunikation mit anderen Menschen haben, »unsichtbar« sind.
Kommunikationsleistungen. Wenn wir uns dieses Leistungsbündel, das uns befähigt, mit anderen zu kommunizieren, etwas genauer anschauen, so stellen wir fest, dass es sich um sehr komplexe Fähigkeiten handelt, die uns Menschen auszeichnen, auch wenn uns vieles davon selbstverständlich erscheint.
Grundsätzlich nehmen wir zu Anfang die zentrale Unterscheidung zwischen Personen und Dingen vor. Es wird sich zeigen lassen, dass zwischen diesen beiden Bereichen unserer Wahrnehmung und Beurteilung eine deutliche Differenz besteht. Wir werden dann die verschiedenen Äußerungsformen sprachlich und nicht-sprachlich vermittelter Signale kennenlernen. Weitere bestimmende Faktoren, die bei der Wahrnehmung und Beurteilung anderer Personen eine Rolle spielen, sind mögliches Vorwissen über die Person selbst und der Kontext oder die Situation, in der wir die Person vorfinden. Diese verschiedenen Komponenten müssen insbesondere in der Interaktion mit anderen zusammengeführt werden. Dieses erste Kapitel schließt mit einigen Überlegungen zur Evolution und zur Entwicklung dieses Leistungsbündels und einigen neueren Befunden zu den Grundlagen dieser Leistungen im menschlichen Gehirn.

1.1 Personen und Dinge

Personen oder Menschen unterscheiden sich in mancher Hinsicht von Dingen oder Gegenständen. Wir stoßen auf diese Differenz, wenn wir versuchen, uns den spezifischen Eigenschaften zu nähern, die die Beschäftigung mit anderen Menschen ausmacht. Dabei scheint uns die Welt der Dinge meist leichter verständlich und zugänglich und klarer aufgebaut als die Welt der Personen, sodass ich zunächst mit den Dingen beginnen möchte.
Gegenständliches – Die Welt der Naturgesetze
Allgemeingültigkeit. Mit Dingen sollen hier physikalische Objekte in einem alltagssprachlichen Sinn gemeint sein. Diese Dinge sind nicht lebendig. Darunter fallen also Gegenstände wie Tische, Computer oder Steine. Dinge in diesem breiten Wortsinn haben gemeinsam, dass sie in ihrem Verhalten Naturgesetzen folgen und dass die Kenntnisse von Naturgesetzen ausreichen, um das Verhalten dieser Gegenstände klar und eindeutig vorherzusagen. Wenn ich etwa einen Gegenstand wie einen Stein fallen lasse, dann wird er immer auf den Boden oder auf die Erde fallen. Diese Tatsache ist uns durch Beobachtung zugänglich, und es erscheint aus naturwissenschaftlicher Sicht plausibel, dass die Erdanziehungskraft dafür verantwortlich ist, dass der Stein auf den Boden oder die Erde fällt, so oft ich den Stein loslasse. Zwar kann man die Erdanziehungskraft nicht direkt beobachten, aber man kann den Vorgang des Zu-Boden-Fallens beobachten. Das Zu-Boden-Fallen zeigt uns, dass es so etwas wie Erdanziehungskraft geben muss. Dass ein Stein, den ich loslasse, zu Boden fällt, ist eine verlässlich vorhersagbare Tatsache oder Beobachtung. Es ist nicht vorstellbar, dass der Stein in der Schwebe verbleiben oder sich nach oben bewegen wird, wenn ich ihn loslasse (zumindest so lange ich auf der Erde verbleibe und die Erdanziehungskraft auf den Stein einwirkt). In diesem Sinn reichen Kenntnisse über Naturgesetze aus – in diesem Fall Kenntnisse über die Erdanziehungskraft –, um das Verhalten von Dingen im Sinne von physikalischen Objekten oder Gegenständen vorherzusagen. So oft ich den Stein fallen lasse, so oft wird er zu Boden gehen: Zusammenfassend könnte man auch sagen, Dinge folgen »alltagsphysikalisch« beschreibbaren, klaren Regeln, nämlich Naturgesetzen, und ihr Verhalten lässt sich aufgrund ihrer äußerlich sichtbaren Eigenschaften sicher vorhersagen. Wir müssen keine Physiker sein, um das Verhalten von Dingen zu verstehen, sondern wir erlernen diese Zusammenhänge in unserer individuellen Entwicklung schon früh während unserer Kindheit und sind sozusagen »Alltagsphysiker«.
Dabei spielt es hier für diese Überlegung keine Rolle, ob die Dinge aus der Natur stammen, wie beispielsweise Steine, oder ob sie von Menschen erzeugt worden sind, wie beispielsweise Tische oder Computer. Von nachgeordneter Bedeutung ist auch, ob diese Gegenstände »kompliziert« aufgebaut sind und ohne genaue Fachkenntnisse nicht zu »verstehen« sind, wie beispielsweise Computer im Gegensatz zu einem Tisch oder einem Stuhl.
Personen – Die Welt unserer Interpretationen
Dinge sind also charakterisierbar durch dieses klar und sicher vorhersagbare Verhalten, das in der Regel direkt aus den äußerlich sichtbaren Eigenschaften der Dinge abgeleitet werden kann oder aber aus leicht messbaren physikalischen Eigenschaften wie etwa dem Gewicht eines Gegenstandes. Hier liegt ein wichtiger Unterschied zu Personen. Personen sind in ihrem Verhalten nicht ohne Weiteres vorherzusagen, und auch erst recht nicht klar und eindeutig. Mit Personen sollen hier andere Menschen bezeichnet werden, die autonom und selbstbestimmt handeln können und nicht etwa durch Krankheiten oder Verletzungen beeinträchtigt sind wie in Zuständen eingeschränkter Handlungsfähigkeit (z. B. komatöser Zustand).
Uneindeutigkeiten. Was ich zum Ausdruck bringen möchte, lässt sich am besten anhand einer einfachen Interaktion mit einer anderen Person verdeutlichen. Die Interaktion soll hier darin bestehen, dass ich eine andere Person anlächele und nun das Verhalten der anderen Person beobachte. Wenn wir uns eine solche Situation vorstellen, so sind verschiedene Ausgänge denkbar. Die Person, die ich anlächele, kann zurücklächeln. Es kann aber auch passieren, dass sie es nicht tut. Für beide Varianten kann es plausible Erklärungen geben. So ist im Fall, dass die angelächelte Person zurücklächelt, wohl die naheliegende Erklärung, dass sie das Lächeln als ein Zeichen meiner Sympathie für sie auffasst und mit dem Lächeln zum Ausdruck bringen möchte, dass sie mich umgekehrt auch sympathisch findet. Dabei ist die Sache durchaus nicht immer so klar. Denn ich kann mir der Sympathie nicht ohne Weiteres sicher sein. Vielleicht findet sie mich gar nicht sympathisch, sondern möchte nur den Eindruck bei mir erwecken, dass sie mich sympathisch findet. Vielleicht führt sie etwas im Schilde gegen mich und will mich auf diese Weise täuschen. Ob die Person, die mich anlächelt, mir wohlgesonnen ist oder nicht, ist also aus dieser einmaligen Reaktion des Lächelns gar nicht zweifelsfrei zu entnehmen.
Nun kann es aber auch passieren, dass die Person mein Lächeln nicht erwidert. Auch hier sind verschiedene Erklärungen für ihr Verhalten denkbar. Die Person könnte scheu oder schüchtern sein, sodass sie andere Menschen selten oder nie zurück anlächelt. Vielleicht gehen ihr aber auch ähnliche Gedanken durch den Kopf, wie ich sie bei mir vorhin schon angedeutet habe: Sie könnte mein Lächeln nicht ernst gemeint und aufrichtig erleben und befürchten, dass ich mit dem Lächeln etwas bei ihr bewirken und sie manipulieren möchte. Mein Lächeln könnte den Zweck haben, sie zu etwas Bestimmtem bewegen zu wollen, was ich gerne möchte.
Es könnte aber auch Gründe geben, die ganz unabhängig von mir sind. So könnte sie etwa in Gedanken versunken oder schlechter Laune sein und deshalb nicht zurücklächeln.
Komplexe Interaktionen. Wir können an diesem sehr einfachen Beispiel sehen, dass bereits eine derartig einfache Interaktion mit einer anderen Person alles andere als eindeutig oder »einfach zu verstehen« ist. Dabei hat diese Interaktion mit einer anderen Person nicht viel mehr Zeit in Anspruch genommen als die Zeit, die ein Stein benötigt, um zu Boden zu fallen. Sie ist aber um einiges komplizierter, und wir können keine klare, sichere Vorhersage mehr darüber machen, was faktisch passieren wird.
Die Unterschiede zwischen Personen und Dingen können wir uns nun noch einmal zusammenfassend vor Augen führen:
(1) Der erste Unterschied im Verhalten eines Dings (beispielsweise der Stein, der zu Boden geht) gegenüber einer Person (beispielsweise die Reaktion einer Person auf mein Lächeln) ist der, dass das Verhalten der Person nicht in der gleichen Weise vorhersagbar ist wie das Verhalten eines Dings. Während der Stein, den ich loslasse, sicher fallen wird, wird eine andere Person vielleicht mit großer Wahrscheinlichkeit zurücklächeln, aber sie wird niemals sicher zurücklächeln, weil es immer Gründe für die andere Person geben kann, es nicht zu tun.
(2) Ein zweiter Unterschied ist der, dass sich das Verhalten der anderen Person vermutlich über eine Folge von hundert aufeinanderfolgenden Situationen, in denen ich sie anlächele, verändern wird. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass sie hundertmal mein Lächeln erwidern würde, während ein Stein hundertmal zu Boden geht, wenn ich ihn hundertmal fallenlasse. Wir haben gesehen, dass es schon in einem einzigen Fall nicht möglich ist vorherzusagen, was die Person tun wird. Dies ist erst recht der Fall bei sich wiederholenden Ereignissen der gleichen Art. Die andere Person wird mit großer Wahrscheinlichkeit ihr Verhalten verändern, wenn ich meine Geste des Lächelns hundertmal wiederholen würde.
Wir müssten nun also eine ganze Fülle von Überlegungen anstellen, wie ich sie gerade angedeutet habe, und darüber nachdenken, warum sich die Person gerade so verhält, wie sie sich verhält. Das Verhalten der Person wird sich mit großer Wahrscheinlichkeit über die Zeit verändern. Genau wissen wir aber übrigens auch das nicht, wir können hier eigentlich nur mehr oder weniger belastbare Vermutungen aufstellen, die eine gewisse Wahrscheinlichkeit haben, aber nie mit Sicherheit eintreten werden. Die einfachen »alltagsphysikalischen« Regeln der Naturgesetze, die uns in der Welt der Dinge so gute Dienste geleistet haben und alltagsphysikalisch die Welt »erklären« könnten, tragen uns hier nicht mehr. Das Verhalten von Personen können wir nur »verstehen«, wenn wir uns über die »innere Verfassung« der Person Gedanken machen, etwa von der Art, wie ich sie gerade eben skizziert habe.
Empathiefähigkeit. Um die Gründe für das Verhalten der anderen Person zu erfassen, müssen wir uns in sie »hineinversetzen« und uns vorstellen, was in ihr vorgeht, welche Gedanken, Gefühle oder Wünsche diese Person gerade erlebt und zu welchen Handlungen diese Erlebnisse führen könnten. Wir müssen also »alltagspsychologische« Überlegungen anstellen, warum sich die andere Person so verhält, wie sie sich verhält. Diese Überlegungen greifen auf eine Art »Innenwelt« des anderen zurück, sie sind also nicht mehr allein aus den äußeren Gegebenheiten oder äußerlich sichtbaren Eigenschaften des Gegenstandes abzuleiten. Wir müssen vielmehr versuchen, die inneren Beweggründe und Motivationen der anderen Person in Erfahrung zu bringen, während uns Kenntnisse über möglicherweise äußerlich einwirkende physikalische Kräfte keinen Aufschluss über das innere Erleben der Person liefern würden.
Ein Thema für Wissenschaft und Philosophie. Diese vorgenommene Unterscheidung zwischen Personen und Dingen ist übrigens auch von manchen Wissenschaftlern und Philosophen diskutiert und bestätigt worden. So unterscheidet etwa der einflussreiche Sozialpsychologe Fritz Heider ebenfalls die sogenannte »Dingwahrnehmung« oder die »nicht-soziale Wahrnehmung« von der »Personenwahrnehmung« oder der »sozialen Wahrnehmung«. Entscheidend ist für Heider, dass das Verhalten von Personen immer von einer bestimmten Unschärfe begleitet ist. Unser Wissen darüber, wie sich eine Person verhalten wird, ist also immer durch eine gewisse Vagheit oder Unsicherheit geprägt: Wir können nie ganz sicher vorhersagen, wie sich eine andere Person verhalten wird und welche Gründe sie für ihr Verhalten hat (Heider, 1977). Diese Anforderung, sich in andere Personen hineinversetzen zu können, wird in der Philosophie auch als das »Problem des Fremdpsychischen« (»problem of other minds«) bezeichnet. Auch in der philosophischen Diskussion wird ausführlich darüber debattiert, wie es uns eigentlich gelingen kann, das Erleben einer anderen Person empathisch nachzuempfinden, obwohl wir doch gar keinen direkten Zugang zum Erleben einer anderen Person haben, so wie wir Zugang zu unserem eigenen Erleben haben.
Die Rolle der Intuition. Eine Besonderheit ist, dass diese verschiedenen Signale, die wir im Folgenden noch näher betrachten werden, oft schnell und »intuitiv« verarbeitet werden, man könnte auch sagen: »auf einen Blick« (mit »intuitiv« ist hier gemeint, dass wir nicht lange aktiv über Argumente oder Gründe, wie wir zu einer bestimmten Entscheidung oder Beurteilung gelangt sind, nachdenken müssen). Nicht-autistische Personen brauchen meist nur wenig Zeit dazu, diese Informationen zu einem Gesamturteil zusammenzufügen. Wir bekommen also üblicherweise sehr schnell einen recht robusten und belastbaren Eindruck davon, was in einer anderen Person vor sich geht und was sie erlebt. Ohne hier im Detail weiter darauf einzugehen, könnte man aus philosophischer Sicht auch die Konzepte von Kausalität und Intentionalität damit in Verbindung bringen. Während das Verhalten von Dingen durch die Einwirkung von physikalischen Kräften basierend auf Naturgesetzen im Sinne der Kausalität »erklärt« werden kann, können Personen nur »verstanden« werden, wenn wir das innere Erleben oder die Intentionalität miteinbeziehen.

1.2 Verbale Kommunikation

Die Alltagskapazität der »Personenwahrnehmung« oder »sozialen Wahrnehmung«, wie Fritz Heider (1977) es genannt hat, ist nun eingeführt. Die Daten oder Signale, die wir dazu verwenden, uns einen Eindruck von einer anderen Person zu machen oder sie »wahrzunehmen«, können unter anderem sprachlich zum Ausdruck gebracht werden. Wir können zu anderen über unser inneres Erleben sprechen, und wir können versuchen, es mit Worten zu beschreiben. Eine sehr einfache und globale Beschreibung der eigenen inneren Verfassung kann etwa mit dem Satz »Mir geht es gut« ausgedrückt werden. Das ist natürlich ein sehr allgemeiner Satz, der viele Fragen offenlässt, und es wird von vielen anderen Faktoren abhängen, ob wir einen solchen Satz ernst nehmen und für wahr halten oder ob wir möglicherweise an der Aufrichtigkeit Zweifel anmelden müssen und dann nachfragen wollen.
Um diesen Bereich sprachlicher Äußerungen konkreter analysieren zu können, müssen wir die verschiedenen Aspekte von Sprache etwas näher unter die Lupe nehmen.
Sprachliche Äußerungen werden in der Sprachwissenschaft oder der Linguistik in der Regel anhand von vier verschiedenen Ordnungsstufen beschrieben.
(1) Die Phonematik oder Phonologie beschäftigt sich mit dem Klang von Wörtern.
(2) Die Syntax oder Grammatik