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ISBN eBook: 978-3-649-67065-0

© 2016 Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG,

Hafenweg 30, 48155 Münster

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise

Text: Anna Herzog

Umschlagillustration: Heike Vogel

Innenillustrationen: Frau Annika

Lektorat: Frauke Reitze

www.coppenrath.de

Das Buch (Hardcover) erscheint unter der ISBN: 978-3-649-66890-9

Kapitel 1

Von einsamen Waldwegen und wimmelnden Geburtstagswünschen

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Wenn du das letzte Kind im Schulbus bist, unterhält Walid sich nur noch mit dir.

»Stell dir vor, Mieke«, sagt er zum Beispiel. »Özil passt zu Müller rüber und der Müller so mit der rechten Hacke …«

Wenn du Mieke bist, hältst du dich jetzt an der Vorderlehne fest. Denn dann kennst du Walid schon seit ein paar Schuljahren und weißt genau, was jetzt kommt.

»Bäääääm!«, sagt Walid, macht eine Bewegung mit seiner eigenen rechten Hacke und verlässt mal eben das Gaspedal.

Wenn du der Bus bist, kannst du ohne Benzin nicht fahren. Also machst du auf der Landstraße einen Satz vorwärts wie ein hüft kranker Grasfrosch und das bringt Walid zum Glück wieder zur Vernunft.

Bevor Mieke schlecht wird.

Mieke ist immer das letzte Kind im Schulbus, denn sie wohnt so weit draußen, dass Walid nur noch an Weiden mit schwarz-weißen Kühen und an Windrädern vorbeifährt und zuletzt in den Wald abbiegt. Und dann kommt schon bald Miekes Haltestelle. Es ist keine richtige Haltestelle, sondern ein großer Feldstein mit einer Plakette aus Bronze, der halb verborgen am Straßenrand in einem Bett aus Farn liegt. Es ist auch kein gewöhnlicher Stein, sondern ein Denkmal (behauptet jedenfalls die Plakette). Irgendeine Eiszeit hat ihn hier hingeschoben und vergessen.

Walid drückt auf einen seiner Knöpfe, die Tür vorn öffnet sich zischend und Mieke klettert an ihm vorbei ins Freie. Der Frühling hat sich ausgebreitet im Land. Die Luft ist so süß wie Himbeersaft, und Mieke muss sie tief eintrinken, als sie von der letzten Stufe springt. Gestern hat Mama Gläser mit Maiglöckchen auf die Fensterbänke gestellt und das bedeutet: Es ist fünf vor Miekes Geburtstag!

»He, Mieke!«, schreit Walid und Mieke dreht sich um. »Wenn du nicht ordentlich lernst, zieh ich dir die Ohren so lang wie …«

»… wie Rhabarberblätter! Mann, Walid!« Mieke verdreht die Augen.

Walid kichert und Mieke wendet sich ab, aber da brüllt Walid schon wieder: »Hee, vergiss deinen Hut nicht!«

Mieke stöhnt und stapft die Bustreppe noch mal hinauf. Ohne Hut geht gar nichts.

Da liegt er, grau und rund wie der alte Denkmalstein, auf Miekes Nachbarsitz. Sie hebt ihn auf und schaut ihm streng in die Augen. »Eigentlich müsstest du unsere Haltestelle ja kennen«, sagt sie vorwurfsvoll.

»Du brauchst echt ’ne Leine.«

Der Hut antwortet mal wieder nicht.

»Tschüss, Walid, und danke!«, ruft Mieke durch das Motorengeräusch, als sie wieder auf der Straße steht.

Walid streckt seinen Daumen hoch. Dann schmeißt er das winzige Radio an, das er irgendwie in das Fahrerfenster geklemmt hat, und der Bus fährt laut jodelnd davon (wobei er es nicht lassen kann, gelegentlich einen Hüpfer zu machen).

Mieke tritt ihren Heimweg an.

Wenn du möchtest, kannst du sie ein wenig beobachten, wie sie die Landstraße entlanggummistiefelt und dabei pfeift. Ja, stiefelt. Zurzeit hält Nella Gummistiefel nämlich für die praktischsten Schuhe auf der ganzen Welt. Sie trägt sie immer und überall, außer in der Badewanne.

Nella ist cool. Seit zwei Wochen hat sie Dreadlocks. Sie ist sechzehn und Miekes große Schwester. Und auch wenn sie einiges unternimmt, was Mieke sehr merkwürdig findet, ist sie doch die beste Schwester, die Mieke sich vorstellen kann. Außer: Sie hat schlechte Laune.

»Denn dann gehört sie auf den Sperrmüll«, sagt Mieke zu der kleinen Straße, die hier abzweigt und in den Wald hineinführt, zu Miekes Haus. Eine schmale Straße voller Löcher (so groß, dass darin ganze Elefantenherden baden könnten, sagt Papa) und voller Sonnenflecken und tiefer Tannenschatten, an deren Rändern Insekten aufglühen.

Es ist immer ein wenig gruselig, diesen einsamen Weg nach Hause zu laufen. Mieke wohnt mit ihrer Familie hier ganz allein. Das Nachbarhaus ist unbewohnt.

Das heißt natürlich: kein Kind nebenan. Wenn Mieke außerhalb der Schule Kinder sehen will, muss sie den Weg um das Gerstenfeld hinterm Haus nehmen. Oder gleich mitten hindurchrennen. Und das tut Mieke. (Vorausgesetzt natürlich, der Bauer guckt nicht, denn Bauer Ullrich liebt seine Gerste.)

Aber was soll sie auch machen, wenn jenseits des Feldes, am Grunde des Waldes, ein See wartet?

Und außerdem Miekes bester und ältester Freund, Karel?

Jetzt ist Mieke am Ende ihres Heimwegs angekommen. Nur noch an dem flachen weißen Nachbarhaus vorbei, das schon so lange leer steht, wie Mieke denken kann. Sie macht den Hals lang. Weder ihr noch Nella ist es bisher gelungen, einen Blick in das Haus hineinzuwerfen, obwohl sie neugierig sind wie junge Kühe, wie Mama immer sagt.

Gelegentlich kommt zwar jemand vorbei und repariert etwas oder schneidet die Wacholderhecke, die sich rund um den Rasen zieht und größer ist als Papa. Doch die Rollläden bleiben meistens geschlossen.

Heute aber ist etwas anders. Heute steht das Einfahrtstor offen und auf dem Kiesvorplatz wartet ein kleiner, zerbeulter Lastwagen. Mieke runzelt die Stirn. Dieses Auto hat sie hier noch nie gesehen.

Zwei Rollläden sind halb heraufgezogen, das Haus blinzelt in die Nachmittagssonne. Mieke schleicht wie ein Indianer und lauscht.

Eines der Fenster ist gekippt. Im Haus ist es still. Und auch sonst ist weder eine Heckenschere noch ein Rasenmäher weit und breit zu hören.

Mieke bleibt stehen und kratzt sich am Schienbein. Pff. Eigentlich müsste man …

Aber dann erinnert ihr Magen sie nachdrücklich daran, dass das Mittagessen auf sie wartet.

Miekes altes Backsteinhaus, gleich jenseits der Wacholderhecke, ist nicht weiß, sondern rot und hier und dort hat es einen Erker. Das ist so eine Art Beule am Haus, und man kann wundervoll darin sitzen und lesen, besonders wenn es regnet und man sich Sofakissen hineinlegt – dann hockt man in einer Höhle aus pochender Regenmusik.

Und da … da links oben … halb verdeckt von jeder Menge wildem Wein … da sticht ein kleiner Turm in den Himmel. Er ist rund und auf seinem Dach wächst Moos und unter dem Dach liegt ein kleines Zimmer, ganz nah an den Sternen. Miekes Zimmer.

Nella hat dafür das Balkonzimmer bekommen und das ist immerhin fast gerecht.

Mieke öffnet die eiserne Gartenpforte. Sie hat so viele Schnörkel, dass es die reine Musik ist. Ein schmaler Weg führt zwischen ein paar Apfelbäumen zu Miekes Haustür hinüber.

Neben der Pforte blüht ein weißer Fliederbusch, in den man wunderbar klettern kann. Zum Beispiel, wenn man beobachten möchte, wer zu Besuch kommt.

An der Hauswand, am Stamm des wilden Weins, lehnt Nellas altes rostiges Rennrad. Und über den Rand des Gartenwegs biegen sich einige Tulpen.

Moment – biegen sich einige Tulpen? Mieke bückt sich, als sie daran vorbeiläuft.

In jeder Tulpe sitzt eine Elfe.

Ja, eine Playmobil-Elfe natürlich, was hast du denn gedacht?

Nun könnte es ja sein, dass all diese Elfen aus Miekes Fenster geklettert und am Regenrohr heruntergerutscht sind, um in den Tulpen auf Mieke zu warten, bis sie von der Schule nach Hause kommt. Weil sie solche Sehnsucht nach Mieke hatten. Das könnte womöglich sein.

Aber Mieke weiß es besser und sieht sich suchend um. Playmobil im Garten bedeutet nämlich: Anni ist da.

Anni spielt immer mit Miekes Playmobilfiguren, denn so etwas haben sie nicht bei ihr zu Hause. Sie ist erst fünf. Wenn sie in die Schule kommt, will Mieke sie als Patenkind haben.

Und wenn Anni da ist, dann ist auch Tuve da. Obwohl heute doch gar nicht Flötendienstag ist, soweit Mieke sich erinnern kann.

Miekes Herz pocht schneller.

Tuve ist schon siebzehn, er und Anni wohnen weit weg am anderen Ende des Waldes in einem violetten Haus. Dort gibt es nur Dinge aus Holz, Wolle und Stoff und nichts aus Plastik oder Zucker.

Tuve weiß übrigens alles. Also: alles.

Natürlich kann er auch Querflöte spielen, und das ist der Grund, warum er jeden Dienstag ordnungsgemäß um das Feld herumradelt und in Miekes Wohnzimmer auftaucht. Dann schweben die Töne von zwei Querflöten über die Baumwipfel und in manchen goldenen Momenten passen sie sogar zueinander.

Mieke pfeift, während sie den Gartenpfad entlang Richtung Haustür rennt.

Möglicherweise …

Vielleicht …

Also, nur für den Fall, dass du es überlesen haben solltest: Mieke hat bald Geburtstag.

Es ist allerdings nicht so, als würde irgendjemand in Miekes Umgebung wagen, das zu vergessen, zumal Mieke zehn wird.

Miekes Wunschliste steht seit ungefähr drei Monaten fest. Hallo: fest? Die Wünsche wimmeln vielmehr nur so hin und her – ständig kommen welche dazu und andere ziehen wieder aus. Nur drei stehen immer dort, als hätte jemand sie festgetackert. Und das sind: ein Baumhaus. Ein Pferd. Ein Hund.

Papa hat eine Hundeallergie. Sagt er.

Mama hat eine Pferdeallergie. Behauptet sie.

Trotzdem.

Und eine Baumhausallergie gibt es ja wohl nicht!

In Miekes verwildertem Garten, ganz hinten auf der Wiese, streckt ein alter grauer Baum seine Äste dem Himmel entgegen wie eine geöffnete Hand. Er blüht schon lange nicht mehr, Efeu klettert an ihm hinauf und jeden Frühling baut eine Amsel darin ein Nest.

»Birne«, hat Tuve gesagt, als er den Baum zum ersten Mal gesehen hat vor ein paar Jahren.

»Wie belieben?«, hat Mama verwundert gefragt.

»Dort hinten, der alte Baum«, hat Tuve gesagt. »Ziemlich groß für einen Birnbaum, aber …« Er hat die Augenbrauen zusammengezogen und überlegt. »Total ideal für ein Baumhaus.«

Seither ist Tuve Miekes Freund. Und seither fehlt Mieke und dem Birnbaum ganz schrecklich ein Baumhaus.

Dann hat Mieke noch einen Wunsch, den man nicht auf eine Wunschliste schreiben kann. Man kann nur hoffen, dass er eines Tages vor der Tür steht und fragt: Hast du mich gerufen?

Klar, würde Mieke sagen. Hast du es nicht gehört? Weißt du nicht, dass jedes Kind dich haben will?

Logisch, würde der Wunsch antworten. Ich bin bloß leider sehr, sehr beschäftigt. Aber jetzt bin ich ja da, also freu dich und mecker nicht rum.

Und dann würde »eine richtige Kinderbande« (denn so heißt der Wunsch) in Miekes Zimmer einziehen, und schon wäre Abenteuer in ihrem Leben, dass es nur so staubte.

Das soll nicht heißen, dass Miekes Leben ohne Bande so traurig wäre wie … wie ein Nutellapfannkuchen ohne Nutella. Nö, das nicht. Aber es könnte ja noch besser sein!

Vielleicht kannst du dir jetzt vorstellen, warum Miekes Herz vor der Haustür so schnell klopft.

Ob die da drinnen irgendetwas besprechen, Nella und Tuve? Irgendetwas, worin »Mieke« und »Geschenke « vorkommt? Möglicherweise »Hund«?

Miekes Finger schwebt schon über dem Klingelknopf. Halt! Sie bückt sich und drückt den Briefschlitz auf, ganz, ganz vorsichtig.

Gemurmel aus der Küche.

Nella lacht.

Anni singt irgendwo in der oberen Etage.

Ob sie sich anschleicht? Um etwas zu erfahren?

Mieke huscht ums Haus herum, yesss, die Terrassentür ist offen! Auf Zehenspitzen hüpft Mieke über die Fußmatte auf die dunklen Holzdielen des Wohnzimmers und versucht, die allerknarrendsten unter ihnen auszulassen.

Wenig später kracht ein Weltatlas aus einem vollgestopften Bücherregal mit Schwung auf eine dieser Holzdielen.

Den hat wohl jemand mit seinem Schulrucksack …

»Mieke? Bist du das?«

Okay. Anschleichen fällt schon mal aus.

Kapitel 2

Von süssen Kälbchen und weniger süssen Gürteltieren

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In den nächsten Tagen ist es enorm schwierig, Mieke aus dem Weg zu gehen, denn sie ist überall. Und sie scheint Luftohren zu haben.

»Wir könnten ihr natürlich …«, flüstert Mama.

Schon schiebt sich eine runde Knopfnase mit genau fünf Sommersprossen darauf um die Ecke. »Was könntet ihr natürlich?«, fragt jemand, der schon viel zu lange neun Jahre alt ist.

»Und wenn wir …«, haucht Tuve.

»Redet ihr über Miekes Geburtstag?«, fragt Anni so laut, dass es noch die Taube auf dem Dachfirst hört. Und schon hüpft ein Mensch mit Hut um die Ecke und kichert.

Mieke hat eben ihre Spione, und Anni kann man gut mit Nutellabroten bestechen, die gibt es bei ihr zu Hause nämlich auch nicht. Vermutlich, weil Nutella weder aus Holz noch aus Wolle oder Stoff besteht.

Wenn man Miekes Geburtstag planen will, kann man sich nur in der tiefsten Nacht im alten Kohlenkeller treffen und abschließen, behauptet Nella. Und selbst dann würde Mieke noch irgendwie durch die Ritzen sickern.

Trotzdem wird Nellas Grinsen von Tag zu Tag breiter, je näher Miekes Geburtstag rückt. Jeden Abend knurrt Mieke in ihr Kopfkissen. Die anderen haben ein Geheimnis, das ist klar. Und Mieke findet es einfach nicht heraus, das ist ebenso klar.

Als sie gestern nach der Schule nach Hause kam, saß Karel in der Küche und futterte Mamas Spinatpfannkuchen. Bis dahin hat Mieke gar nicht gewusst, dass man Grinsen auch verleihen kann. Aber es ist sehr wohl möglich, denn Karel hatte eindeutig Nellas Grinsen im Gesicht. Mieke hätte ihn beinahe gebissen.

Sie ist so aufgeregt!

Möglicherweise verschwinden Hundeallergien ja doch über Nacht. Oder Pferdeallergien. Oder man kann sie wenigstens wegoperieren.

Und dann kommt dieser spezielle Tag direkt vor Miekes Geburtstag. Jetzt fängt bald all das Gehuschel und Gewuschel an, das zu Geburtstagen dazugehört.

Schon am Gartentor wird Mieke nach einem endlos langen Schultag von Zitronenkuchenduft begrüßt. Blaue Kissen von Vergissmeinnicht stehen unter den Rosensträuchern, bald wird der Blauregen aufplatzen, dessen Blüten wie Trauben von der Fassade des Hauses herabhängen. Und er wird wieder den ganzen Vorgarten mit seinem Duft erfüllen. Die Kirschbäume sind dagegen längst verblüht, die Vögel können sich schon mal freuen!

Mama freut sich auch, denn sie wollte immer einen Garten voller Duft haben. Sie wollte, dass man den ganzen Frühling und Sommer hindurch von einem Duft in den nächsten hineintaumelt, sodass man ganz betrunken wird in der Nase.

Nun aber hat der Zitronenkuchen es geschafft, sich durch alle Frühlingsgerüche hindurchzuschlängeln. Und jetzt – das weiß Mieke – geht es los mit ihrem Geburtstag!

Beim Mittagessen sagt Nella: »Wir müssen dringend zu Ullrichs gehen und das Kälbchen besichtigen, das heute Nacht geboren wurde.«

Mieke schaut misstrauisch auf. An einem ganz normalen Frühlingstag würde dieser Satz bedeuten, dass Nella sich gern das Kälbchen bei Ullrichs ansehen würde.

Am Tag vor Miekes Geburtstag aber …

Sie wirft Nella einen langen, prüfenden Blick zu. Die lächelt so sanft wie eine Pferdenase und stopft sich ein Stück Pizza in den Mund.

»Wuffteft du, daff die Mempfen in Florida wich Pfnabeltiere halten? Alf Hauftiere? Woo wüüf!«, sagt sie zu Mama.

Mama sieht sie stirnrunzelnd an.

»Gürteltiere wind auch wüf, findeft du nicht?«, fragt Nella.

»Wehr wüf«, sagt Mama. »Aber wusstest du, dass diese süßen Gürteltiere Lepra übertragen?«

Jetzt hat Nella hinuntergeschluckt. »Was ist denn Lepra?«, fragt sie mit großen Augen und zwinkert Mieke heimlich zu.

Mieke grinst. Wahrscheinlich ist es irgendeine Krankheit und bestimmt weiß Nella das, aber Mama wird jetzt trotzdem einen längeren Vortrag halten. Also hält sie sich schon mal die Ohren zu.

Hm.

Eigentlich … könnte man sich das Kälbchen ja ruhig einmal anschauen. Eigentlich.

Und so läuft Mieke wenig später neben Nella den Sandweg entlang, der um das Gerstenfeld herumführt. Am Waldrand blüht der Weißdorn, und Nella rennt so schnell, dass Mieke kaum mitkommt.

Am Ende des Feldes gabelt sich der Weg. Wenn du hier links abbiegst, kommst du irgendwann zu Karel, Miekes allerältestem und allerliebstem Freund. Dafür musst du lange durch den Wald laufen.

Es ist ziemlich einsam und manchmal unheimlich und gelegentlich begegnest du sogar Rehen.

Mieke singt, wenn sie diesen Weg nimmt. Sie singt »In the pines, in the pines …«, oder was Nella sonst so gerade hört.

Am Schluss geht es steil bergab; dort wohnen nur noch Buchen, die im Herbst ihre halb bemoosten Stämme grün durch die Dämmerung glühen lassen. Wenn du dann die größte Buche mit der Bank um den Stamm und dem Schild »Naturdenkmal« erreicht hast, weißt du, dass es nicht mehr weit ist.

Am See wendest du dich nach rechts. Fall nicht hin, der Waldweg ist hier voller Wurzeln! Die grauen Striche, die in den See hineinragen, sind übrigens Bootsstege, und nun bist du endlich da. Hier stehen: ein Schuppen mit einer Werkstatt darin, dessen Wände silbern von der Seesonne schimmern und in dem immer jemand schleift oder hämmert oder pfeift. Außerdem ein Bootshaus ganz dicht am See, durch dessen Rippen die Sonne funkelt. Und: ein kleines rotes Holzhaus mit einem Zaun aus geflochtenen Weidenzweigen ringsherum und einem Pflaumenbaum davor.

Vor der Werkstatt liegt meistens ein Boot in der Sonne. Hier ist nämlich das Reich des alten Gustav. Gustav repariert Boote. Und da viele Menschen in dieser Gegend Holzboote haben und sie reparieren lassen wollen, ist in der Werkstatt immer etwas los.

Gustavs Enkel aber ist der eigentliche Grund, warum Mieke am Waldrand oft nach links abbiegt: Karel. Er ist zwölf und hat rote Haare. Als er geboren wurde, ist jemandem der Eimer mit den Sommersprossen ausgerutscht, und alle sind auf Karel heruntergeprasselt. Also: Solltest du keine abgekriegt haben, dann weißt du jetzt, warum.

Karel ist genauso verrückt nach Booten wie sein Großvater, was aber nicht heißt, dass man gar nichts mit ihm anfangen kann, weil er immer nur in der Werkstatt herumbastelt. Ganz im Gegenteil. Selbst wenn Karel mal keine Zeit hat, mit Mieke im Wald Tipis zu bauen oder sich vom Steg in den See zu stürzen, nur um gleich wieder vor einem wütenden Schwan an Land zu fliehen; selbst wenn er keine Zeit dazu hat, Gustavs altes Faltboot aus dem Schuppen zu holen, damit zu zweit durchs Schilf zu paddeln und Nester zu suchen und die Kälte des Sees an der Plastikhaut zwischen den Spanten zu fühlen, selbst dann … kann man ja immer noch in den Holzabfällen wühlen und eine komplette kleine Stadt hinterm Bootsschuppen mit jeder Menge Lehm bauen. Mit Karels alten Matchbox-Autos und mit wirklichen Straßen, voller Schluchten und anderer Gefahren.

Jetzt weißt du, warum Mieke an der Weggabelung so gerne links abbiegt. Heute aber rennt sie nach rechts, Nella hinterher. Das ganze Feld entlang und noch weiter bis zu Bauer Ullrichs Hof. Und als sie schnaufend vor dem Kälbchen namens Otto steht, hat sie ihren ganzen Geburtstag so schnell vergessen wie eine Woche voller Regentage. Weil praktisch nichts so süß ist wie ein frisch geborenes Kälbchen. Außer natürlich ein Hundebaby. Und vielleicht ein kleines Kätzchen. Oder ein Fohlen oder …

Zu Hause aber gehen geheimnisvolle Dinge vor sich, Geräusche jeglicher Art wandern durch den Garten, und die Luft prickelt von jenem besonderen Zauber, der vor allen Festen wie Nebel aus dem Boden steigt.

Auch das weiße Haus nebenan ist nicht ganz so verlassen wie an anderen Tagen. Wieder wartet ein Lastwagen vor seiner Tür, er ist genauso zerbeult wie der letzte, nur ein gutes Stück größer.

Schon wieder mäht niemand den Rasen oder schneidet die Hecke. Dafür rumpelt es im Haus und dunkle Stimmen, Rufe und Lachen wandern durch die Räume.

Merkt denn keiner, dass hier etwas Merkwürdiges vor sich geht?

Nein, dort drüben im roten Haus sind alle viel zu beschäftigt. Nur einer Taube wird es zu bunt. Sie flattert vom Dach des weißen Hauses auf und hinüber in den Garten mit den wilden Apfelbäumen und dem alten, krummen Birnbaum, um schließlich auf der Spitze des roten Türmchens zu landen.

Ihr Kopf ruckt hin und her, und von Zeit zu Zeit gurrt sie, als beobachte sie die Menschen unten in den Gärten genau und müsse über sie lachen.

Kapitel 3

Von Geburtstagen, die hinten anfangen, und von Denkmalgeräuschen

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