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RENNER • DAS BUCH VON VENEDIG

ULRIKE RENNER

Das Buch von Venedig

Erzählungen

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Die Herausgabe des Buches erfolgte
mit freundlicher Unterstützung durch das
Land Niederösterreich und die Stadt Wien.

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A-9020 Klagenfurt/Celovec, •.-Mai-Straße 12
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www.wieser-verlag.com

Copyright ∂ dieser Ausgabe 2016 bei Wieser Verlag GmbH,
Klagenfurt/Celovec
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Maria Sikora
eISBN 978-3-99047-042-8

Geschichte 1:

Das verwunschene Mädchen

Agathe saß mit angewinkelten, von beiden Händen umschlungenen Beinen im Sand der von diffusem, fahlem Februarlicht erfüllten Lagune und starrte auf ein bewegtes graues Meer, dessen stete Wellen auf den Sandstrand zurollten. Sie hätte den Kopf nicht zu wenden brauchen, um über das Aussehen ihrer Umgebung, der Lagune, in diesem speziellen Fall Laguna Veneta, und ihrer weltberühmten, auf einer Inselgruppe erbauten Stadt, Bescheid zu wissen. Selbst mit geschlossenen Augen wären ihrer Beschreibung, wäre sie verlangt worden, kaum Details entfallen.

Wie oft sie an jenen Ort, in jene von bewegtem Meer umspülte Lagunen- und Inselstadt gekommen war, hatte sie vergessen, aus ihrem Gedächtnis gelöscht und nicht exakt zu nennen vermocht.

Venedig, Venexia – Venezia, war für sie der einzig mögliche Ort.

Venedig war für sie der schönste Ort.

Sie hatte den schönsten Ort gesucht und gefunden.

Immer dann, wenn das Bedürfnis nach venezianischen Verhältnissen, einer ideal eingegangenen Bindung von Kunst-Ästhetik-Meer-Inselmentalität-Künstlichkeit intensiv geworden war, war sie nach Venedig gereist.

Wäre Agathe eine Dichterin gewesen, hätte sie nicht aufgehört Venedig in poetischen Formeln zu beschwören. Venedig war nicht bloß Stadt, Venedig war Geistesblitz, von einem Gott ins Meer geworfen. Venedig war Status, humanitäre Urbanität, gelebte, gewachsene, in gegenwärtige Lebenswirklichkeit integrierte Geschichtlichkeit, Venedig war lebende Ästhetik.

Es hing mit dem Licht, das Venedig so gleichmäßig erfüllte, zusammen.

Es hing zusammen mit den architektonisch subtilen Lösungen und der unikalen Tatsache, dass eine einstige Weltmacht auf dem schlammigen Boden zahlloser Inselchen solide erbaut worden war. Venedig war Schönheit. Venedig, der Ausnahmefall des Globus. Sie war ins Schwärmen geraten.

Agathe saß regungslos im Sand, trotz der Februarkälte bewegungslos, und starrte auf das Meer, il mare. Kopf und Hals schmerzten von der Bahnfahrt. Sie hatte einen Liegeplatz in einem Abteil für zwei Personen gebucht, jedoch kaum geschlafen, da der zweite Fahrgast die Heizung abgedreht und keine höhere Temperatur im Abteil gestattet hatte. Sie hatte beinahe die gesamte Nacht im spärlichen Schein der Leselampe einen von einer amerikanischen, in Venedig lebenden Krimiautorin verfassten Roman gelesen, war im Gang des Waggons auf- und abgewandert, wenn es im Abteil sogar für das Liegen zu kalt, zu ungemütlich geworden war. An Schlafen war nicht zu denken gewesen. Zu allem Übel schnarchte der zweite Fahrgast, eine ältere Frau, unerträglich laut und unaufhörlich und leistete jedem Weckversuch gegenüber Widerstand.

Nach ihrer Ankunft in Venedig hatte sie in ihrem Hotelzimmer nahe dem Bahnhof eine Kopfwehtablette geschluckt und war zum Vaporetto, zur ganzjährig verkehrenden linea 1 geeilt (in venezianischem Schritttempo), um zum Lido zu fahren. Die schmerzstillende Wirkung des Präparates und die bleierne Müdigkeit, Ergebnis einer durchwachten Nacht und selbst von einem starken Espresso, un caffè, auf dem Weg zur Linie 1 in einer bar getrunken, nicht wegzuwischen, ließen sie auf einem freien Sitzplatz im Vaporetto beinahe auf der Stelle einschlafen. Sie sah nicht, wie il vaporetto den Canal Grande entlang fuhr, sah nicht die architektonische Pracht, die mit ein Grund für die Wiederholung ihrer Reisen nach Venedig gewesen war, spürte nichts von einer ansonsten euphorisch zu nennenden Wiedersehensfreude. Agathe war sofort auf ihrem Sitz eingeschlafen und erst nachdem das Vaporetto die Anlegestelle der Station Lido erreicht hatte, von einem italienischen Fahrgast wachgerüttelt worden. Mit dumpfem Kopf und einem trägen Körpergefühl taumelte sie zum Ausgang und ließ sich von Personen, die wie sie das Vaporetto bei dieser Station verließen, beim Aussteigen helfen. Sie fühlte sich schwindlig. Ohne an eine mögliche Rückkehr ins Hotelzimmer zu denken, bestieg sie einen Bus, der in Richtung Strand fuhr.

Agathe saß regungslos im Sand und empfand es als Wohltat, das graue Meer eines sehr kühlen Februartages zu sehen, das in großartiger, ewiger Ausdauer graue Wellen produzierte. Der Aspekt der Unverändertheit inmitten aller Bewegtheit war eines der an Venedig bindenden Hauptmotive. »Ist es nicht zu kalt, im Sand zu sitzen«, fragte eine Stimme. Da Agathe kein Interesse zeigte, sich umzudrehen und eine andere Antwort als ein kurzes Schulterzucken zu geben, stellte sich der zur Stimme gehörende Fragende vor sie hin und verstellte die Sicht aufs Meer. Mit lauter Stimme bat sie ihn wiederholt zu verschwinden. Sie wünsche keine Unterhaltung, wünsche kein Gespräch, bedaure es, gestört worden zu sein, wünsche, in Ruhe gelassen zu werden, wünsche sich in Zukunft mehr Phantasie bei männlichen Versuchen, unbekannte Frauen anzuquatschen, verabscheue es, so formlos überfallsartig angesprochen zu werden. Da der Fremde keine Reaktion auf ihre Worte zeigte, Agathe ansah, ohne ein Wort zu sprechen, wiederholte sie ihre Bitte, er möge weggehen mehrmals und in verschiedenen Ausdruckslagen mit unterschiedlicher Bedeutungsskala: höflich bestimmt bis hin zu unmissverständlich ablehnend. Der Mann sah Agathe an, ohne Emotionen zu zeigen, ohne Worte, ohne den Blick von ihr abzuwenden, ohne sich in Bewegung zu setzen, ohne fortzugehen, ohne irgendwelche Anstalten zu zeigen. Er blieb einfach stehen und schwieg. Der Mann war schön. Ein waches Gesicht, feinporige, olivgrün schattierte Haut, meerblaue zur Gesichtsfarbe seltsam im Kontrast stehende Augen, eine klassisch geformt zu nennende Nase mit feingewölbten Nasenflügeln, kurzes blauschwarzglänzendes Haar. Der Körper von einem bodenlangen schwarzen Mantel bedeckt: eine schöne, anziehende Person, auch eine unheimliche Person. Die in wundervollem Bogen geschwungenen, eher glatten Augenbrauen regten an, die weiteren Merkmale des Gesichtes zu studieren, über die Augen zur Nase und von da zu den Lippen zu wandern. Es war der Schwung der Augenbrauen, der das Gesicht zusammenhielt in einem einzigen Bogen, einem großzügigen Pinselstrich, es skizzierte und der Skizze mehr Meisterschaft zugestand als dem bis ins kleinste Detail ausformulierten Werk. »Sie sind fremd!«, lachte er, und sein Lachen stand im widerlichsten Gegensatz zur Ästhetik seiner äußeren Erscheinung: schrill, ein wenig hysterisch, panisch.

»Sie sind ein verwunschenes Mädchen, verwunschenes Mädchen!«, schrie er mehrmals und lachte zwischen den einzelnen Worten sein abscheuliches Lachen. Sie fühlte Angst aufsteigen. Angst steigt in mir auf wie Nebel vom Meer. Agathe war aufgestanden und hatte sich in Bewegung gesetzt. Um ihre Angst, die sie gepackt hatte, so wenig wie möglich zu zeigen, war sie anfangs bedächtig weitergegangen. Da der Mann neben ihr laut lachend mitging, beschleunigte sie ihren Schritt, steigerte sich in eine Stimmung von Todesgefahr und lief los.

Obwohl mich sein Lachen allein schon, wenn ich es noch länger ertragen und anhören müsste, töten würde, dachte sie in einem Anflug von Humor.

Während sie über den Sand jagte, hatte es zu dunkeln begonnen. Keuchend und schwitzend, mit rasendem Herzen blieb sie stehen. Sie konnte nicht mehr. Er war weg. Wo war er?

Gleichförmig zogen Nebelschwaden über das Meer, das sich dunkelblau in die Nacht hinein aufzulösen schien, schlugen Wellen auf den Strand. Das Geräusch, das sie ansonsten liebte, empfand sie nun als monoton und nervtötend, wünschte es weit weg, wünschte sich das Meer geräuschfrei und bewegungslos, ein erstarrtes Meer, über das sie hätte gehen können.

Der Mann war verschwunden. Ihn nicht zu sehen, sich seiner Gegenwart jedoch bewusst zu sein, ängstigte Agathe. Jede Nebelschwade hätte ihn, den schwarz Gekleideten, verbergen oder produzieren können. Sie zwang sich zu Besonnenheit, zwang ihre Panik nieder und blieb stehen, um zu erforschen, wo sie hingerannt war. Sie war allein.

Agathe blickte in Richtung Meer auf die Nebelschwaden und sah ihn. Augenblicklich fühlte sie kleine Schweißperlen auf den Händen und Schläfen wachsen. Sie sah ihn weit draußen auf dem Meer. Dort, wo sich eine Gestalt mit weit ausgebreiteten Armen bewegte, war Meer. Diese Gestalt schwebte inmitten der Nebelschwaden, zerteilte sie, verteilte sie, ballte Nebel frisch zusammen. Bewegte sich langsam im Nebel, mit dem Nebel, dann den Rhythmus steigernd, schneller werdend. Die Gestalt schwebte inmitten der Nebelschwaden in einem ekstatischen Tanz, wirbelnd den Körper mit Händen, Füßen, wirbelnd den ausgezogenen Mantel wie einen Schal, eine Fahne, ein Zeichen, eine Hülle, ein Etwas, wirbelnd einen nackten Körper, der weißlich weithin sichtbar sich von der Schwärze des Meeres abhob, in den Nebelschwaden ein- und ausging, mit ihnen zerschmolz, sich in ihnen auflöste und wieder von Neuem zusammensetzte, ein Körper, eine Gestalt. Ein Körper, der sich familiär gab inmitten des Meeres und seinem Nebel und seiner Dunkelheit. Sie musste hinschauen. Dann verwarf Agathe die Erscheinung als unmögliches Hirngespinst, als Spiel von Nebelschwaden, die in nächtlicher Dunkelheit über das Meer zogen.

Sie ging weiter.

Agathe verließ den Strand und betrat die hell beleuchtete Einkaufsstraße des Lido. Drehte sich um, auf das Meer zurückblickend.

Bei der Station San Zaccaria stieg Agathe aus dem Vaporetto aus, um zu Fuß ins Hotel zurückzugehen. Trotz kühlfeuchter Witterung bevölkerten Menschen die Piazza San Marco, den schönsten Platz der Welt, maskierte und unmaskierte. Karnevalszeit. II carnevale.

Über dem Markusplatz hatte sich eine Wolke zusammengeballt.

Sie hatte einmal im Sommer erlebt, wie bei strahlend blauem Himmel eine einzige Wolke über dem Ponte degli Scalzi, der Brücke neben dem Bahnhofsgebäude, entstanden war und sich in einem minutenlangen Hagelschauer entladen hatte. Der strahlend blaue, sonnige Himmel hatte neben diesem abrupt einsetzenden und abrupt endenden Unwetter, das unzählige zu Eis gefrorene Wasserbällchen produzierte, weiter existiert. Die dick dunkelblau aufgetürmte Wolke war nach dem Unwetter durch einen Regenbogen ersetzt worden, dessen irisierende Farbenpracht mit der Strahlkraft des sonnenblauen Sommerhimmels konkurriert hatte. Heiß war es gewesen, heiß und schwül.

Jetzt war es kühl und feucht. Exakt über der Markusbasilika hatte sich eine dunkle Wolke in den sonst wolkenlosen Himmel gesetzt. Unklar war, in welchem Aggregatzustand die Wasserentladung stattfinden würde. Leiser Donner, von weit weg grollend, ließ sich vernehmen. Gleich darauf fielen vereinzelt, dann immer dichter, dicke Schneeflocken auf den Markusplatz, wurden begrüßt von Prinzen und Prinzessinnen orientalischer, indischer, byzantinischer und unbestimmbarer feudaler Herkunft, von Harlekinen und Kolumbinen, von Damen in Barock- und Rokokogewändern, von Dogen und kirchlichen Würdenträgern, von Götter- und Phantasiegestalten, Erzengeln und Teufeln, von Skeletten und Wissenschaftlern. Sie alle bejubelten den Schnee dieser einen Wolke, den ersten des Jahres, der so elegant, so fein, so schön herabschwebte und sich als weißer duftiger Flaum auf die Basilica di San Marco, Alte und Neue Prokuratien, Procuratie Vecchie e Procuratie Nuove, die Alte Bibliothek, Libreria Vecchia, die Loggetta, den Campanile, den Uhrturm, Torre dell’ Orologio setzte und einen Hauch von echtem Winter mit sich brachte, der, jeder der Jubilierenden wusste es, sich bald wieder verabschieden würde. Die weiße, in Venedig so leichtvergängliche Schneedecke, passte zur architektonischen Eleganz und Großzügigkeit der historischen Bauten. Möglicherweise wegen der durchwachten Nacht, wegen der Begegnung beim Meer, nahm Agathe das schneeige Naturereignis, die Schau der Masken wie auch die Architektur vermindert, wie verzögert wahr und zog sich in die stilleren Gassen, calle, zurück. Immer wieder huschten kostümierte Gestalten an ihr vorüber, die sie registrierte, ohne die Farben- und Stoffpracht der Gewänder, ihre phantastischen Kompositionen wirklich aufzunehmen. Karnevalsfiguren posierten, um hofiert, fotografiert, gefilmt zu werden. Manche verkleideten Gestalten suchten Kontakt zu unkostümierten Personen, Touristen, Venezianern, neckten sie, berührten sie, tanzten, trieben ein Spiel mit ihnen. Hunger weckte Agathe ein wenig auf.

Den ganzen Tag über hatte sie nichts gegessen, nichts getrunken, ein Teil ihrer Schwäche rührte gewiss von dieser körperlichen Unterversorgung her, einem Kalorienmangel. Sie trat in der Nähe des Gran Teatro la Fenice in ein von außen unscheinbares Restaurant, in dem es, sie wusste es von vorausgegangenen Besuchen, köstliche Speisen gab. Die Möglichkeit, aus einem Angebot unglaublich wohlschmeckender Gerichte auswählen zu können, belebte sie. Das Lokal war geschmackvoll eingerichtet, gut beheizt. Agathe übergab das Gewand dem Ober, nahm an dem ihr zugewiesenen Tisch in der Mitte des Raumes Platz, der von angenehmem Stimmengemurmel und leiser Musik belebt war, bestellte Vor-, Haupt- und Nachspeise und eine Flasche Mineralwasser, um einen Teil des Flüssigkeitsverlustes auszugleichen und vertiefte sich in den Genuss dampfend heiß servierter Speisen. Die Fischsuppe, la zuppa di pesce, schmeckte phänomenal, ebenso das rosafarbige bis bräunliche, hauchdünn geschnittene, auf der Zunge zerfallende Kalbslebergeschnetzelte, il fegato alla veneziana, mit Zwiebeln und zarten Petersilienkartoffeln, begleitet von einem Hauch Olivenöl. Die aus diversen Blattsalaten bestehende insalata mista bereitete sie selbst am Tisch zu: einen Schuss Balsamicoessig, einen Hauch von Salz, um den bitteren Geschmack der Blätter mehr für sich selbst sprechen zu lassen, großzügig Olivenöl darüber geträufelt. Während des Essens konzentrierte sie sich ganz auf das Wohlempfinden, das die mit wahrer Kochkunst zubereiteten Speisen in ihr hervorriefen. Bis zur Nachspeise legte sie eine Pause ein, die sie mit Nachdenken füllte und in der sie mehrere Gläser Wasser in kleinen Schlucken trank.

Agathe war nach Venedig gekommen, um eine Entscheidung zu treffen. Sie wusste, Venedig war für wichtige Entscheidungen der rechte Ort.

Ein junger Mann hatte ihr einen Heiratsantrag gemacht. Sie kannten sich seit Jahren, waren befreundet und teilten einige gemeinsame Interessen. Ulrich war ein sensibler, beruflich erfolgreicher Mensch, dessen Charakter in Verbindung mit einer unglaublichen Sprachgewandtheit Agathe immer wieder in Entzücken versetzt hatte. Sie war nicht verliebt in ihn, schätzte ihn unaufgeregt und sanft. Ein Nachteil, der sie an ihm empfindlich störte, war ein körperlicher. Ulrich war klein, nicht eben zwergenhaft, aber klein, mit einem kleinen offenen und interessanten Gesicht. Sein Körper reichte bis an ihre Schultern, sein Mittelfinger besaß die Größe ihres Daumens. Wenn Ulrich Agathe zum Abschied auf die Wangen küssen wollte, hatte er sich auf die Zehenspitzen zu stellen, sie sich gehörig zu ihm herunterzubeugen, und dann fühlte sie eine Wange, die viel kleiner als die eigene war. Sie dachte an ihn als einen Freund, dessen Aussehen hinter der Bedeutung ihrer beider Beziehung zurücktrat, ja gleichgültig war. Wenn sie sich privat in ihren Wohnungen trafen, verschwamm die Erinnerung an seinen kleinen Wuchs völlig. Er existierte in seinen Fähigkeiten, einer unglaublichen Präsenz, die unter anderem darin bestand, einen Menschen, den er liebte, ideal zu begleiten, in abgestimmten und übereinstimmenden Worten und Initiativen, ohne zu dominieren. Ulrich war ein Mann, der viel zuließ und viel konnte. Er war ein genialer kleiner Mann. Der kleine Mann liebte sie. Sie hatte ihn sehr gern. In Gesellschaft störte Agathe sein kleiner Wuchs sehr, wenn er neben ihr stand. Sie bemühte sich, ihre Regung des Unwohlseins, der Unsicherheit zu unterdrücken, zumindest nicht zu zeigen. Agathe störte es, wenn Ulrich sie in Anwesenheit fremder oder bekannter Personen zum Abschied auf die Wangen küssen wollte, sie sich zu ihm beugen musste und er sich, das war das Schlimmste, auf die Zehenspitzen stellte, anstatt aufrecht stehen zu bleiben und zu warten, bis sie sich zu ihm heruntergebeugt hatte. Es war so seine Art: Ulrich wollte Agathe nichts allein machen lassen, wollte ihr entgegenkommen, wollte teilen und ihr die Hälfte abnehmen. So sehr sie diese Haltung sonst an ihm schätzte, so sehr verabscheute sie diese Geste in Gesellschaft. Ihre eigene Oberflächlichkeit schmerzte. Ihre Unfähigkeit, ihn nicht mehr lieben zu können, über eine nette Gefühlslage nicht hinauszukommen, ließ sie am Aussichtsreichtum einer Ehe zweifeln. Vor allem die Vorstellung, als seine Frau zu gelten, rief eine Ekelerregung hervor, die selbst positive Gefühle für ihn in Frage stellte. Der Ekel in solchen Momenten war größer als die Gewissheit, ihn zu mögen. Der Ekel schien sich mit Lichtgeschwindigkeit in eine heile Gefühlswelt zu wühlen, obgleich Agathe sich fragte, wie heil diese Gefühlswelt in Wirklichkeit sein mochte, wenn sie so leicht zu zerrütten war.

Welche Erkenntnis fehlte ihr, welches Wissen, möglicherweise auch welche Erfahrung, um ein vollständiges Bild ihrer Beziehung zu erhalten und eine richtigere Ausgangslage für eine an Konsequenzen reiche Entscheidung zu finden? Agathe bestellte zum Nachtisch pecorino, danach einen Espresso. Das Essen hatte sie in eine wohltuende, entspannte Gefühlslage versetzt und den Nachdenkprozess gefördert. Während sie den Käse aß, fiel ihr Blick auf die Straße. Ihre Hand, die eben einen Bissen Käse zum Mund führen wollte, erstarrte, als sie den Mann vom Strand an der Hand einer kostümierten Schönen vorbeispazieren sah, gestikulierend und den Kopf mit einem zum Lachen geöffneten Mund in den Nacken geworfen. Fast schon waren die beiden an der Auslage des Restaurants vorübergegangen, als der Blick des Mannes in das Restaurant fiel. Ungewiss blieb, ob er Agathe gesehen und erkannt hatte. Sie wollte keinen Käse mehr, mit einem Schluck stürzte sie den Espresso hinunter. Da stand er vor der Auslage, an der Hand die maskierte Person, eine orientalische, in reiche goldfarbene Stoffe gehüllte Prinzessin, das Gesicht vollständig bedeckt von einer weiß –, rot – und goldfarbenen Maske. Mit der zweiten, freien Hand führte der Mann, das Gesicht gegen die Auslagenscheibe gepresst und zu einer Grimasse verzerrt, Augen und Mund weit geöffnet, obszöne Gesten aus, deutlich, unmissverständlich, präzise durchgeführt. Die Gesten (wie schon sein Lachen am Meer) standen in bemerkenswertem Gegensatz zu seiner beinahe perfekt ästhetischen Gestalt. Er führte diese Gesten unaufgeregt durch, zeigte sie direkt, ohne auf die anderen Gäste des Restaurants zu achten. Agathe fragte sich, wie er von den anderen Gästen bei seinem Tun unbemerkt bleiben konnte, kein Aufsehen erregte. Sie hatte ihn bemerkt. Sie blickte abwechselnd auf ihn und auf die in der Nähe sitzenden Personen, die nichts zu bemerken schienen, ungestört weiter aßen, weitersprachen, als gäbe es diese Szene nicht. Agathe hatte kurz erwogen aufzustehen, zu dem Mann und seiner kostümierten Begleitung hinauszugehen, ihn zur Rede zu stellen und zu bewegen, weiterzugehen. Sie stand nicht auf, blieb sitzen, versuchte stattdessen wegzusehen, die unaufhörlichen, sexuell eindeutigen Bewegungen, Handgriffe, Verrenkungen seines Körpers zu ignorieren. Sie hatte ihn durch kein Verhalten aufgefordert, angeregt, angeleitet. Am Strand hatte sie in aller Unmissverständlichkeit zu verstehen gegeben, mit ihm nicht reden, nicht kommunizieren, allein bleiben zu wollen. Bereits sein Verhalten am Strand war mehr als absonderlich gewesen. Beinahe alles an ihm, Benehmen, Worte, das Tanzen (wenn es tatsächlich stattgefunden haben sollte, was sie bezweifelte) hätte sie als exzentrisch bezeichnet. Möglicherweise war ja sogar dieses ästhetische Übermaß seiner Erscheinung als exzentrisch anzusehen. Agathe blickte erneut zu ihm hin, zu seinen ihr offerierten, abstoßend hässlichen, in ihrer Eindeutigkeit absolut unerotischen, jedes körperliche Verlangen ausschließenden Gesten.

Er sah sie an, in diesem Moment völlig bewegungslos. Er beobachtete sie von seiner Position aus, entspannt gegen die Auslage des Restaurants gelehnt. Er sah sie unverwandt an, mit einer ungeteilten Aufmerksamkeit, die beunruhigte. Sein Blick zeigte kaum Bewegtheit, ruhte vielmehr mit Interesse und einer Art emotionsfreier Neugierde auf Agathe. Er sah sie an, als ob ihm nichts entginge. Sie mochte so nicht angesehen werden. Sein Blick kam näher als seine vorher gezeigten schamlosen Bewegungen. Agathe zahlte und blieb sitzen.

Die Maskierte, die neben dem Mann stand, hatte ihre Gesichtsmaske abgenommen. Der Mann, der zum Vorschein kam und dem dunklen Mann vom Strand irgendwie ähnlich sah, presste sein Gesicht gegen die Auslage, nachdem er seine mit großer Behändigkeit bewegte Zunge weit aus dem Mund gestreckt hatte. Das jetzt fratzenhafte Gesicht mit schwarzen, sorgfältig frisierten, schulterlangen Locken saß auf dem mit prachtvollen Frauengewändern bekleideten Körper eines Mannes.

Die Gäste verließen das Lokal. Die beiden Männer zogen laut lachend weiter, zum Abschluss ihrer Vorstellung mit ausgestreckten Armen und nach oben gedrehten Handflächen auf Agathe deutend.

Sie wartete, trank noch einen caffè, diesmal in winzigen Schlucken, stand auf und verließ das Lokal. Die Gegend hier schien ruhiger zu sein, die Maskierten hatten sich verzogen, Touristen schienen beim Essen zu sitzen oder sich in ihre Hotels begeben zu haben. Agathe genoss die Stille dieser Stadt, die nicht durch den üblichen Lärmpegel von Städten bedrängt wurde. Hie und da hupten Vaporetti oder Taxiboote, kein weiterer Verkehrslärm existierte. Die Gasse schien im Moment menschenleer zu sein, leise plätscherte das Wasser eines Seitenarmes des venezianischen Kanalsystems, umspannt von mehreren kleinen Brücken aus Stein. Feiner Nebel lag auf dem Wasser, bewegungslos. Ein Plätschern wurde lauter, auf dem Seitenarm erschien una gondola in langsam gleitender Bewegung. Elegant und gleichförmig fuhr das schwarz gefärbte Gefährt dahin, gesteuert von einem schweigsamen Gondoliere, der Agathe freundlich zuwinkte. Il gondoliere, mit einem schwarzen, bodenlangen, umhangähnlichen Mantel bekleidet, trug einen schwarzen Dreispitz und eine weiße kurze Maske, die die Augenpartie des Gesichtes bedeckte. Seine Lippen waren hellrot geschminkt. Weiße, langgliedrige Hände bewegten auf der rechten Seite das Ruder in feinen, von unendlichen Wiederholungen geübten Bewegungen und erzählten von der Gleichförmigkeit des Berufes. In der Gondel saß ein ineinander verschlungenes Touristenpärchen, vornehmlich mit sich selbst beschäftigt, sodass die Zwei die Umgebung, in der sie sich befanden, kaum wahrnahmen und zur Kulisse degradierten. Agathe hatte die kleine Steinbrücke überquert, der Gondel nachgeblickt, nachdem sie dem Gondoliere mit einer gleichfalls freundlichen, kleinen Geste zugewunken hatte. Die Palazzi und Häuser, le case, lagen zu beiden Seiten des Kanals ruhig da, ohne Licht in den Fenstern, mit fest verschlossenen Fensterläden. Alte Gemäuer waren es, deren Schönheit im Verfall sich noch deutlicher präsentierte, auf einen nicht mehr existenten Status verwies, ohne dessen kulturelles Gedächtnis zu schmälern.

Die Venezianer präsentierten ihre Geschichte in der gegenwärtig stattfindenden Lebenswirklichkeit ohne Geschichtsanteile, ohne architektonische Fassaden abzureißen, wegzuwischen, auszulöschen. Die Stadt hatte sich seit ihrer Gründung lebendig gehalten, bloß Fassaden bröckelten zeitweise. Es wurde, symbolisch gesprochen, nichts dem Erinnerungsverlust preisgegeben, das Neue, auch das problemreich Neue, das jenseits der Lagune vom Hinterland her Importierte, gegebenenfalls Probleme Produzierende, in den Bestand integriert.

Venedig war wie der Rest der Welt auch eine Problemproduktionsstätte.

Agathe hatte Untergangsszenarien, die endgültiges Versinken der Stadt prophezeiten, als unsinnig angesehen, ohne die existierende und existenzielle Problematik Venedigs leugnen zu wollen. Die dämonisierte Unwiderruflichkeit finaler Katastrophen war ihr stets ein wenig lächerlich erschienen, keinesfalls lächerlich schienen selbst produzierte, hausgemachte Umwelt-, Lebens- und Gesellschaftsschäden zu sein. Venedig war in all seiner Einzigartigkeit nicht zuletzt eine einzigartig ideale Projektionsfläche der gesamten Welt. Venedig war kleiner Kontinent, kleine Welt, in der sich die große fand, rieb, verlor, auflöste, möglicherweise transzendierte. Venedig war ausgehend von seiner machtpolitisch betriebenen Weltgeschichte zum immateriellen Knotenpunkt der gegenwärtigen geworden oder würde es sein können. Venedig eignete sich als Reservoir poetischer Ideen, gesellschaftlicher Strategien, kultureller Szenarien, Kulturgedächtnissen, Lebensvermächtnissen, Kunstexperimenten, variantenreichen Lebenswirklichkeiten.

Hier ließ sich ubique erfinden, löschen, abladen, umdenken. Die Stadt ließ es zu, sich aufzugeben, aufzulösen, alt oder neu zu werden, zu verwandeln oder zu sterben. Die Stadt erlaubte es, die Zeit seit ihrer Gründung in der Gegenwart existieren und aktualisieren zu lassen.

Venedig war von Meer umgebene Inselgruppe, inmitten vieler kleiner, unterschiedlich wichtiger Inseln. Venedig war wichtigste Insel geworden.

Die Gondel hatte sich im Nebel aufgelöst, war hineingefahren in neblige Dunkelheit. An der Fassade eines Palazzo hing Bettwäsche, weiß und schlaff und wahrscheinlich in dem kühlfeuchten Wetter nass geblieben.

Agathe liebte diese architektonischen, verwinkelten Ausschnitte, die unzähligen Möglichkeiten, die sich an jeder Ecke, jeder Brücke, jedem Platz, ob groß, ob klein, neu ergaben und kannte keine Stadt, in der Spaziergänge, meistens im Laufschritt absolviert (ein Merkmal, woran sich der Venezianer erkennen und vom Touristen deutlich unterscheiden ließ), über die Absicht hinaus, zu einem Ziel zu gelangen, Bedeutung erhielten, interessant, abwechslungs- und verwandlungsreich waren.

Agathe war die breiten Treppen der Brücke heruntergestiegen, um eine Häuserecke gebogen.