Danksagung

 

Für die Fehler und Irrtümer im Buch bin ich allein verantwortlich. Für alles, was stimmt oder stimmen könnte, danke ich Herrn Dipl.-Ing. René Laufer, dem Fachmann für Monderkundung und Planer künftiger bemannter Mondmissionen am Institut für Raumfahrtsysteme der Universität Stuttgart. Er hat sich sofort für meine Idee begeistert und unglaublich viel Zeit genommen, mir die technischen und juristischen Dimensionen des Lebens auf dem Mond zu erklären, meine Vorstellungen von einer Mondstation mit dem Machbaren zu konfrontieren und jede Menge Ideen beizusteuern, auf die ich selbst nie im Leben gekommen wäre.

Prof. Dr. Ernst Messerschmid, dem einstigen Spacelab-Astronauten, Direktor des Instituts für Raumfahrtsysteme der Universität Stuttgart und Leiter des Europäischen Astronautenzentrums der ESA in Köln-Porz, danke ich für seine Anteilnahme an dem Projekt. Er hat mir den Mondarchäologen vorgeschlagen und meine Zweifel gemildert, ob ich Lisa Nerz denn wirklich ohne großes Training in eine Raumfähre setzen und zum Mond schießen kann. Seinen Büchern über Raumstationen und ihre Organisation verdanke ich außerdem reiche Beute an Fachbegriffen und Abkürzungen.

Mein Dank gebührt auch dem ESA-Astronauten Dr. Reinhold Ewald (Mir 1997), der sich die Mühe gemacht hat, mir die Aussprache der einzelnen Abkürzungen zu erklären und die im realen Astronauten-Latein gänzlich ungebräuchlichen Begriffe und Bezeichnungen auszusondern. Aber er trägt natürlich keinerlei Verantwortung für das Astronautenlatein, das meine lunare Besatzung spricht.

Für das stets wache Interesse, die neugierigen Fragen, Kritik und Begeisterung danke ich meinen Kolleginnen und Kollegen im SWR und dem SWR insgesamt für die großzügige und vorbehaltlose Anteilnahme an meinem Treiben.

Meiner Schwester, Maria Lehmann, und Alexander Archner bin ich dankbar fürs Testlesen und meinem Mann, Dr. Bertram Maurer, danke ich dafür, dass er mich nach einer Lesung aus dem Allmachtsdackel von Balingen nach Stuttgart chauffierte, als der fast volle Mond über der Schwäbischen Alb am Himmel stand und ich mich fragte: Wo soll Lisa Nerz das nächste Mal ermitteln?

 

Stuttgart, 29.2.2008

 

 

Sie möchten wissen, wie es mit Lisa Nerz weitergeht? Einfach umblättern zur Leseprobe von »Nachtkrater. Der 8. Fall für Lisa Nerz«.

 

Christine Lehmann

 

Nachtkrater

 

Der 7. Lisa-Nerz-Krimi

 

CulturBooks Verlag

www.culturbooks.de

cover

 

»Nehmen Sie an, Sie müssten eine längere Zeit auf dem Mond leben. Was würden Sie am meisten vermissen?« – »Mondschein.«

Arno Schmidt, 1959

Über das Buch

Als Lisa Nerz zu sich kommt, ist sie nicht mehr am Bodensee, wo sie noch kürzlich mit Richard Weber Spargel aß. Sie ist nicht einmal mehr auf der Erde – sondern unterwegs zur Mondstation Artemis! Warum? Was soll sie hier? Ist das die Strafe, weil sie schon wieder einen Mord gewittert hat? Der Tod des Astronauten Torsten Veith schien ihr Ungereimtheiten aufzuweisen. Aber auf dem Mond geht für Lisa Nerz der Ärger erst richtig los ...

 

Mord und Mondstaub: Dieser Krimi entspricht dem Stand der Technik, alle Fakten sind wissenschaftlich fundiert. Doch Hightech spielt nur eine Nebenrolle, denn wo Menschen hinkommen, gibt es Spekulantentum, Hass, Neid, Eifersucht ... Christine Lehmanns innovativster Kriminalroman. Furios!

 

»Lehmann legt ihre Bücher an wie Backsteine, die gefälligst Fensterscheiben zu zerschmettern haben. Nerz ist provokant, reizbar und schredderzüngig, trotz ihrer Schläue agiert sie reflexhaft antiautoritär. Allerdings schreibt Christine Lehmann nie in zittrigen Tönen deprimierter sozialer Schadensvermessung. Die Streitlust von Lisa Nerz drückt sich in der Dynamik, Frechheit, Wendigkeit ihrer Sprache bestens aus.« Stuttgarter Zeitung

 

»Lehmann kann das, souverän und überzeugend.« kaliber 38

 

»Sie ist den meisten deutschen Krimischreibern haushoch überlegen. Man kann sich diesen Sound nicht antrainieren. Bei Lehmann beruht er auf Menschenkenntnis, Lebenserfahrung, Selbstironie und Belesenheit.« Perlentaucher

 

Über die Autorin

Christine Lehmann lebt in Stuttgart und Wangen (Allgäu), ist als Nachrichten- und Aktuellredakteurin beim SWR tätig und schreibt Romane, Kurzkrimis, Kriminalhörspiele (Radio Tatort) und Glossen. Mehr Informationen finden Sie auf ihrer Homepage.

 

Weitere Lisa-Nerz-Krimis finden Sie auf CulturBooks.

 

 

 

Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2016

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, info@culturbooks.de

www.culturbooks.de

Alle Rechte vorbehalten

Printausgabe: © Argument Verlag 2008

Lektorat: Iris Konopik

Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: 17.05.2016

ISBN 978-3-95988-050-3

 

Die Ereignisse sind, wie es sich für einen Roman gehört, reine Erfindung. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Astronautinnen und Astronauten wären rein zufällig.

Die terrestrische Besatzung

Lisa Nerz, Schwabenreporterin, stolpert über Leichen und vermutet Mord auf dem Mond, obgleich nichts darauf hindeutet.

Dr. Richard Weber, Oberstaatsanwalt für Wirtschaftsstrafsachen beim Landgericht Stuttgart und Fachmann für Weltraumrecht, wäre gern mitgeflogen.

Sally Simpson, Lisas Freundin, hat ihr einst das Leben gerettet und Lisa danach in ihre Menagerie von drei Katzen und einem Hund eingegliedert.

Oma Scheible, der Hausdrache in der Stuttgarter Neckarstraße, wo Lisa Nerz wohnt. Verfügt über einen reichen Vorrat an Geschichten über Siechtum und Tod.

Torsten Veith wollte die Mondgöttin heiraten, hatte diesbezüglich eine Wette mit seinem Schulfreund Gunter Maucher laufen und ist nun tot.

Joachim Rees, auch Jockel genannt, Vorsitzender des Mond-Clubs und Geldbeschaffer für Weltraummissionen. Fiktiver Neffe des realen Trossinger Weltraumpioniers Eberhard Rees, der zusammen mit Wernher von Braun die Apollo-Missionen der USA geplant hat. Nennt das Schloss von Ratzenried sein Eigentum.

Cecilie Rees, Jockels Frau, eine knitze Theologin, die im EU-Ethikrat etwas zu sagen hat, alle Mondmythen kennt und dem Glauben nicht abgeneigt ist, dass extraterrestrische Wesen einst auf der Erde gelandet sind.

Julie, alias Schüssi, ist die Nichte von Jockel und Cecilie Rees, auch wenn es zunächst anders aussieht.

Gunter Maucher ist Spross einer alten oberschwäbischen Tüftlerfamilie und Geschäftsführer der SSF, der Space Systems Friedrichshafen. Möchte den Mond besitzen.

Viola Maucher, Gunters Frau. Hält die Weltraumprojekte für zu teuer, vor allem angesichts der Klimakatastrophe auf der Erde.

Michel Ardan ist ein eitler französischer Journalist und Weltraumkritiker, der hinter allem eine Verschwörung vermutet und fest glaubt, dass es extraterrestrisches Leben gibt.

Die lunare Besatzung

Leslie Butcher, Kommandant der Artemis im Rang des Colonel (Oberst), ein Amerikaner mit Tic und Entscheidungsschwäche.

Zippora Eschkol, Neurologin aus Israel im Rang des Aluf Mischna (Oberst) mit Blick für gruppendynamische Prozesse und verwirrender Schwerhüftigkeit.

Artjom Pilinenko, undurchsichtiger russischer Vizekommandant im Rang des Polkownik (Oberst), trägt eine Waffe.

Wim Wathelet, belgischer Stationsarzt im Rang des Lieutenant-Colonel. Ist der Meister der Blutproben und älter, als er aussieht.

Ho Yanqiu, heimliche Mondgöttin aus Beijing und Spezialistin für Raumanzüge und Computer, hat ihre Cremetöpfchen und Geheimnisse.

Gail Taylor, First Lieutenant ohne Kinn, aber mit Nase und berückender Laszivität im Augenaufschlag, ist Ingenieurin, medizinisch-technische Assistentin und die unumstrittene Herrscherin im Mädchenquartier, bis Lisa Nerz ihr in die Quere kommt.

Rhianna McFinn, Roverfahrerin aus Boston, Verfahrensingenieurin und Methodistin und hält meistens verkniffen die Klappe.

Tamara Jagelowskaja, russische Ingenieurin für menschliche Angelegenheiten, notiert verbesserungswürdige Dinge, geht dem Kommandanten zur Hand und macht die Laborbelegungs- und Außeneinsatzpläne.

Morten Jörgensson, dänischer Mondarchäologe aus Roskilde, sammelt Weltraumschrott und Steine und hofft auf extraterrestrische Technik und Spuren von Leben auf anderen Planeten.

David Hirsch, verschwitzte Stimme von Radio High Moon, US-Bürger und Erster Systemadministrator, hält nicht viel von Datenschutz und fühlt sich unentbehrlich.

Robert Roca, kurz Bob, Roverpilot und Systemtechniker aus Chicago, groß wie ein Schrank, langt schon mal ordentlich zu.

Fred Lamonte, Bobs Arbeitszwilling aus Luxemburg, wenn auch von Statur eher schmächtig, ist ebenfalls Roverfahrer und Bohrsystemspezialist. Neigt zum Hyperventilieren.

Abdul as-Sharif, Pakistani im Rang eines Havilder (Unteroffizier), gehört zum Stamm der Fakire, ist Schlangenbeschwörer und Softwarespezialist mit Gespür für geheime Botschaften in Dateien und das Muster hinter den Erscheinungen.

Tupac Vaizaga, Indianer vom Stamm der Tupiguaraníes aus Bolivien, Biologe mit medizinischer Ausbildung, züchtet Hanf im Biolab und ist Spezialist für verlorene Seelen.

Nguyen Van Sung, Südkoreaner und Leiter des Biolab, wirkt harmloser, als er ist. Als Buddhist hat er nie eine Seele besessen und fürchtet sich deshalb nicht vor dem Tod.

Sergei Kascheschkin, Astrophysiker aus Kasachstan, trauert, weil ihm die Frau weggelaufen ist und der Mond seine Poesie verloren hat.

Georg Giffhorn, alias Gonzo aus Berlin, der zweite Astrophysiker auf der Artemis. Ist auf der Suche nach dem Urknall und glaubt, dass man ihn wirklich braucht.

Krzysztof Skarga, Pole, dankt der Schwarzen Madonna aus Tschenstochau, sucht nach Antimaterie von fernen Galaxien und hantiert mit Plasma, was man auch die Kugelblitz-Experimente nennt.

Giovanni Boccetto, Ingenieur aus Mailand, bastelt Bioroboter in Insektengestalt zur Monderkundung und hält Arbeitsaufträge für Beschäftigungstherapie.

Franco Llacer, Katalane aus Barcelona, Europaabgeordneter, hat in der politischen Tombola eine Mondreise gewonnen.

Pjotr Turenkow, Astrotourist aus Petersburg, Energiemagnat, war Mitglied der U-Boot-Besatzung, die 2007 die russische Flagge in den Meeresgrund unterm Nordpol gerammt hat.

Mohamed bin Salman al-Sibarai’I, Astrotourist aus Saudi-Arabien, einfach nur reich, spielt gern Schach.

Rakesh Chaturvedi aus der Kaste der Brahmanen ist ebenfalls Tourist, indischer Softwaregigant und ein Heiliger, der die Kunst der Meditation so perfektioniert hat, dass er eins wird mit der Mondgöttin.

Eclipse van Wijk, Südafrikaner, ist stolz auf seine etwas dunklere Hautfarbe, besitzt Diamantminen in Südafrika und Namibia und spielt gern Gesellschaftsspiele.

 

Fachwörter und Abkürzungen werden entweder gleich erklärt oder sind so unwichtig, dass Sie sie sich nicht merken müssen. Oder aber Sie schauen sie im Anhang nach. Dort finden Sie auch Erläuterungen zu den Zitaten an den Kapitelanfängen.

1

»Für die Mondbewohner steht die Erde fest, wie mit dem Nagel an den Himmel geheftet, unbeweglich am selben Ort, und hinter ihr ziehen die Gestirne und auch die Sonne von Ost nach West vorbei.« Somnium, Johannes Kepler, 1630

 

Mit Magnetbürsten schrubbten wir den unglaublich klebrigen Staub von den Stiefeln. Ich nieste existenziell zwanghaft. Und gleich noch mal. Es roch nach abgebrannten Silvesterknallern.

»Ja«, lachte Gonzo, »das ist der Duft des Mondes.«

»Dabei hat Mondstaub chemisch nichts mit Schießpulver zu tun«, behauptete Franco. »Regolith besteht aus Silikondioxidglas. Das Ergebnis von Abertausenden von Meteoriteneinschlägen in den vergangenen vier Milliarden Jahren.«

Gespeicherte stellare Böller also, olfaktorisch lesbar. Dabei hatten wir den Mond gar nicht direkt betreten. Wir waren aus der Fähre gleich in den Stationsport gewankt. Aber Mondstaub kriecht überall rein, winzig, scharfkantig und aggressiv.

»Und wenn er mit Sauerstoff und Feuchtigkeit in Berührung kommt, dann reagiert er. Das kennt man von der Erde. Wenn es lange trocken war und plötzlich regnet. Dann riechen die Straßen nach Staub und ... Urin.« Franco lachte.

Auch recht. »Hat jemand ein Tempo?«

Nein, woher auch? Himmel, ist das eng alles!

Eine dienstfertige Chinesin schraubte und zog uns aus den Raumanzügen und schickte uns nacheinander in die Magnetdruckwasserdusche. Angetan mit violetten Anzügen aus einem synthetischen Stoff hüpften wir anschließend durch einen Gang. Seine Decke war gepolstert. Sonst hätte sich Franco sicher gleich den Schädel gerammt. Immer wieder lupfte es ihn vom Boden.

Hinter einer weiteren Druckschleuse erwartete uns Tamara. Sie sah auch so aus: vollbusig, schwarzhaarig, mandeläugig.

Franco murmelte auf Spanisch oder Katalanisch anerkennende Schweinereien vor sich hin. Während des Flugs hatte ich mir drei Tage lang seine Referate über die Frauenärsche der Welt anhören müssen. Das Gerede über Titten verstehe er nicht, auf den Hintern komme es an. In Europa hatten die Spanierinnen die schönsten, deutsche Ärsche waren zu flach, französische zu klein. Die wunderbarsten Ärsche auf dem Globus aber hatten die Brasilianerinnen. »Puta madre!«

»Willkommen auf der Internationalen Mondstation Artemis«, sagte Tamara. »Kommandant Colonel Leslie Butcher und seine Crew wünschen euch einen angenehmen und erfolgreichen Aufenthalt.« Sie sprach Amerikanisch mit russischem Akzent. »Ich bin«, sie legte beide Hände übereinander auf die Brust, knapp oberhalb ihrer üppigen Titten, »Tamara Jagelowskaja, eure Ansprechpartnerin in allen Fragen des human factors engineering.« Unübersetzbar! »Hier sind eure Uhren.«

Und eng war das! Gonzo keuchte mir ins Genick. Franco rubbelte in seiner virilen Unruhe mit seinem Ellbogen meine Rippen. Jeder Zentimeter Wand um uns herum war Nutzfläche für Schalter, Schubladen, Kabel, Messgeräte, Werkzeuge, Laptops, Kameras und Automaten zwischen Kabelbündeln, Kabelrollen, Kabelgirlanden und Kabelenden. Seit Tagen schon hatte ich nur noch genormte Schubladenwände mit Schaltern, Knöpfen und Anzeigen wenige Zentimeter vor meinen Augen gehabt, selbst die Sterne hatten sich im Bullauge der Fähre zu einem Nahbild verdichtet. Und beständig bohrte sich das Gebrumm der Belüftung durch den Schädel. Nie leise genug, dass man es ganz vergaß.

»Bitte tragt die Uhren immer direkt auf der Haut«, sagte Tamara. »Sie enthalten im Armband einen RFID-Chip mit Sensor, der Alarm auslöst, wenn die Temperatur unter 36 Grad Celsius sinkt oder über 39 Grad steigt.«

Gonzo nickte verständig. Der Astrophysiker aus Berlin hatte schon während des Flugs den Alleskönner rausgehängt. »Ein Nazi, eh!«, hatte Franco mir ins Ohr gewispert. Mir hatte er französische Leichtigkeit bescheinigt, Laisser-faire.

»Du bist«, sagte Tamara mit Blick auf ihren Handcomputer, »also Dr. Georg Giffhorn aus Berlin. Aufenthalt: drei Monate.«

Gonzo legte sich die Uhr mit geübtem Griff an.

»Dann bist du Franco Llacer?« Tamara lächelte. »Der Europaabgeordnete aus Barcelona. Willkommen! Und du«, sie richtete ihre schwarzen Mandelaugen auf mich, »bist dann wohl Dr. Michel Ardan aus Marseille. Der Ameisenspezialist! Unser Retter!«

Franco hatte mich Miguel genannt. Gonzo hatte Mischel gesagt. Ich hätte sonst gar nicht gewusst, wer ich war.

Tamara lächelte sich an mich heran. Kühle Finger nestelten die Omega Speedmaster Professional an meinem Handgelenk fest. Ich wich zurück, so weit es ging, bevor ihre Tittenspitzen meinen Tittenspitzen ins Gehege kamen.

»Zum weiteren Prozedere ...« Sie lächelte hostessig in die Runde. »Zunächst einmal schauen wir bei Dr. Wathelet zum Gesundheitscheck vorbei.«

Panik durchschoss mich völlig unvorbereitet. Ein erstes Gefühl nach den Tagen innerer Totenstarre unter Schock.

2

»Jetzt aber ragt sie unter den lydischen Frauen hervor wie nach Sonnenuntergang der rosenfingrige Mond, der alle Sterne überstrahlt.« Arignotalied, Sappho, ca. 600 v. Chr.

 

Der Spargel war schuld, dass ich auf den Mond gekommen war. Bruchsaler Raketen, auf den Punkt gegart, mit Sauce Hollandaise, Schinken und Kartoffeln.

Auf der Fahrt durch die Stuttgarter Tunnel nach Sindelfingen hinaus hatte Richard mich kurz instruiert: »Sie heißt Viola, er Gunter Maucher, Chef der SSF, Space Systems Friedrichshafen.«

»Und was soll ich da?«

»Dich benehmen, Lisa! Und zwar so wie immer!«

»Wieso? Ist da jemand plötzlich und unerwartet verstorben?«

Die Gastgeberin trug grüngoldene Hosen und ein darauf abgestimmtes grüngelbes Designerjäckchen aus einem Schaufenster am Münchner Stachus.

»Ah, Frau Nerz, freut mich! Schon viel von Ihnen gehört«, sagte sie und musterte mich und meinen violetten Smoking mit dem skeptisch-spöttischen Lächeln, mit dem man in diesen Kreisen die unpassende Gespielin des Oberstaatsanwalts für Wirtschaftsstrafsachen beim Landgericht Stuttgart zur Kenntnis nahm.

Gunter Maucher war Ende dreißig, trug ein violettes Polohemd zu braunen Hosen, reißnagelkurzes Haar und ein sportliches Lächeln. Sein Händedruck war dynamisch und kam vom Power Plate her, einem Fitnessbrett, das Vibrationen erzeugte, »dreidimensionale!«, und je nach Turnübung bestimmte Muskelpartien zum Zucken animierte. »Funktioniert über die Reflexe! Eine Errungenschaft der Raumfahrt. Die Russen haben das für die Mir entwickelt, um den Muskelabbau in der Schwerelosigkeit zu bremsen.«

Zu irgendwas war die Raumfahrt also doch gut. Cipión zerrte in Richtung Küche und röchelte im Halsband.

»Die Teflonpfanne hingegen« – die hatte ich gerade erwähnen wollen – »hat mit der Raumfahrt nichts zu tun. Das ist ein weitverbreiteter Irrtum. Aber schaden tut er uns nicht. Nicht wahr, Jockel?«

Jockel war mit einer Schickse gekommen, die zwar nicht zu seinem Alter passte, dafür aber seinem silbernen Porsche Carrera gut stand. Er war ein fleischiger Mann Ende sechzig und so bedeutend, dass er es sich leisten konnte, die Erklärung seiner Existenz anderen zu überlassen. Jockels Schickse hieß, genuschelt, Schüssi.

Bei Tisch hatten wir es vom viel zu warmen Frühling, von Gunters Meniskus und Jockels Tachykardie. Viola Maucher steuerte Rheuma bei. Nuschel-Schüssi bewachte solange ihren Lippenstift und fingierte ein Lächeln. Seit neuestem neigten sich Tischgespräche viel zu schnell allerlei Krankheiten zu. Der andere Part gehörte den Heldentaten in der Welt von Nepp und Schnäppchen.

»Heute früh gestochen!«, erklärte Gunter mit großen Gesten, als Viola den Spargel auftrug. Er war am Morgen extra nach Stuttgart hinuntergefahren, um bei Feinkost Böhm mit eigenen Augen den Spargel auszusuchen. »Man hätte ihn sich auch schälen lassen können, aber als ich die Vierkanthölzchen sah, die dabei rauskamen, da habe ich gedacht, das kann meine Viola besser.«

Schüssi lachte sinnentleert. Sie war intensiv damit beschäftigt, sich im Gravitationsfeld der drei männlichen Mächte am Tisch zu justieren: Gunter Maucher, der Schwätzer, Jockel, ihr Schmuckspender, und meiner, Dr. Richard Weber, Oberstaatsanwalt, geschmeidig und wortkarg: eine unbekannte Größe von starker Anziehungskraft.

»Eigentlich mag ich keinen Spargel«, verkündete sie mit Glosslippen. »Ich kann den Geruch nicht leiden. Ich meine, hinterher.« Sie lachte springbusig und glitzerte Richard an, der seine Gedanken unweigerlich dem zuwandte, was auf dem stillen Örtchen zwischen Schüssis Schamlippen hervorkam.

»Also, ich verstehe die Aufregung in den Medien nicht«, sagte Gunter. »Auf dem Mount Everest sterben jedes Jahr fast zweihundert Menschen. Das ist eine Todesrate von acht Prozent. Vom Gasherbrum II kommt nur jeder Zweite lebend wieder runter! In der Raumfahrt liegt die Todesrate dagegen bei nur zwei Prozent. Doch kaum stirbt da oben einer, stellen die Medien die ganze Raumfahrt in Frage. Torstens Tod ist tragisch, gewiss! Besonders für mich. Mein Gott, der Torti und ich, wir sind doch zusammen in Wangen im Allgäu auf die Schule gegangen. Er hat immer Astronaut werden wollen. Er kannte das Risiko.«

»Und seine Frau und die Kinder, wer hat die gefragt?«, fragte Viola anklagend. »Er hinterlässt drei Kinder!«

»Die Familie ist versorgt«, brummte Jockel fleischig. »Wir haben eine Stiftung für so was.«

»Geld ist nicht alles!«

»Aber nur mit Geld kann man Probleme lösen!«, brummte Jockel.

Schüssi lachte und warf mir einen Komplizinnenblick zu, denn immerhin steckte mir ein Einkaräter im Ohrläppchen, was mich markierte als eines Mannes Kurtisane. Den teuersten Schmuck trug allerdings Viola. Sie gehörte zu den Damen, die es sich zur Lebensaufgabe gemacht hatten, basisch zu leben, glutenfrei und linksdrehend zu essen und das Leid anderer in Anklagen zu verwandeln.

»Und niemand will sagen, woran er wirklich gestorben ist.« Viola bündelte für Richard vorwurfsvoll die Spargelstangen. »Die arme Susanne. Wie früher: gefallen auf dem Feld der Ehre. Mehr sagt man ihr nicht. Da geht es schließlich um ein Millionengeschäft.«

Richard schob seinen Teller unter das tropfende Gemüse.

»Milliarden!«, korrigierte Gunter im Reflex eingespielter ehelicher Überlegenheitsscharmützel. »Das verwechselt Viola immer.« Er lachte. »Nicht wahr, Schätzelchen?«

Schätzelchen schossen die Raketen über Richards Teller hinaus. »Oh, Verzeihung!«

»Nix passiert.« Seinen cognacfarbenen Anzug hatte Richard samt seiner Person aus der Schussbahn nehmen können. Gegen allen Anstand klaubte er mit den Fingern eine dampfende Stange vom Platzdeckchen auf seinen Teller. Ein Torpedo hatte den Tisch verlassen und war Cipión vor die bärtige Schnauze gefallen. Der Dackel schnüffelte angewidert.

»Lass liegen, Richard!«, rief die Hausherrin, doch er hatte sich bereits gebückt. Am ausgestreckten Arm trug Viola die Spargelstange auf ihrem Teller in die Küche.

»Die Sauce Hollandaise ist doch selbstgemacht?«, erkundigte ich mich und schnüffelte unerzogen über die Sauciere nach dem, was bei mir zu allergischen Schocks führen mochte. Mein eigenes Leben war mir doch näher als das des Astronauten, der vor vier Wochen tot durch die Nachrichtensendungen getragen worden war: beim Mondspaziergang ums Leben gekommen.

»Susanne wusste, wen sie heiratet«, sagte Gunter. »Sie kannte Torti seit der Schulzeit. Wir hatten da sogar eine Wette am Laufen, der Torti und ich.«

»Was für eine Wette?«, fragte ich und säbelte dem Spargel die Köpfe ab.

»Also ich würde sterben vor Angst, wenn mein Mann auf den Mond fliegen würde«, kicherte Schüssi dazwischen.

»Bald haben wir sowieso kein Geld mehr für so was!«, verkündete Viola. »Die CO2-Bilanz von Raumflügen ist inakzeptabel. Und wir haben doch jetzt schon dermaßen Probleme auf der Erde wegen der Klimakatastrophe, dass eigentlich niemand mehr Raumfahrtprogramme bezahlen kann.«

Gunter verzog das Gesicht und murmelte: »Dann wird der Mond vielleicht unsere einzige Rettung sein. Unser siebter Kontinent.«

»Wir haben sowieso keine andere Wahl!«, bruddelte Jockel. »Wollen wir denn wirklich ewig von russischem Erdgas abhängig sein? Wollen wir unsere Freiflächen mit Windkraftanlagen und Solarzellen pflastern? Unsere einzige Zukunft ist die saubere Kernfusion.«

»Da ist noch gar nichts geschwätzt«, unterbrach Richard kenntnisreich. »Die saubere Heliumfusion hat noch keiner zuwege gebracht, und euer Testreaktor in Frankreich mit dem lateinischen Buchstabenhaufen Iter für Weg, der befindet sich gerade mal auf demselben. Und auf einen Grundstoff setzen, den es auf der Erde so gut wie gar nicht gibt, das scheint mir ...«

»Auf dem Mond gibt’s Unmengen Helium-3«, unterbrach Gunter.

»Aber eben nur auf dem Mond!«

»Aber es rechnet sich!«, warf Gunter ein.

»Und genau deshalb muss der Mond europäisch sein«, bruddelte Jockel dazwischen. »Wir dürfen nicht alles den Amerikanern, Russen und Chinesen überlassen. Eine Tonne Helium-3 vom Mond ist vier Milliarden Euro wert. Wer dort Helium abbaut, wird sich dumm und dämlich verdienen. Glücklicherweise sieht die Kanzlerin das mit der Raumfahrt ein bissle anders als dieser Gazprom-Stoffel vorher. Sie ist immerhin Physikerin. Wenn auch der EU-Etat für die Weltraumforschung nur ein Nasenwasser ist, verglichen mit dem, was die USA oder Japan ausgeben.«

Meine Spargelköpfe waren kalt und schmeckten nach Schwefel.

»Der Mond darf niemandem gehören, finde ich«, sagte Viola. »Finden Sie das nicht auch, Frau Nerz?«

»Äh!«

Gunter stellte die Weinflasche aus Violas Reichweite.

»Gibt es da nicht den Weltraumvertrag?«, stocherte ich in den Untiefen meiner Viertelbildung.

»Ja«, übernahm Richard mühelos. »Der Vertrag über die Grundsätze zur Regelung der Tätigkeiten von Staaten bei der Erforschung und Nutzung des Weltraums einschließlich des Mondes und anderer Himmelskörper aus dem Jahr 1967. Den haben immerhin hundert Staaten unterzeichnet.«

Viola lachte auf. »Aber sicher nicht die USA

»Sogar die USA. Der Vertrag sollte damals verhindern, dass Atomwaffen ins All gebracht werden. Er legt fest, dass der Weltraum und seine Gestirne nur zu friedlichen Zwecken genutzt werden dürfen. Das legen die Amerikaner allerdings inzwischen anders aus als die Russen. Die USA verstehen unter friedlich nicht aggressiv, während die damalige Sowjetunion von nicht militärisch ausging.«

Der Spargel stellte sich in meinem Magen quer.

»Mir gehört schon ein Stück vom Mond!«, triumphierte Schüssi. »Jockel hat mir ein Mondgrundstück zum Geburtstag geschenkt. Da gibt es einen Amerikaner, der verkauft Mondgrundstücke. Ich hab zu Jockel schon gesagt: Kauf doch gleich den ganzen Mond.«

Jockel blickte von seinem Teller auf.

»Aber da kann doch nicht einfach einer behaupten«, fuhr Viola hoch, »ihm gehöre der Mond, und dann Grundstücke verkaufen! Oder? Richard, was sagst du dazu, du als Staatsanwalt?«

»Oh, das ist kompliziert«, antwortete der Jurist vergnügt. »Soviel ich weiß, hat dieser Amerikaner sich im Grundbuchamt von San Francisco seine Besitzansprüche auf den Mond eintragen lassen und dann UNO, USA und die damalige UdSSR informiert. Augenscheinlich hat niemand innerhalb der ausgesetzten Frist von acht Jahren Berufung eingelegt.«

»Also müssten NASA oder ESA jetzt mich fragen, wenn sie mein Grundstück nutzen wollten«, sagte Schüssi. »Ich könnte Pacht verlangen und reich werden.«

»Sicherlich nur auf dem Klageweg«, lächelte Richard. »Und es würde ein sehr, sehr langer Klageweg werden, und ein sehr teurer mit äußerst ungewissem Ausgang.«

Jockel senkte seinen Blick wieder ins Gematsche von Sauce Hollandaise, Kartoffeln, Schinken und Spargel.

»Ihr wollt den Mond doch bloß ausbeuten, alle miteinander«, rätzte Viola.

»Frogs und Borgs aller Sonnensysteme, vereinigt euch!«, rief ich mit geballter Faust im violetten Smoking.

»Ja«, sinnierte Richard, »es lässt uns nicht kalt, wenn es um den Mond geht, das Auge der Nacht, den Weichzeichner der Liebe, den Folterknecht unserer schlaflosen Nächte.«

Schüssi schmachtete.

»Dabei ist er nur ein totes Absprengsel der Erde«, lächelte Richard verträumt. »Der Leichnam der Welt: lebensfeindlich, unbewohnt und unbewohnbar. Dennoch werfen wir unsere Phantasien hinauf, sehen einen Mann, ein Gesicht, ein Kaninchen, Meere und Ozeane.«

»Krass!«, lispelte Schüssi.

Richard richtete seinen Blick aus seinen asymmetrischen milchkaffeebraunen Augen auf die Schöne. »Und wisst ihr, wer den ersten echten Science-Fiction-Roman geschrieben hat, der ausschließlich von einer Reise zum Mond handelt?«

Er durfte damit rechnen, dass Schüssi den Kopf schüttelte. Auf diese Weise ersparte er es den anwesenden Männern, ihre Unwissenheit zu offenbaren. Mit Jules Verne hätten sie und ich danebengelegen.

»1595, Johannes Kepler«, sagte er. »Somnium heißt seine Schrift, auf Latein geschrieben. Kepler hatte als Student in Tübingen seinen Herren Professoren in einer Disputation vor Augen führen wollen, dass man auch auf dem Mond glauben würde, man befinde sich im Mittelpunkt der Planetenbewegungen, so wie man das auf der Erde glaubte. Aber den Tübinger Professoren war das viel zu nah am kopernikanischen Weltbild.«

Schüssi sah nicht aus, als sei ihr das ein Begriff. Ich sah vielleicht so aus, aber mir war es auch kein Begriff.

»Kopernikus hatte neunzig Jahre vorher die Sonne ins Zentrum der Planetenbewegungen gerückt«, erklärte Richard. »Aber der Kirche fiel es saumäßig schwer, vom Glauben Abschied zu nehmen, dass der Schöpfer die Welt ins Zentrum gestellt haben müsse. Keplers Traum wurde zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlicht. Weil der Schwager über dem Druck verstarb, hatte dessen Sohn eine Heidenangst, dass es auch ihn dahinraffen würde. Erfolgreich war das Büchlein auch nie. Es beginnt wie ein Märchen. Der Erzähler schläft ein und träumt von Duracotus, einem Jungen, der mit seiner Mutter, der Kräuterhexe Fiolxhilde, in Island lebt. Sie verkauft Kräuter an Fischer und Seefahrer. Eines Tages öffnet Duracotus einen Kräuterbeutel, der an einen Kapitän verkauft werden sollte, und verschüttet den Inhalt. Die Mutter ist so sauer, dass sie den Jungen anstelle der Kräuter an den Kapitän verkauft. So gelangt Duracotus nach Dänemark in die Lehre des Astronomen Tycho Brahe. Fünf Jahre später kehrt er heim. Fiolxhilde meint, es sei ja gut und schön, was der Bub alles von Tycho über den Mond gelernt habe, aber sie kenne einen Dämonen, der könne ihn sogar zum Mond bringen.«

»Cool!«, rief Schüssi.

»Fast hundert Jahre bevor Newton sich fragte, warum der Apfel nach unten fällt, und die Gravitationsgesetze entwickelte, war Kepler klar, dass man die irdische Gravitation überwinden muss, und zwar mit einem Schuss wie aus einer Kanone, und dass das Fluggerät dann ohne Antrieb durch die Schwerelosigkeit fliegt. Er wusste, dass beim Start starke Kräfte auf den menschlichen Körper wirken. Keinen von sitzender Lebensart, keinen Beleibten, keinen Genussmenschen könne man das zumuten, und der Reisende müsse vorher durch Opiate betäubt und seine Glieder sorgfältig verwahrt werden, damit sie ihm nicht vom Leibe gerissen würden.«

Jockel gab einen anerkennenden Laut von sich.

»Kepler wusste, dass der Monddurchmesser einem Viertel des Erddurchmessers entspricht, und selbstverständlich hatte er beobachtet, dass er uns immer dieselbe Seite zukehrt. Auch auf dem Mond geht demzufolge die Sonne auf und unter, aber ein Tag entspricht etwa einem irdischen Monat, auch das wusste Kepler. Er schloss daraus, dass auf der Mondoberfläche extreme Temperaturunterschiede herrschen müssen, unerträgliche Hitze, wohl fünfzehnmal so glühend wie die in unserem Afrika, und eisige Kälte. Eigentlich muss Kepler auch gewusst haben, dass der Mond keine Atmosphäre hat. Denn das konnte man schon in der Antike erkennen, wenn man beobachtete, wie ein Stern hinter dem Mond verschwand. Man sieht nämlich, dass er plötzlich verschwindet, ohne vorher in einer Luftschicht zu verschwimmen. In seinem Traum sieht Kepler dennoch Eis und Schnee auf den kalten Teilen des Mondes und riesige Gewässer. Und er kam auch nicht umhin, sich Leben auf dem Mond zu denken. Er beschreibt Fabelwesen, die sich der Lebensfeindlichkeit der Mondnatur angepasst haben. Ein Gedanke, der erst vierhundert Jahre später von Charles Darwin aufgegriffen wurde.« Richard lächelte versonnen. »Es zeigt sich doch immer wieder, dass alle Ideen in der Menschheit längst vorhanden sind, bevor irgendein Wissenschaftler sie aufgreift und damit berühmt wird.«

Fast hätte ich mich verschluckt.

Auch Jockel gab einen unwilligen Ton von sich. »Und was ist mit den Irrtümern?«, gurgelte er aus der Tiefe seiner massigen Brust heraus. »Mit Aberglauben kann nur die Wissenschaft aufräumen!«

»Aber erst, wenn man bereit ist, ihr zu glauben, Jockel! Wer hat denn Tobias Mayer geglaubt, als er Mitte des achtzehnten Jahrhunderts schrieb, dass der Mond keinen Luftkreis habe und folglich unbewohnt sein müsse? Übrigens ein Landeskind, in Marbach am Neckar geboren und in Esslingen aufgewachsen.«

Viola stand auf und trug die Teller hinaus.

3

»Sie wollen die Fahrt zum Monde ... die Fahrt auf den brüllenden Flammen ... zu meinem goldenen Monde wagen?« Frau im Mond, Thea von Harbou, 1928

 

»Da hast du aber eine Eroberung gemacht«, stichelte ich, während wir in Richards diplomatendunklem Benz unterm Dreiviertelmond um den Schattenring schleuderten und Cipión, von der Zentrifugalkraft gegen mein Bein getrieben, seine Schnauze in die Fußmatte stauchte und nieste. »Schüssi war ja ganz hin und weg!«

»Wer?«

»Die Schickse, die nach dem Genuss von Spargel so ungern strullen geht, Richard. Die Mondfleckenbesitzerin, mit der du dich den ganzen Abend unterhalten hast.«

»Ach, du meinst Julie!«

»Und was hat sie so gewusst?«

»Nichts.«

»Ah ja!«

»Mein Gott, sie arbeitet im Shop des Zeppelinmuseums in Friedrichshafen. Das hat sie mir erzählt.«

»Das muss ja ein faszinierender Job sein.«

»Lisa! Du haderst doch wieder nur ...«

»Und was will dieser fleischige Jockel mit dem Mond machen, wenn er ihn gekauft hat?«, unterbrach ich Richard, ehe er Wahrheiten benannte.

»Dieser Jockel ist Joachim Rees, Lisa!«

»Ach, Gott!«, rief ich. »Das war Joachim Rees! Der?« Wenn ich es genau bedachte, hatte ich keine Ahnung. »Und was macht der noch mal genau?«

Richard schmunzelte. »Er ist der Neffe von Eberhard Rees, dem Raketenspezialisten aus Trossingen im Schwarzwald, der im Stuttgarter Zeppelin-Gymnasium« – das lag gleich neben der Staatsanwaltschaft in der Neckarstraße – »zwischen den Kriegen Abitur gemacht, an der Stuttgarter TH studiert hat und dann der erste Mann hinter Wernher von Braun war, erst in Peenemünde beim V2-Raketenprogramm der Nazis, dann in Amerika beim Apollo-Programm. Sein Neffe Jockel war ebenfalls für die NASA tätig und ist jetzt der Vorsitzende des Mond-Clubs mit Sitz in oberschwäbischen Ratzenried.«

Ich musste lachen.

»Lach nicht. Der Mond-Club vereinigt Mitglieder aus allerhöchsten Ebenen der Luft- und Raumfahrtindustrie und ist einer der größten Umschlagplätze für Gelder, die in konkrete Projekte auf dem Mond fließen.«

»Da geht es um Milliarden«, gluckste ich.

»Ganz recht. Jockel hat dafür gesorgt, dass in den Projekten von ESA, NASA, JAXA – das sind die Japaner – Roskosmos und ISRO – Indien – immer mehr Technik und Know-how aus Baden-Württemberg steckt.«

»Haben wir denn so viel No-Hau?«

Richard hob stolz das Schwabenkinn. »Wir laufen Bayern bald den Rang ab in Sachen Weltraumtechnik. Wir haben Tesat-Spacom in Backnang für Satellitenmodule, Hoerner & Sulke in Schwetzingen – übrigens von einer Frau geleitet! – für Detektoren, Stereokameras und Massenspektrometer für ISS und Artemis. Wir haben das Forum 1 auf dem Flugfeld in Sindelfingen, das sich dem Raumfahrtgewerbe widmet. An der Uni Stuttgart werden Antriebs- und Transportsysteme entwickelt. Die EADS-Astrium Friedrichshafen ist Spezialist für magnetisch reine Systeme für Satelliten. Wir haben die DASA als größtes Luft- und Raumfahrtunternehmen in Deutschland, das seine Wurzeln in der MTU Friedrichshafen hat, die ...«

»Und jetzt will der Club den Mond kaufen?«, unterbrach ich Richards Wissenserguss.

»Unsinn! Der Mond wird denselben Status haben wie der Nord- und Südpol.«

Wir rollten über die Nesenbachtalbrücke in den Viereichenhautunnel, der nach einer kurzen Ampellichtung in den Heslacher Tunnel überging.

»Wenn man Gunter und Jockel reden hört«, bemerkte ich, »dann scheint mir das eher unwahrscheinlich. Ich sage nur Helium-3.«

»Man muss das Zeug erst einmal haben, Lisa. Helium-3-Atome werden vom Sonnenwind auf den Mond geblasen und von Meteoriteneinschlägen unter den Mondstaub gerührt. Helium ist ein Edelgas. Es lagert als Gasbläschen im Mondstaub. Aber keiner weiß so genau, wie tief, wie viel.«

»Und was ist da faul am Tod von Torsten Veith?«, fragte ich.

»Er ist bei einem Mondspaziergang verunfallt. Sein Anzug war beschädigt. So was kann passieren.« Richard bremste an der Ampel im Tunnelausgang zum Marienplatz.

»So was darf aber nicht passieren, oder?«

»Ein Astronaut darf auch niemals alleine einen Außeneinsatz unternehmen.«

»Und warum ist er alleine raus?«

»Das weiß niemand.«

»Und was hast du damit zu tun?«

»Nichts.«

»Und warum waren wir dann heute bei Gunter Maucher zum Essen eingeladen?«

»Die Mauchers sind eine alte oberschwäbische Tüftlerfamilie.« Richard rettete sich ins Regionale. »Gunters Großvater hat vor dem Krieg in Wangen im Allgäu Wohnwagen gebaut und dann bei Waldner in Wangen Labortechnik für Schulen. Gunters Großonkel war in Friedrichshafen am Zeppelinbau beteiligt. Aus seiner Fabrik ist die SSF hervorgegangen, der bedeutsamste Produzent für Druck- und Vakuumtechnologien und Supraleiter, die man für Fusionsreaktoren braucht. Vor zehn Jahren hat Gunter die Geschäftsführung der SSF übernommen. Den Raumfahrtbahnhof Friedrichshafen verdanken wir seiner Initiative.«

»Verstehe. Er ist ein potenzieller Steuerbetrüger.«

Der Staatsanwalt warf mir einen schnellen Blick zu. »Die SSF gehört seit einigen Jahren zum französischen Konzern TSE, Technique Spatiale de l’Europe, Großroboter für den Abbau von Bodenschätzen, Tiefenbohrer, Kräne. Torsten Veith war bei der SSF/TSE Ingenieur für Verfahrenstechniken.«

»Dann war es Mord!«

»Das ist entschieden eine Nummer zu groß für dich, Lisa!«

Wir rollten unter dem Österreichischen Platz hindurch. Gleich dahinter stoppte uns auf der Stadtautobahn die Fußgängerampel zwischen Leonhardskirche und Schwabenzentrum. Fußgänger gab es allerdings keine mehr. Die hatten längst bei Rot ihr Leben auf den sechs Spuren riskiert.

»Wer wäre denn zuständig bei Mord auf dem Mond?«, erkundigte ich mich.

»Oh, das ist kompliziert«, sprach der Jurist wiederum vergnügt. »Das hängt von vielerlei ab.«

»Wovon zum Beispiel?«

»Zunächst davon, wo der Mord geschehen ist. Die Artemis besteht aus Modulen von Russland, den USA, Japan und Europa. Entsprechend wären die USA, Europa, Japan oder Russland zuständig für die Ermittlungen.«

»Und wenn er außerhalb der Artemis geschehen ist?«

»Dann stellt sich die Frage, zu welcher Nation der Tote gehörte.«

»Tosten Veith war Deutscher.«

»In diesem Fall wäre Europa zuständig. Aber auch das ist nicht so einfach. Man stelle sich vor, als Täter würde ein US-Bürger ermittelt. Wer arretiert ihn dann? Und wer ordnet das an? Der Kommandant oder das Bodenkontrollzentrum. Und wie und unter welchen Haftbedingungen wird er festgesetzt? Und nehmen wir an, der Verdächtige bestreitet die Tat. Welches nationale Strafrecht gilt dann für die Beweisaufnahme? An welches Gericht muss er überstellt werden? An ein europäisches oder amerikanisches. In den USA gilt die Todesstrafe, Europa lehnt sie ab.«

Richard schaltete zufrieden.

»Die Entscheidung darüber, welcher Gerichtsbarkeit der Beschuldigte unterworfen wird, hängt außerdem davon ab, wer er ist. Für einen Wissenschaftler würde Heimatrecht gelten, wäre der Verdächtige ein Astrotourist, gilt das Recht der Nation, die ihn transportiert hat. Bei der Betriebsbesatzung verhält es sich wieder anders. Ein amerikanischer Offizier unterstünde dem Militärrecht, ein europäischer Pilot dagegen kann auch Zivilist sein. Derzeit haben wir nicht mehr als das IGA, das Intergouvernmental Agreement. Das beschäftigt sich allerdings mehr mit Nutzungsrechten und dem Schutz geistigen Eigentums. Der Entwurf eines extraterrestrischen Zivil- und Strafrechts liegt derzeit bei der UNO im Rechtsausschuss des ständigen Ausschusses für die friedliche Nutzung des Weltraums, COPUOS. Der tagt einmal im Jahr. Für Völkerrechtsverstöße im Rahmen kriegerischer Aggressionen wäre er wiederum nicht zuständig. Und sollte die UNO eines Tages ein umfassendes Gesetzeswerk beschließen, wird es noch jahrelang durch die nationalen Parlamente kreisen. Die USA werden es womöglich niemals ratifizieren, und Polen bestand die letzten Jahre darauf, dass polnische Staatsbürger nur von polnischen Richtern abgeurteilt werden.«

»Mit anderen Worten, es ist überhaupt zu groß für die Menschheit.«

Richard lächelte grimmig.

»Aber Mord ist trotzdem verboten«, bemerkte ich.

»Nur müsste man halt auch nachweisen, dass es sich bei Torsten Veiths Tod um ein Gewaltverbrechen handelt!«

»Tja, zur Not muss ich halt auf den Mond!«

»Aber sicher doch, Lisa, kein Problem!«

 

Am Neckartor bog Richard in die Neckarstraße ab. Wir rollten durchs Spalier von Schwabengarage, Sparbäck und Sparda Bank zum Stöckach.

Ähnlich wie die Mondstation Artemis wurde die Neckarstraße ständig erweitert und umgebaut. Zwischen dem Bunker der Staatsanwaltschaft und alten Wohnhäusern aus gelben Ziegeln stieg die Stadtbahn aus dem Tunnel und Hochbahnsteige sprengten die Fahrbahnen auseinander. Seit Jahren wurde, weil nichts wirklich passte, Asphalt umgeschmolzen. Ein Fahrradweg wurde nach kurzem wieder ausradiert. Fußgängerüberwege wurden gelegt, die Straße verengt. Auf der Seite der Staatsanwaltschaft waren Glasbauten entstanden. Die Gebäude auf der anderen Seite wurden dagegen allmählich aufgegeben. Das soziale Prekariat zog auf engem Fußweg an den Schaufenstern von Handyhändlern, türkischem Im- und Export, Schlüssel- und Schilderdienst, Biomarkt, Selbstbedienungsbäcker und Schnellfriseur entlang, rannte auf Straßenbahnen, aß Döner.

»Na? Kommst du noch mit rauf?«

Drei Stockwerke waren ohne Berechnungen von Treibstoff und Gravitation durchaus zu bewältigen. Wie hätte ich ahnen können, dass es Richards letztes Mal sein würde?

Er legte seinen Autoschlüssel auf meinen zerratzten Kneipentisch und zog sich den Schlips mit dieser unnachahmlichen Bewegung aggressiver Erleichterung aus dem Kragen, die ich gar nicht erst zu üben brauchte, denn ich würde sie nie hinkriegen. Er ging durch in die Küche, um die Kaffeemaschine zu füllen und, während sie sich rülpsend in Gang setzte, ans Fenster zu treten und über die Neckarstraße und die Leuchtinsel der Haltestelle Stöckach hinweg zum Bunker der Staatsanwaltschaft zu blicken, die unter den Strahlern ihrer Antiterrorkampfbeleuchtung vom Tagwerk ausruhte. Halbhohe orangefarbene Rollos an manchen Fenstern erinnerten an einen Tag von südlicher Hitze und gaben dem Gebäude einen schlampigen Anstrich.

Mit dem Kaffeebecher in der einen Hand, die Lippen gespitzt, knibbelte der Staatsanwalt mit der anderen die Hemdknöpfe auf und zupfte das Hemd aus dem Hosenbund. Es war einer der seltenen Momente, in denen Richard sich der Unordnung anvertraute. Das war eigentlich seine Sache nicht. Doch seit dem Tod seines Vaters litt er stumm unter der Notwendigkeit, alles zu widerrufen, woran er fünfzig Jahre lang geglaubt hatte. [Siehe Lehmann: »Allmachtsdackel«] Das machte ihn zögerlich und mich ungeduldig. Keinesfalls durfte ich ihm jetzt schon an den Arsch fassen.

»Ist noch was?«

»Sei vorsichtig, Lisa. Wenn du aus Torsten Veiths Tod einen Mord machst, dann schreckst du nicht nur ein paar Privatpersonen auf« – es klang bitter, denn er sprach aus schmerzlicher Erfahrung –, »sondern ein Dutzend Rüstungskonzerne.«

»Ist das ein Auftrag?« Ich staunte. »Ermittelst du etwa in ...«

Richard zog mit gespielter Irritation die Brauen hoch. »Ich bin Wirtschaftsstaatsanwalt, Lisa! Ungeklärte Todesfälle sind nicht mein Beritt. Aufträge vergebe ich sowieso keine. Ich meine nur, du solltest wissen, dass Gunter Maucher einer hochkarätigen Wirtschaftsdelegation unseres Ministerpräsidenten angehören wird, die in einer Woche nach China aufbricht. Er möchte Hochdrucktechniken für Fusionskraftwerke verkaufen. Die Leittechnik, also die Systemsteuerung, soll von TSE aus Marseille kommen, die auch für die Artemis die Leittechnik geliefert hat. Es wäre schlecht, wenn die jetzt in Verruf geriete. Torstens Unfall ist nämlich deshalb zu spät bemerkt worden – abgesehen davon, dass er alle Sicherheitsrichtlinien umgangen hat –, weil die Leittechnik von TSE versagt haben könnte. Gunter und Jockel sind deshalb derzeit etwas nervös.«

»Mit anderen Worten, wir nehmen künftige Atomunfälle in China in Kauf, damit TSE und SSF jetzt ein gutes Geschäft machen?«

»Darum geht es nicht, Lisa! Die Techniken, um die heute verhandelt wird, sind in ein paar Jahren eh ganz andere. Bei der Reise geht es darum, Europa den expandierenden und ziemlich risikofreudigen chinesischen Energiemarkt zu sichern.«

»Aber zunächst für schmutzige Fusionsreaktoren, solche, die heftige Strahlung absondern, oder?«

»Aber mit der Fiktion, dass Europa sich zum Weltmarktführer beim Abbau von Helium-3 auf dem Mond entwickelt, um später saubere Fusionsreaktoren bauen zu können.« Richard schlürfte mit spitzen Lippen den heißen Kaffee.

»Und das gefällt dir nicht?« Ich versuchte zu verstehen, worum es ihm eigentlich ging.

»Gefällt dir das denn?«, fragte er pietistisch streng. »Vor knapp zwanzig Jahren hat Europa ein Waffenembargo gegen China beschlossen. Ausfuhren bedürfen einer Genehmigung des Bundesamts für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle. Dennoch liefert die TSE/SSF ungeniert Teile für Human-Zentrifugensysteme zur Astronautenausbildung und automatische Orientierungs- und Steuerungselemente, die nicht nur im Weltraum nützlich sind, sondern vor allem in Schützenpanzern, U-Booten und Raketen, die beispielsweise gegen Taiwan zum Einsatz kommen könnten.«

»Und nun fragst du dich, ob du deinen Freund Gunter vor der Reise verhaften lassen musst oder ob es danach auch noch reicht?«

Richard blickte schmaläugig zu mir herüber. »Ich könnte durchaus ein Verfahren wegen Korruption einleiten. Bei Außenhandelsgeschäften findet man immer was. Aber was würde das ändern? Weltraumtechnik und Kriegstechnik sind untrennbar miteinander verbunden.«

4

»Der Amerikaner Hutchings Goddard hat erklärt, dass es möglich sei, mit mehrstufigen Pulverraketen den luftleeren Raum zu erreichen und vielleicht sogar eine Blitzlichtentladung auf der Mondoberfläche zu zünden.« Rakete zu den Planetenräumen, Hermann Oberth, 1923