Dieses Buch widme ich voller Zuneigung

Lee Brackstone, der mich heimgebracht hat.

 

 

 

Die Wiege schaukelt über einem Abgrund, und der platte Menschenverstand sagt uns, dass unser Leben nur ein kurzer Lichtspalt zwischen zwei Ewigkeiten des Dunkels ist.

 

Vladimir Nabokov, Erinnerung, sprich

(Deutsch von Dieter E. Zimmer)

Teil Eins

Mharapara Street 1468

1

Die Geschichte, die ich Ihnen erzählen soll, beginnt nicht mit dem hässlichen Elend von Lloyds Tod. Sie beginnt an einem längst vergangenen Augusttag, als die Sonne mir das wunde Gesicht versengte. Ich war neun Jahre alt, und Vater und Mutter verkauften mich an einen fremden Mann.

Ich sage Vater und Mutter, tatsächlich war es aber meine Mutter. Beide habe ich jetzt so deutlich vor Augen wie damals, als wir Lloyd das erste Mal trafen. Sie tragen die Kleider, die sonst sonntags für den Kirchgang und für den Schaufensterbummel in der Innenstadt reserviert waren, denn wer seine Tochter einem wildfremden Mann übergibt, sollte schließlich den bestmöglichen Eindruck machen.

Meine Mutter trägt ein weißes Kleid, das mit großen roten Mohnblumen übersät ist. Um die Taille einen Gürtel aus demselben Stoff und auf dem Kopf einen roten Hut, geschmückt mit einer weißen Plastikblume. Schuhe und Handtasche sind weiß. Mein Vater trägt einen Safarianzug, an die Farbe kann ich mich nicht erinnern. Vielleicht war es auch gar kein Safarianzug, und ich sehe ihn nur in einem vor mir, weil damals alle Männer solche Anzüge trugen. In seinem Haar glänzt Brylcreem.

Für mich war es ein Festtag. Ich trug mein Lieblingskleid, ein weißes Rüschenkleid mit lila Schleife, mein Weihnachtskleid vom Vorjahr. Ich war in der Stadt, weit weg von den Schikanen Nhaus, meines Schulhoferzfeinds, der mich daheim genauso quälte wie in der Schule, weil er in unserer Straße wohnte. Ich war mit meinem Vater in der Stadt, der beim Gehen meine Hand hielt. Darüber freute ich mich am meisten – dass ich ihn ganz für mich hatte, weil die eine Schwester in der Schule und die andere vor Kurzem gestorben war.

Zur Krönung kam in der Süßwarenabteilung des Kaufhauses eine Weiße auf mich zu, als wir die Aufzüge ansteuerten. Sie hatte eine Brille auf, mit einem Gestell, das zu den Schläfen hin spitz zulief und ihre Augen zu verzerren schien, als sähe ich sie durch eine der Milchflaschen mit den goldenen und silbernen Deckeln, die wir im Laden kauften. »Sie sieht ja aus wie ein Engel, ist sie nicht ein richtiger Engel?«, sagte sie. Dann gab sie mir einen Dollar. In meiner Hand fühlte sich die Münze groß und ungewohnt an.

Das erinnert mich an etwas anderes, das länger zurückliegt, an die 25-Cent-Münze, die mir eine Krankenschwester schenkte, als ich im Gomo, dem staatlichen Armenkrankenhaus, nach einer Spritze bitterlich weinte. Ich hatte davon Süßigkeiten gekauft, und Nhau überredete mich, sie draußen vor seiner Haustür einzugraben. So würden sie zu einem großen Süßigkeitenbaum heranwachsen, behauptete er.

Von der Süßwarenabteilung im Erdgeschoss gingen wir zum Aufzug. Ein Mann in weinroter Uniform, über dessen Gesicht eine große Narbe verlief, verkündete bei jeder Etage das Stockwerk. »Dritte Etage: Kinderspielzeug, Kinderkleidung und Teesalon«, sagte er, als wir ausstiegen.

Meine Eltern und ich setzten uns auf eine Seite der Nische. Eine Biene verharrte ein Weilchen über meinem Glas Cherry Plum Limo, bevor sie in das lila sprudelnde Getränk stürzte. Sie versuchte, wieder herauszufliegen, aber ihre Flügel waren nass und schwer, und sie zappelte in den Blubberbläschen herum. Zur Cherry Plum gab es außerdem noch Eiscreme, einen raffinierten Eisbecher, den Lloyd mir spendiert hatte – Lloyd saß auf der anderen Seite –, mit einer ganzen Banane und bunten Streuseln garniert.

Ich erinnere mich auch an die ersten Worte, die Lloyd zu mir sagte: »Mnemosyne, sprich.«

Damals konnte ich nicht ahnen, dass Lloyd mich neckte oder dass Mnemosyne genau dasselbe bedeutet wie mein Vorname Memory: Erinnerung. Aber vielleicht verwechsle ich das auch mit unserer zweiten Begegnung, als er mich zu seinem Auto und in mein neues Leben führte.

Natürlich könnte ich Ihnen auch zu Beginn alles über Lloyd erzählen. Ich könnte damit beginnen, dass ich ihn nicht umgebracht habe. »Mord«, sagte der Staatsanwalt, der vor Gericht die Anklage gegen mich erhob, »ist die widerrechtliche und vorsätzliche Tötung eines Menschen, der zum Tatzeitpunkt noch am Leben war.«

Nachdem die Polizei mich in der Nacht seines Todes geholt, mich verhaftet und in die Highlands-Wache gebracht hatte, nachdem ich drei Tage lang nichts gegessen oder getrunken, nachdem ich mir die Augen ausgeweint hatte – Lloyds wegen, machte ich mir weis, dabei war es tatsächlich vor Angst – und nachdem die Träume mich aufs Neue heimsuchten, sagte ich ihnen, was sie hören wollten.

Sie glaubten mir nicht, brachen in lautes Gelächter aus. »Sag uns einfach die wirklich wahre Wahrheit. Du warst seine Freundin und er dein Freund. Er war dein Sugardaddy. Sag uns einfach die Wahrheit – dass du ihn wegen seines Gelds umgebracht hast.«

Seltsam, was einem in solchen Momenten für Belanglosigkeiten in den Sinn kommen. Als ich den Officer ansah, der meine Vernehmung durchführte, fiel mir auf, dass seine hervorstehenden Augen ihm den stieren Blick eines trunkenen Wasserspeiers an einem öffentlichen Gebäude verliehen. »Oder hat er dich vielleicht gezwungen, mit ihm im Bett komische Sachen zu treiben? So was wiegt schwer, da verstehen wir keinen Spaß.«

Er ließ eine kräftige Lachsalve ab. In seinen Wangen erschienen zwei mächtige Grübchen, die für eine erstaunliche Verwandlung sorgten. Der Wasserspeier war zur Putte geworden.

»Am Ende war es sicher das Geld. Diese Weißen schwimmen doch in Geld«, sagte seine Kollegin, eine stämmige Frau in verblichener Uniform, die bei jeder ihrer Bewegungen zu platzen drohte. Von ihrem Oberteil war bereits ein Knopf abgefallen.

Ich konnte den Blick nicht von ihren rosa Plastiklockenwicklern wenden. So verzweifelt meine Lage auch war, kam mir der völlig losgelöste Gedanke, dass man heutzutage bestimmt keine Haftwickler wie diese mehr herstellte, die mit spitzen Plastikstäbchen am Kopf befestigt werden.

»Eine so hübsche junge Frau«, sagte sie. »Du siehst echt nicht übel aus, abgesehen von, na, du weißt schon. Jedenfalls machst du das Beste draus, das muss man dir lassen. Und mal ganz ehrlich, warum solltest du sonst bei einem weißen Mann wohnen, so ganz allein, nur ihr beide in dem Riesenhaus?«

Beim Sprechen bohrte sie sich den rechten Daumen in das linke Nasenloch.

Ich wiederholte, was ich ihnen zuvor gesagt hatte. »Ich wohnte bei Lloyd Hendricks, weil meine Eltern mich als Kind an ihn verkauft haben.«

Noch ehe ich zu Ende gesprochen hatte, wusste ich, dass mir keiner glauben würde, und warum sollten sie auch, wenn ich es doch selbst kaum glauben konnte, wenn ich mir ein Leben lang den Kopf darüber zerbrochen habe? Von dem Moment an, als ich sah, wie meine Mutter sich das Geld, das Lloyd ihr gegeben hatte, in den BH steckte, von dem Moment an, als Lloyd hinter mir die Tür seines Autos schloss, habe ich mich stets gefragt, wie meine Eltern das fertiggebracht hatten.

»Meine Eltern haben mich an ihn verkauft«, wiederholte ich.

Officer Haftwickler blickte Officer Megagrübchen an und lachte.

»Was redet die denn da?«, sagte sie. Mit dem Zeigefinger schnippte sie sich den Rotzpopel vom Daumen. »Hierzulande werden keine Kinder verkauft«, fuhr sie fort. »Was redest du da?«

Ihr Stuhl schrammte lautstark über den Boden, als sie ihn vom Tisch wegschob und den Raum verließ. Ihre Stimme wehte vom anderen Ende des Flurs zu uns herüber: Huyai mundinzwirewo zvirimuno.

Auf diese Aufforderung hin wimmelte es im Zimmer bald von Polizisten. Während sie sich mit lauten Stimmen und unter höhnischem Gelächter um mich scharten, wurde mir klar, dass ich sie niemals würde überzeugen können. Wenn sie mir schon diese simple Tatsache nicht glaubten, wie sollte ich ihnen dann vermitteln, wie Lloyd tatsächlich ums Leben gekommen war? Über wie viel Vorstellungskraft verfügten diese Männer und Frauen in ihren grau-braunen Uniformen, die Frau mit den rosa Plastikwicklern, die aus allen Nähten platzte, der Mann, der sich unter anzüglichen Blicken allerlei Spielereien mit weißen Sugardaddys ausmalte, wie sollte man ihnen das Grauen nahebringen, das mich ereilte, nachdem ich Lloyd tot aufgefunden hatte?

Lloyd redete selten offen darüber, wie ich zu ihm gekommen war. Falls es überhaupt zur Sprache kam, behalf er sich immer mit Euphemismen. Er habe mich »aufgenommen«, mir »ein Zuhause geschenkt«, der gutherzige reiche Mann, der dem armen schwarzen Kind ein trautes Heim bietet, der fröhliche Cheeryble, der einem undankbaren Dickens’schen Waisenkind Gutes erweist. Nur dass es in Wahrheit so war, dass der weiße Mann das schwarze Kind kauft, auch wenn es gar nicht den Anschein hatte, da war ja noch dieses Na, du weißt schon, wie Officer Haftwickler es nannte, dieses Leiden, das mich schwarz macht und doch nicht schwarz, weiß und doch nicht weiß. So lief es nun mal, und ich werde Ihnen alles darüber erzählen.

2

Ich sollte mich fürchten. Ich sollte nachts von Angstträumen schweißgebadet aus dem Schlaf schrecken. Ich sollte Herzklopfen bekommen, den Appetit verlieren und ständig Durchfall haben.

Ich habe mich gefürchtet. Ganz am Anfang, als ich auf die Gerichtsverhandlung wartete und mir keine Freilassung gegen Kaution gewährt wurde, teilte ich mir die Zelle mit Mavis Munongwa, der einzigen anderen Frau, die hier wegen Mordes einsitzt. Das war, bevor ich in eine Einzelzelle kam.

Ich hielt mir die Ohren zu, wenn Mavis die Namen der Kinder herausbrüllte, die sie umgebracht hatte. Manchmal fürchtete ich mich davor, die Augen zu schließen und einzuschlafen. Aber sogar dann ergriff die Furcht nicht vollständig von mir Besitz. Mich schützte der Eindruck, dass all dies unwirklich war. Dass es nicht wahr sein konnte. Dass es zu absurd war, um wahr zu sein.

Auch jetzt fürchte ich mich noch ab und zu, aber die Furcht sucht mich meistens in meinen Träumen heim, wenn ich so lange ertrinke, bis ich aus dem Schlaf hochfahre. Von diesen Träumen abgesehen schlafe ich gut – so gut ich eben auf der Pritsche schlafen kann, die das Gefängnis stellt, in einer Zelle, deren Maße die vorgeschriebene Größe in den internationalen Abkommen zur menschenwürdigen Behandlung von Strafgefangenen unterschreiten. Ich esse ordentlich – so ordentlich ich eben kann, wenn das Essen so mies ist wie hier.

Meistens langweile ich mich nur. Alles, was man über einen längeren Zeitraum macht, wird irgendwann zur Routine, sogar das Warten auf den eigenen Tod.

Das schreibe ich in meiner Zelle, weil Loveness mir erlaubt hat, die Notizbücher und Stifte mitzunehmen. Es ist drei Wochen her, dass Sie mir die Bücher gegeben haben und ich zu schreiben anfing. Sie waren mein erster Besuch von außerhalb. Und Sie waren für uns alle hier drin sicher der erste Besuch aus dem Ausland. Selbst hier in Chikurubi schätzen wir vor allem das, was von außerhalb unserer Heimat kommt, wie überall in Simbabwe. Ausgenommen vielleicht Synodia, unsere Chefwärterin.

Synodia und Loveness haben hinterher über Sie gesprochen. Die beiden konnten kaum glauben, dass ein weißes Journalistenweib, wie Loveness Sie nannte, den weiten Weg von Amerika hierher auf sich nimmt, nur um mit einer Mörderin wie mir zu sprechen. Synodia entriss mir die Visitenkarte, die Sie hinterlassen hatten, und las Ihren Namen und Ihre Adresse vor, als wären es Lügen, die ich mir ausgedacht hatte, um sie zu ärgern. »Linda Carter«, las sie vor, mit dem Daumen auf der Karte. »Wer ist diese Linda Carter?«

»Sie heißt Melinda Carter«, sagte ich. »Eine Journalistin, die in Washington lebt, in Amerika.«

Synodia verzog ungläubig das Gesicht. »Bählinda, Schmählinda«, sagte sie und schleuderte mir die Karte entgegen. »Pahschington, Schmarrschington. Kann man Amerika vielleicht essen? Na? Wenn du das kannst, sollst du dich an Amerika vollfressen. Bahmerika, Buhmerika.«

Was sie so von sich gibt, nenne ich Synodiaden. Ich bin sicher, dass sie beim Formulieren genau weiß, was sie damit meint. Doch sobald sie den Mund aufmacht, geht irgendwie jeder Sinn verloren.

Sie waren mein erster Besuch, abgesehen von Vernah Sithole, meiner Anwältin. Mein erster Besuch von außerhalb in den zwei Jahren, drei Monaten, sieben Tagen und dreizehn Stunden, die ich schon hier bin. Bevor Vernah sich für meinen Fall zu interessieren begann, war die einzige Außenstehende, die ich zu sehen bekam, die Frau von der Goodwill-Organisation.

Es war Vernahs Idee, dass ich Ihnen meine Geschichte erzählen sollte. Bevor sie das Interview mit Ihnen in die Wege leitete, forderte sie mich auf, jedes Detail aufzuschreiben, an das ich mich erinnerte, alles zu notieren, was mir Sympathiepunkte eintragen könnte. »Für die Berufung spielt das eine große Rolle«, sagte sie. »In Mordfällen ist die Todesstrafe nämlich vorgeschrieben, also müssen wir mildernde Umstände geltend machen. Das ist die einzige Möglichkeit, das Urteil abzuändern.«

Hierzulande gibt es nicht diesen endlosen Reigen von Berufungsverfahren wie in Amerika. Und es gibt keinen Gouverneur, der einen in letzter Minute filmreif begnadigt. Ich kann nur ein einziges Mal in Berufung gehen, beim Obersten Gericht. Vernah hat sowohl gegen das Strafmaß als auch gegen den Schuldspruch Berufung eingelegt. Die Richter haben drei Möglichkeiten: Sie können den Schuldspruch bestätigen und am Strafmaß festhalten, sie können den Schuldspruch bestätigen, das Strafmaß jedoch aufheben und im besten Fall sowohl den Schuldspruch als auch das Strafmaß aufheben.

Ja, den Juristenjargon beherrsche ich jetzt fließend, ich bin Expertin geworden in meinem eigenen Fall. Vielleicht wäre ich gar nicht hier, wenn Vernah mir schon bei meiner Verhaftung beigestanden oder wenn sie mich während der Verhandlung verteidigt hätte. Ich hatte überhaupt keinen Anwalt. Als ich den Mord an Lloyd gestand, hatte ich tagelang weder geschlafen noch gegessen. Noch ein Grund, warum Vernah überzeugt ist, dass meine Berufung Erfolg haben wird.

Sie hat ja auch angeregt, dass ich Ihnen schreibe. »Erzählen Sie es Melinda Carter«, sagte sie. »Erzählen Sie ihr alles, auch das, was sie Ihrer Meinung nach schon weiß.«

Sie können sich nicht vorstellen, wie merkwürdig es ist, ausgerechnet Ihnen das alles zu schreiben. Wie alle Leser Ihrer Zeitschrift bin ich mit Ihren Texten vertraut. In jeder Ausgabe, die ich mir kaufte, habe ich die großen Interviews mit Prominenten übersprungen, die Berichte über den Krieg im Irak und die Finanzskandale, um allmonatlich als Erstes Ihre Kolumne zu lesen.

Daher weiß ich, dass Sie sich auf die Aufdeckung von Justizirrtümern spezialisiert haben. Vernah hat mir gesagt, dass Sie ein Jahr hier bleiben wollen, um für eine Artikelserie über unser aberwitziges Rechtssystem zu recherchieren.

Verity Gutu, tatsächlich eine veritable, nie versiegende Quelle oft belangloser Informationen, hat mir gesagt, bei Vernah Sithole sei ich in guten Händen. Sie hat wortwörtlich gesagt: »Bei diesem Anwaltsweib Sithole bist du in guten Händen.«

Loveness hat mir erzählt, wie sie in Gweru eine Frau verteidigte, die ihr Baby in eine Latrinengrube geworfen hatte. Das kleine Mädchen hatte nicht überlebt, es war in einem Meer von Fäkalien, Urin und saurem Schweiß ertrunken. Loveness sagte, dank Vernah sei die Frau mit einem Jahr auf Bewährung davongekommen. Der Richter meinte, es sei eine Schande, dass die Anwältin mehr Reue gezeigt habe als ihre Mandantin.

Bis die Begnadigung, für die Vernah kämpft, erfolgt, wenn sie denn erfolgt, schreibe ich im Schatten des Galgens. Wenn es nach der Staatsanwaltschaft und der Gefängnisbehörde geht, werde ich an einem Strick baumeln, bis mir das Genick bricht, mein Darm sich entleert und mein Leben erlischt, und ich werde ein Armenbegräbnis bekommen und ein anonymes Grab.

Heute habe ich über die Frage nachgedacht, die Sie mir bei unserem zweiten Treffen gestellt haben: Warum hat sich keiner der hiesigen Journalisten für meine Geschichte interessiert? An meinen weniger zynischen Tagen würde ich antworten, dass es Wichtigeres gibt: Wer wird die Wahlen gewinnen? Wer wird als Nächster regieren? Welcher Mann hat seine Frau getötet und womit? Wer wird bei Big Brother Africa gewinnen? Fußball- und Cricket-Ergebnisse. Geheimnisvolle Vorkommnisse, in denen es um Zauberei geht, Grabraub, Kobolde und böse Flüche.

In vielerlei Hinsicht bin ich froh, dass niemand meine Geschichte erzählen wollte. Als die Zeitungen die ersten Meldungen über Lloyds Tod brachten, konzentrierten sie sich voll und ganz auf mein Leiden, genau wie früher in der Township, in der ich aufgewachsen bin, bevor Lloyd mich gekauft hat. Die Kinder begegneten allen Andersartigen mit brutaler Ehrlichkeit. Wenn sie jemanden erblickten, dem beispielsweise die Beine fehlten, war das für sie keine Person, die ohne Beine – oder ohne Augenlicht – zurechtkommen musste. Sie brüllten: Hona chirema, hona bofu, komm, sieh dir den Krüppel an, komm, sieh dir den Blinden an, und stellten jede Behinderung heraus.

Dabei wurzelte ihre Haltung gewissermaßen in der Sprache. Bofu gehört zur Nominalklasse fünf, die Dinge bezeichnet, genau wie benzi, das Wort für eine verrückte Person. Chirema gehört zur Nominalklasse sieben, wie chimumumu, die ebenfalls unbelebte Dinge bezeichnet oder unvollständige, behinderte Wesen. Als murungudunhu oder musope befinde ich mich wie normale Menschen in der Nominalklasse eins. Murungudunhu hat aber eine tiefere Bedeutung. Als murungudunhu bin ich eine schwarze Frau, deren weiße Haut nicht als murungu gilt, also nicht als Privileg, sondern als dunhu, als lächerlich und vorgetäuscht – ein grässliches Weiß.

Ich glaubte zunächst, dass es mir schwerfallen würde, all das für Sie aufzuschreiben, aber die Erinnerungen strömen mir nur so zu, schneller, als ich sie festhalten kann. Mobhis Füße, die Sohlen mit Erde der Mharapara Street beschmiert, ragen aus dem tödlichen Eimer heraus. Donner und scharfe Blitze über den Hügeln von Umwinsidale. Das Lachen von Lloyd und Zenzo geht in die Stimme des Baptisten über, der mir befiehlt, dem Satan zu entsagen. Die Wellen des Mukuvisi, sie schlagen über meinem Kopf zusammen und ich schreie vor Entsetzen.

Seit ich hier bin, kehren die Erinnerungen zurück. Lange bevor Vernah Sithole mich gebeten hat, alles für Sie aufzuschreiben, war ich mit einer gähnenden Leere konfrontiert, in der es nichts anderes zu tun gab, als zu grübeln und nachzusinnen. In den zwölf toten Stunden zwischen nachmittags um halb fünf – wenn wir für die Nacht eingesperrt werden – und morgens um halb fünf, wenn die Sirene schrillt, gibt es hier nichts zu tun. Bücher gibt es keine außer der Bibel, und ich kann mit niemandem reden, weil ich meine eigene Zelle habe.

Eigentlich dürfen wir unsere Bibel in die Zelle mitnehmen, aber Synodia erlaubt es mir nur selten. Sie ärgert sich schon darüber, dass es mich überhaupt gibt. Es geht ihr gegen den Strich, dass ich Englisch spreche, dass ich früher mit Weißen zusammengelebt habe, dass ich im Ausland studieren konnte, es geht ihr gegen den Strich, dass ich hier wegen Mordes einsitze.

Also denke ich über mein Leben nach, arbeite die Ereignisse auf, die mich hierhergeführt haben, immer wieder aufs Neue, ordne und gestalte sie in einem endlosen Kreislauf um: Was wäre gewesen, wenn?

Jimmy Blue Butter beneidet mich um mein altes Leben mit Lloyd. Sie beneidet mich um Summer Madness, das Haus, das in ihrer Vorstellung zu einem riesigen Herrensitz angewachsen ist. Sie versteht nicht, wie jemand, der einst so prachtvoll residierte, klaglos auf einer Gefängnispritsche schlafen oder grün verschimmeltes Brot essen kann. Sie versteht nicht, wie ich mit den anderen irgendwelches unbrauchbares Zeug wieder zusammenflicken kann, in der verdreckten Abstellkammer, die wir Strafkammer nennen, oder wie ich stundenlang in der Wäscherei stehen kann, um die Kleider unserer Wärterinnen zu waschen und zu bügeln, die auf der herzlichen Anrede »Mbuya« beharren, während sie uns ihre kleinliche Tyrannei spüren lassen.

Ich würde ihr gern sagen, dass Armut mich kein bisschen schreckt, weil ich sie erlebt und ich sie überwunden habe. Ich möchte ihr sagen, dass sogar Prachthäuser Kummer und Elend bergen, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob sie das jemals begreifen wird. Ich würde ihr gern sagen, dass sie mehr Elend bergen als andere, weil sie dafür mehr Platz bieten.

3

Noch immer tauchen sie manchmal auf – Vater und Mutter. Sie bringen meine wachen Stunden aus dem Takt, sie kommen völlig ungebeten, wenn ich in der Wäscherei bin oder in der Strafkammer, vor dem Frühstück, wenn ich unter der Leitung von Synodia Kirchenlieder singe. Sie kommen, wenn ich im Gefängnisgarten an etwas anderes denke und sie gar nicht gerufen habe. Sie kommen mit meinen Schwestern, Joy, die wir Joyi nannten, und Moreblessings, genannt Mobhi. Sie kommen mit meinem Bruder Gift, den wir Givhi nannten.

Erst beim Versuch, die eigene Lebensgeschichte aufzuschreiben, wird einem bewusst, wie schwer es ist, den Anfang zu finden. Ich wünschte, ich könnte so anfangen, wie man es üblicherweise tut, könnte Ihnen alles über meinen Vater und meine Mutter erzählen, wie sie sich kennengelernt haben und wer ihre Eltern waren und wer ihre Ahnen. Bevor sie mich an Lloyd verkauften und ich wegzog, wusste ich nichts über sie, abgesehen davon, dass sie mein Vater und meine Mutter waren.

Hierzulande verlangt die orale Tradition, dass man sich zu Beginn seiner Geschichte in die eigene Familie einordnet: »Ich bin das älteste von sieben Kindern« – »Ich bin das letztgeborene von vier Kindern« – »Ich bin das mittlere von sieben Kindern; zwei sind gestorben, und so leben nur noch fünf.« In diesem einen Satz wurzelt die ganze Identität: Ich bin die Erste, die Mittlere, die Vierte, die Zweite, die Letzte.

Also sollte ich vielleicht auch dort ansetzen. Ich war das zweite von drei Kindern. Das älteste war meine Schwester Joyi, ein missverständlicher Ausdruck, denn sie war das älteste lebende Kind, aber nicht das erstgeborene. Dieser Vorrang gebührte Gift, meinem toten Bruder, er hätte den Namen weitergeben sollen, mit dem das Andenken meiner Eltern für immer bewahrt wäre.

Meine Mutter wurde MaiGivhi gerufen, mein Vater Ba’Givhi, doch anstelle eines lebenden Givhi gab es meine Schwester Joyi, ein Jahr und ein paar Monate älter als ich, dann gab es mich und schließlich Mobhi, die Jüngste, die schon mit vier Jahren starb.

Wenn sie auftauchen, dann so wie in meiner Erinnerung, außer Givhi, der für mich immer nur ein Name war oder höchstens ein verschwommenes Gesichtchen auf den Schwarz-Weiß-Fotos im Album meiner Mutter. Er kommt mir als formlose Gestalt in den Sinn, in die grüne Decke mit dunkelgrau gestreiftem Rand gewickelt, die Decke, die auch sein Leichentuch war. Wenn er mich in meinen Träumen heimsucht, ertrinkt er. Manchmal ertrinken wir zusammen. Ich will nach ihm greifen, aber die Chimäre zieht mich tiefer, immer tiefer… Sie lässt mich nicht los, und ich verliere ihn aus den Augen.

Joyi ist klein und flink, ihre Haut hat die Farbe von heißem Karamell. Sie bringt die Stimmen der Kinder unserer Straße mit. Vom Kinderzimmer aus sind die Lieder zu ihren Lieblingsspielen zu hören. Tinotsvaga maunde, maunde, maunde. Tinotsvaga maunde, masikati ano. – Tauya kuzoona Mary, Mary, Mary. Tauya kuzoona Mary, Mary, Mary woo.

Mobhi tapst auf fetten Babybeinchen herbei, zieht eine Wasserspur hinter sich her. Fliegt hoch, lacht, fällt herab. Mein Vater fängt sie auf und wirft sie wieder hoch. Sie lacht, dass die Erde bebt.

Mein Vater bringt die Stimmen aus seinem Radiogerät mit, sie singen Mirandu und Sina Makosa, Sweet Mother und Celebration, er bringt die wehmütige Anfangsmelodie der Sendung mit den Todesmeldungen mit, Zvisiviso Zverufu, und die fröhlichen Grüße aus Kwaziso.

Er bringt die Stimme von Evans Mambara mit, die sich vor Begeisterung überschlägt, als die Menge im Rufaro-Stadion Moses Chunga und Joel Shambo beim Endspiel der Castle-Meisterschaft bejubelt, und die von Peter Lovemore, die immer höher wird, während er unsichtbare Pferde in unser Wohnzimmer zaubert, aus einem Ort herbeigaloppierend, an dem wir nie gewesen sind. »Hier kommt Prince of Thieves, dicht gefolgt von Midnight Oil, aber Prince of Thieves setzt sich durch, nicht zu fassen, ja, Prince of Thieves führt, Prince of Thieves macht das Rennen, Prince of Thieves gewinnt dieses großartige Rennen an diesem herrlichen Nachmittag im Borrowdale Park.«

Sie bringen die Geschichten mit, die wir uns im Radio angehört haben, Romane mit ominösen Titeln, die von Schicksalsschlägen und den Prüfungen des Lebens künden. Eines Tages wirst du an mich denken, Ich bin tot und wünsche dir nur das Beste, Scham ist oft schlimmer als der Tod, Was habe ich dir denn getan? Ist der Plan einmal gefasst, gibt es kein Zurück. Das Radio brachte uns die Welt dieser Bücher nahe, eine harte, grausame Welt voller Verrat, Verschwörungen und unvorhersehbarer Gefahren.

Und sie bringen die Musik mit, die wir abends anhörten, wenn wir nicht gerade den Romanen im Radio lauschten, sie bringen die Platten meiner Mutter mit und unsere Lieblingssongs, Lieder, die zugleich Geschichten sind. Wir haben nicht immer jedes Wort verstanden. Was machten die Gatlin-Brüder genau, als sie sich alle nacheinander Becky nahmen? Was war bei »The Gambler« der Unterschied zwischen fall down und hall down? Was bedeutete Almanach? Wo waren diese Orte, almost heaven, West Virginia, wo war Tennessee, wo in aller Welt war Sweet Home Alabama?

Und meine Mutter? Sie ist jedes einzelne Lied und mehr als das. Sie ist Jeannie, die Angst vor der Dunkelheit hatte. Sie ist Tommy, der größte Feigling weit und breit. Wenn sie kommt, begleitet sie das Kratzen eines Plattenspielers. Sie bringt eine Geburtstagstorte mit und schleudert sie an die Wand. Meine Mutter ist der lange, dünne Zweig des Pfirsichbaums von nebenan. Sie ist die Stimme der Chimäre, die in meinen Träumen lauert. Sie ist die Fremde, die mir im Spiegel entgegenblickt, wenn ich es am wenigsten erwarte. Sie ist mein klopfendes Herz, meine pochende Angst.

4

Ich bin schon so lange hier, dass mir dieser streng durchstrukturierte Ort inzwischen sehr vertraut ist, die langen Flure, die engen Zellen. Die Strafkammer, wo wir uns die Finger an stumpfen Nadeln blutig stechen, beim Versuch, Uniformen zu flicken, die schon längst ausgemustert gehören; die Wäscherei, wo wir die Kleider der Wärterinnen waschen und bügeln; der Waschraum, wo wir unsere Körper waschen in Becken, die nur für Hand und Gesicht gedacht sind; und die Kantine, wo jede Mahlzeit von dem höllischen Lärm begleitet wird, den vierhundert Löffel beim Schaben auf vierhundert Metalltellern veranstalten.

Aus offensichtlichen Gründen dürfen wir weder Gabeln noch Messer verwenden. Die Hände dürfen wir aber auch nicht benutzen, wie Menschen es normalerweise tun. Wir essen alles mit Löffeln, vom wässrigen Haferbrei über den verklumpten sadza bis zum nach Schweiß stinkenden Kohl. Ich habe sogar gelernt, mit einem Löffel das schlammbraune Stück Gummi zu zerteilen, das die Wärterinnen so schönfärberisch wie optimistisch »Fleisch« nennen.

Unser Essen kennt keine goldene Mitte – es ist entweder zerkocht oder noch nicht gar, versalzen oder fade, beim gebratenen Gemüse fehlt es mal an Öl, mal schwimmt es darin, als sollten die USA einmarschieren. Mit unserem Essen verhält es sich genauso wie mit dem Hochzeitsessen in jenem alten jüdischen Witz, es ist praktisch ungenießbar, aber wir kriegen nie genug davon.

Von der Kantine marschieren wir auf den Hof, von der Wäscherei in die Strafkammer, wir bilden eine reglementierte Armee in unseren grünen Kleidern, bei Kälte in rot-weiß gestreiften Trainingsanzügen mit passenden Strümpfen. Im Winter könnte man meinen, Dr. Seuss und sein Kater mit Hut hätten sich nach Herzenslust in unserem Gefängnis ausgetobt.

Über jeden Aspekt unseres Lebens bestimmen andere – wo und wann wir schlafen, was wir essen und wie schnell, wie viel Wasser und wie viel Zahnpasta wir verbrauchen.

Unsere Gesellschaft, unsere Worte, ja sogar unsere Gedanken und Träume bestimmen wir nicht selbst, sie werden uns vom sechsten Stock des New Government Complex aus vorgegeben. Wir leben von Zuteilungen. Jeder Frau stehen wöchentlich maximal eine halbe Rolle Klopapier zu, fünfundzwanzig Milliliter Zahnpasta und monatlich viereinhalb Damenbinden. Tatsächlich eine halbe Binde, fein säuberlich in der Mitte abgetrennt, mitsamt hängendem Flügel. All das ist irgendwo schriftlich niedergelegt, in irgendeiner Rechtsverordnung. Vermutlich kann Vernah Sithole Ihnen die genaue Nummer nennen.

Sind unsere Vorräte vor der nächsten Zuteilung aufgebraucht, behelfen wir uns mit dem, was sonst vorhanden ist. Benutzen Zeitungen als Klopapier, oder andere Druckerzeugnisse. Einmal gab es einen Riesenärger, als Synodia Trakt C inspizierte und im Toiletteneimer, den wir gamashura oder Wunderfänger nennen, Seiten aus der Bibel entdeckte. Nachdem sie die Sprüche Salomos, die Psalmen und den Ersten Brief an die Korinther inmitten anderer wundersamer Hervorbringungen erblickt hatte, hielt sie uns eine zweistündige Gardinenpredigt, bei der sie sich dermaßen in Rage redete, dass ihr zwischendurch die Stimme versagte. Besser als die Predigt aber war noch, dass sie uns mehr Klopapier bewilligte.

Während der endlosen Zeit, die ich in den Zellen der Highlands-Wache verbrachte, konnte ich mir nicht vorstellen, jemals an einen schlimmeren Ort zu geraten. Das war vor Chikurubi. Es stellt sich heraus, die Hölle, das sind wirklich die anderen, vor allem, wenn es sich um weibliche Mithäftlinge handelt und man eine ganze Woche ohne Wasser auskommen muss, der gamashura von Fliegen umschwirrt wird und man sich zur Körperpflege lediglich mit einem trockenen Handtuch abreiben kann, in der Hoffnung, dass Dreck und Gestank, die an der Haut haften, vom dürftigen Gefängnishandtuch aufgesogen werden, und sei es noch so fadenscheinig.

Inzwischen sollte ich mich an den eigenartigen Tagesablauf hinter Gittern gewöhnt haben, aber die zwei Jahre, die ich schon hier bin, haben offenbar nicht gereicht, um mir dieses verzerrte Zeitgefühl zu eigen zu machen. Aufstehen um halb fünf. Frühstück um sechs, danach wird gearbeitet, Mittagessen gibt es vormittags um elf. Danach wird weiter gearbeitet.

Die Gefangenen, die ins Freie dürfen, gehen zur Farm, wo sie Unkraut jäten und das Gemüse ziehen, das eigentlich für uns bestimmt ist, aber bei den Wärterinnen landet. Ich verbringe meine Zeit fast ausschließlich mit den anderen Straftäterinnen der Kategorie »D«. Unter den rund vierhundert Frauen in diesem Gefängnis gelten wir als die gefährlichsten – wir sitzen die längsten Strafen ab, uns muss man am stärksten bewachen. Im Männergefängnis werden die Langzeithäftlinge als »Personal« bezeichnet. So weit haben wir es nicht gebracht, dazu sind wir zu wenige.

»A« steht für die Gefangenen, die noch in Untersuchungshaft sind und nicht auf Kaution freigelassen wurden. Der Hauptunterschied zwischen diesen Frauen und uns besteht darin, dass ihnen jede Art von Frisur erlaubt ist, mit Ausnahme von Zöpfchen, damit Synodias falsche Tressenpracht von niemandem überstrahlt wird. Sie verbringen viel Zeit im Freien. »B« ist für Taschen- und Ladendiebinnen und betrunkene Störenfriede mit Haftstrafen unter zwei Jahren. In »C« sitzen die meisten Gefangenen ein, ihre Haftstrafen betragen mehr als zwei, aber weniger als fünf Jahre.

»D« ist für Dämmern, Drohen, Draufgehen.

Zurzeit sind wir vierzehn in D, Frauen aus allen Regionen des Landes: Mavis Munongwa, Nomvula Khumalo, Ellen Gumbo, Ruvimbo Mherekuvana, Benhilda Makoni, Manyara Makonese, Sinfree Mapuntu, Evernice Gundani, Jimmy Blue Butter, Verity Gutu, Monalisa Mwashita, Beulah Shereni, Esnath Matema und ich, die einzige Frau, über die die Todesstrafe verhängt wurde.

Mavis Munongwa ist am längsten hier, sogar länger als die Wärterinnen. Sie ist die einzige andere Frau, die wegen Mordes einsitzt, aber sie ist nicht zum Tode verurteilt. Sie hat die kleinen Kinder ihres Bruders vergiftet, zwei Jungen und zwei Mädchen. Keines der Kinder war auch nur zwölf Jahre alt.

Esnath Matema hat als Hausmädchen in Mount Pleasant gearbeitet. Sie wohnte im selben Dienstbotentrakt wie der Gärtner, der zugleich ihr Onkel war. Sie schliefen miteinander, und sie wurde schwanger. Nach der Geburt erdrosselten sie das Baby und bestatteten es in einer flachen Grube auf dem Universitätsgelände. Esnath konnte mit dieser Schuld nicht leben und gestand ihrem Arbeitgeber, was sie getan hatten. Sie wurde wegen Inzest und Kindestötung angeklagt. Ihr Onkel wurde wegen Inzest und Mordes verurteilt.

Vernah wird es Ihnen bestätigen: Wenn eine Mutter ihr Baby umbringt, handelt es sich um Kindestötung. Wird dasselbe Kind von einem Mann, und sei es der Vater, umgebracht, handelt es sich um Mord. Der Richter ließ im Fall von Esnaths Onkel keine mildernden Umstände gelten. Er wurde zum Tode verurteilt.

Nachts, wenn es still ist, hören wir manchmal die Männer im Nachbargefängnis Trauergesänge anstimmen. Wenn sie ihre Stimmen erheben und schmerzliche Klänge die Luft erfüllen, wissen wir, dass ein Gefangener gestorben ist. Esnath schreit jedes Mal, wenn diese Lieder zu uns dringen, aus Angst, es könnte ihr Onkel sein.

Nomvula sitzt wegen fahrlässiger Tötung ein. Sie war mit ihrem Freund im Auto unterwegs, als sie in der Enthumbane-Township in Bulawayo einen Radfahrer erwischten und tödlich verletzten. Sie sagt, sie sei nicht selbst gefahren, ihr Freund habe am Steuer gesessen. Sie hatten sich gerade einen Veranstaltungsort angesehen, in dem sie ihre Hochzeit feiern wollten. Nomvula gab sich lediglich als Fahrerin aus, weil ihr Freund sie darum gebeten hatte. Als Frau werde sie mit einer milderen Strafe davonkommen, behauptete er. Man würde ihr vermutlich nur ein Bußgeld aufbrummen.

Sie bekam fünf Jahre.

Er heiratete eine andere.

Ellen ist auf einem Auge blind. Eine tiefe Schnittwunde durchzieht ihre Wange. Die verdankt sie ihrem Mann. Synodia nennt sie »Häuschen«, so lautet die abfällige Bezeichnung für eine Frau mit einem Status zwischen Geliebter und Zweitfrau. Ein Häuschen haben nur die reichsten Männer. Ellen war die Geliebte eines Mannes, der auch andere Affären hatte. Sie verführte einen Obdachlosen, um seinen Samen als Heilmittel zu nutzen. Hier spricht Ellen so gut wie nie, man könnte sie fast vergessen, bis man dem starren Blick ihres gesunden Auges begegnet.

Ruvimbo hat an der Schule einer Platinmine in der Nähe von Kwekwe unterrichtet. Einem ihrer Schüler schlug sie so hart ins Gesicht, dass der kleine Junge stürzte und mit dem Kopf gegen die Tafel knallte. Er starb infolge eines Schädel-Hirn-Traumas. Sie verbüßt eine sechsjährige Haftstrafe wegen Totschlags, genau wie Benhilda Makoni, die ihren verheirateten Liebhaber vergiftet hat. Benhilda sagte vor Gericht aus, sie habe ihrem Liebhaber ein Pulver von einem auf Liebestränke spezialisierten Kräuterhändler verabreicht. Sie habe doch nur gewollt, dass er sich von seiner Frau abwende, doch anstatt sich Benhilda zuzuwenden, bekam er eine Art anaphylaktischen Schock und starb. »Und jetzt hat auch seine Frau keinen Mann mehr«, verkündet uns Benhilda mit boshaft funkelnden Augen.

Manyara sitzt wegen Viehdiebstahls. Mit ihren Brüdern hat sie einem Bauern in der Nähe ihres Dorfs in Chivhu fünf Kühe gestohlen. Jede Kuh galt als Einzeltatbestand, und in jedem Fall betrug die Strafe drei Jahre, sodass sie und ihre Brüder jeweils zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt wurden, die sich bei der Revision auf sieben reduzierten.

Das ist übrigens etwas, das Sie interessieren dürfte: dass die Richter hierzulande einen Kuhdiebstahl härter bestrafen als Kindesmissbrauch. Man braucht sich nur Sinfrees Fall anzusehen. Sie kommt aus Binga und bekommt oft den Zorn der Wärterinnen zu spüren, weil sie als eine Tonga kein Shona spricht. Sinfree ist wegen versuchten Mordes hier. Mit dreizehn wurde sie von ihrem Mathelehrer vergewaltigt. Für dieses Verbrechen zahlte der Lehrer ein Bußgeld. Mit sechzehn wurde sie von ihrer Familie gezwungen, ihren Vergewaltiger zu heiraten, um nicht ein Leben lang unter der Schande dieser Vergewaltigung zu leiden. Nach jahrelanger Misshandlung steckte sie die Hütte seiner ersten Frau in Brand.

Evernice Gundani war Mitglied einer Bande in Mbare, die von den Marktfrauen Schutzgeld forderte, um sie vor Belästigungen zu schützen. Die Belästigungen gingen allerdings von Evernice und ihrer Bande aus. Sie sitzt wegen räuberischer Erpressung sechs Jahre ab.

Beulah Shereni ist die Jüngste in D. Eigentlich sollte sie bei den anderen Untersuchungshäftlingen in A sein, weil sie noch nicht verurteilt wurde. Seit mehr als einem Jahr sitzt sie in Untersuchungshaft. Während dieser Zeit hat sie sich aber mit den anderen Frauen in A gestritten. Nach ihrem Versuch, einer Frau das Ohr abzubeißen, weil sie Beulah vorgeworfen hatte, sie sehe aus wie eine Hexe, verfügte Synodia ihre Versetzung nach D, »wo sie auch hingehört«.

Jimmy hat schon vier ihrer sechs Jahre wegen versuchten Mordes abgesessen. Ihr richtiger Name ist Rejoice Saruchera, aber sie wird Jimmy gerufen, aus Gründen, die Sie nicht verstehen würden. Vielleicht kann ich es Ihnen doch erklären. Da gibt es ein Kinderspiel mit folgendem Abzählreim:

Jimmy blue butter, Jimmy blue butter,

Zengeza my umbrella, my nylon,

My chachacha and my shoe!

 

Ich erinnere mich, dass ich es in Mufakose gespielt, besser gesagt, den Kindern der Mharapara Street dabei zugesehen und mir vorgestellt habe mitzuspielen, einen imaginären Sonnenschirm wedelnd, meinen Rock beim Stichwort chachacha wirbelnd und bei my shoe den Fuß vorstreckend.

Den Sinn verstehe ich nicht ganz – ergeben kindliche Abzählreime jemals einen Sinn? Es ist nur eine Ansammlung von Wörtern und Assoziationen. Zengeza ist ein Stadtteil von Chitungwiza, wo Jimmy vor ihrer Inhaftierung gewohnt hat. Sie sieht zwar aus wie eine Bilderbuchlesbe, aber sie hat mit mehr Männern geschlafen als jede andere Frau in diesem Gefängnis, selbst wenn sie zehn Leben führte. Außerdem stammt sie gar nicht aus Zengeza, sondern aus Chipinge.

Wie MaiNever, unsere alte Nachbarin in der Mharapara Street, spricht Jimmy im singenden Tonfall des Manyika-Dialekts. Ndakaende wonini, sagt sie. Ndakaringe wonini.

Sie ist im Gefängnis, weil sie einem Mann den Penis abgebissen hat, der in einem Nachtklub mit ihr Sex hatte und sich hinterher weigerte, dafür zu bezahlen. »Prostituierte beißt Freier in die Genitalien« kommt als Schlagzeile so häufig vor, dass es ganz alltäglich erscheint, aber Jimmy war dermaßen aggressiv bei der Sache, dass ihr Opfer infolge des Blutverlusts in Ohnmacht fiel. Als der Mann wieder zu sich kam, musste er feststellen, dass Jimmy in die Damentoilette geflüchtet war und sein bestes Stück in die Kanalisation von Harare gespuckt hatte.

Verity Gutu und Monalisa Mwashita haben in D gar nichts verloren. Sie sind beide Verbrecherinnen der Kategorie C und sitzen jeweils vier Jahre wegen Betrugs und Unterschlagung ab. Sie hatten aber genug Geld, um die Wärterinnen zu bestechen und sich nach D versetzen zu lassen, wo es offenbar entspannter zugeht.

Verity ist von uns allen die Berühmteste. Ich erinnere mich, dass ich nach meiner Rückkehr aus England in der Zeitung über sie gelesen habe; man konnte ihr nicht entgehen, ihre Geschichte prangte auf sämtlichen Titelblättern. Sie war ein Liebling der Medien: eine schöne Frau, stets wie aus dem Ei gepellt, fotogen, die druckreife Sätze formulierte und – wie allseits bekannt – intimste Beziehungen zu prominenten Männern hatte. Möglicherweise ist Verity die einzige Gefangene hier, für die »Reue« ein Fremdwort ist. Jedem, der sie danach fragen mag, gesteht sie freimütig, ja, richtig, sie habe das Internationale Olympische Komitee abgezockt und es tue ihr kein bisschen leid. »Das, wofür sie mich eingebuchtet haben, ist nichts im Vergleich zu dem, was ich getan habe«, sagt sie gern. »Was meinst du, wer mein Haus bezahlt hat und das Studium meines Sohnes?«

Es gibt ein olympisches Programm, um Sportler aus kleinen, armen Ländern in Disziplinen zu fördern, die in ihrer Heimat weitgehend unbekannt sind. Verity nahm simbabwische Sportler unter Vertrag, die Fechten, Eisstockschießen, modernen Fünfkampf, Handball oder Hindernislauf betreiben sollten. Als Simbabwe dann keinen einzigen Athleten in diesen Disziplinen aufstellte und vor den letzten Spielen auch keine einzige Qualifizierungsrunde abhielt, leitete das Olympische Komitee in Lausanne Ermittlungen ein. Dabei stellte sich heraus, dass Verity sich mit den Fördergeldern Häuser in Borrowdale Brooke und Zimre Park, einen BMW und einen Range Rover geleistet und das Studium ihres Sohnes an einer Universität in Südafrika bezahlt hatte. Außerdem hatte das IOC unzählige Maniküren, Kosmetikbehandlungen und Shoppingtrips nach Dubai finanziert.

Ihr Fall war verworren und wurde in aller Öffentlichkeit verhandelt. »Wenn mir danach ist, kann ich Olympia in die Knie zwingen«, behauptet sie.

Die Vorstellung, die Olympische Organisation könnte einfach so zusammenbrechen, bringt mich zum Lächeln. Die ganze olympische Bewegung, von den nackten Griechen, die für einen Lorbeerkranz um die Wette rannten, bis zu Hitler, der sich weigerte, Jesse Owens die Hand zu schütteln, würde wegen Verity Gutu in sich zusammenfallen. Schließlich hat sie ihre GÖNNER (die Großbuchstaben setzt sie); Verity war die Geliebte von mindestens zwei hochrangigen Politikern, drei Geschäftsmännern und einem Vize-Polizeikommissar. Mithilfe des einen oder anderen ehemaligen Liebhabers werde sie bald freikommen, davon ist sie überzeugt: »Ich bin schneller draußen, als ein Wurfspeer landen kann.«

Wenn Verity Gutu die Königin der Zyniker ist, dann ist Monalisa Mwashita deren Kaiserin. Binnen zwei Jahren hat sie eine europäische Botschaft um mehr als eine halbe Million Euro erleichtert. Als Projektleiterin für besondere Aufgaben und allgemeine Planung verantwortete sie Förderprogramme mit den Schwerpunkten Nachhaltigkeit, Regierungsführung, Rechenschaftspflicht und Herrschaft des Rechts; es war eine dieser Stellen, für die man eine »Stellenbeschreibung« überhaupt erst erfinden musste – etwas, das sich nicht durch eine simple Berufsbezeichnung wie »Anwalt«, »Journalist«, »Techniker« oder »Buchhalter« erklären lässt.

Ihre Aufgabe bestand darin, Projekte auszuwählen und die Gelder der Botschaft zu verteilen. Sie gründete zwei Scheinorganisationen, eine für die gezielte Förderung und Stärkung von Mädchen und eine andere zur Unterstützung von WHKs, die Opfer politischer Gewalt und Repression sind. »Auf Mädchenförderung fallen immer alle rein«, meint Monalisa.

Wer mühelos Spenden sammeln will, braucht anscheinend nur ein barfüßiges kleines Mädchen zu präsentieren und Geld zu fordern, um sämtliche Gefahren abzuwehren, die besagtem Kind drohen: Es könnte Aids bekommen, die Eltern verlieren, für die Geschwister sorgen müssen, in Armut versinken und alleinerziehende Mutter werden.

Außerdem erkannte Monalisa, dass der Ausdruck »politische Gewalt« auf Spender die gleiche Wirkung hat wie Pawlows Glocke auf seine Hunde. Die Gelder überwies sie auf das Konto jener Scheinorganisation, die sie gegründet hatte, um »ein Bewusstsein für die Bedürfnisse von WHKs, die politischer Gewalt ausgesetzt sind, zu wecken, zu stärken und zu schärfen und ihnen mehr Selbstbehauptung zu ermöglichen«. Falls Ihnen der Wohltätigkeits-Sprech nicht so geläufig ist: WHKs sind Waisen- und andere hilfsbedürftige Kinder. Was WHKs und kleine Mädchen noch dringender brauchen als Nahrung, ein Dach über dem Kopf und sonstigen Schutz, ist Selbstbehauptung – Selbstbehauptung und die Weckung-Stärkung-Schärfung eines Bewusstseins für ihre Bedürfnisse.

Für Monalisa war diese Gaunerei tatsächlich ein Kinderspiel. Die Botschaft verlangte von den Empfängern ihrer Fördermittel lediglich einen vierteljährlichen Bericht über die Verwendung der Gelder, und Monalisa legte regelmäßig Berichte vor, die sie mit Hochglanzfotos von strahlenden Mädchen und WHKs ergänzte.

Als sie mir erzählte, wie einfach sich das alles bewerkstelligen ließ, war ich erstaunt, dass es in Chikurubi nicht viel mehr Betrügerinnen dieser Sorte gibt. In fast jeder Botschaft würden solche Schwindel durchgezogen, erklärte Monalisa, doch die meisten Botschaften begnügten sich damit, die Übeltäter zu feuern, ohne Anzeige zu erstatten. Sie meiden die Polizei, weil sie mit ihrem Engagement keine Aufmerksamkeit erregen wollen. In Monalisas Fall zeigte die Botschaft nur den Schwindel mit der Mädchenförderung an; über die WHKs verlor sie kein Wort, um den politischen Aspekt ihrer Förderaktivitäten nicht allzu sehr herauszustellen.

Es erscheint wohl seltsam, dass sich jemand freiwillig zu den gefährlichsten Insassen versetzen lässt, aber ich kann verstehen, warum Verity und Monalisa Schmiergeld gezahlt haben, um von C nach D zu kommen. In C befinden sich über hundert Frauen. Dort schläft man Seite an Seite mit Frauen, die ihren Säugling ausgesetzt haben, mit Drogenschmugglerinnen, Trickbetrügerinnen und Diebinnen. Immer wieder schlafen auch Babys bei ihren Müttern. Es gibt häufig Streit – wegen eines »schiefen Blicks« oder weil sich jemand über ein Baby aufregt, das zu lange oder zu laut schreit und alle anderen weckt.

Außerdem gibt es für sämtliche Frauen nur einen einzigen Toiletteneimer. Falls eine von ihnen gegen das ungeschriebene Gesetz verstößt, dass man, sobald für die Nacht abgesperrt wurde, in den Eimer nur noch urinieren darf, kann die Situation schnell eskalieren. Das ist der Grund, warum es jeden Tag vor dem Waschraum so hoch hergeht, wenn die Schließzeit bevorsteht. Letzte Woche haben sich Truthness und Locadia, zwei Gefangene der Kategorie C, im Garten geprügelt. Truthness hatte aus Versehen einen Eimer über Locadias Baby gekippt, und Locadia rächte sich am nächsten Tag mit der blanken Faust.

Als Todeskandidatin sollte ich theoretisch getrennt von den anderen D-Gefangenen leben und arbeiten. Ich sollte in einem eigenen Trakt sitzen, mit eigenen Wärterinnen. Aber das Gefängnis ist zu klein und zu arm, um sich an diese Vorgaben zu halten. Und so arbeite ich tagsüber in der Wäscherei, räume die Strafkammer aus oder gehe in den Garten oder über die Felder, bis zur Gefängnisfarm.

Gelegentlich darf ich sogar bei einer Partie Korbball mitspielen und habe, wie alle Gefangenen hier, schnell begriffen, dass wir immer, wirklich immer verlieren sollten, wenn wir gegen die Wärterinnen antreten. Jimmy hat mir erzählt, sie habe die Gefangenenmannschaft beim ersten Mal mit 11 : 7 Punkten zum Sieg geführt und Synodia dadurch dermaßen verärgert, dass die Einschließung um zwei Stunden vorgezogen wurde.