Beatrix Gurian

GLIMMER
NÄCHTE

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Der süße Kuss der Lüge
Stille Nacht. Mörderisch schöne Weihnachtsthriller
Stigmata. Nichts bleibt verborgen
Nixenrache

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1. Auflage 2016
© 2016 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Martina Eisele, unter Verwendung von Motiven
von Shutterstock und Bigstock
ISBN 978-3-401-80575-7

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Inmitten des Windes, umgeben nur von Sand und Meer und Himmel war er endlich ganz nah bei ihr und doch viel weiter entfernt als jemals zuvor.

Eng aneinandergeschmiegt ritten sie am Meer entlang, seine Arme umschlangen ihre Taille, seine Hände lagen reglos auf ihren, die mit letzter Kraft die Zügel festhielten. Sie spürte seinen Atem an ihrem geschundenen Hals, hörte sein unablässiges, geradezu geisterhaftes Flüstern, fühlte jedes Heben und Senken seiner Brust an ihrem Rücken, während seine Seele in unerreichbare Sphären verschwunden war.

Und es blieben ihr nur wenige Stunden, um ihn zu ihr zurückzuholen. Sie mussten einfach schneller werden!

Behutsam vergewisserte sie sich, dass er sicher auf dem Pferd saß. Dann packte sie die Zügel fester, drückte die Fersen in die Flanken des Pferdes und fing an loszugaloppieren.

»Yggdrasil … Madita … Licht …«, wisperte er wieder und wieder und danach Worte, die sie nicht verstand. Sie hätte ihn so gern beruhigt, doch das musste warten, bis sie in Sicherheit waren. Sie lenkte das Pferd auf den nassen Strand, den die Ebbe gerade freigab, und hoffte, dass ihnen der harte Boden dort einen Vorsprung und damit genug Zeit verschaffte, um ihn zurück in den Menschen zu verwandeln, der ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt und ihr Herz im Sturm erobert hatte.

Immer wieder warf sie einen Blick in den petrolfarbenen Himmel, der zum Meer hin zwar langsam flamingorosa wurde und an dem sogar schon vereinzelt Sterne blinkten, der jedoch immer noch viel zu hell war, um ihnen die nötige Deckung zu verschaffen. Wie leicht könnte sie ein Helikopter erwischen oder eine Polizeistreife, die auf dem breiten Sandstrand sehr viel schneller war als sie beide mit dem Pferd.

Wenn sie doch nur wüsste, wo genau sich sein Versteck befand, denn nur dort wären sie fürs Erste in Sicherheit. Nein – in Wahrheit waren sie erst dann wieder in Sicherheit, wenn es ihr gelang, ihn zurückzuholen.

Wenn.

Sie lehnte sich trotz des wilden Galopps leicht zurück an seine Brust, wollte, musste seinen Herzschlag spüren, um die Zweifel zu verjagen, die eiskalte Nägel in ihr Herz trieben. Zweifel, ob sie ihm wirklich würde helfen können.

»Hab keine Angst«, flüsterte sie ihm zu und erkannte im selben Atemzug, dass sie die Einzige war, die hier Angst hatte, denn er wusste gar nicht mehr, was das war:

Angst.

1

Dreizehn Tage zuvor …

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Die Liebe war schuld. Wie immer, wenn alles in ihrem Leben schieflief. Pippa starrte aus dem Fenster der weißen Stretchlimousine in die öde Landschaft und konnte nicht glauben, dass sie wirklich in diesem Auto saß und dem Ende ihres bisherigen Lebens entgegenraste.

Manchmal war die Liebe noch schlimmer als der Tod. Der Tod heuchelte wenigstens nicht. Die Liebe dagegen verwandelte völlig normale Menschen zuerst in unerträgliche Glückslächler und dann in weinende Verlierer, die verzweifelt nach dem streng geheimen Code, dem Zauberwort suchten, das ihre Liebe in die einzig ewige verwandeln würde.

So ein Zauberwort, das hätte sie auch gern, um das Ganze noch zu stoppen, aber Pippa wusste keines und deshalb wurde sie immer schneller durch die kupferrote Abenddämmerung zum Ende des gottverlassenen Horizonts gefahren, dorthin, wo sie nicht sein wollte.

Die Geschwindigkeit in die falsche Richtung hatte sich verdoppelt, nein vervierfacht, seit ihre Mutter sie mit der Hochzeit überrumpelt hatte. Und jetzt saß sie in dieser Luxuskarosse in the middle of nowhere und übermorgen war schon der Polterabend.

»Das kann nicht dein Ernst sein!«, hatte Pippa ihre Mutter noch vor einigen Wochen verzweifelt angebrüllt.

Doch ihre Mutter hatte nur genickt und ihr diesen gefährlichen »Die Liebe kann alles und darf alles«-Blick zugeworfen. Den kannte Pippa bis dahin nur von ihren Freundinnen, die sich so oft verliebten, wie Pippa Schnupfen bekam. Meist war es dann auch genauso schnell wieder vorbei, aber natürlich nur mit schrecklichen Herzschmerzen und jeder Menge Tränen. Offensichtlich war es aber noch sehr viel schlimmer, wenn Ältere infiziert wurden, denn bei ihrer Mutter blieb es nicht bei einem Liebesschnupfen, ganz im Gegenteil, dieses gewisse Lächeln durchglühte jetzt ständig ihr Gesicht und ihre Augen leuchteten, als würden Glücksfeen dahinter brennende Wunderkerzen schwenken. Der Blick der Eingeweihten. Der Liebenden, die ihre rosa Brille trugen wie einen Orden.

»Aber … nach Dänemark? Im Ernst? In eine Ruine am anderen Ende der Welt?«

Daraufhin stahl sich ein sanftes Lächeln auf die Lippen ihrer Mutter, so als wäre Pippa ein neugeborenes Fohlen, das nur einen freundlichen Schubs brauchte, um aufzustehen und laufen zu lernen.

»Mein Schatz, du übertreibst, es ist keine Ruine, sondern ein Schloss«, hatte sie ihre Tochter sanft korrigiert. »Und es wäre schön, wenn du ein wenig offener für Veränderungen sein könntest. Nimm dir ein Beispiel an Matteo: Er findet unseren Umzug aufregend und freut sich schon auf seine neue Familie!«

Na klar, ihr Bruder war fünf Jahre alt und freute sich auch über Würstchen im Schlafrock, Grashüpfer und Furzkissen.

»Ich bin definitiv zu erwachsen, um über einen Stiefvater zu jubeln, der direkt von der trostlosen Hölle am kalten Ende der Welt kommt.«

Ihre Worte löschten diesen seltsamen »Wunderkerzen Pferdemutter die Welt ist Liebe«-Blick im Gesicht ihrer Mutter schlagartig aus, ließen aber keinen Triumph, sondern nur ein schales Gefühl in Pippas Magen zurück. Zugegeben, das war nicht sehr nett gewesen. Manchmal gingen die Worte einfach mit ihr durch.

»Niemand erwartet, dass du Frederik als deinen Vater akzeptierst, aber ein wenig mehr Respekt hielte ich doch für angebracht. Wir wohnen keineswegs in der Hölle, sondern auf Ravensholm, einem wunderbar renovierten Schloss mit jedem erdenklichen Luxus.«

»Als ob ein Schloss das Tollste auf der Welt wäre!«

Ihre Mom hatte den Kopf geschüttelt. »Pippa, mein Schatz, es ist doch eine wundervolle Chance für uns alle! Die meisten Menschen träumen davon, ohne Sorgen leben zu können. Und noch dazu an einem so magischen Ort, an dem die Ostsee und die Nordsee ineinanderfließen.«

Pippa seufzte. Der einzige Ort, den sie magisch fand, war Berlin.

»Darf ich noch einen Film?«, unterbrach Matteo ihre Gedanken und nahm die Mickymaus-Kopfhörer runter, mit denen er sich »Die Eiskönigin« auf dem großen Monitor angeschaut hatte. Mit glasigen Augen und roten Wangen strahlte er sie an, griff sich den fünften der unzähligen Schokoriegel, die zusammen mit Chips, Gummibärchen und Erdnüssen in einem Körbchen auf dem Minikühlschrank standen. Sogar dort prangte das Wappen der Familie von Raben, genauso wie auf den Gläsern, Servietten und den weißen Samtkissen, die neben ihnen auf der Bank aus weißem Leder lagen: Ein Rabe stand mit ausgebreiteten Flügeln auf einem Ritterhelm, der durch Dornenranken mit einem Schild verbunden war, auf dem man rechts und links je zwei silberne Eichenblätter erkennen konnte. Sie flankierten ein F in der Mitte, dessen Querbalken herunterhingen, als ob sie müde wären. Offensichtlich war Graf Frederik sehr stolz auf seine Herkunft. Pippa fand, das einzig Gute daran war, dass er und seine Familie zur deutschen Minderheit in Dänemark gehörten, denn so mussten sie nicht auch noch Dänisch lernen.

Matteo riss den Riegel auf und verschlang ihn, als wäre er am Verhungern.

»Wenn wir jetzt auf einem Schloss wohnen, bin ich dann auch ein Prinz?«, fragte er Pippa mit vollem Mund.

Gegen ihren Willen musste sie lachen. Ihr Bruder hatte gerade wenig von einem Prinzen, er sah viel eher wie ein klebriges Schmuddelkind aus.

»Vielleicht, wenn du dir das Gesicht waschen würdest!«, sagte sie und reichte ihm eine wappengeschmückte Serviette.

»Echt?« Matteo klang sehr enttäuscht. »Glaubst du, ein Prinz muss sich jeden Tag waschen?« Er griff sich eine Packung Chips und riss sie mit einem lauten Knistern auf.

»Na klar, das weiß doch jeder! Prinzen müssen immer eins a aussehen, schöne Kleider tragen und wie geleckt sein. Da musst du jeden Tag duschen und Haare waschen!« Pippa versuchte, ernst zu bleiben, und überlegte, ob sie etwas gegen die Chipskrümel tun musste, die er überall auf den weißen Polstern verteilte, und entschied sich dagegen.

»Das ist ja total blöd«, überlegte Matteo finster, dann hellte sich seine Miene plötzlich wieder auf. »Denkst du, wenn ich alle zwei Tage dusche, kann ich wenigstens ein halber Prinz sein?«

»Klar.« Pippa brachte es nicht übers Herz, seine Begeisterung zu dämpfen. »Dann bist du der Halbprinz Matteo!«

»Pipps …« So nannte er sie, seit er angefangen hatte zu sprechen. Es war sein zweites Wort gleich nach Mama gewesen. »Müssen wir Mamas neuen Mann mit Herr Graf Frederik anreden? Oder sagen wir Papa zu ihm?«

Pippa schluckte ein paar Mal. Sie würde niemanden Papa nennen, ihr Vater war zwar seit fünf Jahren tot, aber sie vermisste ihn immer noch jeden Tag.

»Also ich glaub, ich sage Freddy zu ihm.« Matteo nickte und zerknüllte die leere Chipstüte.

Sie verbiss sich das Lachen, um ihn nicht zu kränken. Doch der Gedanke, dass irgendjemand auf der Welt zu diesem Edelgrafen »Freddy« sagen würde, war schon komisch. Der unnahbare Graf Frederik von Raben war nicht nur groß und blond, Pippa fand, er wirkte einschüchternd wie eine Kampfwikingerversion von Mads Mikkelsen in Hannibal. Dafür war sie ihm sogar dankbar, denn so sah er wenigstens kein bisschen aus wie ihr Vater.

»Freddy hört sich gut an.«

»Pipps, mir ist schlecht.« Matteo war tatsächlich ein bisschen blass um die Nase und das erinnerte Pippa daran, dass ihr Bruder noch keine einzige längere Autofahrt ohne eine Kotzattacke überstanden hatte. Mist, sie hätte ihn daran hindern sollen, sich mit all dem Knabberzeug vollzustopfen.

Sie suchte den Knopf für die Fenster, fuhr die Scheiben der Limousine hinunter, um frische Luft für Matteo hereinzulassen.

»Besser?«, fragte sie ihn.

Er nickte stumm, dann starrten sie beide nach draußen.

Von wegen ein magischer Ort! Immer noch nur plattes Land mit einem unendlich weiten blauroten Himmel über den monströse schwarzgraue Wolkenformationen jagten.

»Glaubst du«, fing ihr Bruder an und klang viel matter als eben noch, »dass es wirklich solche teuflischen Spiegelsplitter gibt, wie in ›Die Eiskönigin‹? Und dass man, wenn man die ins Auge kriegt, dann alles nur verzerrt und böse sieht?«

Pippa fühlte sich irgendwie ertappt. Vielleicht sollte sie dieser Hochzeit und Dänemark eine Chance geben und aufhören, innerlich zu maulen und überall nur Übles zu wittern.

»Das ist totaler Quatsch«, sagte sie voller Überzeugung. »Das ist doch nur ein Märchen.«

Sie drückte seine Hand und Matteo seufzte erleichtert.

Aber Pippa war nicht ganz ehrlich zu ihm. Auch wenn sie nicht an die Spiegel des Teufels glaubte, so waren ihr die Heiratspläne ihrer Mutter manchmal schon wie Teufelswerk vorgekommen und sie hatte heimlich alles recherchiert, was sie über die Familie von Raben finden konnte.

Es war ihr einfach merkwürdig erschienen, dass ihre Mutter sich so plötzlich in einer einzigen Nacht so rettungslos verliebt hatte, dass sie wieder heiraten wollte. Deshalb hatte Pippa zuerst gedacht, der Graf wäre ein Betrüger und Heiratsschwindler. Aber sie wurde eines Besseren belehrt. Er war echt und es gab viele Bilder über Frederiks erste Ehe, die Traumhochzeit mit der argentinischen Millionärstochter Elena Ruiz Jiménez, die noch dazu wie ein Fotomodell aussah. Angesichts dieser Bilder hatte sich Pippa gefragt, was der Graf wohl an ihrer Mutter fand, die zwar hübsch, aber keine so atemberaubende Schönheit war, und reich waren sie ganz sicher auch nicht. Im Gegenteil, seit dem Tod ihres Vaters hatte es hinten und vorne nie wirklich gereicht. Und gerade als Pippa anfing, sich für diese Fragen zu hassen, war sie auf den Artikel von Elenas tragischem Unfall gestoßen. Sie war zusammen mit ihrer Tochter Madita mit dem eigenen Flugzeug vor der isländischen Küste abgestürzt. Unwillkürlich waren Pippa Tränen in die Augen gestiegen. Sie erinnerte sich nur zu gut an den Schock, den der Tod ihres Vaters für sie alle bedeutet hatte. Vielleicht war es genau das, was den Grafen und ihre Mom verband: der plötzliche Tod eines geliebten Menschen.

Elenas Unfall hatte Pippa so tief berührt, dass ihr erst sehr viel später klar geworden war, dass nach diesem Unfall kein einziger Artikel mehr über den Grafen oder die Schiffe seiner Reederei zu finden war, nicht mal in den Wirtschaftszeitungen.

»Ich glaube, mir wird richtig schlecht!«, stöhnte Matteo, gab einen gurgelnden Laut von sich und zerrte am Gurt, zu dem ihre Mutter sie beide gezwungen hatte, obwohl man die in solchen Luxuswagen nicht anzulegen brauchte.

»Blödsinn, du hast nur zu viel von dem Schokokram gegessen, als zukünftiger Prinz solltest du ein bisschen mehr Haltung zeigen.«

»Ich versuch’s«, murmelte er und dann lauter: »Erzähl mir was, Pipps. Bitte.«

»Na gut, reden wir über Schloss Ravensholm.«

»Oh ja!« Matteo klatschte begeistert in die Hände. »Und über Spukgeister, ja!«

»Ich glaube nicht, dass es da Geister gibt. Das Schloss ist zwar schon im siebzehnten Jahrhundert erbaut worden, aber dann bis auf die Grundmauern völlig abgebrannt. Also noch nicht soo alt.«

»Warum abgebrannt?«, fragte Matteo.

Pippa zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, jedenfalls wurde es erst von den Rabens vor ungefähr zweihundert Jahren wiederaufgebaut. Danach wurde es wohl schnell ziemlich bekannt. Im Internet steht sogar, dass es das kulturelle und wissenschaftliche Zentrum Dänemarks war.«

»Waru-u-um?« Matteo nervte sie immer gern mit seinen Warum-warum-warum-Fragen.

»Wer weiß? Vielleicht haben die Vorfahren des Grafen ja eklige Monströsitäten aller Art gesammelt?«

Matteos Augen wurden groß. »Wirklich?«

»Alles ist möglich!« Sie grinste ihn an und stellte sich dabei einen trotteligen blutleeren Greis vor, der neben aufgespießten Schmetterlingen Gläser voll ekliger Flüssigkeiten sammelte, in denen runzlige Embryos und seltene Tiere herumschwappten. Verheiratet war er mit der reizenden viel jüngeren Lady von Raben, die sich mit ausladendem Strohhut und weißen Handschuhen mit dem Liebesleben der nordjütländischen Sandameisen beschäftigte. Aber das behielt sie lieber für sich, ihr Bruder konnte nichts für sich behalten und würde das alles brühwarm Freddy verraten.

»Später sind internationale Berühmtheiten, wie die Stummfilmschauspielerin Asta Nielsen und der Showhypnotiseur Carl Hansen, im Schloss Ravensholm aufgetreten und im Zweiten Weltkrieg trafen sich dort sogar Widerstandskämpfer gegen die Nazis.«

»Richtige Schwertkämpfer?«, fragte Matteo und dann gab er einen höchst alarmierenden Laut von sich, den Pippa von langen Autofahrten nur zu genau kannte.

Hektisch klopfte sie an die Trennscheibe zwischen ihnen und dem Chauffeur, die sich daraufhin geräuschlos senkte. Sie hatte ihren Fahrer »Kill Bill« getauft, weil dieser blonde Wikinger mit den langen öligen Haaren sie irgendwie beunruhigte, genauso wie Bill Nummer Zwei, sein Zwillingsbruder Mads, der die vordere Limousine mit ihrer Mutter und Frederik steuerte und dessen Haare so kurz rasiert waren wie die Borsten einer Fußmatte.

»Wir müssen sofort anhalten, meinem Bruder ist schlecht!«

Bill gab eine Meldung durch das Funkgerät, dann bremste er sanft am Straßenrand und Pippa schaffte es gerade noch, Matteo abzuschnallen und rechtzeitig aus dem Auto zu zerren.

Er übergab sich sofort, und als die Limousine von ihrer Mutter und Graf Frederik neben ihnen hielt, war alles auch schon wieder vorbei.

Trotzdem fing Matteo an, herzzerreißend zu stöhnen, was Pippa ein sehr missbilligendes Kopfschütteln ihrer Mutter einbrachte.

»Ich kann doch nichts dafür!«, verteidigte sie sich, aber ihre Worte gingen in Matteos Gewimmer unter.

»Mamaaa«, jammerte er, »kann ich jetzt bitte bei dir mitfahren?«

Ihre Mutter und der Graf tauschten einen Blick, der arme Graf musste gute Miene zum bösen Spiel machen, nickte seinem Fahrer zu und schon wurde ihr Bruder von Kill Bill persönlich in die schwarze Limousine getragen. Die Fahrt wurde fortgesetzt, ohne dass ihre Mutter auch nur gefragt hätte, ob Pippa nicht ebenfalls bei ihnen mitfahren wollte.

Egal! Pippa streckte ihren Kopf aus dem Fenster, atmete die von Salz und Algen geschwängerte Luft tief ein und schauderte. Ihr ganzes Leben lang hatte sie in Berlin verbracht. Berliner Luft war einfach ihr Ding, sie war daran gewöhnt, an den Staub und den Geruch nach Autoabgasen, Lindenblüten, Hundekacke, zertretenen Zigarettenstummeln, feuchtem Zeitungspapier und billigem Sprühdeo. Diese Luft hier war geradezu unerträglich rein, das konnte doch nicht gesund sein. Purer Sauerstoff war schließlich giftig! Angeblich waren die Dänen ja die glücklichste Nation der Erde, in Wahrheit waren die von dieser unanständig reinen Luft vielleicht einfach nur wie bekifft. Pippa vermisste nicht nur die Berliner Luft, sondern auch Leonie, Fatima und vor allem ihre beste Freundin Alana. Sie vermisste die Dönerbude an der U-Bahn-Station, den kleinen Krimskramsladen, wo sie ihre besten Schätze gefunden hatte, und ihre Kletterfreunde vom Bouldern, die dieses Jahr vielleicht den Wanderpokal im Speedbouldern holen würden. Zum Klettern gab es hier in dieser flachen Gegend sicher auch keine Gelegenheit.

Pippa zog den Kopf wieder zurück und hielt ihre Hand in den Fahrtwind. Unwillkürlich schauderte sie. Es war Anfang Juli, trotzdem fühlte es sich kälter an als der letzte Winter in Berlin. Der Winter, in dem Lukas nach sechs Monaten mit ihr Schluss gemacht hatte, weil er sich beim Schlittschuhlaufen in Katinka, eine zarte blonde und extrem ehrgeizige Eisprinzessin verliebt hatte. Winter war auch vorher schon nicht Pippas Ding gewesen und nun zogen sie hierher, in eine Gegend, in der es gar keinen richtigen Sommer gab, sondern nur ein Luftholen vorm ewigen Eis.

Pippa beugte sich wegen des Gurts nur ganz langsam vor, öffnete den Minikühlschrank und nahm eine Cola heraus. Irgendwie gefiel es ihr, dass sie sich auch für Champagner oder Wodka hätte entscheiden können. Offensichtlich vertraute Graf Frederik auf ihre Vernunft – oder er hatte einfach keine Sekunde darüber nachgedacht. Natürlich gab es im Kühlschrank auch andere – gesunde – Sachen wie Säfte und frisch aufgeschnittenes Obst. Aber bis jetzt war nur das Körbchen mit den Knabbersachen von Matteo aufgegessen worden.

Sie hätten natürlich auch alle zusammen in eine Stretchlimo gepasst, aber der Graf hatte Eindruck schinden wollen, und war in einer schwarzen und einer weißen Limo am Flughafen in Aalborg aufgelaufen. Dass eine Stadt mit so einem Namen überhaupt einen Flughafen hatte. Aalborg!

»Ein Wagen für die Erwachsenen, einer für die Kinder«, hatte Graf Frederik ihnen erklärt, ganz so, als ob in einer der beiden Limos eine Art Disneyworld mit Happy Meals und Kinderüberraschungen verborgen wäre. Matteo hatte es natürlich gar nicht erwarten können, einzusteigen und loszufahren.

Pippa grinste, das hatten sie jetzt davon. Ein bisschen Schadenfreude war ja wohl noch erlaubt. Seit Mom mit dem Grafen zusammen war, hatte sie sich so verändert. Sie war viel strenger als früher, trug andere Kleider und erwartete auf einmal von Pippa das Benehmen einer Lady. Das war so untypisch für ihre Mutter, mit der sie sich zwar oft gestritten, aber auch immer wieder versöhnt und gut verstanden hatte. Doch nun war sie zu einem Buch mit sieben Siegeln geworden.

Nachdem sie den Grafen bei einer Geschäftsreise in China kennengelernt hatte, fand ihre Mom es nicht mehr okay, sonntags mit ihnen im Jogginganzug auf dem Sofa zu liegen und stundenlang ihre Lieblingsserien zu schauen. Plötzlich erklärte sie Berlin zu einer gefährlichen und schmutzigen Zone und redete sich ein, dass ihre Kinder etwas Besseres verdient hätten.

Etwas Besseres. Wie sich wohl Kirsten, ihre neue Stiefschwester, benahm – auch wie etwas Besseres? Pippa trank einen Schluck Cola und malte sich aus, wie der Empfang im Schloss wohl ablaufen würde.

Ob die Hausangestellten sich wie in einer Folge von Downton Abbey in einer Reihe vor dem Schloss aufstellten und knicksten, wenn die neue Herrin von Ravensholm aus der Limousine stieg?

Das sollte ich unbedingt für Alana fotografieren, nahm sie sich vor und vermisste ihre Freundin schon wieder.

Plötzlich wurde Pippa heftig in den Gurt geschleudert, die Cola schwappte aus der Flasche und spritzte auf die weißen Ledersitze. Verdammt, was war da los? Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Während das Auto hin und her schlidderte, breitete sich die Angst um ihre Familie in ihrer Brust aus wie eine lähmende Seuche und schnürte ihr die Kehle zu. Als das Auto endlich mitten auf der Fahrbahn stehen blieb, konnte sie kaum atmen.

Was zur Hölle war da los?

Noch bevor Pippa das Fenster herunterlassen konnte, öffnete sich die Wagentür. Bill betrachtete sie besorgt.

»Alles in Ordnung mit Ihnen, Miss Pippa?«

»Jaja, aber ich muss wissen, was mit den anderen los ist.« Pippas Herz klopfte immer noch wie rasend. Sie waren die ganze Zeit direkt hinter ihrer Mom und Matteo gefahren, warum zum Teufel hatten sie so unvermittelt gebremst? War ihrem Bruder etwa schon wieder schlecht geworden?

»Was ist passiert?« Sie löste den Gurt, wollte aussteigen, wurde aber von Bill daran gehindert, er blockierte die Tür.

»Nur ein kleiner Unfall.«

»Ein Unfall? Lassen Sie mich raus, ich will zu meiner Familie!«

Bill schüttelte den Kopf. »Nein, das wäre hier viel zu gefährlich, der Graf würde mir das nicht verzeihen. Sie können auf dieser Schnellstraße nicht einfach aussteigen, bitte bleiben Sie sitzen!«

Pippa stieß Bill in die Seite, aber der blieb fest wie ein Granitblock. »Ihrer Familie ist nichts passiert, Mads ist ein guter Fahrer. Es war nur ein Reh, dem wir ausgewichen sind.«

Ein Reh? Klar, das war hier sicher auf Sightseeing, wegen des magischen Ortes und der leckeren Aale! Pippa glaubte ihm kein Wort und war froh, als ihr klar wurde, wie sie ihm entwischen konnte. Sie rutschte blitzschnell zur anderen Seite, was leider länger dauerte, als Pippa gedacht hatte. Sie sprang gerade noch aus dem Auto, bevor Bill um die Ecke gekeucht kam.

Die andere Limo stand vor ihnen quer auf der Straße. Alle Autotüren waren sperrangelweit offen. Ihre Mutter, Matteo und der Graf standen mitten auf der Straße und starrten entsetzt nach unten. Pippa rannte zu ihnen.

»Was ist denn passiert?«, rief sie ihnen schon von Weitem zu.

»Jetzt tu doch bitte etwas«, sagte ihre Mutter gerade zum Grafen. Matteo klammerte sich schluchzend an ihre Beine.

»Das arme Bambi«, heulte er. »Mama, bitte mach es wieder heil. Gib ihm ein Pflaster!«

Der Graf gab einen unwilligen Laut von sich und ging zurück zur Limousine. Als Pippa an ihm vorbeilief, bemerkte sie die vielen kleinen Schweißtropfen auf seiner Stirn. »Geh nicht hin«, kommandierte er, »tu dir das nicht auch noch an.« Etwas sanfter fügte er hinzu: »Es reicht doch, wenn einer von euch Albträume hat.«

Das brachte Pippa nur dazu, noch schneller hinzulaufen.

Auf der Straße lag ein kleines hellbraunes Reh, fast noch ein Kitz, mit blassen weißen Tupfen oben auf dem Rücken. Es starrte sie aus großen braunen Augen an, als wollte es ihr etwas Wichtiges sagen. Aus einer Wunde am Bauch tropfte dunkles Blut, während zwei seiner Läufe zuckten. Es roch nach nassem Fell und Metall und Tod.

Pippa hockte sich neben das Reh, legte ihre Hand auf seinen Hals und murmelte »Schschsch«, um es zu beruhigen. Jemand kauerte sich neben sie und der Geruch des Rehs wurde von Schweiß, moosigem Rasierwasser und noch etwas undefinierbar Metallischem überlagert.

»Geh zur Seite!«, sagte der Graf. »Wir können nichts mehr für das Tier tun. Seine Läufe sind gebrochen und die inneren Organe verletzt. Und schau dir seine Lichter an, es leidet.«

»Lichter?«, fragte Pippa verdattert.

»So nennt man die Augen, das ist Jägerlatein.« Er streichelte dem Kitz über die Flanke. Pippa folgte der Bewegung und sah dann, dass er mit der anderen Hand eine Schusswaffe auf das Reh richtete.

»Nein!«, protestierte sie.

»Schsch, glaub mir, es ist besser so.« Er nahm die Hand von der Flanke und legte sie auf Pippas Arm. Dann schoss er mit der linken dem Reh mitten zwischen die Augen.

Wie betäubt von dem Knall spürte Pippa, wie das Leben aus dem Körper verschwand.

Die Lichter waren aus. Das Reh war tot.

Matteo schluchzte laut auf und Pippa beneidete ihn, denn sie hätte auch gern geweint, aber sie wollte sich vor Frederik keine Blöße geben. Sie wischte sich hastig über die Augen, erhob sich, vermied es, den Grafen anzuschauen, und sah an ihm vorbei.

Hinter ihm blinkte etwas auf, blendete Pippa für den Bruchteil einer Sekunde, so als ob die Sonne auf Glas gespiegelt würde. Sie blinzelte, fokussierte ihren Blick und entdeckte in einiger Entfernung, was da geblinkt hatte. Da beobachtete sie jemand mit einem Fernglas. Aber derjenige war zu weit weg, sodass Pippa nicht einmal erkennen konnte, ob es ein Mann oder eine Frau war. Solche Typen waren ihr zuwider – einen Unfall beobachten, aber nicht helfen.

Matteos Schluchzen lenkte ihre Aufmerksamkeit zurück auf das tote Reh. Mads und Bill packten je zwei Läufe und schleiften es von der Straße zur Seite.

»Wir müssen es beerdigen!«, weinte Matteo.

»Das werden wir, mein Kleiner.« Graf Frederik steckte die Waffe hinten in seinen Hosengürtel und tätschelte Matteos Kopf. Dann ergriff er die Hand ihrer Mom und nickte ihr zu.

»Mads und Bill kommen wieder her, holen das Reh und beerdigen es auf dem Tierfriedhof in der Nähe von Aalborg. Es tut mir wirklich leid, dass ihr das mit ansehen musstet. Das Reh stammt aus meinem Wald am Schloss, wir haben sie alle markiert, weil immer wieder welche gestohlen wurden. Ich verstehe gar nicht, was es hier wollte. Jetzt lasst uns weiterfahren, ich habe Hunger.«

Hunger? Ungläubig schüttelte Pippa den Kopf. Rehen in den Kopf zu schießen, machte dem Grafen Appetit?

Sie versuchte, einen Blick mit ihrer Mutter zu tauschen, es konnte doch nicht sein, dass sie so ein Verhalten gut fand. Aber in den Augen ihrer Mutter las sie nur die Bewunderung dafür, dass er diese schwierige Situation so souverän gemeistert hatte.

Ihre Mom war völlig verblendet, gar nicht mehr sie selbst! Müsste sie sich nicht vielmehr darüber wundern, wo Frederik so schnell eine Waffe hergehabt hatte? Sonst war ihre Mutter eine glühende Kämpferin gegen Waffen aller Art gewesen. Vor allem gegen solche, die in der Nähe von Kindern aufbewahrt wurden. Wo war die Mom geblieben, die sie kannte? Hatte der Graf ihr so dermaßen den Kopf verdreht?

Mit hängenden Schultern lief Pippa zurück zum Wagen, und als sie sich in die Polster zurückfallen ließ, sah sie wieder die braunen Augen des Rehkitzes vor sich. Nun kam es ihr so vor, als würde es ihr wirklich etwas zuflüstern. »Sieh dich vor, Pippa. Wenn du nicht willst, dass es dir so ergeht wie mir, musst du wirklich gut aufpassen, auf dich, auf dein Herz und auf deine Familie.«

2

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Widerwillig musste Pippa sich eingestehen, dass sie von der Auffahrt zu Schloss Ravensholm beeindruckt war. Eine Allee aus weiß blühenden Ebereschen begrenzte die mit hellem Kies bestreute Straße. In weiten Serpentinen führte sie hoch zu einem bewaldeten Hügel und endete vor einem Palast, wie ihn Pippa bisher nur aus Märchenfilmen und amerikanischen Serien kannte. Es war ein lang gestreckter mächtiger zweistöckiger Bau mit Fenstern im Erdgeschoss, die so hoch waren wie in Berlin drei Etagen. In der Mitte und symmetrisch davon je rechts und links ragten die Dachgiebel wie große verzierte Dreiecke bis weit in den Himmel und die Eingänge waren mit säulenverzierten Vorbauten geschmückt. Das Schloss war nicht aus rotem Ziegelstein erbaut wie die Häuser, die Pippa in Aalborg und auf dem Weg hierher gesehen hatte, sondern aus weißem Stein, der im Licht des späten Nachmittags schimmerte, als wäre er aus rotem Gold.

Zu dem Haupteingang in der Mitte führte eine breite Treppe mit niedrigen Stufen, auf denen ihnen dann nicht ganz wie in Downton Abbey nur eine einzige Angestellte entgegenkam. Die Haushälterin war älter als Pippas Mutter und trug wirklich eine Art Dienstmädchenkleid, allerdings mit einer schwarzen Schürze. Ihre dunkelblonden Haare waren rund um den Kopf geflochten und an ihrem Hals glitzerte eine goldene Kette, an der ein merkwürdiges Zeichen baumelte. Sie lächelte zwar freundlich, als der Graf sie ihnen als »Thorgard, den guten Geist des Hauses« vorstellte, jedoch spürte Pippa, dass Thorgards Lächeln nur dem Grafen galt, nicht den neuen Mitgliedern der Familie. Dabei benahm sich ihr Bruder so, dass man ihn einfach ins Herz schließen musste. Nachdem er der Haushälterin die Hand geschüttelt hatte, rannte er völlig wiederhergestellt hin und her wie ein junger Hund, der sein neues Reich beschnüffeln muss. Ständig rief er nach ihrer Mutter, weil er ihr etwas Neues zeigen wollte und Fragen hatte, während Pippa immer noch dastand wie angewurzelt.

»Ich wusste, dir würde das gefallen«, ihre Mutter legte die Hand auf Pippas Schulter und zog sie an sich. »Es ist ein so wunderschönes Schloss, findest du nicht?«

»Ja, nette kleine Bude«, versuchte Pippa einen Scherz, obwohl sie sich nicht besonders wohlfühlte. Es kam ihr so vor, als ob die Mauern alles Licht ein-, aber nur kalte Pfeile wieder ausatmen würden. Sie sollte sich zusammenreißen und nicht so überreagieren, ermahnte sie sich. Immerhin hatte sie Mom versprochen, dass sie ihr Bestes geben würde.

»Ah, und da kommt auch schon die liebe Kirsten!« Ihre Mutter winkte begeistert zur Treppe.

Wenn ich ein Typ wäre, dachte Pippa sofort, wäre ich jetzt rettungslos verloren. Niemand hatte ihr verraten, wie unfassbar schön Kirsten war, noch viel schöner, als es ihre Mutter gewesen war. Pippa hatte sich geweigert, ein Foto von ihr anzuschauen, hatte behauptet, sie wolle sie ganz unvoreingenommen kennenlernen. Alle hatten zwar betont, dass ihre Stiefschwester hübsch sei, und deshalb hatte sie sich vorgestellt, Kirsten wäre so ein Barbietyp, mit einem Allerweltsgesicht, das bei der Wahl zur Miss Dänemark den ersten Platz machen könnte. Was für ein Irrtum! Ihre Stiefschwester hatte zwar wirklich lange golden schimmernde glatte Haare, aber ihr Gesicht wurde von hohen Wangenknochen geprägt und von einem üppigen fliederfarbenen Mund und großen Augen vervollständigt. Sie erinnerte Pippa ein bisschen an Angelina Jolie, allerdings hatte Kirsten strahlend blaue Augen, genau wie ihr Vater. In ihrem dunkelblauen Etuikleid wirkte sie auf Pippa sehr viel älter als fünfzehn und sie konnte sich sogar vorstellen, dass sie neben Kirsten jünger aussah als fast siebzehn. Kirstens volle Lippen verzogen sich zu einem atemberaubenden Lächeln, das perfekte Zähne enthüllte.

»Hi, everybody«, grüßte Kirsten und umarmte ihre Mom, als wäre es ihre eigene. Dann wandte Kirsten sich Pippa zu und sah sie fragend an. »Na, Stiefschwesterchen, hattest du eine gute Reise?«, fragte sie und legte ihre Arme fest um sie. Kirsten umwaberte ein Mix aus einem vanilligen Parfüm, Meersalz und komischerweise eine Spur von Hallenbad.

»Du riechst sehr gut«, platzte es aus Pippa heraus und sie spürte, wie sie rot wurde. Kirsten konnte ja nicht wissen, wie wichtig das für sie war. Pippa hatte zugegebenermaßen einen ziemlichen Fimmel, was Gerüche anging. Sie hätte sogar heute noch sehr viel besser den einzigartigen Duft ihres Ex beschreiben können als den Klang seiner Stimme: Paniniheftchen, alter Lederfußball und Zimtkaugummi. Ihre Mom nannte es allerdings nicht Fimmel, sondern mit einem leichten Seufzen ihr schweres neurotisches Erbe, denn Pippa nahm genau wie schon ihr Vater Gerüche viel intensiver wahr als andere Menschen. Das war natürlich oft eher Fluch als Segen für sie, denn wer wollte schon wirklich riechen, was alles so durch die Berliner U-Bahn waberte …

Schloss Ravensholm roch natürlich viel besser, schmeckte beim Reinkommen nach Weihrauch und Möbelpolitur mit einer Prise abgestandenem Lavendelwasser, aber das war nur die Kopfnote, die Herznote darunter vibrierte metallisch, roch nach klimpernden Kupfermünzen.

Kirsten warf ihre blonde Mähne über die Schulter und strahlte Pippa an. »Na, das will ich hoffen, dass ich gut rieche! Keine Ahnung, was deine Mutter über uns Hinterwäldler erzählt hat, aber wir Dänen duschen uns dann doch schon mal zu besonderen Gelegenheiten … du weißt schon, Weihnachten und Mittsommer.« Sie grinste breit und zwinkerte ihr zu. Verblüfft erwiderte Pippa ihr Lachen.

Das hatte Matteo mitbekommen und mischte sich mit einem Strahlen im Gesicht ein. »Pipps, du hast gelogen, man muss sich gar nicht jeden Tag duschen! Ich bin ein Prinz!«, krähte er. »Ich bin ein Prinz!«, und bevor noch jemand etwas dazu sagen konnte, rannte er die Treppen nach oben.

»Dein Bruder ist ja total süß!«, sagte Kirsten und das klang in Pippas Ohren nicht nur vollkommen aufrichtig, sondern hingerissen. Ihre Stiefschwester war in jeder Hinsicht eine Überraschung. Eine gute.

»Komm mit, ich zeig dir alles.« Kirsten nahm sie an der Hand und Pippa ließ sich gerne mitziehen.

»Ich bin froh, dass ihr hier seid, ich freue mich schon so auf die Hochzeit. Ist es nicht toll, dass unsere Eltern sich verliebt haben? Ich meine, hey, in dem Alter?« Kirsten schnalzte vielsagend mit der Zunge. »Hast du einen Freund?«

Als Pippa etwas überrumpelt den Kopf schüttelte, nickte Kirsten ihr zu. »Ich auch nicht, ist gar nicht so leicht, den Richtigen zu finden, und bis dahin amüsiere ich mich lieber. Und ich sage dir, das wird ein Spitzensommer! Bei uns im Schloss ist ja immer viel los, aber diese Hochzeit wird ein echtes Highlight. Ich habe auch schon ein Ballkleid, das ist der Hammer, willst du es sehen? Hast du auch schon eins?« Kirsten plapperte munter drauflos, aber Pippa konnte ihr gar nicht richtig zuhören, weil ihre Aufmerksamkeit von den polierten Marmorböden, den riesigen Ölgemälden, den goldverzierten Stuckaturen, den Skulpturen in den Mauernischen und all den anderen üppigen Details im Schloss in Anspruch genommen wurde.

Fasziniert blieb sie vor einem Bild in einem auffallend prächtigen Goldrahmen stehen. Es war nicht der Rahmen, sondern das Bild selbst, das ihre Aufmerksamkeit fesselte. Die junge schwarzhaarige Frau schien dem Betrachter direkt ins Herz sehen zu können. Vor ihr auf dem Boden saßen zwei kleine gleichaltrige merkwürdig blasse, aber sehr schöne Kinder, eines war als Junge, eines als Mädchen gekleidet. Das war Kirstens Mutter, wusste Pippa sofort, aber sie wirkte seltsam getrennt von den Kindern, die völlig aufeinander fixiert zu sein schienen. Und das Mädchen hatte keine Ähnlichkeit mit Kirsten.

»Das ist meine Mutter«, erklärte Kirsten prompt und seufzte nachdenklich, ihre Schultern fielen nach vorne und Pippa wurde schlagartig klar, wie sehr Kirsten immer noch um ihre Mutter trauerte. Dabei kam sie ihr viel zerbrechlicher vor als die selbstbewusste Elena, erst auf den zweiten Blick erkannte Pippa Ähnlichkeiten zwischen den beiden. Die Linie der Wangenknochen, die Augenbrauen. »Bist du das Mädchen da auf dem Boden?«

»Nein, das ist Madita und daneben ihr Zwillingsbruder Nikolas. Dita und Niels sind …« Kirsten holte tief Luft. »Sie waren drei Jahre älter als ich. Deine Mom hat dir sicher erzählt, was passiert ist, oder?«

Da wurde Pippa rot und verfluchte sich für ihr unsensibles Benehmen. Kirstens Mutter war erst seit eineinhalb Jahren tot. Pippas Vater war schon vor fünf Jahren gestorben und doch tat der Gedanke an ihn immer noch so weh. Wie traurig musste sich Kirsten dann erst fühlen?

»Ich wollte nicht unhöflich –«

»Das ist schon okay. Es … es war wirklich furchtbar.« Kirsten räusperte sich ein paar Mal und Pippa spürte den Impuls, ihre Hand zu nehmen, um sie zu trösten, aber sie traute sich nicht, weil Kirsten so in sich versunken wirkte. »Als am Tag vor meinem vierzehnten Geburtstag die Nachricht kam, dass ihr Sportflugzeug abgestürzt ist, hat uns das alle tief getroffen. Meine Mutter war so ein besonderer Mensch. Jeder hat sie immer sofort ins Herz geschlossen.«

»Es tut mir wirklich leid, dass du sie verloren hast.«

Eine Träne rollte über Kirstens Wange, die sie ungehalten wegwischte.

Jetzt nahm Pippa doch ihre Hand und drückte sie. »Ich kann nachvollziehen, wie du dich fühlst.«

»Ja, für dich war das sicher auch nicht leicht.« Kirsten schenkte ihr einen mitfühlenden Blick, dann gab sie sich einen Ruck und ging weiter und Pippa fühlte sich seltsam getröstet, als ob es ein unsichtbares Band zwischen ihnen gäbe, das Worte überflüssig machte.

»Als Tochter eines Künstlers ist dir sicher klar, dass die Bilder hier im Treppenhaus zwar ganz schön sind, aber nicht wirklich wertvoll, im Gegensatz zu unserem Lieblingsbild oben in der Bibliothek. Deine Mom hat erzählt, dass du eigentlich Philippa heißt, weil dein Vater so ein großer Fan von diesem norddeutschen Romantikmaler war, Philipp Otto Runge. Stimmt das?«

»Na ja …« Pippa wusste nicht, was sie dazu sagen sollte.

»Egal. Pippa ist jedenfalls so viel lässiger als Kirsten. Mal ehrlich, mein Name klingt doch wie ein hässliches Beistelltischchen von IKEA, findest du nicht?« Sie blieb stehen. »Ich bestelle drei Billyregale in Weiß, zweimal Gammlastan poliert und einmal Kirstenby, aber mit Eichefurnier.« Sie sprach ihren Namen »Kööörsten-biieh« aus und fing an, so prustend zu lachen, dass Pippa gar nicht anders konnte, als einzustimmen. Sie sanken kichernd auf die oberste Treppenstufe, von der aus man einen guten Blick auf das gigantische Treppenhaus hatte. Jetzt erst erkannte Pippa, dass die Muster auf den riesigen orientalischen Teppichen im Erdgeschoss gar nicht abstrakt waren, sondern Jagdszenen mit Pferden, Hirschen und Rehen zeigten.

Nachdem sie sich wieder beruhigt hatten, räusperte sich Kirsten ein paar Mal. »Ich finde es toll, dass ich wieder eine Schwester habe, und noch dazu eine aus Berlin. Meine Freundinnen werden mich beneiden!«

Pippa schämte sich ein bisschen, weil sie immer nur daran gedacht hatte, was ihr hier alles fehlen würde.

Kirsten warf ihr schräg von der Seite einen Blick zu.

»Aber ehrlich gesagt glaube ich, dein Bruder ist doch viel netter als du!«

»He!«, protestierte Pippa lachend. Sie stupste Kirsten scherzhaft an den Oberarm und bei dem Gedanken an Matteo fiel ihr plötzlich etwas auf. Niels, Kirstens Bruder. Von dem hatte sie noch nie etwas gehört. Warum war er bei ihrer Recherche nirgends aufgetaucht? War er etwa auch schon gestorben?

Kirsten sprang auf, klopfte sich den nicht vorhandenen Staub von der Rückseite ihres Etuikleides und lief beschwingt nach rechts.

»Eure Zimmer sind im Ostflügel«, sagte sie. »Unsere sind im Westflügel, du hast das Vier-D-Zimmer.«

»Vier-D?«

»Das ist nur eine Abkürzung. Die Zimmer sind alle nach Tieren aus den nordischen Sagen benannt. Dein Bruder wohnt dort hinten in Ratatösk, das ist das Eichhörnchen, das zu Yggdrasil gehört.«

»Yggdrasil?«, wiederholte Pippa und musste sich das Lachen verbeißen. Kirsten sah plötzlich so ernst aus, als wäre sie doch die Siegerin einer Misswahl und würde über den Weltfrieden reden.

»Davon hast du noch nie gehört, oder?«

Pippa schüttelte den Kopf. Sie hatte zwar nächtelang die Familie von Raben ausspioniert, aber nicht die leiseste Ahnung über Dänemark. Und schon gar nicht über seine Mythologie. Das würde sie Kirsten natürlich nicht auf die Nase binden. Wegen des Weltfriedens.

»Hey, das ist doch kein Drama«, Kirsten strahlte sie an, »dafür zeigst du mir alle Szeneclubs oder was auch immer du sonst so machst, wenn wir dann mal zusammen nach Berlin fahren, okay?«

»Geht klar!« Pippa stellte sich Kirsten mit ihren Freundinnen vor und kam innerlich grinsend zu dem Schluss, dass es sehr interessant sein könnte, Kirsten beim Bouldern zu beobachten. Kirsten würde sicherlich nie ins Schwitzen kommen, nicht mal leicht transpirieren.

»Also das alles gehört zur nordischen Mythologie«, erklärte Kirsten. »Die Weltesche Yggdrasil ist der größte und prächtigste Baum der Erdgeschichte. Sie verbindet Götterwelt, Erdenwelt und die Unterwelt miteinander und ist gleichzeitig ihr Mittelpunkt. Außerdem stützen ihre Zweige das Himmelsgewölbe und halten es.« Kirsten hielt inne und vergewisserte sich, ob Pippa ihr noch folgen konnte.

»Ah … klar«, sagte Pippa und obwohl sie das ja alles eher schräg fand, schluckte sie jeden spitzfindigen Kommentar wieder hinunter. Dieses Mythologiezeug schien Kirsten wirklich etwas zu bedeuten. Mehr als der Weltfrieden.

»Das Eichhörnchen Ratatösk ist eine Art Unruhestifter, das die Botschaften des Adlers an den Drachen Nidhöggr überbringt, der wiederum in den Wurzeln von Yggdrasil lebt, genauso wie die Midgard-Schlange.«

»Passt super zu Matteo, mein Bruder bringt wirklich immer jede Menge Unruhe.«

»Das glaub ich sofort. Brüder! Und hier drüben wohnt deine Mutter. In der Heidrun-Suite.«

Gut, dachte Pippa, dann sind wir jetzt ja wohl am Ende unseres Vortrages angekommen. »Heidrun, diese Göttin kenne ich, das ist die Heilige der Mathelehrerinnen.«

Das entlockte Kirsten ein kleines Lächeln, bevor sie fortfuhr. »Okay, wenn diese Mathelehrerin eine Ziege ist, könnte das vielleicht sogar stimmen.«

Gut gekontert, dachte Pippa, vielleicht können wir sogar Freunde werden.

»Diese spezielle Heidrun ist nämlich eine Ziege, aber eine ganz besondere. Aus ihrem Euter fließt Met, das ist Honigwein, und der wiederum hat die Einherjer genährt, die edlen Krieger, die im Kampf gefallen sind und deshalb in Walhalla wohnen dürfen.«

»Danke«, unterbrach Pippa dann doch, »ich glaube, mehr geht gerade nicht mehr in meinen Schädel.«

»Komisch … dabei hat deine Mom behauptet, du wärst so ein Superhirn!«

»Hey!« Pippa versetzte ihr einen Klaps auf den Oberarm. »Ich ratatöske dir gleich mal was, du Yggdrasillije, du!«

Die beiden fingen an zu kichern und jedes Mal, wenn Pippa »du Yggdrasillije, du« murmelte, mussten sie kurz stehen bleiben und verschnaufen. Dann liefen sie einträchtig weiter durch den langen Flur.

»Warte erst mal, bis du siehst, was für traumhafte Klamotten in deinem Zimmer auf dich warten …«, verkündete Kirsten, als wäre das ein Sechser im Lotto.

»Wie, Klamotten?«

»Oh, richtig tolle Designermarken, damit du in Schloss Ravensholm immer richtig angezogen bist.«

Pippa zuckte mit den Schultern. »Mir reichen Jeans und Turnschuhe, in allem anderen fühle ich mich bloß verkleidet.«

»Das werden wir ja noch sehen!« Kirsten blieb vor einer tannengrün gestrichenen Tür stehen, öffnete sie und zeigte in den Raum. »Ist das nicht schön?«, fragte sie, legte ihre Hand auf Pippas Arm, zog sie in das Zimmer und deutete auf ein Himmelbett mit grün-weiß kariertem Baldachin, in dem das komplette Ensemble von Modern Family Platz gehabt hätte. Hier könnte sie bequem mit all ihren Freundinnen übernachten, dachte Pippa und verdrehte die Augen bei dem Gedanken daran, was Alana zu diesen unglaublichen Spitzenvolants sagen würde. Irgendwas in dem Zimmer roch seltsam, und gerade als sie darüber eine Bemerkung zu Kirsten machen wollte, fiel ihr Blick nach links. Sie schnappte nach Luft.

»Die vier D stehen für Dain, Dvalar, Duneyr und Durathror, das sind vier Hirsche, die die Blätter von Yggdrasil abfressen«, erklärte Kirsten und deutete mit lebhaften Gesten zur Wand hin. Das Glitzern ihrer strassbesetzten Armbanduhr lenkte Pippa nur flüchtig von den ausgestopften Hirsch-, Elch- und Rehköpfen ab, die sie teils mit, teils ohne Geweihe aus ihren toten Augen anstarrten. Aber das war es nicht, was Pippa so irritierte, auch nicht Kirstens Uhr, es war etwas anderes. Etwas vollkommen Verrücktes.

Ihr blieb beinahe das Herz stehen, in diesem Zimmer würde sie kein Auge zumachen. Niemals.

Denn mitten unter den Tieren war das Reh, das Kirstens Vater gerade erst erschossen hatte. Es starrte sie aus weit geöffneten Augen an, während aus der Wunde in der Stirn Blut tropfte. Aber das war unmöglich! Sie blinzelte und sah noch einmal genauer hin. Jetzt sah das Reh einfach nur wie ein totes Reh aus, ohne Wunde auf der Stirn. Gott sei Dank! Pippa seufzte erleichtert. Wie peinlich, da war ihre blühende Fantasie wohl mit ihr durchgegangen.

Kirsten lief zum Fenster und winkte ihr. »Komm doch mal her, von hier hast du einen Superblick auf den Wald.«

Pippa nickte ihr geistesabwesend zu, dann musste sie das Reh noch einmal anschauen, nur um ganz sicherzugehen, dass sie sich getäuscht hatte. Alles in Ordnung, sie war nur müde und überreizt. Sie tappte zum Himmelbett und setzte sich. Blut hin oder her, diese Tierleichen an der Wand waren so oder so schrecklich.

»Glaubst du, ich könnte ein anderes Zimmer haben?«

»Aber warum denn? Was passt dir denn nicht?« Kirsten klang enttäuscht. »Ich habe gedacht, das würde dir gefallen, es ist eines der schönsten im ganzen Schloss! Und schau mal, hier drüben ist der eingebaute Kleiderschrank.«

Der Kleiderschrank war ihr so was von egal, aber sie wollte Kirsten nicht kränken. Pippa zeigte zum Reh, ohne zu wissen, wie sie es sagen sollte.

Daraufhin setzte sich Kirsten neben sie und legte einen Arm um ihre Schulter. »Magst du keine ausgestopften Tiere?«

Pippa überwand sich, sah dem Reh in die toten Augen, und obwohl es »normal« aussah, hallte plötzlich der Schuss durch ihren Kopf, der Geruch des Rehs mischte sich mit dem Vanille- und Hallenbadduft von Kirsten und dem des Zimmers. Die braunen flehenden Augen des Tieres wurden größer und kleiner wie in einem Kaleidoskop und sie sah Mads und Bill, wie sie den Kadaver über die Straße schleiften.

»Was ist denn los?« Kisten sah sie besorgt an. »Hast du etwas Falsches gegessen?«

»Nein, aber ich kann hier einfach nicht schlafen. Das Schloss ist doch sehr groß, es gibt bestimmt ein anderes Zimmer …«

»Na klar, wir haben jede Menge Zimmer, aber Thorgard hasst es, wenn man ihre Pläne durcheinanderbringt.« Kirsten grinste sie verschwörerisch an. »Und weißt du, was? Genau das ist eigentlich der beste Grund, sich der alten Schreckschraube zu widersetzen. Bleib hier sitzen, ich regle das für dich.« Damit sprang sie auf und verließ das Zimmer.

»Lass mich nicht allein«, wollte Pippa sagen, aber sie brachte kein Wort heraus. Was war nur plötzlich mit ihr los? Sie sah zum Reh hinüber – es war doch nur eine staubige geschmacklose Jagdtrophäe!

Das habe ich mir nur eingebildet, weil alles neu ist, beruhigte sie sich. Und weil es so traurig war, dass ihr Stiefvater das Reh erschießen musste.

In diesem Moment kam Kirsten schon mit der völlig atemlosen Thorgard zurück.

»Was ist denn an diesem Zimmer auszusetzen?«, fragte die Haushälterin. »Wir erwarten wegen der Hochzeit eine Menge Gäste, es gibt keine erstklassigen Hotels in der Gegend. Soll ich Miss Pippa vielleicht eine der Suiten geben, die für den Polizeichef, den Innenminister, den Bruder der Königin oder den russischen Botschafter vorbereitet wurden?«

Na toll. Hinter Thorgard tauchte nun auch noch ihre Mutter mit dem Grafen im Schlepptau auf.

»Was ist hier los?«, erkundigte er sich und bekam von Kirsten die Antwort, dass Pippa nicht in diesem Zimmer schlafen wollte.

»Das meint Pippa nicht ernst!«, mischte sich sofort ihre Mom ein und sah sie mit ihrem allerstrengsten Blick an. »Philippa gefällt es hier ausgezeichnet! Das ist ein wunderbares Zimmer mit herrlicher Aussicht.«

Oha, Philippa – das verwendete sie nur, wenn sie übel sauer war.

»Mama, es ist wegen dem Reh«, versuchte Pippa, sich zu rechtfertigen.

»Dir gefällt also die Trophäensammlung meines Urgroßvaters nicht?« Frederik deutete auf die Wand mit den Köpfen und Geweihen.

»Nein, ja, ich meine, es ist nur wegen dem Unfall!«

Der Graf und ihre Mutter sahen sich verblüfft an. »Welcher Unfall?«

»Ich rede von dem Reh auf der Straße, das wir vorhin angefahren haben.«

Ihre Mutter sah den Grafen entschuldigend an. »Ich weiß nicht, was für ein Problem meine Tochter plötzlich hat.«

Pippa sah von einem zum anderen. Aber es waren doch alle dabei gewesen, die Kill Bills, Matteo, ihre Mutter! »Nicht ich habe ein Problem, sondern das Reh, das Frederik auf der Straße erschossen hat!«

Ihre Mutter presste die Lippen zusammen und Pippa ahnte schon, was kommen würde. Ihre Mutter war auf der Seite des Grafen, wie immer, seit sie ihn getroffen hatte. »Was sind denn das für lächerliche Behauptungen? Frederik ballert doch nicht wie im Wilden Westen einfach so durch die Gegend! Du wirst dich für dein absurdes Verhalten auf der Stelle bei ihm entschuldigen.«

Matteo, dachte Pippa, ich brauche Matteo, ich bin doch nicht verrückt. Ihr Bruder würde sie nicht belügen.