Über dieses Buch

Menschenrechtsverletzungen in Deutschland? Was undenkbar scheint, belegt Franz Segbers in seinem Buch. Heißt es in Artikel 22 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: »Jeder Mensch hat als Mitglied der Gesellschaft Recht auf soziale Sicherheit«, so steht die wachsende Armut in Deutschland dem entgegen. Es wird Zeit, Denken und Praxis zu ändern.

Hinweis zum Autor

Dr. Franz Segbers, geboren 1949 im Ruhrgebiet, alt-katholischer Priester, war Arbeiter- und Betriebsseelsorger in Frankfurt-Höchst und Dozent für Sozialethik an der Evangelischen Sozialakademie Friedewald, zuletzt Referent für Arbeit, Ethik und Sozialpolitik im Diakonischen Werk Hessen-Nassau und bis 2012 Erster Vorsitzender der Landesarmutskonferenz in Rheinland-Pfalz, bis zur Emeritierung 2014 Professor für Sozialethik im Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg. Er hatte mehrere Gastprofessuren auf den Philippinen inne. Er lebt in der Nähe von Frankfurt am Main. Weitere Informationen unter www.Franz-Segbers.de

Menschenrechte

Dreh- und Angelpunkt für die Armutsbekämpfung

Es ist eine Schande. In einem der reichsten Länder hat die Zahl der Armen mittlerweile ein Rekordniveau von 15,5 Prozent erreicht – 12,5 Millionen Menschen. Mit dieser Meldung hat der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband (DPWV) im Februar 2015 die Öffentlichkeit aufgerüttelt. Und sofort wurde in zahlreichen großen Medien zum Gegenangriff geblasen. Überraschend ist der gleichlautende Tenor: Die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« sah im festgestellten Anstieg der Armut einen »statistischen Trick«, für das »Zeit-Magazin« ist der Anstieg von Armut auf einen Höchststand »Nonsens in reinster Form«, die »Süddeutsche Zeitung« sieht einen »Fehler im System«. Georg Cremer, Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes, bescheinigte der Studie in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, zwar »gut gemeint«, aber unangemessen zu sein. Auch Arbeitsministerin Andrea Nahles weist die Aussage der DPWV-Armutsstudie zurück. »Wirkliche Armut« sähe anders aus.

Die Messung von Armut ist hoch umstritten. Wann ist arm wirklich arm? Die Europäische Union hat sich darauf verständigt, Armut so zu bemessen: Wer über weniger als sechzig Prozent des mittleren Einkommens verfügt, ist armutsgefährdet. Gemessen wird mit der relativen Armut die Quote jener Menschen, die vom Wohlstand abgekoppelt sind. Relative Armut misst also die Ungleichheit in einer Gesellschaft. Ungerechtigkeit wird somit zum Thema. Die harsche Kritik in Medien und Politik lässt vermuten, dass es gar nicht um Statistik geht, sondern um eine Verharmlosung der Armut. Die Gerechtigkeitsfrage soll vielmehr außer Streit gestellt werden. Die Bundesregierung weigert sich, eine gerechte Steuerpolitik zu machen, und hat Umverteilung zum Tabu erklärt. Dann ist es leichter, Armut umzudefinieren. Arm sind nur die »wirklich Armen«.

Ginge es wirklich um eine Kritik an der Statistik, dann wären ganz andere Zahlen umstritten: die Messung von Reichtum. Es liegen keine verlässlichen Zahlen und belastbaren Fakten vor. Die Politik hat auch kein Interesse daran, den Schleier über den Reichtumsverhältnissen zu lüften. Doch welche Untersuchungen man auch heranzieht: Der Reichtum hat einen Spitzenwert erklommen. Das Vermögen des oberen einen Prozents, 800 000 der wohlhabendsten Deutschen, ist fast genauso groß wie das Vermögen der übrigen 80 Millionen. Ganz oben hat das oberste 0,1 Prozent, jene 80 000 Wohlhabendsten in Deutschland, ein Vermögen, das 16-mal so groß ist wie das Vermögen der unteren Hälfte der Bevölkerung. In Deutschland wird nahezu alles statistisch berechnet. Nur beim Reichtum hält man sich diskret zurück.

Das Wort »Kinderarmut« sucht man im Koalitionsvertrag der schwarz-roten Bundesregierung unter Angela Merkel vergebens; aber gleich fünfmal findet sich das Koalitionsvorhaben, eine Mautgebühr einzuführen. Während die Parteien sich also eher um das Projekt der Mautgebühren kümmern und die Not der Kinder derweil aus dem Blick gerät, machen sich bis in die kleinsten Dörfer Bürgerinnen und Bürger daran, überflüssige Lebensmittel aus den Supermärkten an Bedürftige zu verteilen. Sie sehen die Not der Menschen, packen an, organisieren Tafeln und wollen wenigstens die schlimmste Not lindern, in die immer mehr Menschen geraten sind. Es ist hochanständig, dass Menschen das ihnen Mögliche tun, um Not zu lindern. Eine Schande aber ist es für unser reiches Land, dass landauf, landab Zigtausende tun, was der Staat unterlässt, nämlich für eine würdige Existenz aller Bürgerinnen und Bürger zu sorgen.

Wie Pilze schießen die Tafeln aus dem Boden der sozialen Entwürdigung der Armen. Was in den Supermärkten von der Überschussproduktion an Lebensmitteln an Resten übrig bleibt, hat noch eine Verwertung bei den Armen. Das ist nicht einmal ein Almosen; es ist etwas vom Rest der Überflussproduktion.

Im »Großen Duden-Wörterbuch« heißt es zum Wort »Schande«: »Schande – etwas, was die Minderung des Rufs, der Ehre von jemandem zur Folge hat; jemandes Ansehen in hohem Maße schadet.« Alle Untersuchungen belegen die Scham, zur Tafel gehen zu müssen. Eine alte Frau gestand: »Ich schäme mich so sehr, ich konnte mir gar nicht vorstellen, dahin zu gehen. Aber es geht nicht anders.« Ein anderer Tafelkunde: »Ich hätte nie gedacht, dass ich mal so etwas in Anspruch nehmen muss.« Ein ganzer Industriezweig mit über 900 Tafelausgabestellen und mehr als 60 000 Helfern ist entstanden. Man sei die größte soziale Bewegung, lobt sich der Bundesverband Tafel. Man geht hochprofessionell ans logistische Werk, um anderthalb Millionen Bedürftige zu versorgen. Sponsoren aus Industrie und Gewerbe halten den Betrieb aufrecht. Ihr Engagement wird allenthalben von den Politikern als innovatives Beispiel einer aktiven Bürgergesellschaft gelobt. So kommen überschüssige Waren zu »überflüssigen« Menschen. Bezeichnend ist, dass im Jahr 2011 die Tafelbewegung mit einem Preis für Nachhaltigkeit ausgezeichnet wurde.

Ich möchte im Folgenden mit einer Menschenrechtsperspektive auf die Schande von Armut in einem reichen Land wie Deutschland schauen. Die versammelte Weltgemeinschaft hatte am 8. Dezember 1948 feierlich in der »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« allen Bewohnerinnen und Bewohnern dieses Planeten ein Recht auf ein Leben in Würde versprochen. Artikel 22 hält fest: »Jeder Mensch hat als Mitglied der Gesellschaft Recht auf soziale Sicherheit.« In Artikel 25 wird dieses Recht folgendermaßen ausgeführt:

»Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen, sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung, im Alter sowie bei anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände.«

Eine uralte Hoffnung der Menschheit wird wahr: ein Leben ohne Not und in sozialer Sicherheit. Das Menschenrecht auf soziale Sicherheit steht auch an der Wiege des modernen Menschenrechtsdenkens. Bereits die Französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 sprach vom Recht auf Freiheit und Eigentum, aber auch vom Recht auf Sicherheit. Man hat das Menschenrecht auf soziale Sicherheit ein vergessenes Menschenrecht genannt. In der Tat fristet es ein Schattendasein, obwohl es das älteste und zentralste aller sozialen Rechte ist. Deshalb liegt es bei den Bürgerinnen und Bürgern, sich dieses Recht wieder anzueignen und seine Umsetzung zu erstreiten. Dazu wollen die vorliegenden Ausführungen beitragen.

Die Proklamation des Menschenrechts auf soziale Sicherheit zählt genau fünfzig Worte und ist das am ausführlichsten deklarierte Recht. Die Vereinten Nationen haben im Jahr 1966 die »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte« in zwei rechtsverbindlichen Pakten weiterentwickelt: im Pakt über bürgerliche und politische Rechte und im Pakt über wirtschaft­liche, soziale und kulturelle Menschenrechte. Im Jahr 2008 hat der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte, der den UN-So­zialpakt überwacht, das Menschenrecht auf soziale Sicherheit in einem Rechtskommentar erläutert und in Normen gefasst. Mit der Ratifizierung des Sozialpaktes und des Zivilpaktes der Vereinten Nationen hat sich die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1976 völkerrechtlich verpflichtet, die Menschenrechte zu respektieren, zu schützen und zu gewährleisten. Seitdem haben die Pakte die Rechtsverbindlichkeit eines einfachen Bundesgesetzes.

Unbestritten ist, dass Menschenrechte im Kongo, in Guantánamo oder auch in Nordkorea verletzt werden. Aber doch nicht in Europa oder gar in Deutschland mit seinem ausgebauten, wenngleich in den letzten Jahren durch neoliberale Reformen reichlich zerfledderten Sozialstaat! Folter ist wohl eine der schlimmsten Menschenrechtsverletzungen. Nicht minder sind es willkürliche Verhaftungen, auf die Amnesty International immer wieder aufmerksam macht. Doch die politischen und bürgerlichen Menschenrechte und die sozialen und wirtschaftlichen Menschenrechte dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Das Menschenrecht auf ein Leben in sozialer Sicherheit und das Recht auf Nahrung haben denselben moralischen und rechtlichen Wert wie das Menschenrecht des Schutzes vor Folter. Die Menschenrechte sind unteilbar, sie gehören zusammen und bedingen sich gegenseitig. Nur wer von seinen politischen und bürgerlichen Freiheitsrechten Gebrauch machen kann, kann auch ein Leben in sozialer Sicherheit führen.