Johannes W. Schneider

Unser Leben –
unser Schicksal

Sich selber näher kommen

Verlag Freies Geistesleben

Inhalt

Vorwort

Biografie und Schicksal

Dem Anderen begegnen

Wie entstehen und wie reifen Schicksalsbeziehungen

Der Ernst und die Stille
und der Friede des Todes

Wenn Tote uns nahe kommen –
vielleicht zu nahe

Von der Erde –
Was Sterbende in den Himmel mitbringen

Von den Sternen –
Was Kinder bei ihrer Geburt mitbringen

Das Schicksal
zwischen Eltern und Kindern

Glück und Leid
im Schicksal

Wunden im Schicksal heilen –
Schuld und Verzeihung

Sinn und Ziel der Wiederverkörperung

Gedanken aus Asien und Europa

Persönliches Schicksal
und Zeitschicksal

Fußnoten

Impressum

Vorwort

Über das Thema Biografie – Schicksal – Wiederverkörperung habe ich in mehr als vier Jahrzehnten viele Vorträge gehalten. An die Vorträge schlossen sich oft Aussprachen und persönliche Gespräche an, in denen ganz eigene Erfahrungen und Probleme der Zuhörer zur Sprache kamen. Diese Erfahrungen und die Fragen haben sich im Laufe der Jahrzehnte gewandelt. Das hängt gewiss damit zusammen, dass ein Vortragender in zunehmendem Alter andere Gedanken anregt, wohl aber auch damit, dass die Erfahrungen auf diesem Gebiet sich gewandelt haben.

Der Ausgangspunkt meiner Arbeit am Thema waren die Darstellungen Rudolf Steiners, die ich als Jugendlicher während des Krieges kennengelernt habe. Schicksal – den Krieg überleben oder nicht, durch die Ereignisse innerlich gestärkt oder gebrochen werden –, das war für uns ein Thema mit greifbarer Realität. Das waren für uns nicht Gedanken, über die man so oder so diskutieren kann, sondern wir waren ganz persönlich betroffen, es ging um das elementare Verständnis unserer selbst. Diese Gedanken waren für uns nicht bloß Inhalte, die man lernen und anderen mitteilen kann, sondern sie wurden, verinnerlicht, zum Organ, um einen Sinn in unserem Leben zu sehen.

Für mich ist der «gute» Anthroposoph nicht derjenige, der alles weiß und Rudolf Steiner zitieren kann, sondern derjenige, der gar nichts weiß, dem aber in der Begegnung mit der Welt genau das einfällt, was er im Augenblick braucht. Als Student lernte ich einen Anthroposophen kennen, der seine Vorträge so hielt, dass man die Inhalte ganz leicht vergessen konnte, dass man aber nach dem Vortrag sich selbst besser verstand. Es war Hermann Poppelbaum. Er war vor dem Krieg ausgewandert und Professor für Biologie an einer Universität in den USA geworden, ehe er nun nach Europa zurückkehrte. Er sprach recht einfach und anschaulich, gar nicht «akademisch». (Er schloss seine Vorträge, danach konnte man die Uhr stellen, nach 55 Minuten.) Und er sprach ganz locker und natürlich. Ich hoffe, etwas von diesem Poppelbaum’schen Geist ist auch in mein Buch übergegangen.

So bleibt mir noch, denen zu danken, die mich in den öffentlichen Aussprachen oder in persönlichen Gesprächen an ihren Lebensproblemen teilnehmen ließen. Vielleicht wird der eine oder andere in den Darstellungen dieses Buches sich wiedererkennen – und wird das hoffentlich billigen. Denn was der eine oder andere Mensch durchlebt und durchlitten hat, darf vielleicht auch anderen helfen.

Dortmund, im März 2010         Johannes W. Schneider

Biografie und Schicksal

Sie ist schon in recht späten Lebensjahren, da erzählt eine Frau aus ihrer Kindheit: Einmal habe ihre Mutter sie lange kopfschüttelnd angesehen und gesagt: «Ich weiß gar nicht, wie du in unsere Familie kommst, wir anderen sind doch ganz normal.» Normal, das war für sie gut bürgerlich, um nicht zu sagen spießbürgerlich. Nur nicht abweichen von der Norm, die in unseren Kreisen gilt, und diese Normen nicht hinterfragen. Denn Normen geben Sicherheit oder jedenfalls die Illusion von Sicherheit. Und dieses unnormale Mädchen fragte immer wieder: «Warum?»

Auch das Mädchen empfand, dass es in die Familie nicht recht hineinpasste, und sagte für sich selbst: Es gibt zwei Welten, unsere und die andere. Wie man dort ist in der anderen Welt und wie man dort lebt, das konnte sie sich nicht recht vorstellen, aber jedenfalls anders. Gehöre ich vielleicht selbst in diese andere Welt und kann ich einmal in dieser anderen Welt leben, später? Sie war schon fast volljährig, da lernte sie bei einer gutbürgerlichen Tanzveranstaltung einen jungen Mann kennen. Schon beim ersten Blick hatte sie gespürt: Der kommt aus der anderen Welt. Und, man kann es fast raten, wenig später holte der Mann sie dorthin ab. Endlich fühlte sie sich im Leben zu Hause. Aber das Wort der Mutter über ihre unnormale Tochter behielt seine Wirkung bis ins Alter.

Das Mädchen lebte durch das Schicksal in einer Familie, die nicht zu ihr passte. Und mit der sie nichts zu tun hatte? Doch. Vor allem mit der jüngeren Schwester verband sie ein lebenslanger gegenseitiger Hass. Und das Verhältnis zwischen den Eltern und ihrer älteren Tochter war eine merkwürdige Mischung von religiös motivierter Verantwortung füreinander und seelischer Ferne. Trotz der Fremdheit gab es ein Anziehungsband. Was das Mädchen suchte, war etwas ganz anderes als der Lebensstil ihrer Familie. Ihr Zugriff auf das eigene Leben passte nicht in den gegebenen Schicksalskreis. Und ihr Wille zum eigenen Lebensstil war stärker als das vorgefundene Schicksal. Doch, was im Alter gar nicht selten ist, sie wurde ihren Eltern ähnlicher. Was sie wirklich nicht wollte.

Wie anders klingt es, wenn der österreichische Dichter Peter Rosegger darauf zurückblickt, wie sein Lebenskonzept und das ihm begegnende Schicksal ineinandergreifen. «Ich bin geschoben worden», so schreibt er, «ohne es wahrzunehmen, geleitet worden, ohne zu wissen, wohin, bin von Unzweckmäßigkeiten ferngehalten, zu Gedeihlichem geführt worden. Alles völlig ohne ein zielbewusstes Wollen und Streben von meiner Seite. Und so ähnlich ging es durch das ganze Leben. Ich begann dann ja auch selbst zu wollen und zu trachten, aber an den wichtigen Wendepunkten griff allemal etwas Unerwartetes ein und leitete mich anders, als es gedacht war. Es war eine fast gerade gezogene Linie ohne viel Hin und Her des persönlichen Zutuns. – Zufall? Dazu war es zu systematisch, zu zwecksicher. Glück? Aber das Glück ist blind, kann viele Jahre hindurch so zielbewusst nicht arbeiten. Wie nenne ich es also, was mich geführt hat, wem soll ich danken? Es ist nicht modern, den Namen auszusprechen.»1

Wem er wohl danken darf? Indem er so fragt, zeigt der Dichter ja, dass er es weiß. Auf Namen kommt es nicht an, aber wenn ich verstehe, dass jemand mir ein so gut passendes Schicksal zubereitet hat, dringe ich in die Tiefenschicht meiner selbst vor. Heute haben wir ja wohl kaum noch eine Hemmung, von denen zu sprechen, die im Schicksal wirken, von den Engeln.

Bemerkenswert bleibt aber auch für uns heute die Beobachtung Peter Roseggers, dass das Schicksal, das uns scheinbar von außen, aus der Welt, entgegenkommt, besser zu unserem Ich passt als das Konzept, das wir uns selbst gemacht haben. Kennen denn diejenigen, die unser Schicksal komponieren, unser Ich besser als wir selbst? Unser Ich nicht nur, wie es bis heute geworden ist, sondern wie es in die Zukunft hinein werden will. Den Blick in diese Richtung zu wenden, fein und intim zu beobachten oder vielleicht erst vorsichtig zu fragen, das führt mitten in das Verständnis von Leben und Schicksal hinein. Und das kann man bei Peter Rosegger lernen.

Wenn das Kind, vielleicht mit drei Jahren, versteht, dass es nicht immer so klein sein wird, sondern einmal Schulkind und schließlich erwachsen wird, da sind die Lebenserwartungen noch wenig realistisch und wenig individuell. Mama sein, das ist der Gipfel des Glücks. Denn Mama geht ins Kaufhaus und kauft, was sie will. Mama bestimmt, was es morgen zu essen gibt – Mama werde ich auch einmal sein, oder Papa.

Besonders bei körperbehinderten Kindern ist zu bemerken, dass um das neunte Jahr die Lebenserwartungen realistischer und individueller werden. «Ich werde mich nie so bewegen können wie die anderen, nie tanzen oder bergsteigen, nie. Mein Leben wird anders sein.»

Im Jugendalter werden Lebensideale dann gerne an bestimmten Berufswünschen festgemacht. Wenn so viele Mädchen Stewardessen werden wollen, so wird das von den Erwachsenen oft belächelt, denn so viele Flugzeuge gibt es ja gar nicht. Das sind doch ganz illusionäre Vorstellungen. Dem Jugendlichen aber geht es nicht um Arbeitsplätze, sondern um das, was zwischen den Zeilen des Berufswunsches liegt: Weltweite – oder gepflegter Lebensstil – oder anderen Menschen helfen. Das ist es, worauf es ankommt, und das kann auch in ganz anderen Berufen oder Lebenssituationen verwirklicht werden.

Wenn der passende Platz im Leben im Laufe der Zwanzigerjahre, hoffentlich, gefunden ist, wenn man festen Boden unter den Füßen hat, da kommt es zu einer merkwürdigen biografischen Situation. Obwohl nichts schiefläuft, taucht eine Frage auf: Ist das Leben, das ich führe, eigentlich mein Leben? Andere haben vielleicht mehr Erfolg, aber das ist nicht die Frage, sondern ob das Leben, das ich führe, mein Leben ist: mein Beruf, meine Partnerin, mein Freundeskreis, mein Lebensstil. Diese Frage kann ich nur in der Stille mit mir selbst ausmachen. Denn wenn ich meine Partnerin frage, ob sie die richtige sei, bekommt sie das vielleicht in die falsche Kehle. Das Leben, so wie ich es heute führe, das habe ich ja vor Augen. Aber woher weiß ich, ob das mein Leben ist? Das weiß ich nicht aus dem Vergleich mit dem Leben von Alterskameraden, sondern das ist ein Wissen, das ich im Rücken habe. In seinem Roman Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins spricht Milan Kundera von einem biografischen Entwurf, den wir ins Leben mitbringen, von einem recht offen lassenden Entwurf, von einem «Entwurf ohne Bild». Und das ist die merkwürdige biografische Situation in den Dreißiger-Lebensjahren, dass wir den offen lassenden« Entwurf ohne Bild» vergleichen mit dem Bild des Lebens, das wir vor Augen haben. Noch etwas konkreter gesagt: Vor unserer Geburt haben wir den biografischen Entwurf für unser Leben in die Lebensmitte vorausgeworfen. Und wenn wir dort angekommen sind, taucht die Erinnerung an das auf, was wir mit diesem Leben gewollt haben. Das wird uns im Rücken, der der Vergangenheit zugewandt ist, bewusst, und wir vergleichen dieses Wissen mit dem Bild des tatsächlich gelebten Lebens. Erstaunlich oft wird diese Frage, ob das unser Leben ist, mit «Ja» beantwortet.

Und dann? Wenden wir uns hoffentlich von den mitgebrachten Idealen denjenigen Aufgaben zu, die die heutige Welt für uns bereit hat. Diese Wegscheide wird im Studium von Biografien oft noch zu wenig beachtet. Der Strom der Vergangenheit trägt bis zur Lebensmitte – und dann braucht die Biografie einen neuen Einschlag, ein Motiv, das nicht mit der Geburt mitgebracht wurde, sondern das sich in der Begegnung mit der Welt entfaltet und das in die Zukunft weist. Es geht nicht um einen Bruch mit der Vergangenheit, sondern darum, das bisher Entwickelte einzubringen und zu wandeln. Dem ewig Jugendbewegten fehlt dieser neue Einschlag in der Biografie. Er bringt beim Tode wenige Früchte aus diesem Leben mit, wenig Nahrung für die Engel, die auf ihn warten.

Unsere Gesellschaftsordnung nimmt noch wenig Rücksicht auf dieses Bedürfnis der Lebensmitte. Nicht wenige Menschen, die bis dahin in handwerklichen, technischen oder kaufmännischen Berufen gearbeitet haben, empfinden, dass sie neue Herausforderungen brauchen, und suchen daher neue Aufgaben im sozialen oder pädagogischen Bereich. Welche Wohltat wäre es für Kinder und vor allem für Jugendliche, Lehrer zu haben, die sich den Wind des Lebens um die Ohren haben wehen lassen. Doch die biografischen Motive sind individuell und passen nicht in die bürokratische Ordnung unseres Staates.

Wenn ich diese Lebensmitte in der eigenen Biografie schildern darf: Ich bin geboren im südlichen Zipfel des Thüringer Landes, nahe an der bayerischen Grenze. Während meiner Schulzeit und ersten Studentenzeit habe ich in Jena gelebt, dann durch zwei Jahrzehnte vor allem im Umkreis von Stuttgart. Die zarten, fast traumhaften Landschaftsformen um meinen kleinen Geburtsort, die markanten Bergformen um die Schiller-Stadt Jena, die Weite um Stuttgart, Remstal, Hohenstaufen sind recht verschiedene Welten, in allen dreien aber habe ich mich zu Hause gefühlt. Das war die Welt, die ich wohl gesucht habe, als ich vor der Geburt das Konzept meines Lebens entworfen habe. Mensch und Welt passten zusammen. So hätte es bleiben können. Aber die Lebensmitte brachte den großen neuen Einschlag. Nie hatte ich früher daran gedacht, einmal ins Ruhrgebiet zu ziehen. Dazu kam es durch eine neue berufliche Perspektive: in die Ausbildungstätigkeit einzusteigen, in die Ausbildung von Kindergärtnerinnen und von Altenpflegern. Damit wurde der Weg in das Leben hinein und aus dem Leben heraus ein neues zentrales Motiv meines Denkens. Und gleichzeitig tauchte, angeregt durch eine Reise nach Thailand, ein weiteres neues Interessensgebiet der zweiten Lebenshälfte auf, das Eintauchen in die asiatische Kultur und der Versuch eines Brückenschlags zwischen Europa und Asien. Wohnort, Berufstätigkeit und Themen der Arbeit wurden gleichzeitig neu, nicht aus meiner Vergangenheit bestimmt, sondern aus der Begegnung mit der Welt. Indem ich mich auf die Welt einlasse, werde ich ich selbst, in der Lebensmitte.

Menschen in der ersten Lebenshälfte fühlen sich oft dann glücklich, wenn sie den passenden Platz im Leben gefunden haben, wenn sie, um dieses abgegriffene Wort zu benutzen, sich selbst verwirklichen können. Wenn ein Sechzigjähriger immer weiter nur sich selbst verwirklichen will, so wirkt das wohl etwas überlebt. Es ist biografisch gesund, nach der Lebensmitte zu fragen, was die Welt braucht. Wenn ich das leiste, fühle ich mich wohl. Es gibt jedoch auch eine erneute, eine späte Suche nach dem rechten Platz im Leben, die biografisch überzeugend wirkt. Als der berufserfahrene und anerkannte Theologe Albert Schweitzer noch ein Medizinstudium begann, haben viele den Kopf geschüttelt. Aber Albert Schweitzer wurde unser Albert Schweitzer als der Urwald-Doktor. Durch seine Lebensleistung hat er gerechtfertigt, noch einmal Student werden zu dürfen.

Das Konzept für mein Leben bringe ich, wie Milan Kundera das so schön sagt, bei der Geburt mit. Das Ja zu diesem Konzept möchte aber von den Erden-Menschen erneuert werden. Und es möchte mit konkretem Inhalt erfüllt werden, denn das mitgebrachte Konzept ist noch bildlos. Was ich mit diesem Leben wollte, das kann in verschiedenen Berufen verwirklicht werden, im Rahmen einer Familie oder als Single, in meiner Heimat oder nach einer Auswanderung. Die Welt gibt mir einen größeren oder geringeren Spielraum für die Ausgestaltung meiner Biografie. Doch vielleicht meldet sich einmal eine mahnende Stimme im Innern, zunächst ganz leise, und erinnert daran, dass ich mir doch vorgenommen hatte, mehr ich selbst zu werden, mich nicht an Nebensächlichkeiten zu verlieren. Und wenn ich die leise Mahnung nicht höre, klopft das Schicksal oft härter an.

Schicksal wird oft geschildert als die Folgen meiner früheren Taten, die auf mich zurückschlagen. Schicksal aber will nicht Fehler, die ich früher begangen habe, bestrafen, sondern Schicksal hat mich im Blick. Es findet seine Erfüllung nicht in einem Ausgleich von Schuld, sondern in meiner Selbstfindung. Das Schicksal will mich: mich in einer gesunden Beziehung zu der Welt, in der ich lebe. Da hatte ein Mann während seiner Jugend in einer ausweglos scheinenden Situation ein Gespräch mit einem älteren Menschen, das ihm wieder Perspektive und Mut für das Leben gab. Dass das Gespräch dem Jugendlichen gut tat, hat er damals schon gespürt, aber erst später konnte er so recht würdigen, was dieses Gespräch für sein Leben bedeutete. Nun hätte er diesem älteren Menschen gerne gedankt, nicht nur mit Worten, sondern mit Taten. Aber der ist inzwischen gestorben. Der heute Erwachsene spürt, dass dadurch, dass er diesem älteren Menschen nicht mehr Gutes tun kann, das Gleichgewicht zwischen ihm und der Welt gestört ist. Unwiderruflich? Da begegnet er einmal einem Kind, das vernachlässigt ist und Hilfe braucht. Er mag dieses Kind sogleich und hilft gerne. Und spürt nach einiger Zeit, dass seine Beziehung zur Welt wieder «stimmt».

Hier wird das zentrale Motiv des Schicksals erkennbar. Es geht im Schicksal nicht um Belohnung oder Strafe für Handlungen, es geht nicht nur um die Beziehung zwischen diesen beiden Menschen, der Schicksalsausgleich kann auch in der Hilfe für einen anderen Menschen erfolgen, und dessen Situation kann ganz anders aussehen als meine Situation damals. Es geht zentral um das Gleichgewicht zwischen Empfangen und Geben. Ich verdanke der Welt, dass ich überhaupt bin und dass ich der bin, der ich heute bin. Gebe ich auch anderen in entsprechendem Maße die Möglichkeit zu werden, wer sie sein wollen?

Es gibt in der mittelalterlichen Kunst ein Bild Michaels: Der Erzengel erscheint beim Jüngsten Gericht mit der Waage in der Hand. In die eine Waagschale legt der Engel die guten Taten eines Menschen, in die andere Waagschale legen Dämonen, die gerne in der Mehrzahl auftreten, die bösen Handlungen. Und Michael wartet darauf, welche der Waagschalen nach unten sinkt, welche gewichtiger ist. Wenn es die Schale mit den bösen Handlungen ist, so dürfen die Teufel diese Seele mit sich nehmen in die Hölle. Ist es die Schale mit den guten Taten, so darf der Engel seinen Menschen in den Himmel geleiten. – Nun gibt es, seltener, auch Bilder Michaels mit leeren Waagschalen, die im Gleichgewicht zueinander stehen. Und Dämonen versuchen, dieses Gleichgewicht zu stören, werden aber durch Michael zurückgewiesen. Der Mensch, der im Gleichgewicht ist, dessen Schicksalsbeziehung ausgeglichen ist, der ruht in der Hand Michaels. Das sehen wir in einem modernen Schicksalsverständnis ganz ähnlich.

Wenn heute eine «Reinkarnationstherapie» empfohlen wird, so wird oft einseitig darauf hingeschaut, dass frühere Fehler heute eine seelische oder auch eine leibliche Erkrankung hervorrufen und dass daher die Fehler von damals durch heutige Taten ausgeglichen werden können und sollen. Doch was ich damals getan habe, kann heute nicht ungeschehen gemacht werden. Und meine heutige Lebenssituation ist eine ganz andere als die von damals. Dass ich nicht im Gleichgewicht bin zur Welt, das ist geblieben und das kann angegangen werden. Dazu aber brauche ich nicht zu wissen, was früher war, da brauche ich nur ein klares Bild meiner heutigen Situation. Wenn ich mein Verhältnis zur Welt, wie es heute ist, ordne, schaffe ich einen Ausgleich für die Schwächen in der Vergangenheit, eine Heilung im Schicksal, in der Begegnung mit denjenigen Menschen, mit denen ich es heute zu tun habe.

Bei der Betrachtung des Schicksals wird heute oft nur auf das hingeschaut, was zwischen zwei einzelnen Menschen geschieht, und zu wenig beachtet, dass wir durch gute oder schlechte Taten auch unsere Beziehung zur Menschheit als Ganzem verändern. Wer im Zorn einem anderen Menschen Leid zufügt, schädigt diesen anderen, aber auch sich selbst. Den Schaden an sich selbst kann nur der Mensch selbst ausgleichen, kein anderer kann erreichen, dass ich mich künftig besser beherrsche. Den Schaden, den ich einem anderen zugefügt habe, kann auch ein Unbeteiligter ausgleichen. Sonst wären die großen und kleinen Tyrannen, die Tausenden oder gar Millionen von Menschen furchtbares Leid zugefügt haben, schon jetzt rettungslos verloren. Denn dieses Leid auszugleichen, geht über die Kraft einzelner Menschen, aber vielleicht nicht über die Kraft der ganzen Menschheit.

Ich begegnete einem Kind, das aus einem Kriegsgebiet stammte, das Furchtbares erlebt hatte, wahrscheinlich auch die Ermordung seiner Eltern, das dann aber von einem deutschen Elternpaar adoptiert wurde. Es war nun in Sicherheit, aber hatte es den Schaden überwunden? Sicher nicht. Das war an dem misstrauischen, ganz unkindlichen Blick zu sehen. Das Kind war noch nicht wieder zu Hause unter Menschen. Was es doch so gerne sein wollte und was es nicht sein konnte. Bis ganz allmählich die Kraft des Vertrauens wieder erwachte und das Kind sich einigen Erwachsenen an den Hals werfen konnte. «Ich hatte ja solche Angst.» Im Vertrauen zu einzelnen Menschen konnte das biografische Konzept, das dieses Kind in das Leben hineingeführt hatte, wieder wirksam werden. Das Kind konnte beginnen, der zu werden, der es sein wollte. Durch Menschen die als Einzelne nicht an der Entstehung des Schadens beteiligt waren. Aber als Zeitgenossen. Es gibt nicht nur ein persönliches Schicksal, sondern auch ein Schicksal als Zeitgenossen.

Als Jugendlicher in den 40er-Jahren des letzten Jahrhunderts hörte ich davon, dass es in Indien immer wieder Hungersnot gab, dass viele Menschen verhungerten