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ANDREA FISCHER SCHULTHESS

MOTEL
TERMINAL

ROMAN

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Verlag Salis Verlag AG, Zurich
www.salisverlag.com * info@salisverlag.com
   
Lektorat Patrick Schär
Korrektorat Ina Serif
Umschlagbild Adrian Ochsner
Umschlaggestaltung André Gstettenhofer
   
1. Auflage 2016
   
   
  © 2016, Salis Verlag AG, Zürich
Alle Rechte vorbehalten
   
   
  ISBN 978-3-906195-42-1

Für Adrian, Lena und Serafin.

»Die Gesetze fragen wenig nach den Beweggründen.«

Nora oder ein Puppenheim, Henrik Ibsen

Merets Tagebuch

Drei Tage nach meinem elften Geburtstag

Jeder Mensch braucht ein Geheimnis. Sagt Mama. Jetzt habe ich auch eins. Das hier. Mein Tagebuch. Ich habe es aus dem Papier zusammengeklebt, das Mama mir bringt, damit ich zeichnen kann. Sie will ständig, dass ich zeichne. Wer zeichnen kann, kann sich die ganze Welt ausdenken, sagt sie. Ich finde das etwas komisch. Woher soll ich wissen, wie die Welt aussieht? Alles, was ich sehe, ist ja hier drin. Oder vor meinem Fenster. Und das kann ich mir nicht mehr ausdenken, es ist ja schon da. Alles andere kenne ich aus meinen Büchern. Die Dinge, die dort drin gezeichnet sind, kann ich mir auch nicht mehr ausdenken, das hat ja schon der getan, der es gezeichnet hat. Oder fotografiert, wie in dem Buch mit der Puppe und den Teddybären, in dem alles aussieht wie richtig, aber ohne Farben.

Mama sagt trotzdem, wer zeichnen kann, ist wie Gott. Warum sie das die ganze Zeit sagt, kapiere ich nicht so richtig. Sie glaubt ja gar nicht an Gott. Das hat sie mir selbst gesagt.

Ich schon. Denke ich. Tante Julie erzählt mir manchmal von ihm. Sie sagt, dass er die ganze Welt gemacht hat, aber sie sagt auch, dass er sehr nett ist. Lieb. Sie nennt ihn den lieben Gott. Man kann immer mit ihm reden, wenn man will, sogar mitten in der Nacht, wenn man nicht schlafen kann. Das stört ihn überhaupt nicht. Man darf auch laut mit ihm reden oder ganz leise. Es reicht sogar, wenn man alles nur denkt. Er hört es trotzdem. Darum rede ich nur in meinem Kopf mit Gott. Ich will nicht, dass Mama es hört und wieder wütend wird, weil es immer so schwierig ist mit mir.

Das einzig Blöde an Gott ist, dass ich Angst habe vor ihm. Julie sagt, dass er alles sieht und weiß. Ein bisschen erinnert er mich an Mama. Sie weiß auch immer alles, was ich tue, esse, sage. Sie macht mir auch manchmal Angst.

Aber Gott weiß sogar noch mehr. Er weiß, wenn ich fiese Dinge denke oder sauer bin auf ihn, weil er etwas nicht so gemacht hat, wie ich es mir beim Beten gewünscht habe. Zum Beispiel, wenn ich die Elstern vor dem Fenster den ganzen Tag nicht sehen kann, obwohl er genau weiß, dass das Unglück bringt.

Im Ernst, manchmal denke ich, für was soll ich überhaupt beten, wenn es ja sowieso nichts nützt? Aber vielleicht hat Gott auch einfach zu viel zu tun und kann nicht alles auf einmal machen. Mama sagt auch, dass ich viel zu ungeduldig bin.

Dann fühle ich mich gemein, weil ich wegen so was Kleinem böse auf Gott bin. Oder auf Mama. Ich probiere darum immer, nicht böse auf die beiden zu werden. Das Doofe ist nur, wenn ich etwas ganz fest nicht tun will, passiert es mir irgendwie wie von selbst. Das ist, wie wenn mich mein Ausschlag juckt und Mama mir verbietet zu kratzen, damit er sich nicht entzündet. Dann gebe ich mir ganz fest Mühe, es nicht zu tun, aber irgendwann passiert es einfach. Dann kratze ich so fest, bis alles blutet.

Mit Gott ist es ähnlich. Plötzlich denke ich gemeine Worte und ich sage ihm, dass ich ihn blöd finde und dass ich ihn hasse und solche Sachen. Und danach habe ich Angst, dass er wütend ist auf mich und mich bestraft. Darum muss ich ihn ablenken, damit er alles vergisst. Ich sage ganz schnell dreizehn Mal hintereinander »xyzxyzblabla, xyzxyzblabla, xyzxyzblabla, abc, Amen.« Das funktioniert natürlich nicht richtig, weil Gott ja eben alles weiß. Die ganze Sache macht mich nervös. Darum probiere ich manchmal einfach so zu tun, als gäbe es ihn gar nicht.

Lieber Gott, wenn du das hier gelesen hast, sei bitte nicht böse. Ich weiß natürlich, dass es dich trotzdem gibt.

Prolog

Sonntag, 28. Juli 2013, das Ende

Wie eine Puppe sieht sie aus. Ihre Haut scheint kaum Poren zu haben, liegt weich und cremefarbig über ihrem Schädel. Umgibt ihn als Hülle, schmiegt sich an das Jochbein und den Kieferbogen, als wären darunter nicht Knochen, Tod, das Ende.

Ich liebe sie. Alles an ihr. Von den hellen Härchen auf ihren kleinen, runden Zehen bis zu dem schimmernden Wirbel über ihrer hohen Stirn. Und in ihrer Mitte liebe ich den perlrunden Knopf auf ihrem jungfräulichen Bauch. Er gehört mir mehr als alles andere an diesem perfekten Geschöpf, der Liebe meines Lebens. Er ist das Zeichen unserer ewigen Verbundenheit.

Wenn ich lange genug auf ihren Hals schaue, fast die Luft anhalte dabei, sieht es aus, als ob ihr sauberes Blut noch immer unter der Haut pocht, hell jede Zelle nährt, damit sie für immer bleibt, was sie ist: meine Prinzessin. Niemand wird sie mir rauben, kein Ritter, kein Räuber und auch sonst keiner aus der Welt da draußen.

Ich brauche Luft, Leere, muss denken. Ich gehe hinab in Merets Zimmer. Öffne das Fenster vor der Glyzinie. Unter der schlafenden Fassade liegt das ewig gelbe Stück Rasen mit dem leeren Bassin. Daneben wartet das Skelett der maroden Kutsche auf seine Braut. Ein blinder Fleck unter einem Himmel aus Anthrazit. Hier spielen längst keine Kinder mehr. Die sind anderswo. Liegen wahrscheinlich vor den Fernsehern, während ihre Väter die Samstagsräusche ausschlafen und ihre Mütter in der schwülen Luft von Liebe träumen.

Hinter dem Ginster hockt der Kater. Er beobachtet alles mit seinen gelben Augen. Zwei Elstern hüpfen im Laub auf dem Beckengrund und schütteln mit wohligem Tremolo die Parasiten aus ihrem Gefieder. Irgendwo hinter dem Kompost höre ich ihre Brut betteln. Sie ist nimmersatt und ohne Dank.

Ich schließe das Fenster und setze mich an den niedrigen Tisch, an dem ich so oft mit meinem Mädchen gesessen habe. Ein schimmernder Streifen Erdbeermarmelade von ihrem letzten Frühstück zieht sich noch über die Tischplatte. Ich schiebe meinen Arm darüber, spüre, wie die Haut haften bleibt, die Erinnerung an den Härchen zieht. Dann lege ich meinen Kopf auf den Tisch.

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Danksagung

Zur Autorin

salis

Kapitel 1

Freitag, 19. Juli 2013, 08:26

Der Himmel war verschmiert. Hinter der radlosen Kutsche im Hof färbte er sich zu Sorbet; Himbeere mit Mango. Nur Steiners Hahn krähte irgendwo. Dass der nicht schon in einem Suppentopf dümpelte, war ein Wunder, der musste längst zäh sein wie Gummi. Den Steiner gab es ja schon ewig nicht mehr. Armes Viech, dachte Nora und wusste selbst nicht recht, ob sie den Hahn oder den Schwerenöter mit dem roten Kopf meinte. Alle Alten sterben weg, und was bleibt, ist ein braches Feld, eine behinderte Kutsche, ein einsamer Hahn und dieses staubige Labyrinth hier, in dem ich das tue, was man leben nennt. Und warum? Damit ein Kind ein Kind bleibt. Und wozu das? Sie hatte es vergessen.

Nora lehnte ihre Wange gegen die warme Tasse mit Sprung in ihren Händen. Parzival, der gelbäugige Kater, zwängte sich zwischen ihren Beinen hindurch und wollte sich ihr auf die Füße legen. Sie schob ihn mit der rechten Fußspitze weg, ein Maunzer krächzte aus seiner Schnauze. Wenigstens einer, der noch aufmuckte. Sie selbst hatte schon lange damit aufgehört. Was nützte es schon.

In diesen stillen Stunden, bevor sich die unerträgliche Weite des neuen Tages ganz entfaltete, kauerte sie sich unter den letzten Zipfel Nacht. Er war das Versprechen, dass eine neue Dunkelheit sich um sie legen und sie ein Kalenderblatt weitertragen würde, wenn sie nur die nächsten paar Stunden hinter sich brachte, tat, was es zu tun gab. In diesen Momenten wusste sie, dass Großvater nie ganz gegangen war. So einer wie der lässt sich auch vom Tod nicht daran hindern, andere zu überschatten und ihnen das schiere Sein zu vermiesen. Überall hockt er, in jedem düsteren Winkel dieses Hauses, in der fettigen Luft und selbst im Licht. Auch nach vierzehn Jahren unter der Erde war er hier noch immer Herr im Haus.

Über ihrem Kopf hörte Nora den Tag erwachen. Die sanfte Stimme der Großtante sprach zu Merets Kontrollfensterchen. »Liebes? Bist du wach? Möchtest du Saft oder Milch?«

»Egal.«

»Auch gut. Zieh dich schon einmal an, Schätzchen, Mama kommt gleich hoch und bringt dir was.« Nora kannte diese Worte wie ihren Puls: Mama kommt gleich zu dir. Mama, das bin ich. Ich bin Mama. Mama ist alles, was ich bin und sein werde, dachte sie und goss Milch in den kleinen roten Topf mit dem krummen Boden. Die Flasche wog tonnenschwer in ihrer Hand, zog ihr Schultern und Nacken nach vorn, während die nikotingelbe Decke ihr von oben die Luft aus den Lungen drückte.

Sie war noch nie gern in diesem trüben Haus gewesen. Und hier wohnen hatte sie erst recht nie gewollt. So weit weg von der Stadt, vom Leben und der Leichtigkeit. Das Einzige, was hier im Kaff pulsierte, war die Autobahn drüben hinter dem Feld.

Am schlimmsten war es gewesen, als Nora noch ein Kind war. Damals hatte das Motel noch Gustav gehört. Sie hatte den Großvater zwar kaum gekannt, wer hatte das schon, aber seine Frau, die Anni, die hatte sie immerhin geliebt. Dreiundfünfzig Jahre lang hatte die runde kleine Frau neben dem Alten existiert, bis dass der Tod euch scheidet eben. Er hatte kaum jemals mit ihr gesprochen, nur dann und wann ein paar Forderungen geblafft oder sie unsanft am Oberarm gepackt, wenn ihr warmes Herz wieder etwas gar begriffsstutzig war. Er bestieg sie, wenn es sich ergab, aß, was sie ihm hinstellte, und trug, was sie für ihn wusch und bügelte. Als der Krebs kam, nahm Anni all ihre Wärme mit unter die Bettdecke im dämmerigen Schlafzimmer im zweiten Stock und lag dem Ende entgegen. Gustav ignorierte das und schlief unten im Wohnzimmer.

Nur Tante Julie, Annis Zwillingsschwester, ging noch zur Großmutter hinauf und streichelte sie in den Schlaf. Ab und zu kam der Arzt und schüttelte den Kopf. Die Kinder kamen nie. Sie hatten wohl nicht die Kraft, in die Trostlosigkeit des Kaffs einzutauchen, vielleicht hatten sie auch Angst vor dem trauerbösen Vater. Oder sie waren ganz einfach zu faul. Wen kümmerten schon ihre Gründe, Tatsache war doch, dass Anni nicht nur am Krebs zugrunde ging, sondern am Leben im Allgemeinen und an gebrochenem Herzen im Besonderen.

Erst als Anni tot war, da liebte Gustav sie. Und zwar so gnadenlos, dass er sich mit ihrer Leiche im Schlafzimmer verschanzte und keinen reinließ, sechs ganze Tage lang. Vielleicht war es ja gar nicht Liebe, sondern Trotz. Wenn er Anni schon nicht mehr haben konnte, so sollte auch sonst keiner sie bekommen. Die auf der anderen Seite der Tür waren ja doch nur geldgierige Aasgeier, vom Amtsarzt über den Bestatter bis zu den Gören. Saupack, allesamt, mieses, das nur ans Geld dachte. Fast pietätloser als das Amt, dessen Steuerrechnung für die Lebensperiode, die Anni noch angebraucht hatte, schon zwei Tage nach ihrem Dahinscheiden im Briefkasten lag. In der Schweiz hat das Amtliche halt schon immer Vorrang gehabt vor dem Emotionalen, meinte Julie. »Wenigstens in diesem Punkt versteht der Gusti die Menschen um ihn herum.«

Als alles Reden nichts half und die Großmutter anfing, unter der Tür hervorzustinken, erschien das Amtliche in Form zweier junger Männer in fabrikneuer Uniform. Und so kam es, dass zwei Polizisten aus dem Kaff etwas taten, was noch keiner von ihnen je hatte tun müssen: einbrechen und sich mit einem zornigen alten Mann um seine verwesende Frau rangeln.

Seit Jahren war nie mehr jemand in den zweiten Stock hinaufgegangen. Behauptete Julie zumindest verlässlich nach dem zweiten Baileys. »Der Geruch jener Tage hängt dort noch immer, sag’ ich dir. Der von Annis faulem Fleisch, der von Großvaters Wut und der vom Adrenalin der jungen Polizisten.« Ja, und vielleicht auch der von deiner Scham darüber, dass du und deine Schwester diesem Haus so wenig Gutes hattet geben können, weil Gustav euch überlegen gewesen war, immer und in allem, dachte Nora manchmal. Aber laut gesagt hätte sie das nie. Denn über den eigentlichen Grund für ihre gemeinsame Abscheu vor dem zweiten Stock sprachen die beiden nicht.

Gustav erschien nicht zur Beerdigung seiner Frau und sprach fortan nie wieder ein Wort. Zwei Jahre später gab auch er den Löffel ab – und Tante Julie fing endlich an zu leben.

Ohne ihren Schwager war das Haus heller, farbiger. Sogar die Luft wurde leichter und der Staub tanzte ausgelassener in den schmierigen Sonnenstrahlen zwischen den Gardinen. »Weißt du, Gustavs Schweigen war manchmal so laut, dass es von innen her gegen meinen Kopf drückte und mir in den Ohren stach«, erzählte sie Nora, wenn sie sich mal wieder einen zu viel hinter die Binde gekippt hatte. Dabei presste sie dramatisch ihre Handteller an die Schläfen unter den gelblichen Haarfäden und neigte den Kopf nach vorn. So verharrte sie, bis sie sich sicher war, dass ihr Publikum auch wirklich verstanden hatte, was sie hatte durchmachen müssen. Dann setzte sie sich wieder kerzengerade hin, legte ihre Hände in den Schoß, neigte den Kopf leicht nach rechts und nickte gewichtig. Wie ein Schulmädchen, das beim Lehrer petzt, fand Nora und wand sich betreten. Was für eine läppische Vorführung, dachte sie – und wollte der Tante doch tröstend über den Kopf streicheln, vielleicht aus Mitleid, vielleicht aus schlechtem Gewissen, weil die Alte so viel für sie tat, während sie ihr nur knapp die Einsamkeit linderte und sie aufrichtig liebte. Sie ließ das Streicheln immer bleiben. Julie war zu alt und zu hölzern, um noch jene sanfte Zärtlichkeit zu lernen, die über einen trockenen Klaps oder das hastige Kopulieren mit dem Steiner hinausging. Zu viel Gustav. Das dörrt jeden aus.

Auf der heißen Milch hatte sich eine Haut gebildet. Nora hob sie mit den Zinken einer Gabel ab und schleuderte sie mit einer knappen Bewegung des Handgelenks in den Abfluss. Sie füllte die dampfende Flüssigkeit in Merets Sonntagstasse, die mit der Kaiserin Sisi darauf. Seit vor ein paar Monaten die Schiefe-Turm-von-Pisa-Tasse auf dem Küchenboden zerschellt war, hatte Sisi auch am Freitag Dienst, Doppelschicht quasi. Nora schabte mit einem Esslöffel einen dicken Batzen Honig aus dem Glas und rührte damit so lange in der Milch, bis er sich ganz aufgelöst hatte. Gedankenverloren steckte sie sich rasch den tropfenden Löffel in den Mund und drehte ihn so, dass die Zunge sich in der süßen Wölbung festsaugen konnte.

Obwohl es noch so früh am Tag war, legte sich schon frische Hitze auf die nie ganz verglommenen Schichten der vergangenen Tage. Und heute sollte es noch schwüler werden. 38 Grad hatte ihre App angezeigt, und sie hätte am liebsten geheult. Nora hasste den Sommer. Er war ihr schon immer viel zu organisch und unruhig gewesen, die Hitze machte sie matt, die halb nackten Menschen mit viel zu viel schwitziger Haut überall ekelten sie an.

Hundertmal lieber erfrieren, als den Hitzetod sterben, dachte sie zum wiederholten Mal und stellte sich vor, wie sie noch an diesem Abend in den Zug nach Bern steigen würde, im Rucksack eine Flasche Wodka und zwei, drei Schachteln Benzodiazepine. Von dort würde sie über Brig nach Mörel weiterreisen und sich von der letzten Gondel auf die Riederalp tragen lassen, weg von all dem hier. Sie würde bis zum Märjelensee wandern, ganz ohne Eile, und dann, wenn der Himmel nochmals durchsichtig und weit wurde, bevor er sich um die Erde schloss, würde sie sich irgendwo in eine Nische im uralten Eis legen, wo keine Wanderer sie finden würden. Zuerst würde sie die Tabletten schlucken und warten, bis sie sicher im Magen aufgelöst und ins Blut gedrungen wären. Erst jetzt würde sie sich auf ihre Jacke legen und am Schnaps nuckeln, das Firmament als Verheißung über sich, ganz langsam, damit die Kälte ihr in die Knochen kriechen konnte, ohne dass die Schmerzen sie noch erreichten. Nach und nach würde sie abtauchen und nie wieder erwachen.

Aber die Gletscher schmelzen einem ja auch unter dem Arsch weg, bis ich mich endlich mal zu was durchringen kann. Andere machen zwei Schritte vor und einen zurück, ich stehe einfach wie ein Esel auf dem immer selben Fleck und warte, dass etwas passiert.

Ärgerlich drehte sie den kalkigen Hahn mit dem blauen Punkt auf, bis das Wasser eine kalte Glasstange war, in die sie ihre Pulsadern schob. Sie teilte sich und umfing ihre Handgelenke als kühlende Manschetten. Nora schloss die Augen und stellte sich vor, wie das kalte Blut sich langsam in ihrem Körper ausbreitete und die hektischen Moleküle immer langsamer machte, bis alles in ihr wieder ruhig und ordentlich war.

Julie kam in die Küche, ihr Morgenmantel wie eine zimtfarbene Watterüstung um ihren winzigen Körper gewickelt, als ob die Hitze für sie nicht gelte, und streifte Noras Wange rasch mit dem Handrücken: »Ah, du hast uns gehört, fein. Ist der Honig bereits drin?« Ohne die Antwort abzuwarten, tunkte sie den kleinen Finger in die Milch und leckte ihn mit ihrem Zünglein ab. Sie glich dabei einem Leguan, der aus seinem krustigen, spröden Echsenmaul eine feuchte, marzipanrosa Zunge hervorschnellen lässt. Sie nickte zufrieden. Dann erst sah sie Nora an, die sich die Hände an dem harten grauen Tuch abtrocknete, das an dem Haken mit der gelben Plastikblume hing. »Schläfst du heute eigentlich nochmals hier oder kommt er schon aus London zurück?«

»Er« war Noras Mann Stefan. Julie sprach seinen Namen niemals aus. Sie mochte ihn nicht. Überhaupt duldete sie keine Männer mehr in diesem Haus. Nach Gustavs Tod und Stefans einzigem Besuch damals vor der Hochzeit war der Steiner der Letzte gewesen, den sie noch ab und zu hereingelassen hatte. Und der war nichts als ein harmloser Feigling gewesen. »Das einzig Große an dem war sein Schwanz«, hatte Julie einmal gesagt. »Das wusste der ganz genau, ha, und wie. Darum rechnete er auch immer damit, dass ich ihm nie lange böse sein konnte. Und mit seiner Alten machte er es genauso. Meine Güte, was hat der alte Dorfhengst uns Weiber herumdirigiert mit seinem Prachtding. Eigentlich schade, dass es jetzt unter der Erde verrottet. Ich könnte es weiß Gott ab und zu gebrauchen.« Dann hatte sie gekichert, ein greises Mädchen mit Sehnsüchten aus einer anderen Zeit.

Wer will das schon wissen, hatte Nora damals gedacht und war peinlich berührt unter irgendeinem Vorwand zu Meret hinaufgegangen. Sex war kein Thema, über das sie sprach, nicht einmal mit Stefan. Lästig genug, dass es ihn überhaupt gab, man musste sich nicht auch noch außerhalb des Schlafzimmers darüber unterhalten. Seit Vaters Tod hatte kein Mann mehr sie wirklich berührt, nur noch ihren Körper. Den hatte sie Stefan mit der Hochzeit zur Verfügung gestellt. Sex gegen finanzielle Sicherheit für sich und Meret. Das war machbar.

»Stefan kommt heute Abend zurück. Ich esse noch mit euch zu Mittag und gehe dann mal los.« Nora wischte den Tassenboden sauber und stellte Sisi auf das Tablett, auf das sie bereits eine Packung Cracker, eine abgepackte Portion Butter, ein Einzeldöschen mit Erdbeermarmelade und ein abgepacktes Plastikmesser gelegt hatte. Umständlich stieg sie damit über die schmierigen Näpfe von Julies Kater Parzival, die aus irgendeinem unerfindlichen Grund immer im Weg standen, wie das fette alte Viech selbst, und ging über den engen, getäfelten Flur zur Treppe. Licht gab es hier schon lange keines mehr. Das brauchten sie auch nicht. Die beiden Frauen kannten jede Stufe und jeden Schatten mit ihren Körpern. Und Meret würde hier ohnehin nie mehr vorbeikommen.

Sie stieg langsam zu Merets Kammer hinauf, das Tablett mit beiden Händen fest umfasst. Die Stufen knarrten ihr Lamento, Fuß nach Fuß, bis der Spannteppich es oben verschluckte. Im ersten Stock war es still, wie immer. Um diese Zeit schlief auch Elvis, und man hörte nicht einmal das Quietschen seines Rads. Nora schaute kurz durchs Kontrollfensterchen gleich neben der ersten Tür rechts. Meret lag noch im Bett. Nora stellte das Tablett auf das halbrunde Tischchen mit den mürben Trockenblumen, drückte dreimal auf den Dispenser und desinfizierte sich gründlich Hände und Unterarme. Sie spürte, wie jeder Keim auf ihrer Haut zerplatzte. Jetzt war sie rein und bereit für ihre Prinzessin.

Merets Tagebuch

Einundzwanzig Wochen und fünf Tage vor meinem dreizehnten Geburtstag

Vorgestern ist Elvis gestorben. Das war ein bisschen unheimlich, aber nur ein bisschen. Eigentlich sah es aus, als würde er nur schlafen, aber ich habe trotzdem gemerkt, dass er anders war. Ich brachte ihn einfach nicht wach, obwohl ich die Körnerpackung schüttelte, das hat sonst immer geholfen. Da hab’ ich gleich gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Und auch sonst war etwas komisch mit ihm. Es war, als hätte jemand ein Loch aus der Luft ausgeschnitten, dort, wo er lag. Das war natürlich nicht wirklich so, weil man aus der Luft ja keine Löcher schneiden kann. Ich habe es zur Sicherheit sogar probiert. Es geht wirklich nicht. Eigentlich schade, dann könnte ich mir ab und zu ein Loch machen und ein bisschen weg von hier. Zum Beispiel zu dem Bassin unter meinem Fenster.

Mama hat den Kleinen in einem Plastiksack weggebracht und behauptet, er sei jetzt im Himmel. Ich glaube, das hat sie nur gesagt, damit ich nicht traurig bin. So was macht sie oft. Ein anderes Mal hat sie nämlich gesagt, wenn wir tot sind, sind wir wie Rauch, der langsam davonfliegt, bis er einfach weg ist. Aber vielleicht ist es bei Hamstern ja anders. Auf jeden Fall ist der alte Elvis jetzt weg.

Gestern hat Mama mir den neuen gebracht. Wie immer hat sie einen ausgesucht, der fast so aussieht wie der vorherige. Dann ist es, als wäre nichts passiert, sagt sie immer. Darum haben auch all meine Hamster denselben Namen. Elvis. Das war auch eine von Mamas Ideen. Sie hat gesagt, wenn man einem Hamster zu sehr nachtrauert, soll man sich gar nicht erst einen kaufen. Die leben halt nur zwei, drei Jahre. So ist das eben. Ich gebe mir darum fest Mühe, dass es mich nicht traurig macht, wenn wieder einer geht. Ich will nicht, dass Mama mir keinen neuen mehr bringt. Sonst habe ich ja niemanden mehr zum Reden, wenn sie weg ist.

Aber es ist gar nicht so einfach, das Traurigsein kommt einfach, ob ich will oder nicht. Vielleicht sollte Mama mir doch besser eine Katze bringen, so eine wie Parzival, aber netter. Er will nämlich meinen Hamster fressen, das weiß ich von Julie.

Es kommt eh nicht darauf an, was ich will. Etwas anderes als ein Hamster geht ja doch nicht. Katzen müssen immer nach draußen, die kann man nicht einfach mit mir zusammen hier einschließen.

Wenn ich es mir recht überlege, machen die neuen Hamster meine Traurigkeit meistens nur noch schlimmer. Vor allem der neue Elvis (also Nummer vier). Der sieht zwar fast gleich aus wie Nummer drei. Aber er ist völlig anders. Viel weniger nett. Er versteckt sich die ganze Zeit in seiner blöden Kokosnuss, und wenn ich sie hochhebe, macht er sich ganz flach und zittert. Das ist doch doof, ich tue ihm ja nichts. Trotzdem benimmt er sich, als wäre ich eine von den Bösen da draußen oder so. Aber er tut mir auch leid. Ich werde einfach ganz lieb sein zu ihm, dann merkt er, dass ich zu den Guten gehöre, wie Mama und Julie.

Als ich ihn heute auf die Hand genommen habe, um ihn zu streicheln, hat sein kleines Herz so schnell geschlagen wie Mamas Finger, wenn sie damit auf den Tisch trommelt, weil ich zu langsam bin mit meinen Hausaufgaben. Das mit dem nervösen Herzen kommt davon, dass die meisten Hamster lieber allein sind, sagt Mama. Ich kann das nicht verstehen. Ich bin immer traurig, wenn sie geht.

Kapitel 2

Freitag, 19. Juli 2013, 12:07

»Was willst du jetzt schon wieder bei diesen Hexen? Du bist ja voll krank im Kopf, Mann!«

Der junge Steiner wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß vom Stirnspeck und zog einen schneckendicken Rotzbatzen in seinen Gewaltschädel hoch, bevor der sich im Schnurrbart verkriechen konnte. Der Typ musste längst bis unter das Deckengewölbe voll sein mit der Pampe, dachte Nico und grinste. Würde so einiges von dem Scheiß erklären, den sein Lehrmeister ständig laberte …

»Ich frage mich, warum du denen immer den Arsch hinterherträgst. Wenn du bei mir nur halb so pflichtbewusst wärst, könnte aus dir glatt noch was werden. Schau mich nicht so unverschämt an. Wenn du meinst, es interessiert mich auch nur einen Mückenfurz, was du aus deinem armseligen Leben machst, hast du dich geschnitten. Es ist mir nämlich scheißegal. Nur damit du’s weißt. Es ist deine Mittagspause, nicht meine. Und jetzt hau ab!«

Nico verneigte sich, gerade zurückhaltend genug, um Mike nicht noch weiter auf die Palme zu bringen.

»Spätestens in einer halben Stunde stehst du hier wieder auf der Matte. Ist das klar? Und dann kümmerst du dich darum!«, donnerte Mike hinter ihm her und stocherte mit seinem wurstigen Zeigefinger in Richtung eines roten Opel Corsa C, der schon über der Reparaturgrube bereitstand.

Nico nickte. »Geht klar, Chef.«

Steiner entließ ihn nie ohne einen Vortrag aus der Werkstatt, nicht mal für die offiziellen Pausen.

Nico ließ die Metalltür hinter sich mit etwas zu viel Schwung zuscheppern, steckte sich eine Zigarette an und nuschelte für die unbekannten Zuschauer aus dem freien Mundwinkel: »Lieber Hexen als Prolls.« Gelächter vom Studiopublikum.

Er schwang sich auf sein Rennrad, ein altes Bianchi, das er selbst in liebevoller Kleinstarbeit zurechtgemacht hatte. Beschäftigungstherapie. Er sprang über den Randstein und pedalte los. Endlich durfte er grinsen. Es zog ihm förmlich die Mundwinkel an die Ohren, ohne dass er sich dagegen hätte wehren können. Jemandem den Arsch hinterhertragen. Mann, was für ein Bild! Am besten auf einem Tablett. Aber warum auch nicht, das war sicher allemal aufregender, als Tag für Tag neben Mikes zwiebeliger Achselhöhle unter Autos rumzuliegen. Der Mensch hatte ja keine Ahnung, wie komisch er war.

Der Himmel hing wie ein feuchter Lappen über der Ebene, legte sich über die Autobahn, die verlorenen paar Fachwerkhäuser zwischen den Wohnblöcken und den Kasten. So nannte die alte Julie das Shoppingcenter, welches Breitenach seit fast fünfundvierzig Jahren überragte wie ein maroder Science-Fiction-Tempel. Eine Schande sei das, sagte sie immer. Vor dem Kasten und den Wohnsilos sei es schon fast gemütlich gewesen hier, verschlafen, aber dafür familiär, grün und gesund, behauptete sie. Nico konnte sich nicht vorstellen, dass es jemals anders gewesen sein soll, mit oder ohne Kasten. Er lebte seit bald achtzehn Jahren hier, und schon immer ist ihm alles vorgekommen wie in Aspik gegossen; reglos und konserviert. Jede Bewegung schien unendlich Kraft zu kosten, selbst die Grashalme bewegten sich langsamer im Wind als anderswo. Aber vielleicht lag es ja an ihm selbst, sagte er sich ab und zu. Glauben mochte er das allerdings nicht, dafür war der Hunger in ihm zu groß und er spürte viel zu körperlich, wie seine innere Energie im Widerspruch stand zu der verschandelten, verschlafenen Landschaft um ihn herum.

Er schaltete sein Rad in den höchsten Gang und trat fest in die Pedale. Er liebte es, wenn die Muskeln pumpten und pulsierten, wenn er ihre rindfleischigen Faserbündel bildlich unter seiner Haut spürte wie auf dem Anatomiebild im Flur seiner alten Schule. Sein Keuchen schmolz ihm einen Tunnel durch den Aspik und er glitt darin durch die Zeit. Selbst das Rauschen der Pappeln dröhnte tief und unendlich langsam hier drin. Ein Generalbass, der stetig unter dem Scheißkaff wummerte. Lange würde er eh nicht mehr bleiben. Kein Jahr mehr, bis er seine Lehre ausgestanden hatte – und dann fuck you, Breitenach!

Nico bog in den Feldweg ein, der im rechten Winkel am langen, zweistöckigen Motel aus den Sechzigern entlangführte und hinter dem alten Wohnhaus daneben abrupt vor einem Gewirr aus Brennnesseln, Efeu und toten Ästen endete. Unter dem Gestrüpp sah man das halbe Wasserfass und die gesprungene Tafel mit der Aufschrift »Motel Terminal« kaum mehr, in der Julihitze hatten die Zucchinipflanzen alles überwuchert. Nico schaute möglichst nicht hin, er wollte lieber nicht wissen, was sich hier in den vergangenen Jahrzehnten sonst noch alles angesammelt hatte. Dieses Haus hatte etwas Schauerliches, in diesem einen Punkt hatte Mike ausnahmsweise mal recht.

Den Blick starr auf das Schloss gerichtet, kettete Nico sein Rad an den Lattenzaun, der die kleine Wildnis eingrenzte wie ein Zwinger, und ging zwischen den Häusern hindurch zum Eingang beim verwaisten Parkplatz des Motels.

Die alte Julie erwartete ihn schon. Wie immer lehnte sie mit verschränkten Ärmchen kokett am Türrahmen, hinter sich den düsteren Flur, aus dem der Geruch nach Irisch Moos, Katzenpisse und Brunettes in die Sommerhitze hinausdrängte. Nicos Kehle schnürte sich zu und ihm wurde schwindlig. Das musste daran liegen, dass er seit gestern Abend nichts gegessen und viel zu viel geraucht hatte. Zudem war er völlig nass geschwitzt.

»Hallo, mein Schöner. Wie immer meine Rettung in letzter Sekunde. Ohne dich wäre ich zahnloses Ungeheuer schon längst verhungert«, spulte Julie ihre ewig gleiche Begrüßung ab und ließ dabei ihre obere Zahnprothese vorschnellen, wie eine Schublade, die aus ihrem Gesicht sprang, so rasch, man könnte sich auch getäuscht haben. »Immer gern«, sagte Nico und lächelte schief, während er die Plastiktüte mit dem Desinfektionsmittel, den Babybreigläschen und den Marmeladeportionen aus seinem Rückenbeutel nestelte.

Julie war schon ok, aber nur auf gesunde Distanz. Etwas an diesem freundlichen, alten Weiblein stieß ihn ab. Er meinte, ihre abgestandene Körperlichkeit zu riechen, wie Fleischkäse, der zu lange in einer warmen Küche gelegen hat. Der alte Steiner soll ja sogar was mit ihr gehabt haben, vielleicht war sein Sohn drum so schlecht auf sie zu sprechen, das elende Muttersöhnchen. Der schlief sicher heute noch jede Nacht bei seiner Mutter im schokobraunen Siebzigerjahre-Plüschbett mit dem eingebauten Digitalwecker, der irgendwann vor der Jahrtausendwende stehen geblieben war. Und keiner wusste, wie man an die Batterie rankam. Aber die Vorstellung brachte Nico höchstens einen lauen Kick. Vielmehr musste er an Mihaela denken, seine Mutter, die jeden Abend auf ihn wartete, weil er alles war, wofür sie lebte. Nico schwang seinen schwarzen Haarvorhang nach rechts und schüttelte die Vorstellung von nackten Alten und leeren Müttern aus seinem Kopf.

»Magst du etwas trinken?« Julie fixierte ihn mit ihren Äuglein, und Nico hoffte insgeheim, dass Mikes Gerede über Hexen wirklich nur dummes Geschwätz war. Er hatte Durst wie ein Bierbrauer am Morgen danach. Aber die Begegnungen zwischen ihm und Julie folgten seit Jahren einem immer gleichen unausgesprochenen Protokoll. Sie bot an, er lehnte ab. So wie in amerikanischen Filmen, wenn die Leute sich ständig fragen: »Hello, how are you today?«, dann jedoch stets anständig genug sind, einander nicht mit einer aufrichtigen Antwort zu behelligen.

Also log Nico höflich, wie Julie es von ihm erwartete: »Danke, aber ich hab’ grad was getrunken in der Werkstatt. Ich muss eh gleich los, wir haben noch ein Auto reinbekommen, das muss bis morgen fertig sein. Sie kennen ja den jungen Steiner. Wenn ich zu lange wegbleibe, flippt er aus …«

Julie kannte Mike nicht. Aber der alte Steiner hatte ihr genug von seinem cholerischen Nichtsnutz von einem Sohn erzählt, um Nico ein verschwörerisches Lächeln zu schenken. »Klar. Und sag deiner Mutter, dass wir am Wochenende vielleicht Gäste haben in der Sieben. Sie soll vorher noch rasch ein, zwei Stunden alles richten.« Natürlich war das nicht nötig. Es war nie nötig. Kein Mensch brauchte zwei Stunden, um ein dürftiges Kämmerchen mit einem Pressholzbett, einer lecken Dusche und einer Schale Kondomen sauber zu machen. Abgesehen davon, dass eh längst keiner mehr kam, um sich hier den Nachmittag um die Ohren zu vögeln. Aber so war Julie eben, sie gab seiner Mutter auch jetzt noch Arbeit, als es eigentlich längst nichts mehr zu tun gab. Offensichtliche Almosen wären für sie nie infrage gekommen, das fand sie würdelos, und seine Mutter hätte so was auch nie angenommen. Aus demselben Grund. Nico war Julie dankbar für ihre Rücksicht und ihre Diskretion. Musste sie wohl damals als Stunden-Motel-Wirtin gelernt haben. Natürlich sagte er ihr das nie, es hätte dieses feine Gefüge aus dem Gleichgewicht gebracht, und das konnten sie sich nicht leisten. Mit Mihaelas bisschen Schwarzarbeit in der Altenpflege und seinem Lehrlingslohn wären sie nie über die Runden gekommen ohne Julies kleinen Zuschuss. Und die Alte wusste das sehr wohl. Allerdings fragte Nico sich, wo sie eigentlich das Geld hernahm, um Mihaelas Alibi-Putzübungen und seine kleinen Erledigungen zu bezahlen. Wenn er es sich recht überlegte, hatte er keinen blassen Schimmer, wovon sie und ihre schöne Nichte lebten. Geschweige denn wie. Vermutlich hatte die einen Job in Zürich. Ihr silberner Audi A3 war oft tagelang weg und ihre Kleider sahen auch teuer aus.

Julie steckte Nico kokett zwei gefaltete Zwanziger hin für den nächsten Einkauf. »Hier, Süßer, der Rest ist für dich.« Im Schein steckte wie immer ein Stück Papier, das sie aus einem alten Umschlag ausgeschnitten hatte. »Kartoffel-Karotte, Kartoffel mit Rahmgulasch und Muschelnudeln mit Tomaten und Zucchini, je vier Gläschen plus zwölf Tüten Multivitaminsaft« hatte sie in ihrer altmodischen Krakelschrift notiert.

»Danke, geht klar. Ich komme wieder so um dieselbe Zeit.«

»Und vergiss den Strohhalm nicht.«

»Wie könnte ich auch.«

Er würde sich hüten. Vor zwei Jahren hatte die Alte Nico mal in den Laden zurückgeschickt, um die mangelhafte Tüte gegen eine mit Strohhalm einzutauschen. Warum, wusste er bis heute nicht. Aber er erinnerte sich noch genau, wie die Verkäuferin mit der übertünchten Akne und dem Riesenbusen die Brauen hochgezogen hatte. Unter ihren Achseln waren dunkle Schweißringe gewesen, und die Taschen an ihren Zahnhälsen hatten die Farbe von geplatzten Kirschen und waren mit einem gelblichen Belag gefüllt. Trotzdem dachte er oft an sie, abends in den langweiligen Stunden zwischen den Laken. Er hatte irgendeinen Stuss gestammelt von wegen kleinem Kind daheim, das noch nicht ohne Halm trinken könne. Mann, hätte er sich selbst eine scheuern können, nun dachte die womöglich, dass er eine Minderjährige geschwängert habe. Gratuliere. Aber das war eh egal. Sie arbeitete ohnehin nicht mehr in dem Laden, und die form- und farblose Schürze, die jetzt an der Kasse hockte, interessierte ihn herzlich wenig. Genauso wenig wie Julies Beweggründe.

Er stellte schon lange keine Fragen mehr. Vor ein paar Jahren, als er noch mager und unsicher gewesen war, hatte er mal von Julie wissen wollen, ob sie ihre Breichen nicht lieber selbst einkaufen wolle, das wäre doch viel billiger, als ihn dafür zu bezahlen. Er hatte es gut gemeint. Das war das letzte Mal gewesen, dass er Julie etwas gefragt hatte. Sie hatte ihm tüchtig den Kopf zurechtgesetzt: »Ich wüsste nicht, was dich das angeht. Sei froh, dass du etwas dazuverdienen kannst. Ihr könnt es weiß Gott brauchen. Deine arme Mutter krampft sich ja halb zu Tode.« Damals war Julie Nico wirklich fast wie eine Hexe vorgekommen, nur für einen flüchtigen Augenblick, aber den Schatten dieses Gedankens war er nie mehr ganz losgeworden, selbst wenn sie gleich wieder ihr maisgelbes Lächeln im Gesicht gehabt hatte.

Nach diesem Vorfall hatte er sich tagelang wund und klein gefühlt. Er hatte damals schon lange verstanden gehabt, dass seine Mutter eine Illegale war, eine, die es eigentlich nicht geben durfte, eine, die unsichtbar zu bleiben hatte. »Du darfst niemals auffallen. Hast du verstanden? Egal, was du tust, du musst es gut tun und ohne Widerrede. Und wenn jemand mit dir einen Streit anfängt, dann gibst du nach«, hatte sie ihm schon früh eingebläut und ihn mit ihren hellgrauen Augen angeschaut. Er hatte genickt. Auch wenn er nie so recht verstanden hatte, warum sie unbedingt hier leben wollte. Seinetwegen hätten sie irgendwohin gehen können, Hauptsache weg von hier. Ausgesprochen hätte er das nie. Schließlich hatte er schon mit dem ersten öligen Spritzer Muttermilch eingetrichtert bekommen, dass seine Mutter nur für ihn lebte, atmete, arbeitete. Also tat er, was sie verlangte.

Auf dem Pausenhof stand er abseits unter der klebrigen Kastanie und aß sein Brot mit Zacuscă. Später bestrich seine Mutter die Schnittchen mit Gala-Käslein, ihrer Vorstellung vom typischen Schweizer Znüni und Sinnbild ihrer Anpassung bis hin zur Selbstaufgabe. Während ihr blasser Junge mit dem gebügelten T-Shirt sich vorstellte, er sei unsichtbar, spann er virtuelle Fäden zwischen all den Grüppchen aus Mädchen und Jungen, bis er sie alle ganz eingewoben hatte und vor ihren Blicken in Sicherheit war. Nur, dass er das eigentlich gar nicht wollte. Wie gern wäre er zwischen die Fäden geschlüpft, hätte sich hineingedrängt in den Kokon derer, die dazugehörten, statt immer alles gut zu machen und sich aus allen Streitigkeiten herauszuhalten. Er wollte Fußball spielen, Arschlöcher verprügeln und Mädchenröcke anheben wie alle anderen auch. Damals beschloss er zu sein.

Julie drückte seinen Unterarm und riss ihn aus seinen Gedanken: »Danke, Süßer. Und Grüße an die Mama.« Sie zog sich ins Haus zurück und schloss die Tür sanft vor seiner Nase, bevor er etwas erwidern konnte. Nico blieb noch einen tiefen Atemzug lang stehen und schaute zu dem Fenster hinter der knorrigen Glyzinie hoch. Mike hatte einmal behauptet, dort oben hocke der Geist des alten Gustavs und verwünsche alle, die ihn erblickten. Trotzdem musste Nico jedes Mal einen verstohlenen Blick wagen. Schließlich war Mike ein hysterischer Fascho, ein kümmerlicher Kerl im Körper eines Pitbulls. Die Sorte konnte ihn schon bald für immer kreuzweise am Arsch lecken. Noch elf Monate.

Betont trotzig schlenderte Nico zur Betongalerie des Motels hinüber. Im verbeulten Automaten mit dem Schutzgitter gab es noch immer ein paar Dosen Cola, einige Snickers und Kondome. Viele Regale waren leer, da und dort hatten sich kleine Spinnen und Schaben häuslich eingerichtet. Trotzdem zog Nico sich eine lauwarme Cola und ein Snickers. Er nahm einen großen Schluck und biss in den Riegel, den Rücken an die sonnenwarme Wand gelehnt. Die Schokolade war pappig und klebte am Gaumen. Er schob sie mit der Zunge nach hinten in den Rachen und schluckte, während er das leere Bassin zwischen den Stoppeln der Wiese betrachtete. Wofür das alles wohl gut war? Unvorstellbar, dass hier je ein Kind drin gebadet haben sollte. Julie hatte ihm mal erzählt, dass das Motel früher eine wahre Goldgrube gewesen sei, ein Geheimtipp gleich an der Grenze zum Kanton Zürich. Im Gegensatz zur Stadt durfte man in Breitenach auf der anderen Seite der Kantonsgrenze schon in den Sechzigern ohne Trauschein zusammenleben. Darum war der verschlafene Fleck für ein paar Jahre zu einem Magneten für jene Generation geworden, die mit der Biederkeit der Nachkriegsjahre brechen wollte, ohne auf die Nähe der Stadt zu verzichten. Jetzt, wo man ein Auto hatte, waren solche kleinen Freiheiten plötzlich greifbar. Na ja, so richtig rebellisch wirkte der Ort hier nicht gerade. Im Gegenteil. Breitenach war die Architektur gewordene Biederkeit.

»Den Fünfer und das Weggli« hätten die gewollt, hatte Julie ihm erklärt. Jaja, und Weggli hätten sie ja weiß Gott genug gekriegt hier bei ihr, hehe. Nico hasste es, wenn sie so frivol daherredete.

Aus jener Zeit der Weggli stammten laut Julie auch der Kasten und die ganzen Wohnsilos, unter anderem jenes, in dem er mit seiner Mutter in einer Zweizimmerwohnung lebte. Die Blüte des Kaffs war nur von kurzer Dauer gewesen. Kaum kippten die Zürcher in den Siebzigern ihre Zwingli-Moral über Bord – oder wenigstens den Teil mit dem Konkubinat, besser als nichts –, versank Breitenach wieder in der Bedeutungslosigkeit, nur war es nun unwiederbringlich verschandelt. Wer Lust auf ein Abenteuerchen hatte, fuhr nicht mehr extra hierher. Im Gegenteil. Breitenach wurde zum Ort für jene, die sich nichts Schöneres leisten konnten, ein Vorstadtghetto.

»Es gibt ja auch wirklich keinen Grund mehr, in dieses Drecksloch zu kommen«, sagte Julie ab und zu und stemmte ihre Ärmchen dorthin, wo mal Hüftchen gewesen sein mussten. Dabei ließ sie offen, ob sie ihr Motel meinte oder die ganze trübe Gegend hier. Das brachte Nico wieder auf die Geldfrage. Sie schien kein bisschen besorgt um ihre entgangenen Einkünfte. Ihr fehlte eher das Verruchte, das Lebendige. »Früher ging es wenigstens noch zur Sache. Manchmal habe ich ein Bett drei Mal pro Nacht vermietet, natürlich immer frisch bezogen. Ich könnte dir Sachen erzählen, mein Schöner«, hatte sie gesagt und ihr bröckliges Altmädchenlachen gelacht. Zu Nicos Erleichterung hatte sie es dann doch nicht getan.

Und überhaupt, das alles erklärte noch immer nicht, wozu das Bassin mal gut gewesen war, dachte Nico. Wer nahm zum Vögeln schon seine Kinder mit? Das Ganze war ein Witz. Er stieß sich von der Wand ab. Zeit, Mike zu beschwichtigen. Er ging betont langsam zu seinem Fahrrad. Hinter der Glyzinie sahen ihm zwei Augen dabei zu.

Kapitel 3

Freitag, 19. Juli 2013, 12:58

Meret löste ihre Nase von der Scheibe. Durch die getönte Sichtschutzfolie sah sie nur nach draußen, wenn ihre Augen ganz dicht am Glas waren, sonst schimmerte ihr auf der kupferfarbenen Scheibe nur das blasse Gesicht entgegen, das sie vom Badezimmerspiegel kannte. Und um diese Jahreszeit sah man noch weniger als sonst. Die Glyzinie hatte ihr Fenster fast zugewuchert, Ranken und blasse Blütentrauben verengten den Blick auf Himmel, Wiese und Bäume. Das Zimmer zog sich im Sommer immer tiefer ins Haus zurück, kroch rückwärts durch einen grünen Tunnel ins Dunkel zwischen der niedrigen Decke und dem durchhängenden Boden. Wie Alice in dem Buch, das Meret nicht mochte und doch lesen musste, weil die Mutter es so wollte. Alice war auch durch einen Tunnel gefallen, nur dass sie dann so viel Spannendes erlebt hatte. Hier war alles immer gleich. Wie gern hätte sie so ein Fläschchen gehabt, mit dem sie sich winzig schrumpfen könnte. Vielleicht könnte sie damit durch das Schlüsselloch in den Flur hinauskriechen.

Aber so blieb ihr nur, sich auf die Zehenspitzen zu stellen, ganz dicht am Fenster, und mit abgeschirmten Augen nach draußen zu spähen. Am liebsten mochte sie das Loch in der Wiese. Das Bassin. Es war grau und eckig und sah hart aus. Dort saßen oft die zwei Elstern aus der Linde neben dem Haus. Die waren fast immer zusammen und hatten Zauberfedern. Manchmal waren sie schwarz, manchmal grün und manchmal, an besonderen Glückstagen, sogar ein wenig rosa. Heute waren sie da. Meret war erleichtert. Vogelfreie Tage waren trübe Tage.

Einmal hatte sie die Mutter gefragt, wozu das Loch in der Wiese eigentlich gut sei, aber die hatte nur den Kopf geschüttelt und ihr mit ihren trockenen Fingern das Haar aus der Stirn gestrichen.

»Da ist nicht wichtig, meine kleine Prinzessin. Nichts ist wichtig da draußen. Es ist nur sehr gefährlich dort, das ist alles. Mehr brauchst du nicht zu wissen.« Also hatte Meret nicht weiter gefragt. Sie wusste schließlich, was passierte, wenn sie sich der Mutter widersetzte. »Ich muss dich vor dir selbst beschützen, Liebes, sonst verstehst du es nie. Und eines Tages schadest du dir mit deiner ewigen Fragerei und deiner Neugierde«, sagte sie dann. Und nahm eine Packung mit einer dünnen, langen Nadel aus ihrer Handtasche. Es knisterte, wenn sie diese aus ihrer Hülle schälte. Dann nahm sie ein Wattepad und drückte aus dem Dispenser Desinfektionsmittel darauf. Sie putzte damit die Nadel und tupfte es schließlich sorgfältig auf Merets linken Oberarm, damit kein unsichtbarer Keim durch das Loch in sie hineindringen und sie von innen her kaputtmachen konnte. Das Böse kam nicht nur aus der Welt da draußen, es konnte sogar in einen reinschlüpfen.