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ÜBER DIE AUTORIN

Alexandra Kleeman wurde 1986 in Boulder, Colorado, geboren und lebt heute in New York. Ihre Kurzgeschichten und Essays sind bereits in renommierten Zeitschriften wie The Paris Review, Guernica, n+1 und Zoetrope erschienen. A wie B und C ist ihr erster Roman, für den sie mit dem Bard Fiction Prize 2016 ausgezeichnet wurde.

ÜBER DAS BUCH

A ist eine attraktive junge Frau.

B ist ihre Mitbewohnerin, die um jeden Preis so aussehen möchte wie A.

C ist As Freund und schaut mit ihr am liebsten Haifisch-Dokumentationen oder Pornos. Als A eines Tages verschwindet, ahnen B und C nicht, dass sie sie womöglich nie wiedersehen werden.

Irgendetwas stimmt nicht im Leben von A. Ihre fast symbiotische Freundschaft mit ihrer Mitbewohnerin und ihre unkomplizierte, wenngleich etwas langweilige Beziehung mit ihrem Freund erfüllen ihr Leben nicht mehr. Irgendetwas fehlt – Glück? Lebensfreude? Endlich einmal etwas Anständiges zu essen? –, und A entscheidet sich, auf die einzige Art auszubrechen, die diese seltsame Welt verdient hat: Um ihren Körper von innen zu reinigen, verschreibt sie sich einem Kult um eine synthetische Süßspeise.

A wie B und C erzählt mit scharfem Blick und hintergründigem Humor von unserer Obsession, perfekt zu sein: wie Realityshows, Werbung und abstruse Trends uns in Beschlag nehmen und zu Leibeigenen unserer Körper machen.

Kein & Aber

Für Terry und Faye

Man könnte sagen, dass die Orchidee die Wespe imitiert, deren Bild sie auf signifikante Weise reproduziert (Mimesis, Mimikry, Köder etc.). […] Gleichzeitig geht es jedoch um etwas anderes: nicht mehr nur um Imitation, sondern um das Einfangen von Code, des Code-Mehrwertes, um die Zunahme der Wertigkeit; es geht um wirkliches Werden, Wespe-Werden der Orchidee, Orchidee-Werden der Wespe […].

–  Deleuze und Guattari, Tausend Plateaus

Selig ist der Löwe, den der Mensch essen wird, und der Löwe wird Mensch sein. Und abscheulich ist der Mensch, den der Löwe essen wird, und der Löwe wird Mensch sein.

–  Thomas-Evangelium

1

IST ES WAHR, DASS WIR INNEN mehr oder weniger gleich sind? Ich meine nicht psychologisch. Ich denke an die lebenswichtigen Organe wie Magen, Herz, Lunge, Leber. Ihre Lage und Funktion. So, wie ein Chirurg, der das Messer zum Schnitt ansetzt, nicht speziell an meinen Körper denkt, sondern an einen Körper, der im Querschnitt irgendwo in seinem medizinischen Lehrbuch abgebildet ist. Mein Herz könnte aus meinem Körper herausgenommen und in deinen eingesetzt werden, und dieser Teil von mir, den mein Körper ausgebrütet hat, würde weiterleben und fremdes Blut durch fremde Kanäle drücken. In einem passenden Behälter würde es den Unterschied vielleicht nie bemerken. Nachts liege ich im Bett und fühle, wie sich mein Herz bewegt, obwohl ich es nicht berühren oder in der Hand halten kann. Es ist zu klein, um den Brustraum eines erwachsenen Mannes auszufüllen, und zu groß für den eines Kindes. In einem Zeitungsartikel stand mal etwas über einen Mann in Russland, der Blut gehustet hatte; das Röntgenbild zeigte ein Gebilde mit ausgefransten Rändern in seiner Brust. Sie dachten, es sei Krebs, doch als sie ihn öffneten, entdeckten sie einen fünfzehn Zentimeter großen Nadelbaum, der in seinem Lungenflügel wuchs.

In einem Körper gibt es kein Licht. Glitschige Massen pressen auf sich selbst ein, Gebilde stoßen ohne Orientierungssinn aneinander. Sie entstehen einfach so unaufgeräumt. Du legst die Hand auf deinen Bauch und drückst ins Weiche, versuchst mit den Fingern nachzuhorchen, was da los ist. Da drinnen könnte alles Mögliche sein.

Kein Wunder also, dass wir uns am meisten mit unserer Oberfläche beschäftigen: Sie allein unterscheidet uns voneinander. Und sie ist so fragil, so dünn wie Papier.

ICH STAND IN MEINEM ZIMMER vor dem Spiegel und schälte eine Orange. Ich wiegte sie in meiner Hand, umschloss sie, sie passte genau in meine Handfläche. Ich bohrte einen Fingernagel in die oberste Schicht. Den Finger grub ich unter die Schale, bis ich das kühle Fleisch spürte, und dann immer rundherum. Die Haut riss mit einem leisen, wattigen Geräusch, die weiche Schale wickelte sich als unregelmäßige, stumpfe Spirale von der Fruchtkugel. Ich setzte meine Kontaktlinsen ein und blinzelte den Spiegel an. Meistens sah ich mir morgens nicht gerade ähnlich: als würde ich mit einer Fremden aufwachen. Mein Blick streifte meinen noch nächtlich verknoteten bleichen Körper, und ich hatte das Gefühl, da sei jemand in mein Zimmer eingedrungen. Dann zog ich mich an und legte Make-up auf, verteilte ein paar farbige Flüssigkeiten auf meiner Haut, und als ich sah, wie die Hand im Spiegel sich synchron mit meiner bewegte, fühlte ich mich wieder mit dem Gesicht verbunden, mit dem ich nach draußen ging und das ich anderen zeigte. Meine Hand rupfte ein Stück Fruchtfleisch ab und schob es in die Lücke zwischen den Lippen. Saft floss seitlich an meiner Hand hinunter. Wie der Mond schien auch mein Mund im Spiegel von Tag zu Tag ein bisschen anders auszusehen. Es war Sommer, und die Hitze hatte sich noch nicht um unsere Körper gelegt, sie klebrig und feucht werden lassen, als würden wir in Anzüge gezwungen, die wir nicht tragen mochten.

Eine Brise wehte durchs offene Fenster herein, sie roch nach gemähtem Gras, zerstückelten Blumen, und ich hörte, wie die Menschen ihre Häuser verließen. Autotüren gingen auf und zu, Reifen knirschten über Kies, als sie aus den Einfahrten fuhren und für acht oder neun Stunden verschwanden, nur um mit aufgeknöpften Hemdsärmeln und nicht mehr ganz so frisch zurückzukehren. Ich mochte es, die Geräusche aus der Nachbarschaft in meinen Schlaf sickern und die Dinge langsam real werden zu lassen. Ich mochte es, außer wenn ich es hasste. Dass die Häuser so nah beieinanderstanden, dass das Erste, was ich jeden Morgen draußen sichtete, das verquollene Gesicht meiner Vermieterin war, die den Kopf aus der Tür steckte, um sich die Zeitung zu grapschen. Sie wohnte zwar unter uns, konnte aber aus einem bestimmten Winkel direkt in unsere Wohnung gucken. Jeden Tag bückte sie sich erst mal, sammelte die Zeitung auf, drehte dann um und verrenkte sich den Hals, um in mein Fenster zu linsen und auszukundschaften, ob ich die Nacht in meinem Zimmer verbracht hatte. Ihre Haarfarbe wechselte mit dermaßen penetranter Häufigkeit, rostrot die eine Woche, schmutzig blond die nächste, dass wir uns nicht sicher waren, ob sie ihr echtes Haar oder eine Perücke trug. Und, falls es eine Perücke war, ob sie damit auch schlief. Meine Mitbewohnerin B sagte, sie wirke, als würde sie in ihrem eigenen Zuhause verfolgt, als lebe sie auf der Flucht, ohne sich vom Fleck zu bewegen.

Im Haus nebenan wohnte ein Studentenpärchen, bei dem rund um die Uhr der Fernseher lief, selbst wenn sie die Wohnung verließen, um zu ihren Vorlesungen oder Jobs zu gehen, oder welche Verpflichtungen auch immer sie hatten. Ihr Bildschirm leuchtete durch die Nacht und tauchte eine leere Couch in blaues Licht. Er wurde nur schwarz, wenn die beiden in jenes dritte Zimmer gingen, das einzige, das ich von unserem Apartment aus nicht sehen konnte. Manchmal schauten B und ich zur Abwechslung in ihren Fernseher statt in unseren. Obwohl wir auf die Entfernung nur raten konnten, was wir sahen, zappten wir durch die Kanäle, um den selben Sender zu finden.

Gegenüber auf der anderen Straßenseite wohnte eine Familie mit einem Hund, der die meiste Zeit schlief. Nur am Nachmittag erwachte er ein paarmal zum Leben und raste los, um sich gegen die Fensterfront zu werfen, krachte dabei mit der Schnauze gegen die Scheiben und bellte, bis die Töne, die er von sich gab, immer verzerrter und heiserer klangen. Ich stand von meinem Schreibtisch auf, um nachzuschauen, was der Auslöser gewesen war. Es war aber nie etwas zu sehen, nicht mal ein Eichhörnchen. Manchmal trafen sich unsere Blicke, und dann starrten wir einander über die Straße hinweg an, der Hund und ich, und wussten nicht weiter.

Es war eine sichere Gegend. Es gab nichts, über das man sich hätte beklagen können, ohne völlig verrückt zu klingen. Draußen schien grell die Sonne, und ich hörte die unsichtbaren Vögel in den Bäumen, das Geräusch ihrer Bewegungen, während sie durch die Büsche schwärmten. Sie zwitscherten sich laut etwas zu, und die dünnen Zweige bogen sich unter dem Gewicht ihrer kleinen Körper.

VON DER ANDEREN SEITE DER ZIMMERTÜR kamen dumpfe Geräusche. Das war B, die in unserer Wohnung umherging: ein Knarzen aus dem Wohnzimmer, ein weiteres und dann das Geräusch von etwas, das über den Boden schleifte. Ich hörte, wie sie die Kaffeemaschine in Gang setzen wollte und aufgab, den Kühlschrank öffnete und aufgab. Ich stand still in der Mitte meines Zimmers und versuchte abzuschätzen, wie ich mich bewegen konnte, ohne mich bemerkbar zu machen. Sie konnte zwar nicht davon ausgehen, dass ich so früh am Morgen schon auf war, aber das würde sie nicht davon abhalten, alle fünf bis zehn Minuten innezuhalten und auf Geräusche zu lauschen, die jemand macht, wenn er wach ist. Manchmal setzte sie sich auch vor meine Tür, das Ohr am Türrahmen, und redete in meine Richtung, als würden wir uns gerade ganz normal unterhalten. Sie redete, bis ich reagierte. B sagte, die Wohnung sei einsam, wenn ich nicht wach war. Wenn ich schliefe, sei ich so gut wie tot. Sie meinte es im Sinn von Gemeinschaft, Interaktivität, meiner Fähigkeit, ihr zu helfen, sich ihr eigenes Frühstück zu machen. Wenn B aß, was nicht immer der Fall war, zog sie es vor, das Essen so wenig wie möglich zu berühren, um ihre Hände vor diesem, wie sie es nannte, »essbaren Geruch« zu schützen. Sie brauchte meine Hände zum Schnippeln, Auspressen, Hantieren, Eieraufschlagen und die schleimigen Schalen in den Müll werfen.

B und ich waren beide zierlich, blass und neigten zu Sonnenbrand. Wir hatten dunkle Haare, ein spitzes Kinn und schmale Handgelenke; wir trugen Schuhgröße sechsunddreißigeinhalb. Wenn man uns auf eine Liste Adjektive reduzieren würde, käme bei beiden wohl fast das Gleiche heraus. Mein Freund C sagte, dass ich sie deshalb so gern mögen und so viel Zeit mit ihr verbringen würde. C meinte, alles, wonach ich in einer anderen Person suchen würde, wäre eine zweite Ausgabe von mir, die mir genauso vertraut wäre wie ich. Als er das sagte, kam es mir vor, als wollte er damit andeuten, ich sei faul. B und ich sahen uns ähnlich und sprachen ähnlich, meinetwegen. Fremde, die uns Hand in Hand im Zickzack durch den Supermarkt ziehen sahen, mochten meinen, wir wären zweimal die Gleiche. Aber ich betrachtete das von innen heraus und sah überall Unterschiede, selbst wenn sie im Millimeterbereich lagen. Wir sahen beide jung aus, aber sie hatte etwas Selbstvergessenes, Kindliches, wenn sie tief gebeugt über dem hing, womit sie sich gerade beschäftigte. Unsere Augen hatten dasselbe Braun, doch ihre lagen tief in den Schädel eingesunken. Sie verschwanden fast im Schatten ihrer Brauen. Wir waren beide dünn, doch B war es in katastrophalem Ausmaß: Ich hatte ihr geholfen, den Reißverschluss ihres Kleides hochzuziehen, ihr die Haare zurückgehalten und mit meinen Fingern über die feuchtkalte, schweißbedeckte Haut im Nacken gerieben, während sie ihren Mageninhalt im Waschbecken deponierte. Ich wusste, wie ihre Knochen aussahen und sich anfühlten, wenn sie sich direkt unter ihrer Haut verschoben.

Sooft ich etwas Nettes über sie sagte, oder etwas Fieses, zuckte C bloß die Schultern und meinte, darauf käme ich nur, weil wir uns zu ähnlich seien. Er verstand mich chronisch falsch. B war zerbrechlich und krank und musste bemuttert werden. Sie sah unterernährt aus, sie berührte Gegenstände wie jemand, dem nichts gehört in dieser Welt. Mein Mitgefühl half mir, mich selbst und meine Probleme auf Abstand zu halten. Sie war wie eine Falltür, in Gestalt und Größe auf mich zugeschnitten: ähnlich genug, um mich in sie hineinzudenken, fremd genug, um diese Fantasie zu einer Art Flucht werden zu lassen.

Als ich sie an diesem Morgen hinter der Tür reden hörte, wünschte ich allerdings, ich hätte die Unterschiede zwischen uns stärker herausgearbeitet. Je mehr wir uns sahen, desto mehr vermisste mich B. Unter ihrem Blick spürte ich ständig die Last meiner eigenen Gegenwart und wurde es langsam leid. Ich war von mir selbst irritiert und wartete deshalb jeden Tag ein wenig länger, bevor ich aus meinem Zimmer kam. Ich zögerte es hinaus, mein Lebenskonstrukt wieder zu betreten. Ihre Zuneigung löste in mir den Wunsch aus, sie würde aufhören, mich zu lieben, sie würde mich allein lassen, würde mich wieder jene Sympathie empfinden lassen, die ich für sie hatte, als sie gerade eingezogen war, harmlos und traurig. Damals war ich mir in meinem Bedürfnis, herauszufinden, warum sie traurig war, noch großzügig vorgekommen und hatte mir alles Mögliche ausgedacht, um sie glücklich zu machen.

Im Flur vor meinem Zimmer, den Mund ganz dicht am Spalt zwischen Türblatt und Rahmen, sprach B – Ich wollte uns Kaffee machen, aber wir haben überhaupt keinen Kaffee mehr.

  Du, ich brauch deine Hilfe, ich weiß nicht, welchen Saft ich trinken soll. Welcher Saft hat am wenigsten freie Radikale? Ist in Saft Blei drin?

  Hast du schon mal so einen Leberfleck gehabt, der etwas aufliegt? Hat man in so einem aufliegenden Leberfleck Gefühl? Wie in den Fingern oder anderen Körperteilen?

  Ich hab letzte Nacht geträumt, dass wir beide Vögel waren, denen die Flügel fehlten, aber wir halfen uns gegenseitig, aus einer Kiste zu entkommen. Als wir es geschafft hatten, wollten wir vor Freude feiern, aber es ging nicht. Wir konnten es nicht zeigen. Wir hatten ja keine Gliedmaßen.

IM FERNSEHEN GIBT ES EINEN WERBESPOT, in dem eine Frau eine neue Peeling-Maske auf Basis von Zitrusfrüchten anwendet, und, als sie an der Seite ihres Gesichts zu rubbeln beginnt, bemerkt sie, dass es Ränder hat. Sie sind trocken und leicht gewellt wie altes Papier. Mit Blick in die Kamera fasst sie unter die Ränder und hebt sie an, bis sie die gesamte Oberfläche ihres Gesichts mit einem hauchzarten Geräusch, als sei es Frischhaltefolie, abzieht. Darunter ist genau so ein Gesicht wie ihres, nur hübscher. Es ist jünger und besser geschminkt. Man sollte meinen, sie würde es dabei belassen und ab sofort glücklich mit sich sein, so, wie sie jetzt aussieht. Aber sie hört nicht auf: Stattdessen fummelt sie an den Seiten ihres Gesichts und fängt von Neuem an zu pellen, und diesmal ist das Gesicht darunter sogar noch schöner, und sie lächelt wie wild in die Kamera, so dermaßen zufrieden ist sie. Und sie peelt weiter, doch was nun zum Vorschein kommt, ist ein Film, der Meeresbrandung zeigt, die auf einen Sandstrand aufschlägt, aber auch diesen zieht ihre Hand wieder ab, und wir blicken in einen sommergrünen Laubwald, durch den kleine Lanzen aus Licht und Sonnenschein schneiden.

Dann blickt sie direkt in die Kamera und peelt ihr Gesicht noch einmal aus entgegengesetzter Richtung, und das Gesicht, das darunter ist, gehört der bekannten Schauspielerin, die dem Unternehmen ihre Stimme leiht. Es ist die ganze Zeit ihre Stimme gewesen, die vom feuchtigkeitsspendenden Effekt und den natürlichen Inhaltsstoffen erzählt hat und davon, wie sehr du dein wahres Ich lieben wirst. Sie fragt nicht, was mit der anderen Frau geschehen ist, der Frau, die vor ihr da war. Sie lächelt wunderschön mit ihren harten weißen Zähnen.

Auf dem Bildschirm erscheinen Worte: NATÜRLICHE SCHÖNHEIT. NATÜRLICHE HAUT. IHRE WAHRE NATÜRLICHKEIT STECKT IN IHNEN.

B wollte das Produkt ausprobieren und sagte, man könne es eigentlich überall bekommen. Doch B vermied es nicht nur zu essen, es sei denn, es war medizinisch oder gesellschaftlich notwendig, sie hasste es auch, sich irgendetwas zu kaufen. Sie borgte sich praktisch alles, obwohl ihre Eltern drei Autos und ein Pferd besaßen und ihr jeden Monat einen Scheck für die Miete schickten. Wenn ich sie fragte, warum sie immer versuchte, mehr haben zu müssen, als sie wirklich brauchte, antwortete sie, Borgen bringe sie anderen näher, während Kaufen sie meistens einsamer mache. Und so kam es, dass ich mit B schließlich das Haus verließ und zum fünfzehn Minuten entfernten, rund um die Uhr geöffneten Wally’s-Supermarkt ging, auf dessen Parkplatz in jener Nacht unerklärlicherweise Dutzende Jugendlicher herumhingen, dunkel postiert wie Krähen, die starrten und keinen Ton von sich gaben.

Abgesehen von den Wally’s-Angestellten in ihren schrägen Uniformen – rotes Poloshirt, Khakihosen und der überdimensionale Schaumstoffkopf des Teenager-Maskottchens der Ladenkette – war niemand im Geschäft. Sie schienen neugierig auf uns zu sein, oder wachsam, oder gelangweilt. Während wir durch die Gänge streiften, fühlte ich mich zunehmend beobachtet. Jedes Mal, wenn ich mich umsah, stand etwa sechs Schritte hinter mir ein Wally, der entweder Waren im Regal zurechtrückte oder mich einfach nur ansah. Ich sagte es B, doch die brachte das nicht aus der Ruhe.

»Na klar gucken die. Die denken wahrscheinlich, dass du was klauen willst«, sagte sie.

»Wirklich?«, fragte ich. Ich hatte mich bisher nicht als den Typ Mensch gesehen, der etwas stehlen könnte.

»Das ist ihr Job«, sagte sie. »Aber die sind leicht bescheuert. Ich würde viel eher was klauen als du.« Sie lächelte mich süß an: meine beste Freundin. Dann kaufte ich das Gesichtspeeling, damit B es sich borgen konnte, wenngleich ich schon ein bisschen nervös war und mich fragte, was es wohl mit mir machen würde.

Als wir wieder zu Hause waren, rieb ich mir das ganze Gesicht und den Hals mit dem Produkt ein und fühlte, wie es auf meiner Haut vor sich hin frottierte und einzog. B saß unbeweglich auf dem Badewannenrand und starrte mich gebannt an. Als die Einwirkzeit um war, ging ich zum Spiegel, um zu sehen, was aus mir geworden war. Die versprochene biotransformative Subexfoliation konnte ich nicht erkennen, aber irgendetwas musste passiert sein, denn meine Lippen brannten, und ich roch wie Zitronenlimonade. B stellte sich neben mich und legte mir testweise die Handfläche an die eine gepeelte Wange, dann an die andere, und fragte, ob ich mich irgendwie anders fühlte. Ich war drauf und dran zu antworten, als mir plötzlich klar wurde, dass sie mir überhaupt nicht zuhörte, mich nicht einmal ansah, sondern an mir vorbei in den Spiegel des Medizinschränkchens starrte, ihr Gesicht an den äußeren Rändern berührte und abwesend an einer ihrer Wangen herumfummelte. Auf ihrem Gesicht lag etwas, das man irrtümlich für ein Lächeln hätte halten können.

VIER TAGE DIE WOCHE arbeitete ich als Korrektorin bei einem Verlag in der Nähe, der mehrere Magazine und Newsletter herausgab. An welchen vier Tagen ich kam, war mir freigestellt, aber alles andere nicht. Obwohl Korrekturlesen das Wort »lesen« enthält, war das, was von mir erwartet wurde, in gewisser Weise weniger: die Zeichensetzung musste sitzen und die Wörter in der richtigen Reihenfolge stehen, aber ich sollte mich nicht mit ihrer Bedeutung aufhalten. Sinnsuche verhinderte ein effizientes Korrektorat, das sollte mir klar sein, hofften meine Vorgesetzten. Ich las alles Korrektur, was der Verlag produzierte, und wenn es in Marine Hobbyist oder New Age Plastics Fehler gab, dann war das meine Schuld. Dann hatte ich sie durchflutschen lassen.

Jeden Morgen lief ich vierzig Minuten zu Fuß an der Straße entlang zur Arbeit, mit dem Auto hätte man ein paar Minuten für die Strecke gebraucht. Dabei kam ich an acht Tankstellen und zwei verschiedenen Wally’s-Supermärkten vorbei, die genau gleich aussahen, bis auf das Gartencenter, das am zweiten klebte und aus einem mit Absperrketten abgetrennten Stück Parkplatz bestand, einem mit Ringelblumen vollgestellten Stück Asphalt – alle in derselben Farbe. An Tagen, an denen fast alle krank waren, konnte ich in dem Großraumbüro jeden Arbeitsplatz haben, den ich wollte, aber ich nahm immer denselben, den für die freien Mitarbeiter. In der Stille des leeren Büros hörte ich die Luft der Klimaanlage mit leisem Zischeln durch die Lüftungsschlitze dringen. Ich hatte das Gefühl, diese Welt zu erleben, wie es nur jemand kann, der nicht darin existiert. Es gab drei Arten von Fehlern: Verdoppeln, Ersetzen oder Auslassen. Bis ich wieder zu Hause eintraf, war die Arbeit zu einem langen, schalen Traum verflacht, an dessen Einzelheiten ich mich nicht mehr erinnern konnte. Ich schälte die feuchte, staubige Hose von meinen Beinen und legte mich verschwitzt aufs Bett. Ich wollte nur noch schlafen.

Dieser Donnerstag war wie jeder andere Tag verlaufen, außer, dass ich in der Mittagspause unter meinen Schreibtisch gekrochen war und ein kleines Nickerchen gemacht hatte. Dreißig Minuten Schlaf auf einem borstigen Büroteppichboden. Immer noch müde kam ich zu Hause an und ließ mich auf mein Bett fallen, um eine weitere Runde zu schlafen. Ich lag erst ein paar Minuten da, als es an meiner Zimmertür klopfte. Davor stand B, mit einem erwartungsvollen Gesichtsausdruck, großen, feuchten Augen und hochgezogenen Mundwinkeln. Sie sah aus, als hätte sie Mühe, ein Geheimnis für sich zu behalten. Mit ihren Händen hielt sie etwas Dunkles umklammert. Zwischen ihren dünnen weißen Fingern sah es aus wie eine dicke Gliederkette oder ein geölter Schienennagel, etwas Altes und präzise Gearbeitetes, das dazu bestimmt ist, etwas zu fixieren.

»Ich hab gerade geschlafen«, sagte ich.

»Willst du das haben«, war ihre Antwort.

Ihre Stimme senkte sich, als wäre es keine Frage, sondern eine Aussage, die sie lediglich wiederholte. Sie streckte die Hände ein bisschen vor.

»Was ist das?«, fragte ich.

Was sie da festhielt, erkannte ich bei genauerem Hinsehen als einen mindestens einen halben Meter langen Strick aus menschlichem Haar: dunkel, dick und geflochten. Der Zopf wanderte von ihren Händen in meine, und dann fühlte ich plötzlich etwas unerwartet Glattes und Weiches an meiner Haut. Sie hatte ihn mir überreicht, wie man ein Baby überreichen würde, beide Enden sorgsam mit hohlen Händen gestützt und ihn behutsam in meine gelegt. Ich war etwas perplex, mir war immer noch nicht klar, was hier gerade vor sich ging, und ich wusste nicht mal, ob das Ding, das ich in meinen Händen sah, massiv oder hohl, trocken oder nass war. Weich und biegsam, schlaff und wirbellos lag dort der Zopf. Ich blickte auf ihn hinunter. Er lag schwer, aber dennoch mit einer inneren Spannkraft da, ein nervöses Tau, das in der Mitte, wo es nicht gehalten wurde, etwas durchhing. Das Haar sah traurig aus, nackt und einsam, und hatte einen öligen Schimmer. An beiden Enden war es mit pinkfarbenen Gummibändern zusammengebunden.

»Es ist deiner«, sagte sie. »Ich meine, es ist jetzt deiner. Ich habe es gerade erst gemacht.«

»Du hast es gemacht …«, sagte ich und verstummte.

»Ich habe es für dich getan«, sagte B und lächelte das wunderschöne Lächeln eines tauben Kindes. »Ich meine, ich wollte es sowieso tun, wusste aber nicht, warum, bis ich an dich gedacht habe. Du siehst immer so okay aus. Du hast nicht solche tonnenschweren Haarmassen an dir herunterhängen. Ich fühle mich gleich besser, klarer. Meine Gedanken sind lauter.«

Ich schaute ihren Kopf an.

Es war immer das Haar gewesen, durch das wir uns hatten auseinanderhalten können.

Meins reichte bis auf die Schultern, dunkel wie ihres, aber feiner und weicher. Ihres war einige Handbreit länger, streifte schon fast das Steißbein. B hatte immer Disney-Prinzessinnen-Haar gehabt, mit einem von seinem Wirtskörper losgelösten Eigenleben und einer eigenen Dynamik. Sie hatte die Angewohnheit, es sich über die Schulter zu werfen und es wie eine Katze zu streicheln. Ihr Gesicht verschwand fast darunter und wurde ganz klein. Jetzt stand sie in meiner Zimmertür, blickte mich geradeheraus an und strahlte eine eigenartige Selbstsicherheit aus. Mit den auf Schulterhöhe abgeschnittenen Haaren erinnerte sie mich an mich selbst zu Zeiten, in denen ich mein Spiegelbild in Schaufenstern oder Autoscheiben betrachtet hatte.

»Das musst du doch behalten«, sagte ich.

»Du brauchst es doch vielleicht noch mal.« Ich überlegte krampfhaft, was ich noch sagen konnte.

»Aber ich will es nicht«, entgegnete B. »Dieses Zeug hat mich wahnsinnig gemacht. Es war wie, du weißt schon, wenn man sicher ist, man ist ernsthaft krank und hat etwas wirklich Schlimmes, wie Lupus oder einen Herzfehler oder das Chronische Erschöpfungssyndrom, und dann wird einem klar, dass man einfach nur einen Kater hat. Diese Haare waren schuld, dass ich mich nicht wie ich selbst gefühlt habe. Ich glaube, sie haben meine Gedanken erstickt. Darum habe ich sie abgeschnitten. Und dir gegeben.«

Sie sprach in der Vergangenheitsform über das, was gerade geschah, als wäre es schon vorbei und ich hätte ihr unerwünschtes Geschenk angenommen.

»Jetzt hast du für immer einen Teil von mir«, fügte sie hinzu.

Eines Tages würde ich in Anbetracht schlimmer weiterer Entwicklungen an diesen Moment zurückdenken. Ich wusste nicht, wo ich hingucken sollte, und guckte deshalb dicht an ihr vorbei ins Nichts und hinunter auf das verdrehte Stück Haar in meinen Händen und dann wieder hoch zu meinem Körper im Spiegel links von mir. Solche Haare könnten einen Menschen erwürgen. Ich wollte nicht so viel davon in dem Raum haben, in dem ich schlief, in dem mein Geist und mein Körper im Dunkeln verschwammen.

Ich wünschte, C könnte hier sein, um mir wie schon so oft zu sagen, dass die Leute verrückt waren, sogar Leute, die man liebte. Und dass es deshalb nur angemessen sei, sie auf Abstand zu halten, und umso angemessener, je mehr man für sie empfand. C war der Typ, der darauf bestand, dass wir uns nie mehr als drei Tage in der Woche sahen, für die Dauer eines verlängerten Wochenendes, einer kurzen Reise in einen anderen Menschen. Aber C konnte gar nicht hier sein, denn ich hatte ja immer darauf geachtet, B und C voneinander fernzuhalten, hatte ihn mit einer Umarmung verabschiedet, während sie im Auto wartete, oder sie sah vom Fenster aus zu, wie ich mit ihm wegging, und umgekehrt, sodass sie füreinander nicht mehr als ein Name waren, ein Name, um den sich lose ein paar Ereignisse und Schlagwörter rankten. Ich wusste nicht, wie ich meine Angst vor einer Begegnung der beiden nennen sollte, aber ich versuchte es: Infiltration, Infizierung, Inversion.

B stand da und schaute mich immer noch unverwandt an. Über ihr Gesicht flirrten Lichtflecken von den Zweigen, die sich draußen im Sonnenlicht bewegten.

»Ich hebe es für dich auf«, sagte ich. »Bestimmt möchtest du es bald wiederhaben.«

»Vielleicht«, sagte sie. »Aber unwahrscheinlich«, fügte sie hinzu.

»Du hast so lange gebraucht, es wachsen zu lassen«, sagte ich und schaute auf das traurige Bündel hinunter.

»Das ist einfach so passiert«, antwortete sie. »Das war nicht schwer.«

Der Zopf wölbte sich in meiner Hand und schimmerte. Ich wusste nicht, wovor ich Angst hatte. Vielleicht würde ich selbst immer mehr verblassen, wenn ich dieses Stück von Bs Körper annahm, da ich sowieso schon jeden Morgen ein paar Minuten brauchte, mich daran zu erinnern, wer ich war und wie ich hierhergekommen war. Ich legte ihn auf das Kaminsims in meinem Zimmer neben die anderen Objekte, die ich gesammelt hatte, Schneekugeln und Keramikkatzen, Sachen, die mich daran erinnerten, wer ich war. An diesem sonst ruhigen Nachmittag entfaltete er eine dröhnende Präsenz. Aus der Entfernung sah der Zopf wie der Teil einer schweren Gliederkette aus.

Ich hatte ihn nicht gewollt, dann aber doch genommen. Etwas passierte gerade, und ich hatte das Gefühl, wenn ich jemals verstehen sollte, was es war, würde es mir nicht gefallen. Aber was auch immer ich gerade empfand, ich hätte nicht anders auf B reagieren können. Es gibt eine Art Druck, den dein eigenes Leben dir aufzwingt, und du tust Dinge, die du einfach nur machst, um dich wie du selbst zu verhalten. Wir beide hatten uns so daran gewöhnt, dass ich die Stärkere, die Vernünftigere und in der Lage war, nachzugeben, dass ich automatisch nachgab und dass mich die Vorstellung meiner eigenen Stärke zur Schwächeren machte.

Als ich den Zopf anschaute, fiel mir der Werbespot für Kandy Kakes ein, in dem Kandy Kat, die Cartoon-Katze und Maskottchen der Firma, einem ziemlich kleinen Kandy Kake hinterherjagt, durch sich ständig ändernde animierte und reale Landschaften, etwa den Super Bowl und die chinesische Mauer und den Nordpol, dabei allerlei verrückten Hindernissen ausweicht und an Schildern vorbeirennt, auf denen die diversen natürlichen und künstlichen Zutaten stehen, die in Kandy Kakes zu finden sind. Obwohl das alles innerhalb weniger Sekunden passiert, hat man das Gefühl, dass sie nach Cartoon-Zeit schon stunden- oder tagelang hintereinander her sind, bis sie plötzlich an eine große Klippe kommen, auf der ein Schild steht: ENDE DER WELT. Jetzt gibt es nichts mehr, wohin der kleine Kuchen fliehen kann, und es sieht so aus, als ob Kandy Kat gleich ausnahmsweise mal was zu fressen bekommt. Die Katze geht also auf den kleinen Snack los, greift ihn sich mit beiden knochigen Pranken und führt ihn zum Maul, aber genau in diesem Augenblick öffnet der kleine Kuchen seinen eigenen riesigen Mund und verschlingt Kandy Kat mit einem großen Happs. Ein kleines Stück Schwanz ragt zuckend aus dem Mund des Kuchens, also wächst plötzlich ein kleiner Arm aus dem rundlichen Körper, er stopft sich den Rest von Kandy Kat in den Rachen und schluckt schwer. Mit einem gedämpften Knirschen rutscht Kandy Kats Körper in einen Magen, der winzig sein muss, und man hört ein leises Wimmern. Im nächsten Augenblick muss Kandy Kake sich der im Cartoon verzögert einsetzenden Schwerkraft geschlagen geben und bricht unter der Last seines Gewichts zusammen.

IN JENEM SOMMER, als ich die Nahrungskette entdeckte, war ich acht Jahre alt. Ich war so besessen davon, dass ich losrannte und jedem, der es wissen wollte oder nicht, ob Kind oder Erwachsener, alles darüber erzählte. Ich zeichnete Jäger-und-Beute-Schemata in all meine Hefte und Notizbücher, große Netze, in denen ich immer ganz oben in irgendeiner Ecke, nahe bei meinen Lieblingsspeisen auftauchte. Ich erzählte meinen Eltern, dass ich Ökologin werden wollte, um herauszufinden, welche Tiere, die in ganz unterschiedlichen Kontinenten oder Lebensräumen lebten, an Land oder im Wasser oder in Höhlen, einander fressen konnten, wenn man sie zusammenbrachte. Ich würde die Lücken schließen, und alle Tiere würden durch Pfeile miteinander verbunden sein, der Pfeil würde immer von dem Beutetier ins Maul seines Jägers zeigen. Es war ein in sich geschlossenes System, wie beim Regenwasser, das zu Meerwasser wurde und wieder zu Regentröpfchen kondensierte. Es war ein Fleischkreislauf, und wenn ich zum Abendessen Spaghetti mit Fleischklößchen aß oder Nudelsuppe mit Huhn, dann ging ich mit der Sicherheit ins Bett, dass die Teilnahme am Fleischkreislauf bedeutete, eines Tages selbst gefressen zu werden, von etwas, das größer war als ich, oder vielleicht von ganz vielen Dingen, die bedeutend kleiner waren als ich.

Im Herbst zogen wir um in einen neuen Schulbezirk, der eine Dreiviertelstunde von unserem alten Haus entfernt lag. Die neue Umgebung war grüner und feuchter als die alte, mit mehr Abstand zwischen den Häusern. Hier war jeder ein Fremder, und nachmittags ging ich in den Wald hinter dem Haus und drehte Steine und heruntergefallene Äste herum, um zu sehen, was darunter war. Darunter roch es nach Keller, und das feuchte, schwärzliche Holz hatte eine weichere Konsistenz, wie klammer Samt. Ich drehte es um und beobachtete, was dort auseinanderstob: schwarze Käfer mit einer Schellackschicht auf ihrem Panzer, Ameisen in verschiedenen Braun-Rot-Schattierungen, Regenwürmer oder verkürzte weiße Würmer ohne Augen oder Gesicht. Mit einem dünnen Zweig oder dem langen Stängel eines robusten Grashalms stupste ich sie an, rollte die Würmer über die satte Erde, dirigierte einen Käfer zu einem dunklen Loch, in dem große, schwarze Ameisen verschwanden. Ich versuchte, die kleinen Insekten an die größeren zu verfüttern. Ich wollte, dass sie alle sich mischten und kämpften, um mir in Echtzeit zu zeigen, was es hieß, zu leben und zu sterben.

Ich fand einen Regenwurm, der halb im wässerigen Schlamm steckte und von einer Libellenlarve gefressen wurde. Der Wurm war größer und stärker, sein Körper ein einziger Muskel, der sich vergebens aus dem Wasser wand und wieder zurückfiel. Er kämpfte, krümmte den langen Körper zu Bögen und Spiralen, aber das hielt die Larve nicht davon ab, sich in aller Ruhe in eines seiner Enden hineinzufressen, was eine dünne, weiße Spur in der Pfütze hinterließ.

Ich ging von meinem Zimmer in die Küche, wo B saß und den Kühlschrank anstarrte.

»Ich habe keine Ahnung, was ich gerne essen würde«, sagte sie.

»Vielleicht magst du ein Sandwich?«, schlug ich vor. »Ich kann dir ein Sandwich machen.«

Meine Sandwiches für B bestanden aus Weißbrot, Mayonnaise oder anderen Soßen, Käsescheiben, kein Fleisch. B behauptete, Fleisch sei schwer verdaulich, aber ich glaube, dass sie einfach nur nicht die Kalorien in sich haben wollte. Anstatt die Kanten abzuschneiden, drückte ich das Sandwich mit der Handfläche platt, um eine Art essbaren Untersetzer daraus zu machen. Das war eine Möglichkeit, B vorzugaukeln, dass es weniger Nahrung enthielt. Dann ließ ich es auf einen Teller gleiten, schnitt es diagonal durch und reichte ihn ihr. Ich machte mir selbst ein Sandwich, während ich aus den Augenwinkeln beobachtete, wie sie ihres auseinanderklappte, den Käse entfernte, den dicken weißen Teig aus der Mitte herauspulte und wegwarf, sodass nur der Rand mit der Mayonnaise übrig blieb.

»Oh, zu viel«, sagte sie. »Ich will nicht zu viel essen, wenn es draußen so heiß ist. Was isst du?«

»Ein Sandwich«, sagte ich.

B starrte geradeaus und kaute auf ihrer Unterlippe, während sie darüber nachdachte. Schließlich verkündete sie: »Wie wär’s mit Wassereis?«

Wassereis am Stiel gab es in Fünfziger-Packungen und leuchtenden künstlichen Farben, aber nur drei Geschmacksrichtungen: Rot, Pink und Orange. B war ganz verrückt nach diesem Zeug, das mehr Farbe als Nahrungsmittel war, tat nichts lieber, als Tag und Nacht Eis zu essen und Zitronenwodka aus dem Eisfach zu trinken. Seit sie eingezogen war, hatte ich mehr Wassereis als irgendetwas anderes gegessen. Ihre Angewohnheiten waren ansteckend. Ich konnte nur raten, wie viele Schachteln sie in einer Woche leerte, und die Plastikbecher zählen – voller Eisstiele, Zigarettenstummel und sonnenuntergangsfarbener Flüssigkeit, die ich im Wohnzimmer vorfand, wenn ich nach Hause kam. Einmal fragte ich sie, warum sie so viele von den Dingern essen würde, wo sie doch nicht eine einzige Kugel Eiscreme aß. Sie holte die Schachtel hervor und erklärte mir, dass sie zwar wie Saft schmeckten, aber aus etwas Besserem gemacht waren. Jedes Wassereis enthielt etwa fünfzehn Kalorien, und die konnte man fast schon verbrennen, wenn man es mit Schwung aß. »Die entfernen sich praktisch selbst aus dem Körper«, sagte sie, während ich den Karton genauer inspizierte, um das Kleingedruckte zu lesen.

B drückte mir ein Wassereis in die Hand; die gewachste Verpackung war eisverkrustet. Wir kletterten wie gewöhnlich durch das Fenster auf das Dach und setzten uns raus in die sommerliche Hitze, die von oben auf unsere Arme und Beine drückte. Schweiß perlte auf unserer Haut und fühlte sich irgendwie lebendig an, so wie viele kleine Beine, die gerade loskrabbeln.

Unser Wassereis hatte die gleiche orange Farbe, beide waren siamesische Zwillinge, in der Mitte zusammengewachsen und mit zwei Stielen, die jeweils aus einer Hälfte herausragten. Eine Navelorange ist ganz ähnlich: der Nabel eine eigene Frucht, die versucht, innerhalb der anderen zu wachsen, von allen Seiten eingekeilt, und deshalb austrocknet, steril und geschmacklos wird. Die Früchte sind kernlos, und neue Pflanzen wachsen nur durch Beschneiden und Pfropfen, was heißt, dass sie alle letztendlich immer Klone ihrer selbst sind. Kaum hatte ich mich auf meinen Platz zubewegt, wo ich am liebsten saß, weil ich von dort aus in mein Zimmer und auch in die Küche nebenan und das Wohnzimmer auf der anderen Straßenseite schauen konnte, wo sie den verrückten Hund hatten, da hatte B ihr Eis bereits ausgepackt und sich daraufgestürzt, die Spitze abgebissen und sie im Mund behalten, um sie langsam schmelzen zu lassen. Sauggeräusche drangen aus ihrem Mund, während sich die orangefarbene Soße um ihre Zähne sammelte. Sie bearbeitete es, als hätte sie seit Tagen nichts mehr gegessen. Außer Wassereis, Tee, Zigaretten und labberigen Cocktails aus Zitronenwodka, den jemand nach einer Party im Gefrierfach gelassen hatte, nahm B eigentlich nichts zu sich. Vielleicht wollte sie sich ihren Magen für etwas bewahren, das es noch gar nicht gab. Ich schaute über die Straße und versuchte, den Hund zu entdecken, während ich am Papier zerrte, das am Eis klebte, und meine Hände beim Versuch, das Eis von dieser klebenden Haut zu befreien, bunt färbte. In der grellen, flimmernden Hitze saßen wir da und aßen unser Eis. Unsere Gesichter glänzten vor Schweiß. Geräusche von Rasenmähern und Vögeln hingen aneinandergereiht in der stillen Luft. Ich nahm mir zuerst die eine Hälfte des Eises vor und aß sie auf, um mich dann einem normalen Eis am Stiel widmen zu können. Der Schweiß rann mir über die Stirn und in die Augen. Ein Motorengeräusch wurde lauter, bohrte sich harsch in den schwülen Nachmittag, und wir sahen den Wagen der Nachbarn langsam die Straße heraufkommen. Der Mann fuhr, seine Frau und die Tochter saßen mit im Auto. B hörte auf, an ihrem Eis zu lutschen, und sah zu, wie der Wagen in die Einfahrt gegenüber einbog. Als sie wieder vor sich blickte und bemerkte, dass ihr Eis tropfte, kraxelte sie über das ganze Dach und suchte nach Ameisen, um sie in dem klebrigen, leuchtenden Sirup zu ertränken. Sie kauerte sich über sie, ließ das letzte Stück Eis über ihnen kreisen und drehte das Stäbchen, damit es gleichmäßiger tropfte. Die Ameisen kämpften eine Weile, und als sie aufgegeben hatten, kamen andere, um sich in winzig kleinen Portiönchen an dem orangefarbenen Schlick zu nähren.

Ich rutschte auf den Knien nahe an sie heran, beobachtete die Sterbenden und die, die noch nicht starben, und viele, die das Zeug fraßen, das die anderen getötet hatte. Die lebenden Ameisen wirkten, als seien sie verzweifelt oder auch einfach nur aufgeregt: Ich wollte wissen, was von beidem. Ich beugte mich ganz dicht über einen Schwarm, mein Schatten fiel auf das Gewimmel, und wartete auf irgendein Anzeichen, das mir verriet, ob sie sich umeinander kümmerten oder einfach nur fraßen. B hatte das Interesse an ihnen verloren, jetzt starrte sie mich an.

»Was machst du da?«, fragte sie.

»Die Ameisen sterben«, sagte ich. »Ich dachte, ein paar andere würden kommen, um zu helfen, aber anscheinend wollen sie nur den süßen Saft fressen.«

»Das ist doch irgendwie makaber«, sagte B.

»Ich verstehe nicht, warum du sie töten willst«, sagte ich. »Sie kommen doch nicht ins Haus. Und wenn du sie so umbringst, dann ist das ganze Dach voller klebriger Flecken. Irgendwann werden wir das sauber machen müssen.«

»Sie ertrinken in Zucker«, sagte sie nüchtern. »Das ist für eine Ameise die bestmögliche Art, zu sterben.«

Ganz aus der Nähe kam ein merkwürdiges Geräusch, und wir standen auf, um besser sehen zu können. Aus dem Haus gegenüber mit den vornehm aussehenden Hortensien und dem Briefkasten in Form einer Scheune, mit dem verrückten Hund und der Tochter, die dienstags, donnerstags und freitags Ballettunterricht hatte, traten eine nach der anderen drei Gestalten. Jede trug ein weißes Laken über Kopf und Körper, in das auf Höhe der Augen Löcher geschnitten waren. Die größte Gestalt half der zweitgrößten die Treppe hinunter, während die kleinste sich alleine abmühte und auf den Saum ihrer zu großen Verschleierung trat.

B und ich beobachteten, wie unsere Nachbarn in Laken zu ihrem Family Sedan schlurften. Der Mann öffnete die Beifahrertür für seine Frau, ging dann um den Wagen herum und öffnete die Hintertür auf der Fahrerseite für das kleine Mädchen, das unter der weißen Hülle winzig wirkte. Dann trat er über die Stufen zum Eingang zurück ins Haus. Wir beobachteten die Tür eine gefühlte Ewigkeit. Im dunklen Dickicht der Wacholderbüsche stritten sich die Vögel um Dinge, die wir nicht verstanden. Der kleinere Körper zappelte auf dem Rücksitz des Wagens herum. Dann kam der Vater mit einer Sprühdose wieder heraus, die, wie sich zeigte, mit kirschroter Sprühfarbe gefüllt war. Er stellte sich vor das Garagentor und schrieb in großen, verlaufenden Druckbuchstaben:

ER, DER NEBEN MIR SITZT,

MÖGEN WIR ESSEN WIE EINER

Der Gespenstermann warf einen Blick auf die Sprühdose, als würde er sich fragen, was er da gerade getan hatte und ob es auch alles so richtig war. Dann stellte er sie auf der Auffahrt ab und stieg in das Auto. Man hörte den Motor anspringen, die Reifen knirschten über ein paar Kiesel, dann waren sie verschwunden. Sie hatten die Haustür offen gelassen.

B und ich starrten eine Zeit lang auf das verlassene Haus, dann drehte B sich um und kletterte über die Pfützen aus Wassereissaft und die toten Ameisen zurück ins Haus. Ich schaute mit zusammengekniffenen Augen nach drüben. Ein Tropfen Schweiß hatte sich auf meinen Wimpern niedergelassen, und ich musste blinzeln. Durch die vorderen Fenster konnte ich die Ecken ihrer Möbel sehen, die mit weiteren weißen Stoffbahnen abgedeckt waren. Der Raum sah aus, als sollte er demnächst professionell desinfiziert oder gestrichen werden, irgendeine ganz alltägliche Sache. Ich saß vielleicht eine halbe Stunde dort, betrachtete das leere Haus und wartete darauf, was als Nächstes passieren würde. Aber nichts passierte. Als die Ameisen anfingen, auf mir herumzukrabbeln, streifte ich sie von meinem Körper und stieg durch das Fenster wieder hinein. Zurück in meinem Zimmer war ich immer noch hungrig. Ich starrte eine Weile auf den Zopf, dann schaltete ich meinen eigenen kleinen Fernseher ein, weil ich nicht mit B zusammen fernsehen wollte.

Im TV lief ein weiterer Werbespot für Kandy Kakes. Dieser Spot gehörte wieder zu der neueren Serie, in der sich animierte und reale Motive vermischten. In dieser neuen Serie gelang es Kandy Kat nun, die kleinen Kuchen zu jagen oder sonst wie zu erwischen. Die Snacks waren immer als lebensechte, dreidimensionale Objekte dargestellt, während die Katze flach war wie ein Cartoon. Der Witz bestand darin, dass Kandy Kat sich immer vergeblich abmühte, einen Kandy Kake zu schlucken: die beiden waren grundsätzlich inkompatibel. Die neue Kampagne betonte, dass Kandy Kakes aus echten Zutaten bestanden. Vielleicht nicht aus natürlichen, aber definitiv echten, dreidimensionalen Zutaten aus unserer materiellen Welt, die uns auf eine Art entsprach, die für die Körper aus der Cartoon-Welt wohl nicht galt.

In diesem Spot schwankt Kandy Kat durch eine Cartoon-Landschaft voller tanzender Bäume. Die Baumstämme wackeln in Hüfthöhe und singen den Kandy-Kakes-Jingle, während in ihren Ästen kleine Vögel Glocken und Rumbarasseln spielen. Man kann die Rippen von Kandy Kats braunem Körper zählen, während er durch den Wald schwankt und offenbar den schönen Tag genießt. Er sieht ziemlich gelassen aus, bemerkt weder seinen Hunger noch die Worte, die die tanzenden Bäume um ihn herum singen – bis er plötzlich auf einen Teller mit Kandy Kakes stößt, der dreidimensional und hyperrealistisch inmitten des gezeichneten Blätterwerks auf einer Lichtung im Wald steht, von einem glitzernden Leuchten umgeben, das weder künstlich noch real ist, sondern irgendwo dazwischen. In blitzschneller Abfolge wird sein Körper geschüttelt von Schock, Überraschung, Entzücken, Unglauben und wieder Entzücken und dann lähmendem Hunger. Seine Rippen pulsieren. Und als er nach dem Teller greift, sieht man in der Bewegung tatsächlich, wie ausgezehrt er ist: Die Haut hängt ein wenig vom Unterarm herab, und um den Effekt noch zu verstärken, werfen Knochen und Sehnen schonungslose kleine Schatten. Die Augen in ihren riesigen Cartoon-Höhlen werden größer und weißer. In diesem Augenblick wünschte ich ihm so sehr, dass er sich einen dieser ekelhaften Kakes nehmen und ihn bis tief in den Magen stopfen könnte, damit sein Körper nur ein bisschen mehr Halt bekam.

Aber als seine Pfote schließlich den Teller erreicht und nach einem Kandy Kake greift, lässt sich keiner der Kakes bewegen. Es ist schwer zu beschreiben. Es sieht so aus, als würde Kandy Kats Pfote sie durch den Glanz hindurch berühren, aber sie bleiben still liegen. Sie wirken nicht wie ein Foto, sondern eher, als seien sie unglaublich schwer, deshalb braucht er ein Werkzeug. Also rennt Kandy Kat aus dem Bild und kommt mit einer albern großen Gabel zurück; er zielt auf den Teller und sticht zu, aber die Gabel gleitet durch die Kakes hindurch, als bestünden sie aus nichts. Kandy Kat stochert langsamer und schaut dann verwirrt die Gabel an. Dann rennt er wieder aus dem Bild und kommt mit einer Axt zurück, und es passiert das Gleiche – nämlich nichts –, wie oft er auch auf den Teller einhackt. Unterdessen zerfetzt es den Wald. Dann rennt er ein letztes Mal aus dem Bild und kommt mit einem Haufen Dynamit zurück und schichtet ihn um den Teller herum auf. Nach der riesigen Explosion sind alle Bäume und Vögel schwarz, und seine kleinen weißen Augen zwinkern vor ungläubigem Staunen. Vor dem verkohlten Hintergrund leuchtet der Teller mit Kakes verlockender denn je, und schließlich reißt sich Kandy Kat mit beiden Händen das Maul auf, schmerzhaft weit mit einem Krachen, stürzt sich Maul voran auf Teller und Kakes und fängt das Leuchten in seiner Mundhöhle ein, während er auf dem Waldboden liegt.

Sein Maul hat sich jetzt förmlich am Boden festgesaugt, er müht sich sehr vorsichtig, es zu schließen, zieht die Lippen zusammen, beißt in die Erde, damit ja kein Krümel verloren geht, und schließt es langsam um Erde, Teller und Kakes. Er steht zitternd mit vollem Maul auf. Im Boden sind große Bissspuren zu sehen, wo die Zähne sich in die Erde gegraben haben. Schließlich beißt er zaghaft zu.

Es gibt nicht mal ein Geräusch.

Bestürzung zeichnet sich auf seinem Gesicht ab, und er beißt wieder und wieder zu, immer schneller: nichts. Dann dehnt er die Kehle so weit es geht und versucht, den Teller als Ganzes zu schlucken, wieder und wieder: nichts. Schließlich spuckt er den Teller entmutigt aus – die Kakes sind perfekt intakt, haben immer noch diesen magischen Glanz, obwohl der inzwischen etwas Blasiertes ausstrahlt. Kandy Kat schaut mit feuchten Augen auf den Bildschirm. KANDY KAKES, steht dort. ECHTE ZUTATEN. ECHT GUT.

Ich schaute an meinem Körper hinab, als wäre es das erste Mal. Ich spürte, wie Angst mir die Schluckmuskeln in der Kehle zusammendrückte. Ich ließ meine Hand auf meinen Bauch sinken. Ich dachte an das kleine, eingehüllte Mädchen auf dem Rücksitz der viertürigen Limousine, so schlaff und schweigend, dass es auch ein Haufen schmutziger Wäsche hätte sein können. Ich fragte mich, was mit ihrem Hund passiert war. Auf meinem linken Oberschenkel war ein blauer Fleck, den ich noch nie gesehen hatte, und ich war hungriger denn je. Auf dem Bildschirm wurden die Werbespots wieder von den Nachrichten abgelöst. Die ersten Tests mit einem neuen Medikament gegen Krebs hatten einen Durchbruch errungen; es sollte die Sensibilisierung des Immunsystems für bekannte somatische Zellen erhöhen, die ein krankhaftes Wachstum zeigten. Die eine Hälfte der Labortiere zeigte eine stark reduzierte Anfälligkeit für Tumore und andere ungewöhnliche Zellstrukturen, wie auch eine Reduktion neuer Abnormitäten. Die andere Hälfte starb.