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Gustave Le Bon

Die Psychologie der Massen

Komplettausgabe

Gustave Le Bon

Die Psychologie der Massen

Komplettausgabe

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
Übersetzung: R. Eisler
1. Auflage, ISBN 978-3-954187-53-9

null-papier.de/368

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Inhaltsverzeichnis

Zum Buch

Vor­wort zur ers­ten Auf­la­ge

Ein­lei­tung: Das Zeit­al­ter der Mas­sen

Ent­wick­lung des ge­gen­wär­ti­gen Zeit­al­ters

Die Mas­sen als Zer­stö­re­rin­nen der Kul­tur

Die Mas­sen und der Staats­mann

Ers­tes Buch: Die Mas­sen­see­le

1. Ka­pi­tel: All­ge­mei­ne Kenn­zei­chen der Mas­sen.

2. Ka­pi­tel: Ge­füh­le und Sitt­lich­keit der Mas­sen

3. Ka­pi­tel: Ide­en, Ur­tei­le und Ein­bil­dungs­kraft der Mas­sen

4. Ka­pi­tel: Die re­li­gi­ösen For­men, die alle Über­zeu­gun­gen der Mas­se an­neh­men

Zwei­tes Buch: Die Mei­nun­gen und Glau­bens­leh­ren der Mas­sen

1. Ka­pi­tel: Ent­fern­te Trieb­kräf­te der Glau­bens­leh­ren und Mei­nun­gen der Mas­sen

2. Ka­pi­tel: Un­mit­tel­ba­re Trieb­kräf­te der An­schau­un­gen der Mas­sen

3. Ka­pi­tel: Die Füh­rer der Mas­sen und ihre Über­zeu­gungs­mit­tel

4. Ka­pi­tel: Gren­zen der Verän­der­lich­keit der Grund­an­schau­un­gen und Mei­nun­gen der Mas­sen

Drit­tes Buch: Ein­tei­lung und Be­schrei­bung der ver­schie­de­nen Ar­ten von Mas­sen

1. Ka­pi­tel: Ein­tei­lung der Mas­sen

2. Ka­pi­tel: Die so­ge­nann­ten ver­bre­che­ri­schen Mas­sen

3. Ka­pi­tel: Die Ge­schwo­re­nen bei den Schwur­ge­rich­ten

4. Ka­pi­tel: Die Wäh­ler­mas­sen

5. Ka­pi­tel: Die Par­la­ments­ver­samm­lun­gen

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Zum Buch

Uns­terb­lich in sei­nem ver­le­ge­ri­schen Ei­fer wur­de der fran­zö­si­sche Arzt Gu­sta­ve Le Bon (1841-1931) durch ein Buch »Die Psy­cho­lo­gie der Mas­sen« – Sieg­mund Freud und Max We­ber zähl­ten zu sei­nen Be­wun­de­rern. Aber auch Hit­ler und Göb­bels sol­len sich hier ihre Blau­pau­sen zur Ma­ni­pu­la­ti­on der Mas­sen ver­schafft ha­ben.

Le Bon kämpft mit den Waf­fen der Frei­heit: Auf­klä­rung und In­tel­lekt - ge­gen die Bar­ba­rei der Mas­se, die, ein­mal auf den Weg ge­bracht, nichts auf­hal­ten kann. Er be­klagt den »au­ßer­or­dent­li­chen geis­ti­gen Tief­stand der Mas­sen«, ihre Trieb­haf­tig­keit, ih­ren Hass, ihre Wan­kel­mü­tig­keit, ihre Ma­ni­pu­lier­bar­keit.

Die Po­li­tik als Thea­ter, als Schau­spiel, als emo­tio­na­le Ins­ze­nie­rung war Le Bon zu­wi­der. Als ra­di­ka­ler De­mo­krat, li­be­ra­ler Frei­geist, als Mensch der Ver­nunft muss­te Le Bon an den Aus­wüch­sen der Jahr­hun­dert­wen­de 19/20 ver­zwei­feln: Krie­ge, Mas­sen­psy­cho­sen, Aber­glau­ben, Ras­sen­wahn al­lent­hal­ben.

Pro­phe­tisch wa­ren sei­ne (nun über 100 Jah­re al­ten) Wor­te zu den Mas­sen­me­di­en: »… Wel­ches Blatt wäre heu­te reich ge­nug, sei­nen Schrift­lei­tern eig­ne Mei­nun­gen ge­stat­ten zu kön­nen? Und wel­ches Ge­wicht könn­ten die­se Mei­nun­gen bei Le­sern ha­ben, die nur un­ter­rich­tet oder un­ter­hal­ten wer­den wol­len und hin­ter je­der Emp­feh­lung Be­rech­nung wit­tern?...« – Hört man dar­aus nicht das »Lü­gen­pres­se-Grö­len« in Dres­den?

Kein Buch zur po­li­ti­schen Welt war je­mals so zeit­los.

Die Schar der Men­schen­schläch­ter um­fass­te un­ge­fähr drei­hun­dert Mit­glie­der und zeig­te voll­kom­men die Grund­form ei­ner un­gleich­ar­ti­gen Mas­se. Ab­ge­se­hen von ei­ner ganz ge­rin­gen An­zahl ge­werbs­mä­ßi­ger Bett­ler, be­stand sie na­ment­lich aus Händ­lern und Hand­wer­kern al­ler Art, aus Schus­tern, Schlos­sern, Perücken­ma­chern, Mau­rern, An­ge­stell­ten, Dienst­män­nern usw. Un­ter dem Ein­fluss der emp­fan­ge­nen Sug­ge­s­ti­on sind sie, wie der oben er­wähn­te Koch, völ­lig über­zeugt da­von, eine va­ter­län­di­sche Pf­licht zu er­fül­len. Sie üben ein dop­pel­tes Amt aus, das des Rich­ters und das des Hen­kers, und hal­ten sich in kei­ner Wei­se für Ver­bre­cher.

Vorwort zur ersten Auflage

Mei­ne frü­he­re Ar­beit war der Dar­stel­lung der Ras­sen­see­le ge­wid­met.1 Hier wol­len wir die Mas­sen­see­le un­ter­su­chen.

Der In­be­griff der ge­mein­sa­men Merk­ma­le, die al­len An­ge­hö­ri­gen ei­ner Ras­se durch Ve­rer­bung zu­teil wur­den, macht die See­le die­ser Ras­se aus. Wenn sich je­doch eine ge­wis­se An­zahl sol­cher ein­zel­nen mas­sen­wei­se zur Tat ver­ei­nigt, so zeigt sich, dass sich aus die­ser Ve­rei­ni­gung be­stimm­te neue psy­cho­lo­gi­sche Ei­gen­tüm­lich­kei­ten er­ge­ben, die zu den Ras­sen­merk­ma­len hin­zu­kom­men und sich zu­wei­len er­heb­lich von ih­nen un­ter­schei­den.

Die or­ga­ni­sier­ten Mas­sen ha­ben zu al­len Zei­ten eine wich­ti­ge Rol­le im Völ­ker­le­ben ge­spielt, nie­mals aber in sol­chem Maße wie heu­te. Die un­be­wuss­te Wirk­sam­keit der Mas­sen, die an die Stel­le der be­wuss­ten Tat­kraft der ein­zel­nen tritt, bil­det ein we­sent­li­ches Kenn­zei­chen der Ge­gen­wart. Ich habe ver­sucht, das schwie­ri­ge Pro­blem der Mas­sen in streng wis­sen­schaft­li­cher­wei­se zu be­han­deln, also me­tho­disch und un­be­küm­mert um Mei­nun­gen, Theo­ri­en und Dok­tri­nen. Nur so, glau­be ich, kommt man zur Er­kennt­nis der Wahr­heit, be­son­ders, wenn es sich, wie hier, um eine Fra­ge han­delt, die die Geis­ter leb­haft er­regt. Der For­scher, der sich um die Er­klä­rung ei­ner Er­schei­nung be­müht, hat sich um die In­ter­es­sen, die durch sei­ne Un­ter­su­chung be­rührt wer­den kön­nen, nicht zu küm­mern. Ein aus­ge­zeich­ne­ter Den­ker, Go­blet d’Al­viel­la, hat in ei­ner sei­ner Schrif­ten ge­sagt, ich ge­hö­re kei­ner zeit­ge­nös­si­schen Kri­tik an und trä­te zu­wei­len in Ge­gen­satz zu ge­wis­sen Fol­ge­run­gen al­ler Schu­len. Hof­fent­lich ver­dient die vor­lie­gen­de Ar­beit das glei­che Ur­teil. Zu ei­ner Schu­le ge­hö­ren heißt: de­ren Vor­ur­tei­le und Stand­punk­te tei­len müs­sen.

Ich muss je­doch dem Le­ser er­klä­ren, warum ich aus mei­nen Stu­di­en Schlüs­se zie­he, wel­che von de­nen ab­wei­chen, die sich auf den ers­ten Blick dar­aus er­ge­ben, z.B. wenn ich den au­ßer­or­dent­li­chen geis­ti­gen Tief­stand der Mas­sen fest­stel­le und doch be­haup­te, es sei un­ge­ach­tet die­ses Tief­stan­des ge­fähr­lich, die Or­ga­ni­sa­ti­on der Mas­sen an­zu­tas­ten.

Sorg­fäl­ti­ge Beo­b­ach­tung der ge­schicht­li­chen Tat­sa­chen hat mir näm­lich stets ge­zeigt, dass es ganz und gar nicht in un­se­rer Macht steht, die so­zia­len Or­ga­nis­men, die eben­so kom­pli­ziert sind wie an­de­re Or­ga­ni­sa­tio­nen, jäh tief­ge­hen­den Um­wand­lun­gen zu un­ter­wer­fen. Zu­wei­len ist die Na­tur ra­di­kal, doch nicht so, wie wir es ver­ste­hen; da­her gibt es nichts Trau­ri­ge­res für ein Volk als die Lei­den­schaft der großen Um­ge­stal­tun­gen, so vor­treff­lich sie theo­re­tisch schei­nen mö­gen. Nütz­lich wä­ren sie nur dann, wenn es mög­lich wäre, die See­len der Völ­ker plötz­lich zu än­dern. Die Zeit al­lein hat die­se Macht. Die Men­schen wer­den von Ide­en, Ge­füh­len und Ge­wohn­hei­ten ge­lei­tet, von Ei­gen­schaf­ten, die in ih­nen selbst ste­cken. Ein­rich­tun­gen und Ge­set­ze sind Of­fen­ba­run­gen un­se­rer See­le, der Aus­druck ih­rer Be­dürf­nis­se. Da die Ein­rich­tun­gen und Ge­set­ze von der See­le aus­ge­hen, wird sie von ih­nen nicht be­ein­flusst.

Das Stu­di­um der so­zia­len Er­schei­nun­gen lässt sich nicht von dem der Völ­ker tren­nen, bei de­nen sie sich ge­bil­det ha­ben. Phi­lo­so­phisch be­trach­tet, kön­nen die­se Er­schei­nun­gen un­be­ding­ten Wert ha­ben, prak­tisch aber sind sie nur von be­ding­tem Wert.

Man muss also beim Stu­di­um ei­ner so­zia­len Er­schei­nung die­sel­be Sa­che nach­ein­an­der von zwei ganz ver­schie­de­nen Ge­sichts­punk­ten aus be­trach­ten. Wir se­hen dem­nach, dass die Leh­ren der rei­nen Ver­nunft sehr oft de­nen der prak­ti­schen ent­ge­gen­ge­setzt sind. Es gibt kei­ne Tat­sa­chen, auch nicht auf phy­si­schem Ge­biet, auf die sich die­se Un­ter­schei­dung nicht an­wen­den lie­ße. Vom Ge­sichts­punkt der un­be­ding­ten Wahr­heit aus sind ein Wür­fel, ein Kreis un­ver­än­der­li­che geo­me­tri­sche Fi­gu­ren, die mit­tels fest­ste­hen­der For­meln ge­nau zu be­stim­men sind. Für den Ge­sichts­sinn kön­nen die­se geo­me­tri­schen Fi­gu­ren sehr man­nig­fa­che For­men an­neh­men. In der Wirk­lich­keit kann die Per­spek­ti­ve den Wür­fel in eine Py­ra­mi­de oder in ein Qua­drat, den Kreis in eine El­lip­se oder Gera­de ver­wan­deln. Und die­se an­ge­nom­me­nen For­men sind von viel grö­ße­rer Be­deu­tung als die wirk­li­chen; denn sie sind die ein­zi­gen, die wir se­hen und die sich fo­to­gra­fisch oder zeich­ne­risch wie­der­ge­ben las­sen. Das Un­wirk­li­che ist in ge­wis­sen Fäl­len wah­rer als das Wirk­li­che. Es hie­ße, die Na­tur um­for­men und un­kennt­lich ma­chen, woll­te man sich die Din­ge in ih­ren streng geo­me­tri­schen For­men vor­stel­len. In ei­ner Welt, de­ren Be­woh­ner die Din­ge nur ab­bil­den oder fo­to­gra­fie­ren könn­ten, je­doch nicht be­rüh­ren, wür­de man nur sehr schwer zu ei­ner ge­nau­en Vor­stel­lung ih­rer Form ge­lan­gen, und die Kennt­nis die­ser Form, die nur ei­ner ge­rin­gen Zahl von Ge­lehr­ten zu­gäng­lich wäre, wür­de nur schwa­ches In­ter­es­se we­cken.

Der Phi­lo­soph, der die so­zia­len Er­schei­nun­gen stu­diert, muss sich vor Au­gen hal­ten, dass sie ne­ben ih­rem theo­re­ti­schen auch prak­ti­schen Wert ha­ben und dass die­ser vom Ge­sichts­punkt der Kul­tur­ent­wick­lung der ein­zig be­deut­sa­me ist. Das muss ihn sehr vor­sich­tig ma­chen ge­gen die Fol­ge­run­gen, wel­che die Lo­gik ihm zu­nächst ein­zu­ge­ben scheint. Auch an­de­re Grün­de ver­an­las­sen ihn zur Zu­rück­hal­tung. Die so­zia­len Tat­sa­chen sind so ver­wi­ckelt, dass man sie in ih­rer Ge­samt­heit nicht um­fas­sen und die Wir­kun­gen ih­rer wech­sel­sei­ti­gen Be­ein­flus­sung nicht vor­aus­sa­gen kann. Auch schei­nen sich hin­ter den sicht­ba­ren Tat­sa­chen oft Tau­sen­de von un­sicht­ba­ren Ur­sa­chen zu ver­ber­gen. Die sicht­ba­ren so­zia­len Tat­sa­chen schei­nen die Fol­gen ei­ner rie­si­gen, un­be­wuss­ten Wir­kungs­kraft zu sein, die nur zu oft un­se­rer Un­ter­su­chung un­zu­gäng­lich ist. Die wahr­nehm­ba­ren Er­schei­nun­gen las­sen sich den Wo­gen ver­glei­chen, wel­che der Ober­flä­che des Ozeans die un­ter­ir­di­schen Er­schüt­te­run­gen mit­tei­len, die in sei­nen Tie­fen vor­ge­hen, und die wir nicht ken­nen. In den meis­ten Fäl­len zeigt die Hand­lungs­wei­se der Mas­sen eine au­ßer­or­dent­lich nied­ri­ge Geis­tig­keit; aber in an­de­ren Hand­lun­gen schei­nen sie von je­nen ge­heim­nis­vol­len Kräf­ten ge­lenkt zu wer­den, wel­che die Al­ten Schick­sal, Na­tur, Vor­se­hung nann­ten, die wir als die Stim­men der To­ten be­zeich­nen, und de­ren Macht wir nicht ver­ken­nen kön­nen, so un­be­kannt uns auch ihr We­sen ist. Oft scheint es, als ob die Völ­ker in ih­rem Schoß ver­bor­ge­ne Kräf­te tra­gen, von de­nen sie ge­führt wer­den. Kann et­was ver­wi­ckel­ter, lo­gi­scher, wun­der­ba­rer sein als eine Spra­che? Und ent­springt nicht dies wohl­ge­ord­ne­te und fei­ne Ge­bil­de der un­be­wuss­ten Mas­sen­see­le? Die ge­lehr­tes­ten Hoch­schu­len ver­zeich­nen nur die Re­geln die­ser Spra­chen, wä­ren aber nicht im­stan­de, sie zu schaf­fen. Wis­sen wir si­cher, ob die ge­nia­len Ide­en der großen Män­ner aus­schließ­lich ihr ei­ge­nes Werk sind? Zwei­fel­los sind sie stets Schöp­fun­gen ein­zel­ner Geis­ter, aber die un­zäh­li­gen Körn­chen, die den Bo­den für den Keim die­ser Ide­en bil­den, hat die Mas­sen­see­le sie nicht er­zeugt?

Ge­wiss üben die Mas­sen ihre Wir­kungs­kraft stets un­be­wusst aus. Aber viel­leicht ist ge­ra­de dies Un­be­wuss­te das Ge­heim­nis ih­rer Kraft. In der Na­tur gibt es We­sen, die nur aus In­stinkt han­deln und Ta­ten voll­brin­gen, de­ren wun­der­ba­re Man­nig­fal­tig­keit wir an­stau­nen. Der Ge­brauch der Ver­nunft ist für die Mensch­heit noch zu neu und zu un­voll­kom­men, um die Ge­set­ze des Un­be­wuss­ten ent­hül­len zu kön­nen und be­son­ders, um es zu er­set­zen. Der An­teil des Un­be­wuss­ten an un­se­ren Hand­lun­gen ist un­ge­heu­er und der An­teil der Ver­nunft sehr klein. Das Un­be­wuss­te ist eine Wir­kungs­kraft, die wir noch nicht er­ken­nen kön­nen. Wol­len wir uns also in den en­gen, aber si­che­ren Gren­zen der wis­sen­schaft­lich er­kenn­ba­ren Din­ge hal­ten und nicht auf dem Fel­de un­be­stimm­ter Ver­mu­tun­gen und nich­ti­ger Voraus­set­zun­gen um­her­ir­ren, so dür­fen wir nur die Er­schei­nun­gen fest­stel­len, die uns zu­gäng­lich sind, und müs­sen uns da­mit be­gnü­gen. Jede Fol­ge­rung, die wir aus un­se­ren Beo­b­ach­tun­gen zie­hen, ist meis­tens vor­ei­lig; denn hin­ter den wahr­ge­nom­me­nen Er­schei­nun­gen gibt es sol­che, die wir un­deut­lich se­hen, und hin­ter die­sen wahr­schein­lich noch an­de­re, die wir über­haupt nicht er­ken­nen.

Le Bon


  1. Psy­cho­lo­gi­sche Ge­set­ze der Völ­ker­ent­wick­lung.  <<<

Einleitung: Das Zeitalter der Massen

Ent­wick­lung des ge­gen­wär­ti­gen Zeit­al­ters — Die großen Kul­tur­wen­den sind die Fol­ge von Wand­lun­gen im Den­ken der Völ­ker — Der Glau­be der Neu­zeit an die Macht der Mas­sen — Er ver­än­dert die her­ge­brach­te Po­li­tik der Staa­ten — Wie sich das Em­por­kom­men der Volks­klas­sen voll­zieht und wie sie ihre Macht aus­üben — Die Syn­di­ka­te — Not­wen­di­ge Fol­gen der Macht der Mas­sen — Sie kön­nen nur eine zer­stö­re­ri­sche Rol­le spie­len — Durch sie vollen­det sich die Auf­lö­sung der zu alt ge­wor­de­nen Kul­tu­ren — All­ge­mei­ne Un­kennt­nis der Psy­cho­lo­gie der Mas­sen — Wich­tig­keit des Stu­di­ums der Mas­sen für Ge­setz­ge­ber und Staats­män­ner

Entwicklung des gegenwärtigen Zeitalters

Die großen Er­schüt­te­run­gen, wel­che den Kul­tur­wen­den vor­an­ge­hen, schei­nen auf den ers­ten Blick durch be­deut­sa­me po­li­ti­sche Ver­än­de­run­gen be­stimmt zu sein: durch Völ­ke­rin­va­si­on oder durch den Sturz von Herr­scher­häu­sern. Eine auf­merk­sa­me Un­ter­su­chung die­ser Er­eig­nis­se ent­hüllt je­doch hin­ter ih­ren schein­ba­ren Ur­sa­chen als wah­re Ur­sa­che eine tief­ge­hen­de Ver­än­de­rung in den An­schau­un­gen der Völ­ker. Das sind nicht die wah­ren his­to­ri­schen Er­schüt­te­run­gen, die uns durch ihre Grö­ße und Hef­tig­keit ver­wun­dern. Die ein­zi­gen Ver­än­de­run­gen von Be­deu­tung — die ein­zi­gen, aus wel­chen die Er­neue­rung der Kul­tu­ren her­vor­geht — voll­zie­hen sich in­ner­halb der An­schau­un­gen, der Be­grif­fe und des Glau­bens. Die be­mer­kens­wer­ten Er­eig­nis­se der Ge­schich­te sind die sicht­ba­ren Wir­kun­gen der un­sicht­ba­ren Ver­än­de­run­gen des mensch­li­chen Den­kens. Wenn die­se großen Er­eig­nis­se so sel­ten sind, so hat das sei­nen Grund dar­in, dass es nichts Be­stän­di­ge­res in ei­ner Ras­se gibt als das Erb­gut ih­rer Ge­füh­le.

Das ge­gen­wär­ti­ge Zeit­al­ter bil­det einen je­ner kri­ti­schen Zeit­punk­te, in de­nen das mensch­li­che Den­ken im Be­griff ist, sich zu wan­deln.

Da die Ide­en der Ver­gan­gen­heit, ob­wohl halb zer­stört, noch sehr mäch­tig, und die Ide­en, die sie er­set­zen sol­len, erst in der Bil­dung be­grif­fen sind, so ist die Ge­gen­wart eine Pe­ri­ode des Über­gan­ges und der An­ar­chie.

Was aus die­sem not­wen­dig et­was chao­ti­schen Zeit­raum ein­mal her­vor­ge­hen wird, ist im Au­gen­blick nicht leicht zu sa­gen. Auf wel­chem Grund­ge­dan­ken wird sich die künf­ti­ge Ge­sell­schaft auf­bau­en? Wir wis­sen es noch nicht. Schon jetzt aber kann man vor­aus­se­hen, dass sie bei ih­rer Or­ga­ni­sa­ti­on mit ei­ner neu­en Macht, der jüngs­ten Herr­sche­rin der Ge­gen­wart, zu rech­nen ha­ben wird: mit der Macht der Mas­sen. Auf den Rui­nen so vie­ler, einst für wahr ge­hal­te­ner und jetzt to­ter Ide­en, so vie­ler Mäch­te, die durch Re­vo­lu­tio­nen nach und nach ge­bro­chen wor­den sind, hat die­se Macht al­lein sich er­ho­ben und scheint bald die an­de­ren auf­sau­gen zu wol­len. Wäh­rend alle uns­re al­ten An­schau­un­gen schwan­ken und ver­schwin­den und die al­ten Ge­sell­schafts­stüt­zen eine nach der an­de­ren ein­stür­zen, ist die Macht der Mas­sen die ein­zi­ge Kraft, die durch nichts be­droht wird und de­ren An­se­hen im­mer mehr wächst. Das Zeit­al­ter, in das wir ein­tre­ten, wird in Wahr­heit das Zeit­al­ter der Mas­sen sein.

Vor kaum ei­nem Jahr­hun­dert be­stan­den die Haupt­trieb­kräf­te der Er­eig­nis­se in der über­lie­fer­ten Po­li­tik der Staa­ten und dem Wett­streit der Fürs­ten. Die Mei­nung der Mas­sen galt in den meis­ten Fäl­len gar nichts. Heu­te gel­ten die po­li­ti­schen Über­lie­fe­run­gen, die per­sön­li­chen Be­stre­bun­gen der Herr­scher und de­ren Wett­streit nur noch we­nig. Die Stim­me des Vol­kes hat das Über­ge­wicht er­langt. Sie schreibt den Kö­ni­gen ihr Ver­hal­ten vor. In der See­le der Mas­sen, nicht mehr in den Fürs­ten­be­ra­tun­gen be­rei­ten sich die Schick­sa­le der Völ­ker vor.

Der Ein­tritt der Volks­klas­sen in das po­li­ti­sche Le­ben, ihre fort­schrei­ten­de Um­wand­lung zu füh­ren­den Klas­sen, ist ei­nes der her­vor­ste­chends­ten Kenn­zei­chen uns­rer Über­gangs­zeit. Die­ser Ein­tritt wird nicht durch das all­ge­mei­ne Stimm­recht ge­kenn­zeich­net, das lan­ge Zeit so we­nig ein­fluss­reich und an­fangs so leicht zu len­ken war. Die Ge­burt der Macht der Mas­se ent­stand zu­erst durch die Ver­brei­tung ge­wis­ser Ge­dan­ken­gän­ge, die lang­sam von den Geis­tern Be­sitz er­grif­fen, so­dann durch die all­mäh­li­che Ve­rei­ni­gung der ein­zel­nen zur Ver­wirk­li­chung der bis­her theo­re­ti­schen An­schau­un­gen. Die Ve­rei­ni­gung er­mög­lich­te es den Mas­sen, sich, wenn auch nicht sehr rich­ti­ge, so doch we­nigs­tens ganz be­stimm­te Ide­en von ih­ren In­ter­es­sen zu bil­den und das Be­wusst­sein ih­rer Kraft zu er­lan­gen. Sie grün­den Syn­di­ka­te, de­nen sich alle Macht­ha­ber un­ter­wer­fen, Ar­beits­bör­sen, die al­len Wirt­schafts­ge­set­zen zum Trotz die Be­din­gun­gen der Ar­beit und des Loh­nes zu re­geln su­chen. Sie ent­sen­den in die Par­la­men­te Ab­ge­ord­ne­te, de­nen al­ler Un­ter­neh­mungs­geist, alle Selbst­stän­dig­keit fehlt, und die oft nur zu Wort­füh­rern der Aus­schüs­se, die sie ge­wählt hat­ten, her­ab­ge­wür­digt wur­den.

Heu­te wer­den die For­de­run­gen der Mas­sen nach und nach im­mer deut­li­cher und lau­fen auf nichts Ge­rin­ge­res hin­aus als auf den gänz­li­chen Um­sturz der ge­gen­wär­ti­gen Ge­sell­schaft, um sie je­nem pri­mi­ti­ven Kom­mu­nis­mus zu­zu­füh­ren, der vor dem Be­ginn der Kul­tur der nor­ma­le Zu­stand al­ler mensch­li­chen Ge­mein­schaft war. Be­gren­zung der Ar­beits­zeit, Ent­eig­nung von Berg­wer­ken, Ei­sen­bah­nen, Fa­bri­ken und Bo­den, glei­che Ver­tei­lung al­ler Pro­duk­te, Ab­schaf­fung al­ler obe­ren Klas­sen zu­guns­ten der Volks­klas­sen usw. — das sind ihre For­de­run­gen.

Je we­ni­ger die Mas­se ver­nünf­ti­ger Über­le­gung fä­hig ist, umso mehr ist sie zur Tat ge­neigt. Die Or­ga­ni­sa­ti­on hat ihre Kraft ins Un­ge­heu­re ge­stei­gert. Die Glau­bens­leh­ren, die wir auf­tau­chen se­hen, wer­den bald die Macht der al­ten Glau­bens­leh­ren be­sit­zen, d.h. die ty­ran­ni­sche und her­ri­sche Kraft, wel­che sich al­ler Aus­ein­an­der­set­zung ent­zieht. Das gött­li­che Recht der Mas­sen wird das gött­li­che Recht der Kö­ni­ge er­set­zen.

Die Lieb­lings­schrift­stel­ler der jet­zi­gen Bour­geoi­sie, die am bes­ten de­ren et­was be­schränk­te Ide­en, ihre kurz­sich­ti­gen An­schau­un­gen, ih­ren all­ge­mein­ge­hal­te­nen Skep­ti­zis­mus und oft über­mä­ßi­gen Ego­is­mus schil­dern, ge­ra­ten vor der neu­en Macht, die sie her­an­wach­sen se­hen, völ­lig au­ßer Fas­sung und rich­ten, um die Ver­wir­rung der Geis­ter zu be­kämp­fen, einen ver­zwei­fel­ten Ap­pell an die sitt­li­chen Kräf­te der Kir­che, die sie einst so ge­ring schätz­ten. Sie spre­chen vom Bank­rott der Wis­sen­schaft und er­in­nern uns an die Leh­ren der geof­fen­bar­ten Wahr­hei­ten. Aber die­se Neu­be­kehr­ten ver­ges­sen, dass die Gna­de, wenn sie sie wirk­lich be­rühr­te, doch nicht die glei­che Macht über jene See­len hat, die sich we­nig um das Jen­seits küm­mern. Die Mas­sen wol­len heu­te die Göt­ter nicht mehr, die ihre ehe­ma­li­gen Her­ren ges­tern noch ver­leug­ne­ten und zer­stö­ren hal­fen. Die Flüs­se flie­ßen nicht zu ih­ren Quel­len zu­rück.

Die Wis­sen­schaft hat mit­nich­ten Bank­rott ge­macht und hat nichts mit der ge­gen­wär­ti­gen An­ar­chie der Geis­ter oder mit der neu­en Macht zu tun, die in ih­rem Scho­ße em­por­wächst. Sie hat uns die Wahr­heit ver­hei­ßen oder we­nigs­tens die Er­kennt­nis der Zu­sam­men­hän­ge, die uns­rem Ver­stan­de zu­gäng­lich sind; sie hat uns nie­mals den Frie­den und das Glück ver­spro­chen. In über­le­ge­ner Gleich­gül­tig­keit ge­gen uns­re Ge­füh­le hört sie uns­re Kla­gen nicht, und nichts ver­mag uns die Täu­schun­gen wie­der­zu­ge­ben, die sie ver­trieb.

Die Massen als Zerstörerinnen der Kultur

All­ge­mei­ne Sym­pto­me, die bei al­len Na­tio­nen er­kenn­bar sind, zei­gen uns das rei­ßen­de An­wach­sen der Macht der Mas­sen. Was es auch brin­gen mag, wir wer­den es er­tra­gen müs­sen. Alle An­schul­di­gun­gen sind nur nutz­lo­ses Ge­re­de. Vi­el­leicht be­deu­tet der Auf­stieg der Mas­sen eine der letz­ten Etap­pen der Kul­tu­ren des Abend­lan­des, die Rück­kehr zu je­nen Zei­ten ver­wor­re­ner An­ar­chie, die stets dem Auf­blü­hen ei­ner neu­en Ge­sell­schaft vor­an­zu­ge­hen schei­nen. Aber wie wäre er zu ver­hin­dern?

Bis­her be­stand die Auf­ga­be der Mas­sen of­fen­bar in die­sen großen Zer­stö­run­gen der al­ten Kul­tu­ren. Die Ge­schich­te lehrt uns, dass in dem Au­gen­blick, da die mo­ra­li­schen Kräf­te, das Rüst­zeug ei­ner Ge­sell­schaft, ihre Herr­schaft ver­lo­ren ha­ben, die letz­te Auf­lö­sung von je­nen un­be­wuss­ten und ro­hen Mas­sen, wel­che recht gut als Bar­ba­ren ge­kenn­zeich­net wer­den, her­bei­ge­führt wird. Bis­her wur­den die Kul­tu­ren von ei­ner klei­nen, in­tel­lek­tu­el­len Ari­sto­kra­tie ge­schaf­fen und ge­lei­tet, nie­mals von den Mas­sen. Die Mas­sen ha­ben nur Kraft zur Zer­stö­rung. Ihre Herr­schaft be­deu­tet stets eine Stu­fe der Auf­lö­sung. Eine Kul­tur setzt fes­te Re­geln, Zucht, den Über­gang des Trieb­haf­ten zum Ver­nünf­ti­gen, die Vor­aus­be­rech­nung der Zu­kunft, über­haupt einen ho­hen Bil­dungs­grad vor­aus — Be­din­gun­gen, für wel­che die sich selbst über­las­se­nen Mas­sen völ­lig un­zu­gäng­lich sind. Ver­mö­ge ih­rer nur zer­stö­re­ri­schen Macht wir­ken sie gleich je­nen Mi­kro­ben, wel­che die Auf­lö­sung ge­schwäch­ter Kör­per oder Lei­chen be­schleu­ni­gen. Ist das Ge­bäu­de ei­ner Kul­tur morsch ge­wor­den, so füh­ren die Mas­sen sei­nen Zu­sam­men­bruch her­bei. Jetzt tritt ihre Haupt­auf­ga­be zu­ta­ge. Plötz­lich wird die blin­de Macht der Mas­se für einen Au­gen­blick zur ein­zi­gen Phi­lo­so­phie der Ge­schich­te.

Wird es sich mit uns­rer Kul­tur eben­so ver­hal­ten? Es ist zu be­fürch­ten, aber wir wis­sen es noch nicht.

Wir müs­sen uns da­mit ab­fin­den, die Herr­schaft der Mas­sen zu er­tra­gen, da un­vor­sich­ti­ge Hän­de all­mäh­lich alle Schran­ken, die jene zu­rück­hal­ten konn­ten, nie­der­ge­ris­sen ha­ben.

Wir ken­nen die­se Mas­sen, von de­nen man jetzt so viel spricht. Die Psy­cho­lo­gen von Fach, die nicht in ih­rer Nähe le­ben, ha­ben sie stets igno­riert und sich mit ih­nen nur in Be­zug auf die Ver­bre­chen be­schäf­tigt, zu de­nen sie fä­hig sind. Zwei­fel­los gibt es ver­bre­che­ri­sche Mas­sen, aber es gibt auch tu­gend­haf­te, he­ro­i­sche und noch vie­le an­ders­ar­ti­ge Mas­sen. Die Mas­sen­ver­bre­chen bil­den le­dig­lich einen Son­der­fall ih­res See­len­le­bens und las­sen ihre geis­ti­ge Be­schaf­fen­heit nicht bes­ser er­ken­nen als die ei­nes Ein­zel­we­sens, von dem man nur sei­ne Las­ter kennt.

Doch of­fen ge­stan­den: Alle Her­ren der Erde, alle Re­li­gi­ons- und Reichs­s­tif­ter, die Apos­tel al­ler Glau­bens­rich­tun­gen, die her­vor­ra­gen­den Staats­män­ner und, in ei­ner be­schei­de­neren Sphä­re, die ein­fa­chen Häup­ter klei­ner mensch­li­cher Ge­mein­schaf­ten wa­ren stets un­be­wuss­te Psy­cho­lo­gen mit ei­ner in­stink­ti­ven und oft sehr si­che­ren Kennt­nis der Mas­sen­see­le; weil sie die­se gut kann­ten, wur­den sie so leicht Macht­ha­ber. Na­po­le­on er­fass­te wun­der­bar das See­len­le­ben der fran­zö­si­schen Mas­sen, aber er ver­kann­te oft völ­lig die Mas­sen­see­le frem­der Ras­sen.1 Die­se Un­kennt­nis ver­an­lass­te ihn, na­ment­lich in Spa­ni­en und Russ­land, Krie­ge zu füh­ren, die sei­nen Sturz vor­be­rei­te­ten.


  1. Üb­ri­gens ver­stan­den sich sei­ne klügs­ten Rat­ge­ber nicht bes­ser dar­auf. Tal­ley­rand schrieb ihm, Spa­ni­en wür­de sei­ne Sol­da­ten als Be­frei­er emp­fan­gen. Es emp­fing sie wie Raub­tie­re. Ein mit den Er­bin­stink­ten der Ras­se ver­trau­ter Psy­cho­lo­ge hät­te die­sen Empfang leicht vor­aus­se­hen kön­nen.  <<<

Die Massen und der Staatsmann

Die Kennt­nis der Psy­cho­lo­gie der Mas­sen ist heu­te das letz­te Hilfs­mit­tel für den Staats­mann, der die­se nicht etwa be­herr­schen — das ist zu schwie­rig ge­wor­den —, aber we­nigs­tens nicht all­zu sehr von ih­nen be­herrscht wer­den will.

Die Mas­sen­psy­cho­lo­gie zeigt, wie au­ßer­or­dent­lich we­nig Ein­fluss Ge­set­ze und Ein­rich­tun­gen auf die ur­sprüng­li­che Na­tur der Mas­sen ha­ben und wie un­fä­hig die­se sind, Mei­nun­gen zu ha­ben au­ßer je­nen, die ih­nen ein­ge­flö­ßt wur­den; Re­geln, wel­che auf rein be­griff­li­chem Er­mes­sen be­ru­hen, ver­mö­gen sie nicht zu lei­ten. Nur die Ein­drücke, die man in ihre See­le pflanzt, kön­nen sie ver­füh­ren. Darf z.B. ein Ge­setz­ge­ber, der eine neue Steu­er auf­le­gen will, die theo­re­tisch ge­rech­tes­te wäh­len? Kei­nes­falls. Die un­ge­rech­tes­te kann prak­tisch für die Mas­sen die bes­te sein, wenn sie am un­auf­fäl­ligs­ten und leich­tes­ten in Er­schei­nung tritt. Auf die­se Wei­se wird eine noch so hohe in­di­rek­te Steu­er al­le­zeit von der Mas­se an­ge­nom­men wer­den. Wenn sie täg­lich pfen­nig­wei­se für Kon­sumar­ti­kel ent­rich­tet wird, stört sie die Ge­wohn­hei­ten nicht und be­ein­flusst sie we­nig. Man lege an ih­rer Stel­le eine pro­por­tio­na­le, auf ein­mal zu ent­rich­ten­de Steu­er auf die Löh­ne oder an­de­ren Ein­kom­men, mag sie auch theo­re­tisch zehn­mal we­ni­ger hart sein als die an­de­re, so wird sie hef­ti­gen Wi­der­spruch er­re­gen. An Stel­le der täg­li­chen Pfen­ni­ge, die man nicht spürt, tritt näm­lich eine ver­hält­nis­mä­ßig hohe Geld­sum­me, die am Zahl­tag rie­sig groß er­scheint und sehr nach­drück­lich emp­fun­den wird. Sie wäre nur dann un­be­merkt ver­braucht wor­den, wenn sie Pfen­nig für Pfen­nig zur Sei­te ge­legt wor­den wäre; aber ein so wirt­schaft­li­ches Ge­ba­ren wür­de ein Maß von Voraus­sicht be­wei­sen, des­sen die Mas­sen un­fä­hig sind.

Dies Bei­spiel ent­hüllt son­nen­klar ihre geis­ti­ge Ver­fas­sung. Ei­nem Psy­cho­lo­gen wie Na­po­le­on ist sie nicht ent­gan­gen, aber die Ge­setz­ge­ber, wel­che die Mas­sen­see­le nicht be­ach­ten, wür­den sie nicht ver­ste­hen. Die Er­fah­rung hat ih­nen noch nicht ge­nü­gend be­wie­sen, dass die Men­schen sich nie­mals von den Vor­schrif­ten der rei­nen Ver­nunft lei­ten las­sen.

So lie­ße sich die Mas­sen­psy­cho­lo­gie noch auf vie­les an­de­re an­wen­den. Ihre Kennt­nis wirft hells­tes Licht auf zahl­rei­che his­to­ri­sche und öko­no­mi­sche Er­schei­nun­gen, die ohne sie völ­lig un­ver­ständ­lich blei­ben.

Selbst wenn es le­dig­lich das In­ter­es­se uns­rer Neu­gier be­frie­dig­te, ver­dien­te das Stu­di­um der Mas­sen­psy­cho­lo­gie in An­griff ge­nom­men zu wer­den, denn es ist eben­so in­ter­essant, die Trieb­kräf­te der mensch­li­chen Hand­lun­gen zu ent­rät­seln, wie die ei­nes Mi­ne­rals oder ei­ner Pflan­ze.

Un­ser Stu­di­um der Mas­sen­see­le wird nur einen kur­z­en Über­blick, eine blo­ße Zu­sam­men­fas­sung uns­rer Un­ter­su­chun­gen bie­ten kön­nen. Man darf von ihr nicht mehr als ei­ni­ge an­re­gen­de Ge­sichts­punk­te ver­lan­gen. An­de­re wer­den das Ge­biet bes­ser be­ar­bei­ten.1 Heu­te ist es noch jung­fräu­li­cher Bo­den, den wir be­a­ckern.


  1. Die we­ni­gen Au­to­ren, die sich mit dem Stu­di­um der Psy­cho­lo­gie der Mas­sen ab­ge­ben, ha­ben ihre Un­ter­su­chun­gen nur hin­sicht­lich der Ver­bre­chen an­ge­stellt. Da ich die­sem Stoff­ge­biet nur ein kur­z­es Ka­pi­tel ge­wid­met habe, so ver­wei­se ich den Le­ser auf die Ar­bei­ten von Tar­de und die Schrift von Sig­he­le: »Die ver­bre­che­ri­sche Mas­se«. Die letz­te­re Ar­beit ent­hält kei­nen ein­zi­gen neu­en Ge­dan­ken des Au­tors, gibt aber eine Zu­sam­men­stel­lung von Tat­sa­chen, die der Psy­cho­lo­ge ver­wer­ten kann. Üb­ri­gens sind mei­ne Schluss­fol­ge­run­gen be­treffs der Kri­mi­na­li­tät und Mora­li­tät der Mas­sen de­nen der bei­den Au­to­ren, die ich nann­te, ganz ent­ge­gen­ge­setzt. Man wird in mei­nen ver­schie­de­nen Ar­bei­ten, be­son­ders in mei­ner Schrift »Die Psy­cho­lo­gie des So­zia­lis­mus« ei­ni­ge Er­geb­nis­se aus den Ge­set­zen fin­den, wel­che die Mas­sen­psy­cho­lo­gie be­herr­schen. Die­se Ge­set­ze las­sen sich au­ßer­dem auf den ver­schie­dens­ten Ge­bie­ten an­wen­den. Der Di­rek­tor des Kö­nig­li­chen Kon­ser­va­to­ri­ums in Brüs­sel, A. Ge­vaert, hat von den Ge­set­zen, die ich in ei­ner Ab­hand­lung über Mu­sik dar­leg­te, wel­che er tref­fend als »Mas­sen­kunst« be­zeich­ne­te, eine be­mer­kens­wer­te An­wen­dung ge­macht. »Ihre bei­den Schrif­ten«, schrieb mir die­ser aus­ge­zeich­ne­te Leh­rer bei Über­sen­dung sei­ner Ab­hand­lung, »ha­ben mir die Lö­sung ei­nes von mir frü­her als un­lös­lich be­trach­te­ten Pro­blems ge­bracht: die er­staun­li­che Eig­nung je­der Mas­se, ein neu­es oder al­tes, ein ein­hei­mi­sches oder frem­des, ein ein­fa­ches oder zu­sam­men­ge­setz­tes Ton­stück zu emp­fin­den, vor­aus­ge­setzt, dass es schön ge­spielt wird, und dass die Mu­si­ker einen be­geis­ter­ten Di­ri­gen­ten ha­ben.« Herr Ge­vaert zeigt vor­treff­lich, warum »ein Werk, wel­ches aus­ge­zeich­ne­ten Mu­si­kern bei Durch­sicht der Par­ti­tur in der Ein­sam­keit ih­res Zim­mers un­ver­ständ­lich blieb, oft von ei­nem je­der tech­ni­schen Bil­dung er­man­geln­den Au­di­to­ri­um ohne wei­te­res er­fasst wird«. Eben­so aus­ge­zeich­net er­klärt er, wes­halb die­se äs­the­ti­schen Ein­drücke kei­ner­lei Spu­ren hin­ter­las­sen.  <<<

Erstes Buch: Die Massenseele

1. Ka­pi­tel: All­ge­mei­ne Kenn­zei­chen der Mas­sen — Das psy­cho­lo­gi­sche Ge­setz von ih­rer see­li­schen Ein­heit

Was kenn­zeich­net eine Mas­se vom psy­cho­lo­gi­schen Ge­sichts­punkt — Eine zah­len­mä­ßi­ge Men­ge von Ein­zel­nen bil­det noch kei­ne Mas­se — Be­son­de­re Ei­gen­tüm­lich­kei­ten der psy­cho­lo­gi­schen Mas­sen — Un­ver­än­der­li­che Rich­tung der Ge­dan­ken und Ge­füh­le der ein­zel­nen, die sie bil­den, und Aus­lö­schung ih­rer Per­sön­lich­keit — Die Mas­se wird stets vom Un­be­wuss­ten be­herrscht — Zu­rück­tre­ten des Ge­hirn­le­bens und Vor­herr­schen des Rücken­markle­bens — Ver­min­de­rung des Ver­stan­des und völ­li­ge Um­wand­lung der Ge­füh­le — Die ver­än­der­ten Ge­füh­le kön­nen bes­ser oder schlech­ter sein als die der ein­zel­nen, aus de­nen die Men­ge be­steht — Die Mas­se wird eben­so­leicht hel­den­haft wie ver­bre­che­risch

2. Ka­pi­tel: Ge­füh­le und Sitt­lich­keit der Mas­sen

§ 1. Trieb­haf­tig­keit, Be­weg­lich­keit und Er­reg­bar­keit der Mas­sen — Die Mas­se ist der Spiel­ball al­ler äu­ße­ren Rei­ze, de­ren un­auf­hör­li­che Schwan­kun­gen sie wi­der­spie­gelt — Die An­trie­be, de­nen sie ge­hor­chen, sind so ge­bie­te­risch, dass der per­sön­li­che Vor­teil zu­rück­tritt — Bei den Mas­sen ist nichts vor­be­dacht — Wir­kungs­kraft der Ras­se

§ 2. Be­ein­fluss­bar­keit und Leicht­gläu­big­keit der Mas­sen — Ihre Emp­fäng­lich­keit für Be­ein­flus­sun­gen — Die in ih­rem Ge­müt her­vor­ge­ru­fe­nen Bil­der wer­den für Wirk­lich­keit ge­hal­ten — Wa­rum die­se Bil­der für alle ein­zel­nen, aus de­nen eine Mas­se be­steht, gleich­ar­tig sind — An­glei­chung der Ge­lehr­ten und des Ein­fäl­ti­gen in ei­ner Mas­se — Ver­schie­de­ne Bei­spie­le von Täu­schun­gen, de­nen alle Mit­glie­der in ei­ner Mas­se un­ter­lie­gen — Un­mög­lich­keit, der Zeu­gen­schaft der Mas­sen ir­gend­wel­chen Glau­ben bei­zu­mes­sen — Die Ein­mü­tig­keit zahl­rei­cher Zeu­gen ist ei­ner der schlech­tes­ten Be­wei­se, den man zur Er­här­tung ei­ner Tat­sa­che bei­brin­gen kann — Ge­rin­ger Wert der Ge­schichts­wer­ke

§ 3. Über­schwang und Ein­sei­tig­keit der Mas­sen­ge­füh­le — Die Mas­sen ken­nen we­der Zwei­fel noch Un­ge­wiss­heit und er­ge­hen sich stets in Über­trei­bun­gen — Ihre Ge­füh­le sind stets über­schwäng­lich

§ 4. Un­duld­sam­keit, Herrsch­sucht und Kon­ser­va­tis­mus der Mas­sen — Ur­sa­chen die­ser Ge­füh­le — Un­ter­wür­fig­keit der Mas­sen vor ei­ner star­ken Macht — Die au­gen­blick­li­chen re­vo­lu­tio­nären Trie­be der Mas­sen hin­dern sie nicht, höchst rück­stän­dig zu sein — Sie sind in­stink­tiv Fein­de von Ver­än­de­rung und Fort­schritt

§ 5. Sitt­lich­keit der Mas­sen — Die Sitt­lich­keit der Mas­sen kann je nach den Ein­flüs­sen viel nied­ri­ger oder viel hö­her sein als die der ein­zel­nen, die sie bil­den — Er­klä­rung und Bei­spie­le — Die Mas­sen wer­den sel­ten durch den Ei­gen­nutz ge­lei­tet, der meist den ein­zi­gen An­trieb für den ein­zel­nen bil­det — Ver­sitt­li­chen­de Wir­kung der Mas­sen

3. Ka­pi­tel: Ide­en, Ur­tei­le und Ein­bil­dungs­kraft der Mas­sen

§ 1. Die Ide­en der Mas­sen — Grund­le­gen­de und ne­ben­säch­li­che Ide­en — Wie ent­ge­gen­ge­setz­te Vor­stel­lun­gen gleich­zei­tig be­ste­hen kön­nen — Wand­lun­gen, die die hö­he­ren Ide­en durch­ma­chen müs­sen, um für die Mas­sen an­nehm­bar zu wer­den — Die so­zia­le Be­deu­tung der Vor­stel­lun­gen ist un­ab­hän­gig von dem Wahr­heits­ge­halt, den sie in sich tra­gen kön­nen.

§ 2. Die Ur­tei­le der Mas­sen — Die Mas­sen sind nicht durch Be­weis­grün­de zu be­ein­flus­sen — Die Ur­tei­le der Mas­sen sind stets sehr nied­ri­ger Art — Die Vor­stel­lun­gen, die sie as­so­zi­ie­ren, ha­ben nur den Schein von Ana­lo­gie und Fol­ge­rich­tig­keit

§ 3. Die Ein­bil­dungs­kraft der Mas­sen — Macht der Mas­sen­fan­ta­sie — Sie den­ken in Bil­dern, die ohne jeg­li­che Ver­bin­dung auf­ein­an­der fol­gen — Die Mas­sen nimmt be­son­ders die wun­der­ba­re Seit der Din­ge ge­fan­gen — Das Wun­der­ba­re und das Sa­gen­haf­te sind die wah­ren Trä­ger der Kul­tu­ren — Die Volks­fan­ta­sie war stets der Stütz­punkt der Macht al­ler Staats­män­ner — Auf wel­che Wei­se die Tat­sa­chen auf die Ein­bil­dungs­kraft der Mas­sen Ein­druck ma­chen kön­nen

4. Ka­pi­tel: Die re­li­gi­ösen For­men, die alle Über­zeu­gun­gen der Mas­se an­neh­men

Wo­durch das re­li­gi­öse Ge­fühl ge­bil­det wird — Es ist un­ab­hän­gig von der An­be­tung ei­ner Gott­heit — Sei­ne Merk­ma­le — Macht der Über­zeu­gun­gen, die re­li­gi­öse For­men an­ge­nom­men ha­ben — Ver­schie­de­ne Bei­spie­le — Die Volks­göt­ter sind nie ganz ver­schwun­den — Neue For­men ih­rer Wie­der­ge­burt — Re­li­gi­öse For­men des Athe­is­mus — Be­deu­tung die­ser Be­grif­fe in his­to­ri­scher Hin­sicht — Die Re­for­ma­ti­on, die Bar­tho­lo­mäus­nacht, die Schre­ckens­ta­ge und alle ähn­li­chen Er­eig­nis­se sind die Fol­gen der re­li­gi­ösen Ge­füh­le der Mas­sen und nicht des Wil­lens ein­zel­ner Per­sön­lich­kei­ten

1. Kapitel: Allgemeine Kennzeichen der Massen.

Das psy­cho­lo­gi­sche Ge­setz von ih­rer see­li­schen Ein­heit — Was kenn­zeich­net eine Mas­se vom psy­cho­lo­gi­schen Ge­sichts­punkt — Eine zah­len­mä­ßi­ge Men­ge von Ein­zel­nen bil­det noch kei­ne Mas­se — Be­son­de­re Ei­gen­tüm­lich­kei­ten der psy­cho­lo­gi­schen Mas­sen — Un­ver­än­der­li­che Rich­tung der Ge­dan­ken und Ge­füh­le der ein­zel­nen, die sie bil­den, und Aus­lö­schung ih­rer Per­sön­lich­keit — Die Mas­se wird stets vom Un­be­wuss­ten be­herrscht — Zu­rück­tre­ten des Ge­hirn­le­bens und Vor­herr­schen des Rücken­markle­bens — Ver­min­de­rung des Ver­stan­des und völ­li­ge Um­wand­lung der Ge­füh­le — Die ver­än­der­ten Ge­füh­le kön­nen bes­ser oder schlech­ter sein als die der ein­zel­nen, aus de­nen die Men­ge be­steht — Die Mas­se wird eben­so­leicht hel­den­haft wie ver­bre­che­risch

Was ist eine Masse?

Im ge­wöhn­li­chen Wort­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­