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Helmut Müller-Enbergs • Armin Wagner (Hg.) Spione und Nachrichtenhändler

Helmut Müller-Enbergs • Armin Wagner (Hg.)


Spione und
Nachrichtenhändler

Geheimdienst-Karrieren in
Deutschland 1939–1989

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1. Auflage, März 2016
entspricht der 1. Druckauflage von März 2016
© Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de
Covergestaltung: Stephanie Raubach, Ch. Links Verlag, Berlin
Coverabbildung: Ausschnitt aus dem Porträtfoto von Heinrich von zur
Mühlen aus der Zeit um 1950 aus dem Privatarchiv von Rainer von zur Mühlen

ISBN 978-3-86284-327-5

Inhalt

Eine »geheime« deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts

Zehn Biographien der Epoche
von Armin Wagner und Helmut Müller-Enbergs

Hermann Baun (18971951)

Der gescheiterte Spionagechef
von Magnus Pahl

Josef Adolf Urban (18971973)

Einsamer Rekord – Im Sold eines guten Dutzends Nachrichtendienste
von Matthias Ritzi und Erich Schmidt-Eenboom

Heinrich von zur Mühlen (19081994)

Historiker, Experte für »Volkstum« und Geheimdienstler
von Enrico Heitzer

Maurice Picard (19071979)

Ein Franzose als Diener vieler Herren
von Michael Mueller

Martin Riedmayr (1896–1989)

Vom Freikorps Epp zum Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz
von Susanne Meinl und Marcus Schreiner-Bozic

Ewert von Dellingshausen (19091996)

Ein baltendeutscher Antikommunist im Dienste der »Psychologischen Kriegführung«
von Stefan Creuzberger

Kurt Behnke (18991964)

Gehlens gescheiterte Jagd: Ein Bundesrichter als Agent der DDR-Staatssicherheit?
von Helmut Müller-Enbergs und Erich Schmidt-Eenboom

Hans-Joachim Bamler (1925–2015)

Vergessene Quellen der MfS-Spionage in Paris
von Helmut Müller-Enbergs

Joachim Krase (19251988)

Ein »unscheinbarer grauer Oberst«: Der MAD-Vize als IM der Stasi
von Helmut R. Hammerich

Hildegard Zickmann (19252010)

Die Dresdner »Delikatessen-Spionin« und der amerikanische Geheimdienst
von Armin Wagner

Nachrichtendienste und ihre Akteure in Deutschland

Zehn Beobachtungen zum Zeitalter der Extreme
von Armin Wagner und Helmut Müller-Enbergs

Anhang

Ausgewählte Literatur

Abbildungsnachweis

Abkürzungsverzeichnis

Personenregister

Zu den Autoren

Eine »geheime« deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts

Zehn Biographien der Epoche

von Armin Wagner und Helmut Müller-Enbergs

Spione haben im 20. Jahrhundert Bekanntheit und sogar Popularität gewonnen – die echten wie die erdachten. An James Bond kommt das Kino seit 50 Jahren nicht vorbei. Mata Hari und Oberst Redl verschwinden als echte Menschen hinter den um sie geknüpften Geschichten. Der weitaus größere Teil jener Angehörigen des »zweitältesten Gewerbes« hat jedoch nicht nur im Verborgenen gewirkt, sondern ist niemals bekannt geworden – oder ist nur wenigen Fachleuten ein Begriff. Von solchen Akteuren im Schatten der Öffentlichkeit erzählen die zehn Porträts dieses Buches. Es sind »Lebensläufe der zweiten Reihe«1: nicht nur von Spionen nach klassischer Vorstellung, sondern auch von freien Nachrichtenhändlern, Propagandafachleuten und Ministerialbeamten in Diensten geheimer Politik. Die hier dargestellten Personen – neun Männer und eine Frau – stehen beispielhaft für Menschen in einer politischen oder persönlichen Umbruchsituation, für Idealisten und Pragmatiker des nachrichtendienstlichen Geschäfts, für politisch Überzeugte oder zufällig Anheimgefallene. Sie demonstrieren die Vielfalt der im geheimen Auftrag Handelnden, abseits der literarisch wie wissenschaftlich oft skizzierten charismatischen Chefs und berühmten Meisterspione.

Die – ohnehin nicht scharf definierte – »Profession« der Spionage und der subversiven Propaganda wird nicht durch einen einzelnen Sozialtypus geprägt; stattdessen besetzen unterschiedliche Charaktere und Typen ebenso unterschiedliche Rollen im nachrichtendienstlichen Milieu. Informanten, die auf keiner Planstelle geführt, im Budget aber dennoch veranschlagt wurden, hatten wenig gemein mit den Bürokraten in den administrativen Zentralabteilungen der geheimen Dienste. Diese besaßen ihrerseits nur geringe inhaltliche Berührungspunkte mit den hauptamtlichen Vorgangs- bzw. Fallführern oder analytisch geschulten Auswertern.

Diese Vielfalt begründet den Mehrwert der Biographie als Darstellungsform für die Geschichtswissenschaft. Sie hebt den Menschen aus dem geschichtlichen Ganzen als Individuum heraus – und verordnet ihn zugleich »im Kontext von Gesellschaft, Machtapparaten und Institutionen«.2 Neben die allgemeine historische Einbettung von individuellen Lebensgeschichten tritt hier die Verknüpfung von Geheimdienstgeschichte mit dem Feld der Internationalen Beziehungen: Nationalstaaten verfolgen ihre Eigeninteressen, die sie vor anderen – auch befreundeten – Ländern schützen wollen. Auf dieses nationale Interesse gründet sich das nachrichtendienstliche Handeln eines Staates. Die doppelte Perspektive von biographischen Motiven und staatlichen Interessen ist unabdingbare Voraussetzung dafür, historische Prozesse verständlich zu machen, die Spionage und geheimen Nachrichtenhandel zum Thema haben. Hinzu kommen weitere Einflussfaktoren wie zum Beispiel: die öffentliche Meinung über geheime Nachrichtendienste; die technologische Entwicklung, die neue Spionagepraktiken (oder deren Abwehr) ermöglicht; kulturell gewachsene Einflüsse auf nachrichtendienstliches Handeln – so galt in deutschen Armeen die an sich eminent wichtige Feindaufklärung traditionell weniger als die »Meisterdisziplin« der eigenen Operationsführung. Spione und Nachrichtenhändler gingen also nicht nur einem Handwerk nach, dessen »Thrill« sich in der Rückschau aus dem Geheimnis, der Konspiration, dem offenbar ganz Anderen gegenüber sonstigen Lebensentwürfen entwickelt. Sie handeln stets, wie die Beiträge dieses Buches zu verdeutlichen suchen, unter gesellschaftlichen Umständen, die ihr Tun erst hervorbringen oder ermöglichen.

Das Beispiel Emil Hoffmann: Kein echter Spion

Das Erkenntnispotential der hier versammelten Porträts liegt darin, dass die Nachzeichnung der Lebenswege es ermöglicht, »politische Strukturen, Prozesse oder Mentalitäten einer Zeit«3 in exemplarischer Weise aufzuzeigen. Ein Beispiel soll das illustrieren, das den folgenden zehn Biographien vorangestellt wird. Es macht pars pro toto deutlich, wie wenig linear sich geheimdienstliches Wirken zeigen konnte. Warum geriet ein Mann, der sich zunächst als Publizist in Joseph Goebbels’ (1897–1945) Reichministerium für Volksaufklärung und Propaganda verdingte, über fast ein halbes Jahrhundert in den Geheimdienstdschungel zwischen Ost und West?

Ohne der SS anzugehören, wurde Emil Hoffmann (1911–1995) für deren Auslandsnachrichtendienst im Zweiten Weltkrieg auf dem Balkan tätig. Nach dem Krieg arbeitete er offenbar sowohl für die Briten als auch für die Sowjets als Informant. Als sich der promovierte Jurist, Publizist und Geschäftsmann Hoffmann nach 1945 dem frühen Ost-West-Handel zuwandte und sich politisch nicht für die Westbindung der jungen Bundesrepublik, sondern für eine damals durchaus populäre neutralistische Position zwischen den politischen Blöcken entschied, wurden neben dem sowjetischen Geheimdienst die gerade gegründete US-amerikanische Central Intelligence Agency (CIA) und der Abwehrdienst der U.S. Army auf ihn aufmerksam. Die neuen ost- und westdeutschen Dienste interessierten sich ebenfalls für ihn, darunter das Bundesamt für Verfassungsschutz und das Bundeskriminalamt – ohne jedoch dem Verdächtigen eine geheime Verbindung zum politischen Gegner im Osten oder gar Landesverrat vorwerfen zu können.4 Auch das Ministerium für Staatssicherheit der DDR (MfS) behielt ihn seit den 1950er Jahren, in denen er für westdeutsche und schwedische Firmen als Berater im Ost- und Südosteuropageschäft tätig war, im Blick. Von 1962 bis 1965 lebte er in West-Berlin, dann bis 1988 in Wien.

Emil Hoffmann wäre niemals auf klassischem Wege als regulärer Geheimdienstmitarbeiter zu gewinnen gewesen. Zu diesem Ergebnis kamen sowohl das MfS als auch die CIA. Und auch der militärische Nachrichtendienst der Nationalen Volksarmee der DDR musste das erfahren, als er seinerseits versuchte, Hoffmann 1961 anzuwerben. Stattdessen spielte dieser in souveräner Weise mit den Erwartungen des Westens wie des Ostens. Für mehr oder weniger öffentlich zugängliche Informationen, die Hoffmann ohne allzu großen Aufwand beschaffte und weiterleitete, nutzte er seine gewonnenen Kontakte in alle Richtungen und suchte daraus seinen persönlichen Vorteil zu gewinnen. Nach vielen Bemühungen verschiedener Dienste um den gewieften Geschäftsmann, der sich im Interzonenhandel über die Blockgrenzen des Kalten Krieges hinweg stets relativ frei bewegen konnte, hat sich Hoffmann offensichtlich erst nach seiner Zurruhesetzung Mitte der 1970er Jahre der Hauptverwaltung A (HV A), also dem zentralen Auslandsnachrichtendienst des MfS, als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) verpflichtet.5 Sein wichtigster Grund hierfür mag ein klarer Antiamerikanismus gewesen sein. Wie auch eine antikommunistische Einstellung als wesentliches Motiv für die konspirative Zusammenarbeit ost- und westdeutscher Bürger mit dem Westen existierte, gab es eine Zusammenarbeit mit den östlichen Diensten nicht aus pro-marxistischer Überzeugung, sondern in tiefer Ablehnung der US-Politik. Der Patriot Hoffmann machte Washington für das Fortdauern der deutschen Teilung verantwortlich. Ein weiterer Grund für seine Verpflichtungserklärung mögen finanzielle Erwägungen gewesen sein.

Für die Desinformationsabteilung der MfS-Auslandsaufklärung tat der ehemalige Goebbels-Propagandist das, was er, 1963 bis 1976 Chefredakteur des Fachblattes »Welthandelsinformationen«, am besten konnte: Er schrieb – unter anderem ein Buch über den vermeintlich völkerrechtswidrigen Betrieb von Radio Free Europe/Radio Liberty. Dieser amerikanische Rundfunksender, der bis zum Frühjahr 1972 direkt von der CIA finanziert wurde, strahlte aus München Programme für die osteuropäischen Länder aus und suchte den »Geist der Freiheit« über den Äther im Ostblock zu verbreiten. Hoffmanns Werk wurde in der Bundesrepublik in einem DDR-nahen Verlag veröffentlicht. Selbst als Lohnschreiber in Diensten des MfS behielt er jedoch seinen eigenen Willen, indem er sich nicht an die Regieanweisungen aus Ost-Berlin hielt. So stellte er entgegen der Absicht des DDR-Staatssicherheitsdienstes sein Pamphlet gegen die amerikanischen Propaganda-Programme in einen größeren Zusammenhang, indem er auch vermeintliche US-Desinformationskampagnen gegen den seit 1979 islamisch regierten Iran thematisierte.

Nach der deutschen Einheit wandte Hoffmann sich schließlich der Neuen Rechten im vereinten Vaterland zu – womit er politisch in gewisser Weise dorthin zurückkehrte, wo er aus seinen ursprünglich nationalrevolutionären Wurzeln der 1930er Jahre6 hergekommen war.

Emil Hoffmann ist in mancher Hinsicht typisch für die Biographien im vorliegenden Buch. Seine Tätigkeit als Propagandafachmann, die er in veränderter Form über die Jahrzehnte immer wieder aufgreifen sollte, begann Ende der 1930er Jahre. Kontakte ins nachrichtendienstliche Milieu besaß er von der ersten Hälfte der vierziger bis in die achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts. In seiner Weltanschauung stellte er Deutschland in den Mittelpunkt, vor 1945 wie auch danach. Hoffmanns Denken blieb also – dank seiner publizistischen Tätigkeit ist das gut rekonstruierbar – in wesentlichen Punkten unverändert. Sein Handeln erscheint als eine taktische Anpassungsleistung. Er war Zuträger für Nachrichtendienste in Ost und West, aber kein »echter« Spion – eher ein »Nachrichtenhändler«: zwischen beiden Blöcken verkaufte er in gelegentlicher geheimdienstlicher Tätigkeit materielle Güter ebenso wie Informationen. Ein Grenzgänger zwar, doch einer, der sich eine gediegene berufliche Existenz aufgebaut hatte und bei dem sich die östlichen wie die westlichen Dienste nie ganz sicher waren, ob sie ihn besser »neutralisieren« oder rekrutieren sollten.

Geheimdienste und nachrichtendienstliche Tätigkeit in Deutschland nach 1945

Der Kalte Krieg habe die Welt in dreifacher Hinsicht umgestaltet, meinte der britische Historiker Eric Hobsbawm (1917–2012), zeitlebens bekennender Marxist, in »Das Zeitalter der Extreme«, seinem bedeutenden Werk über das 20. Jahrhundert: Während dessen Dauer sei die internationale Lage eingefroren gewesen, denn die Auseinandersetzung der beiden Supermächte USA und UdSSR habe alle anderen Konflikte überlagert und den Status quo provisorisch stabilisiert. Der Kalte Krieg habe trotz dieser Stabilisierung die Welt mit Waffen überschwemmt (welche dann die vielen kleinen Kriege und Krisen besonders in der Dritten Welt befeuerten). Und, zuallererst, habe er jene Konflikte und Rivalitäten beseitigt, die vor dem Zweiten Weltkrieg die Weltpolitik prägten.7

London und Paris hatten allerdings ihre eigene Sicht auf die Bedeutung des Kalten Krieges: »So würden etwa die meisten französischen Zeithistoriker die äußerst gewaltsam verlaufende und von innenpolitischen Krisen begleitete Entkolonialisierung eher als Leitmotiv zur Charakterisierung des Frankreichs der 1950er Jahre nennen und den Kalten Krieg lediglich als weiteren Begleitumstand anführen.«8 Am Ende verloren neben Großbritannien und der Grande Nation auch alle anderen europäischen Länder ihre Kolonien, soweit sie solche gehabt hatten; ein Ablösungsprozess, der zwar erst ab 1947 – mit der Unabhängigkeit Indiens und Pakistans – konkret wurde, sich aber schon im Ergebnis des Ersten Weltkrieges ankündigt hatte.9 Und die Blockkonfrontation des Kalten Krieges war langfristig als östlich-westlicher Systemgegensatz bereits mit der Oktoberrevolution von 1917 angelegt – hier mag Hobs- bawms These von der Eliminierung der Vorkriegskonflikte nach 1945 nicht in jeder Hinsicht einleuchten.10

Für die im staatlichen Auftrag arbeitenden Nachrichtendienste bedeutete der Kalte Krieg einen enormen Zuwachs an finanzieller Alimentierung, Personal und technischer Ausstattung. Die Professionalisierung der Dienste hatte bereits nach dem Ersten Weltkrieg einen Schub erfahren, bemerkenswert früh und erfolgreich in der jungen Sowjetunion. Im »Dritten Reich« wurden verschiedene Geheimdienste in der militärischen Feindaufklärung, in der Nachrichtenauswertung und in den Repressionsmaßnahmen gegen die Bevölkerung der ab 1939 besetzten Gebiete aktiv.11 Über die Leistungsfähigkeit dieser Apparate ist viel diskutiert worden. Insbesondere im deutschen Heer galt der sogenannte Ic-Dienst, also die Befassung mit dem Gegner und die Sammlung von Informationen über dessen Gliederung, Personal, Fähigkeiten und Absichten, deutlich weniger als das klassische Feld der Operationsführung – dort wurden die Karrieren gemacht. Entscheidender für den nachrichtendienstlichen Nutzen war ein Problem, das auch für die sowjetische Diktatur galt: Adolf Hitler (1889–1945) wollte wie Josef Stalin (1878–1953) keine Meldungen hören oder akzeptieren, die nicht in sein autokratisches Weltbild passten.12

Mit der Besetzung Osteuropas und Deutschlands bis zur Elbe waren auch die verschiedenen sowjetischen »Organe« in diese Länder eingerückt. In der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) gehörte zu deren vielfältigen Aufgaben die Suche nach führenden Angehörigen nationalsozialistischer Organisationen, nach dem Personal des NS-Sicherheits-apparates, nach Kriegsverbrechern, aber auch nach russischen Emigranten der Zwischenkriegszeit. Die eingerichteten Speziallager für erkannte und erklärte Gegner – darunter neben überzeugten Nationalsozialisten auch viele alte Demokraten – waren zu bewachen. Die Aufmerksamkeit wandte sich zudem der Kontrolle der eigenen Truppen auf ostdeutschem Boden zu, die bis zu ihrem Abzug 1994 in wechselnden Konjunkturen mehrere Hunderttausend Mann umfassten. Das Ziel all dieser Aktivitäten war die komplette politische Kontrolle und die Sowjetisierung der eigenen Besatzungszone. Sichergestellt wurde dies zunächst durch die Sowjetische Militäradministration und die Dienste in deren Funktion als politische Geheimpolizei und militärische Abwehr sowie als Schutz- und Wachpersonal.13 Parallel dazu begann unter Aufsicht der Besatzungsmacht der Aufbau von Sicherheitsorganen der SED-Regierung. Diese Maßnahmen mündeten 1950 in die Gründung des MfS. So wie die Organisation Gehlen (Org) erst 1956 in den Dienst der Bundesrepublik überführt und vorher aus Washington angeleitet und finanziert wurde, musste die SED-Spitze in dieser Zeit die dominierende Präsenz sowjetischer Geheimdienstberater im MfS akzeptieren. Bis zum allmählichen Abzug dieser Berater 1957 kann daher nicht »von einer auch nur halbwegs selbständigen Staatssicherheitspolitik der SED« ausgegangen werden.14 Insofern verlief der politische Autonomieprozess deutscher Geheimdienste nach Gründung beider Staaten 1949 in Ost und West ähnlich zögerlich.

Die USA lösten bei Kriegsende ihren zentralen Geheimdienst, das Office of Strategic Services (OSS), auf. Nur ein Bruchteil des Personals wurde von verbliebenen Diensteinheiten mit ähnlicher Aufgabenstellung übernommen. Sehr schnell jedoch setzte sich die Erkenntnis durch, dass mit der Niederlage Hitler-Deutschlands der Bedarf an Informationen nichtöffentlicher Natur keineswegs obsolet geworden war. Die verbliebenen US-Geheimdienstpraktiker, insbesondere jene, die an Schnittstellen des aufziehenden Kalten Krieges in Berlin oder Wien saßen, erkannten rasch den Bedarf an Material über die Sowjets und ihre Truppen in Ostdeutschland und Mittelosteuropa.15 Noch 1945 wurde deshalb der Nukleus eines neuen Auslandsgeheimdienstes geschaffen, aus dem 1947 die CIA hervorging. Währenddessen war in Deutschland die Spionageabwehr der U.S. Army, das Counter Intelligence Corps (CIC), bereits sehr aktiv – wobei sich dessen Aufmerksamkeit zunächst auf die Suche nach verbliebenen nationalsozialistischen Strukturen richtete, die als Gefahr für die alliierte Besatzungsherrschaft im besiegten Deutschland galten.

Viel früher als die Amerikaner hatten die Briten ihre Aufmerksamkeit der Sowjetunion zugewandt; das galt weniger für die Diplomaten Seiner Majestät als für die Nachrichtendienstler und den Generalstab. Bereits im Sommer 1944 begann M[ilitary] I[ntelligence] 6, der britische Auslandsgeheimdienst (auch Secret Intelligence Service, SIS), sich angesichts der abzusehenden Niederlage Hitler-Deutschlands für den neuen Gegner zu wappnen. Nach Kriegsende drängten vor allem die Stabschefs der Teilstreitkräfte – gegen führende Köpfe des Foreign Office – darauf, Moskaus Imperium als neue weltpolitische Herausforderung ernst zu nehmen. Um in großem Maße tätig werden zu können, fehlte allerdings das Geld, denn nach Kriegsende wurden in Großbritannien wie in den USA die Sicherheitsbudgets zunächst zusammengestrichen.

Operativ entwickelten die britischen Dienste, die bis zum Zweiten Weltkrieg als etwas altmodisch gegolten hatten, innovative Ansätze: Sie werteten erbeutete Bilder der deutschen Luftwaffe vom Westen der Sowjetunion aus sowie deutsche Geheimdienstberichte aus der Kriegszeit; sie befragten systematisch aus der UdSSR zurückkehrende deutsche Kriegsgefangene, sowjetische Überläufer und Flüchtlinge aus der SBZ. Schließlich wurden Wissenschaftler und Techniker aus dem Osten Deutschlands abgeworben.16 In den 1950er Jahren war die SIS-Station in West-Berlin die weltweit größte – eine beachtliche Tatsache, angesichts der damals in ihren Überseegebieten durch Unabhängigkeitsbewegungen herausgeforderten Kolonialmacht.

Besonders in der technologischen Spionage und in der Militäraufklärung gelang es den Briten, nennenswerte Ergebnisse zu erzielen: Zu den bekanntesten Operationen gehört der 1955/56 gemeinsam mit der CIA von West-Berlin aus angelegte Tunnel, mit dem ein zentrales Fernmeldekabel der Sowjets angezapft wurde. Die sowjetische Seite war durch den prominent platzierten Spion George Blake (*1922), der in der Berliner SIS-Station saß, zwar von Beginn an informiert, konnte dieses Wissen aber zum Schutz von Blake nicht sofort zum »Auffinden« des Tunnels nutzen. Daher flossen in der Operation GOLD/STOPWATCH auch echte sowjetische Informationen ab, weil das riesige Fernmelde- (und damit Abhör-)aufkommen nicht nur vorgetäuscht werden konnte. Der genaue Ertrag lässt sich ziemlich genau quantifizieren, es ist jedoch nicht abschließend bekannt, wie wertvoll die durch den Tunnel gewonnenen Erkenntnisse für CIA und MI 6 tatsächlich gewesen sind.17

Die nachrichtendienstlichen Interessen Frankreichs auf deutschem Boden gingen nach Beendigung des Krieges in zwei Richtungen: Für die politische Klasse in Paris und für die Öffentlichkeit stand eher eine Beaufsichtigung (West-) Deutschlands im Fokus. Dabei handelte es sich nicht vorrangig um die Kontrolle alter Nazis in dem Bestreben, das Fortleben der Ideologie des »Dritten Reiches« in deren Gesinnung und Handeln zu unterbinden. Prägend waren vielmehr Lehren aus der Zwischenkriegszeit, nämlich die praktische Prüfung der Entwaffnung und kompletten Demilitarisierung Deutschlands (hatten es die Deutschen doch verstanden, die militärischen Bestimmungen des Versailler Vertrages zu umgehen und später offen auszuhebeln). Besonderes Augenmerk galt daher auch der Überwachung der westdeutschen Wiederbewaffnung, zunächst im Zuge der Planungen für eine französisch-deutsch dominierte Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG). Nach deren Scheitern ging es der französischen Politik schließlich um eine funktionierende Kontrolle beim Aufbau der jungen Bundeswehr und deren Integration in die Strukturen der Nordatlantischen Vertragsgemeinschaft (NATO).

Französische Geheimdienstler wollen dagegen frühzeitig erkannt haben, dass es schon seit 1946 keine »deutsche Gefahr« durch das Überdauern von (para-)militärischen NS-Strukturen mehr gegeben habe. Stattdessen gerieten zunehmend die in der SBZ stehenden Teile der Roten Armee unter Beobachtung der Franzosen. Für Frankreichs geheime Aktionen galt dasselbe wie für die der Amerikaner und der Briten: »Deutschland war […] zugleich Operationsbasis für Vorbereitungsmaßnahmen zum Sturz der östlichen Regime, Überwachungsstätte der militärischen Bewegungen des Gegners und Nervenzentrum für das im Osten tätige Agentennetz.«18

NS-Belastete in den Geheimdiensten nach 1945

In Deutschland gab es für die Zeit nach 1945 eine schon damals erkennbare, erst recht heute sichtbar gewordene Kontinuität von NS-Personal. Nur vereinzelt, etwa beim 1950 gegründeten Ministerium für Staatssicherheit in der DDR, kam es zu einem personellen Bruch bei der Auswahl hauptamtlicher Mitarbeiter. Aber auch hier blieb der Umgang mit ehemaligen NS-Tätern durch Opportunitätsdenken und taktisches Kalkül bestimmt und nicht durch den unbedingten Willen zur grundsätzlichen Ahndung von NS-Gewaltdelikten.19 So wurden manche Angehörige dieses Personenkreises geheimpolizeilich verfolgt und gleichzeitig andere als Informanten genutzt. Im Sicherheitsapparat der jungen Bundesrepublik fanden dagegen viele Experten der geheimpolizeilichen und nachrichtendienstlichen Arbeit aus der Zeit vor 1945 unmittelbar Beschäftigung. Hinzu kamen die »Freischaffenden«: Sie machten sich, besonders in der Dekade nach 1945, als private Händler von tatsächlich oder vermeintlich interessantem Material bei den Diensten jedweder Couleur interessant – der eingangs exemplarisch skizzierte Emil Hoffmann etwa gehörte zu dieser Klientel. Schließlich waren es die amerikanischen Dienste selbst, die ehemalige Nazis, darunter hochrangige Vertreter aus dem Terror- und Repressionsapparat des »Dritten Reiches«, in ihre (informellen) Dienste nahmen.20

Eine zentrale Frage, die sich aus diesen personellen Querbezügen ergibt, muss folgerichtig lauten: Wie wurde die NS-Vergangenheit eines Teils des Personals – gerade der Gründergeneration – im westdeutschen Sicherheitsapparat selbst thematisiert, wie »die Konzeptionen und die Praxis« der Institutionen davon beeinflusst, kurz: Welchen Einfluss hatte die personelle Kontinuität zum »Dritten Reich« auf das Wirken der Apparate?21 Prägten die NS-Belasteten die Sicherheitsinstitutionen der Bundesrepublik nachhaltig, oder wurden sie gleichsam durch Steuerungsprozesse des Staatsapparates (Diensteid, Beamtengesetz, Arbeitsverträge, Gehalt, Beförderungen, Kollegen und Vorgesetzte ohne NS-Hintergrund) sowie behördeninterne Schweigeformeln »demokratiedienlich« umerzogen oder wenigstens neutralisiert? Auch wenn die wesentlichen Ergebnisse für den BND noch ausstehen, haben jüngere Forschungen die NS-Belastung des Personals im westdeutschen Sicherheitsapparat bereits sehr differenziert aufgezeigt.

So bestand etwa das Führungspersonal des BKA Ende der 1950er Jahre zu 90 Prozent aus Beamten, die schon in der NS-Zeit bei der Polizei gedient hatten. Drei Viertel von ihnen waren Mitglied der NSDAP, zwei Drittel Mitglied der SS gewesen. Noch zehn Jahre später war der Anteil an alten Parteigenossen mit 40 Prozent sehr hoch. Allerdings hatte in dieser Zeit auf Weisung des Bundesinnenministeriums eine Überprüfung stattgefunden, die zur Entfernung einer Reihe von besonders exponierten Mitarbeitern führte. Entscheidender für die Anschlussfähigkeit des BKA an den demokratischen Rechtsstaat war etwas anderes: Konzeptionell konnten die älteren Beamten ihre Bemühungen, polizeiliche Praktiken der Weimarer Republik und der NS-Zeit wieder aufzugreifen, letztlich nicht durchsetzen.22 Auch wenn es damals noch nicht zu einer offenen Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit kam, führten der politische Konformitätsdruck und die in den 1960er Jahren beginnende Modernisierung sowie der damit einhergehende Generationenwechsel dazu, dass die NS-Belasteten das BKA institutionell nicht nachhaltig prägen konnten.

Im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) hatten deutlich weniger Angehörige von Gestapo und Sicherheitsdienst der SS (SD) Anstellung gefunden als beim BKA und BND, wenngleich einige in den 1950er Jahren im Umfeld als Informanten oder »freie Mitarbeiter« wirkten. 1962 gab es unter den insgesamt zirka 700 Mitarbeitern des Amtes acht ehemalige Angehörige der Waffen-SS und 16 vormals im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) Beschäftigte, davon drei der zwölf Gruppenleiter und Referenten. Die meisten von ihnen wurden im Laufe des Jahres 1964 aus dem Amt versetzt, die letzten dieser 24 Männer bis 1967.

Obwohl das BfV 1963/64 zugeben musste, westalliierte Geheimdienste rechtswidrig bei der Telefon- und Postüberwachung von Bundesbürgern unterstützt zu haben, erwies sich bei dieser Gelegenheit doch, dass im BfV grundsätzlich die Identifizierung mit der zu schützenden Verfassung den Korpsgeist Ehemaliger überlagert hatte und eine langsame Liberalisierung des Dienstes wirksam wurde. Denn der Vorgang wurde aus den eigenen Reihen publik. »Ein geschlossen autoritär agierender Verfassungsschutz«, urteilt die Forschung, hätte dagegen »keine Affäre produziert, da sein Handeln den Blicken der Öffentlichkeit entzogen geblieben wäre.«23 Eng in das nationalsozialistische Regime Involvierte gab es jedoch auch unter jenen Mitarbeitern, die gar nicht der SS oder dem RSHA angehört hatten. Das galt zum Beispiel für den langjährigen Präsidenten des Amtes, Hubert Schrübbers (1907–1979), den seine Tätigkeit als Staatsanwalt im »Dritten Reich« kompromittierte.24

Mehr als das BfV war der BND belastet. Im Zuge einer anfangs chaotischen Personalgewinnung, die von der Pullacher Zentrale an die regionalen Vertretungen des Dienstes quer durch Westdeutschland delegiert wurde und auf persönlichen Bekanntschaften beruhte, kam es im BND zu »Kettenrekrutierungen« von Gestapo-, SD- und SS-Männern durch Netzwerke und Seilschaften. Es ist anzunehmen, dass drei Faktoren diese Personalpolitik begünstigten: die gewollt dezentrale Anwerbung aufgrund individueller Kontakte; die Notwendigkeit, schnell als geeignet erscheinende, also erfahrene Mitarbeiter zu gewinnen; schließlich in der Breite des Dienstes eine fehlende Sensibilität für das gesamtgesellschaftlich damals beschwiegene Thema.25 Um ein regelrechtes »Sammelbecken« von NS-Tätern handelte es sich zwar nicht; von den 2.450 Mitarbeitern des BND im Jahr 1960 waren jedoch zuvor mindestens 200 im Befehlsbereich Heinrich Himmlers tätig gewesen. In der Personalabteilung in Pullach gab es wenigstens bei offensichtlich besonders heiklen Fällen schon bei der Übernahme der Org in den Bundesdienst Unbehagen. So hieß es in einem Aktenvermerk: »Hier stellt Herr [Willy] Litzenberg [(1900–1964)] seine eigene Tätigkeit als Referatsleiter im Amt IV des RSHA – also im innersten Kern des Führungsapparates der Geheimen Staatspolizei – so dar, als habe er etwa die Funktion eines Briefträgers ausgeübt. […] Dieses Verfahren der offenkundig wahrheitswidrigen Selbstverkleinerung ehemals leitender Herren der Geheimen Staatspolizei ist von dieser Personengruppe zu einiger Virtuosität entwickelt worden. Es widert einigermaßen an.«26

Im Nachgang des Skandals um die Enttarnung des ehemaligen SS-Hauptsturmführers Heinz Felfe (1918–2008) wurde in Pullach von 1963 bis 1965 eine Arbeitsgruppe (»Organisationseinheit 85«) eingesetzt, die NS-belastete Mitarbeiter überprüfte. Der frühere SS-Mann Felfe, zuletzt Leiter der Gegenspionage gegen die Sowjetunion, hatte den BND ausgerechnet als Spion des sowjetischen Komitees für Staatssicherheit (Komitet Gossudarstwennoj Besosbasnosti, KGB) unterwandert. 71 von 146 der von der »Organisationseinheit 85« Untersuchten mussten den BND verlassen.27 Dennoch konnte zum Beispiel ein früherer Angehöriger einer SS-Totenkopf-Standarte, der Arbeitskommandos des Konzentrationslagers Dachau bewacht hatte, im Dienst verbleiben und wurde sogar verbeamtet.28 Weniger die ethische Bewertung der NS-Verwicklung als solche führte offenbar zu Bedenken, sondern vor allem die vermutete Erpressbarkeit durch östliche Dienste. Andere Fälle der Zusammenarbeit Pullachs mit SS-Verbrechern wie dem Gaswagen-Erfinder Walther Rauff (1906–1984) und dem »Schlächter von Lyon« Klaus Barbie (1913–1991) sind inzwischen gut dokumentiert.29 Allerdings handelte es sich bei beiden nicht um hauptamtliche BND-Mitarbeiter, sondern »nur« um angeworbene Quellen.

Eine erste Sozialstrukturanalyse des BND-Personals während der Amtszeit Gehlens kommt zu folgendem Ergebnis: Ehemalige Gestapo- und SD-Leute sowie Angehörige der Waffen-SS gelangten meistens in subalterne Positionen, nur sehr wenige von ihnen stiegen bis zum Unterabteilungsleiter oder höher auf. In Leitungspositionen dominierten Offiziere der früheren Abwehr der Wehrmacht, was auf die große Bedeutung von Militärs im frühen BND verweist. Berücksichtigt man jedoch die Zugehörigkeit zum NS-Apparat in Gänze, also über dessen bewaffnete Institutionen hinaus – zum Beispiel die Mitgliedschaft im Reichsarbeitsdienst –, dann ergibt sich ein lang anhaltendes personelles Fortbestehen des »Dritten Reiches« im westdeutschen Auslandsnachrichtendienst.30

BND und MfS blieben bis 1956 direkt von der CIA bzw. dem KGB abhängig. Auch darüber hinaus stellten diese beiden »Patendienste« in ihrer Hemisphäre den dominierenden Partner im nachrichtendienstlichen Geschehen des Kalten Krieges dar. So belegen beispielsweise Akten aus dem amerikanischen Nationalarchiv ein breites und konstantes Informationsinteresse der CIA über Personal und Operationen der gesamten westdeutschen Sicherheitsbehörden seit den frühen Jahren der Bundesrepublik, als sich deren von internen Konkurrenzen und Querelen geprägtes Sicherheitsmilieu allmählich herausbildete. Dazu besaß die CIA »Meldegänger« aus dem deutschen Apparat: Der ehemalige General der Panzertruppen Gerhard Graf von Schwerin (1899–1980) etwa warnte sie wiederholt vor ihrem eigenen Mann Gehlen, was zwar nicht im Sinne Schwerins zu Gehlens Ablösung führte, wohl aber den Amerikanern als Mittel der Kontrolle und als Korrektiv diente. Nach seiner Entlassung als Sicherheitsberater Adenauers im Oktober 1950 war Schwerin in der ersten Hälfte der 1950er Jahre heimlicher Kontaktmann der CIA in der Community westdeutscher Sicherheitsfachleute31 und damit keineswegs ein Einzelfall: Auch Paul Dickopf (1910–1973), Präsident des Bundeskriminalamtes von 1965 bis 1971 und zuvor seit 1953 dessen Vizechef, stand direkt auf der Lohnliste der Agency,32 während von BfV-Präsident Hubert Schrübbers angenommen wird, dass er seit seiner britischen Kriegsgefangenschaft mit den Diensten des Königreiches verbunden war.

Ab der zweiten Hälfte der 1960er Jahre kam es sowohl in den westdeutschen Diensten als auch im MfS zu einer Professionalisierung, die auf drei wesentliche Gründe zurückzuführen ist: das allmähliche Ausscheiden des vordem im Sicherheitsapparat des »Dritten Reiches« oder, beim MfS, im kommunistischen Widerstand und im sowjetischen Exil sozialisierten Altpersonals,33 den gehobenen Bildungsstand neuer Mitarbeiter und die zunehmende Bedeutung analytischer und technischer Verfahrensweisen und Methoden. Aufschlussreich wäre eine vergleichende Betrachtung dieser Modernisierungsprozesse. Als treibende Kräfte hierfür wirkten beim Bundesnachrichtendienst neue Informationsbedürfnisse der sozial-liberalen Bundesregierung seit 196934 bei gleichzeitigem Abschied des lange Jahre tonangebenden, am Ende nur noch verbraucht und lähmend wirkenden35 Präsidenten Gehlen.

In der Auseinandersetzung der Nachrichtendienste beider deutscher Staaten konnte das MfS relativ große Erfolge bei der Anwerbung westlicher Staatsbürger verzeichnen. Vielleicht nur auf diesem Gebiet: bei der Gewinnung und Platzierung von Quellen im nordatlantischen Bündnis, im Bonner Regierungsapparat, in den westdeutschen Diensten, in den Parteizentralen und anderswo mehr in der Bundesrepublik konnte die DDR das seit Walter Ulbricht (1893–1973) angestrebte »Weltniveau, nicht Westniveau« erreichen und Standards setzen.36 Seit Öffnung der Stasi-Akten ist – mehr noch als in der Forschung in den Medien und der Sachbuchliteratur – immer wieder auf prominente Fälle von MfS-Spionage in Politik, Verwaltung und Gesellschaft der Bundesrepublik Bezug genommen worden.37 Hier bleibt abzuwarten, welche Ergebnisse im Gegenzug die Erforschung der BND-Historie aufzeigen wird, auch wenn kaum mit ähnlich gut platzierten Quellen im Osten zu rechnen ist. Wenigstens in der Militärspionage war die westliche Beschaffung in der DDR bis zum Mauerbau 1961 effektiv, musste aber danach das eigene Quellennetz und die operativen Verfahren neu konstituieren.38

Für eine noch zu schreibende vergleichende Geschichte der deutschen Nachrichtendienste im 20. Jahrhundert liefern die biographischen Porträts von Spionen, Nachrichtenhändlern und Propagandaexperten einzelne Bausteine. Jeder Lebenslauf für sich, besonders aber ihre Gesamtheit ergibt in den aufgezeigten Verknüpfungen und Querverbindungen einen Einblick in die Komplexität und Verflochtenheit einer solchen Geschichte.

Spionage und Propaganda: Zehn Lebensläufe

Zu den im Folgenden skizzierten Personen, deren Leben sich in unterschiedlich gearteter Motivation und Intensität mit deutschen und auf deutschem Boden tätigen Nachrichtendiensten im »Dritten Reich« und im Kalten Krieg verband, zählen Akteure, die den Ostkrieg der Wehrmacht als Offiziere erlebt hatten oder sogar aus dem nachrichtendienstlichen Amt Ausland/Abwehr im Oberkommando der Wehrmacht kamen. Hinzu treten Personen, die beim Sicherheitsdienst der SS im Reichssicherheitshauptamt oder im Polizeiapparat der Weimarer Republik bzw. des »Dritten Reiches« tätig waren. Gemeinsamer Nenner für die Auswahl in diesem Buch ist, dass die hier Vorgestellten entweder nach 1945 direkt oder indirekt mit der Organisation Gehlen und dem Bundesnachrichtendienst oder dem Verfassungsschutz verbunden waren bzw. zum Ziel der nachrichtendienstlichen Aufklärung Gehlens wurden. Auf ostdeutscher Seite waren die Porträtierten entweder in die Auslandsspionage des MfS eingebunden oder wurden selbst zum Ziel der MfS-Spionageabwehr.

Doch geht es nicht allein um deutsche Dienste und die deutsche Perspektive. Konstitutiv für geheime Nachrichtendienste ist, dass sie die politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und militärischen Verhältnisse in einem anderen Land oder Regime auskundschaften – hierin unterscheiden sie sich von der Inlandsaufklärung gegen politische Gegner oder »Feinde« der gültigen Rechtsordnung. Daher sind auch die US-amerikanische Spionage und Spionageabwehr, der sowjetische KGB und die französischen Dienste ein wesentlicher Teil einzelner der hier versammelten Lebensgeschichten. Dies zeigt in augenfälliger Weise, dass eine moderne Geschichte geheimer Nachrichtendienste nur begrenzt als nationale Geschichte geschrieben werden kann.

Die Porträts des Sammelbandes sind auf eine breite Perspektive hin angelegt: Dazu zählt vorrangig das Verständnis, sich nicht auf hauptamtliche Mitarbeiter oder angeworbene Agenten, Spione oder »Kundschafter« zu konzentrieren, sondern auch Spezialisten für Subversion und Propaganda einzubeziehen. Diese wirkten wesentlich an der geheimen Dimension von Politik mit und handelten auf eine politisch vorgegebene Weise oder auf eigene Rechnung mit Nachrichten.

Zwei Gruppen von Personen finden sich dagegen nicht in diesem Buch wieder: Zum einen sind das die Exekutoren des deutschen Völkermordes 1939–1945, jene Mörder, die es später nicht nur als gedungene Informanten, sondern in einigen Fällen auch als fest angestellte Mitarbeiter in die westdeutschen Geheimdienste schafften: Sie bedürfen einer eigenen Analyse, in der das Vorgehen in den verschiedenen Sicherheitsbehörden Bonns bei der Personalrekrutierung genauer herausgearbeitet werden müsste. Dieser Personenkreis findet besondere Aufmerksamkeit in den Studien der speziell eingesetzten Historikerkommissionen zu BKA, BfV und BND.39

Nicht berücksichtigt wurden außerdem Personen, die nach 1945 für die Geheimdienste des Westens und Ostens in verdeckten, vom Charakter her paramilitärischen Operationen tätig waren, sogenannten covert actions. Für die amerikanische CIA bildeten solche Unternehmen wie die (gescheiterte) Einschleusung von Partisanengruppen im Baltikum und auf dem Balkan Ende der 1940er, Anfang der 1950er Jahre oder der Einsatz von kleineren Kampfverbänden in Afghanistan seit 2001 einen wichtigen Teil ihres Repertoires. Für den sowjetischen KGB besaßen covert actions ebenfalls eine große Bedeutung – wie sich bei den Mordanschlägen auf nationalukrainische Oppositionelle in der Bundesrepublik in den 1950er Jahren oder dem Sturm auf den Kabuler Präsidentenpalast (Operation STORM-333) im Dezember 1979 zeigte.40 Wenig bekannt ist bislang über den etwaigen verdeckten Einsatz von Gewalt seitens des BND. Dagegen sind für das MfS gewaltsame Entführungsaktionen41 und einzelne Mordanschläge wie jene auf die Fluchthelfer Michael Gartenschläger (1944–1976) – gelungen – und Wolfgang Welsch (*1944) – gescheitert – dokumentiert.42 Zum Gewaltkomplex ist auch die Ausbildung von MfS-Mitarbeitern und westdeutschen inoffiziellen Mitarbeitern (IM) sowie Angehörigen der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) zu Sabotagezwecken in der Bundesrepublik im Kriegs- bzw. Spannungsfall zu zählen. Zudem gab es vom MfS »betreutes« Asyl für westdeutsche Terroristen in der DDR.43

Ziel dieses Buches ist es, anhand der Porträts die Vielfältigkeit der Motive für ein Wirken im Geheimdienst oder geheimdienstnahen Milieu zu zeigen. Die Mehrschichtigkeit geheimer Kontakte, wie sie in vielen Biographien aufscheint, wird im Lebenslauf von Josef Adolf Urban (porträtiert von Matthias Ritzi und Erich Schmidt-Eenboom) besonders deutlich. Er verdingte sich nach dem Zweiten Weltkrieg nicht als klassischer Berufsspion im Sold nur eines Landes, sondern als privater Nachrichtenhändler mit Kontakten zu vielen geheimen Diensten im Nachkriegseuropa – ähnlich wie Maurice Picard in Frankreich. Damit verkörperte Urban eine Sozialfigur, für die heute kaum noch Platz ist in der Geheimdienstlandschaft. Otto John, der erste Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, hat diesen Typus in seinen Erinnerungen charakterisiert: »Unter sich hielten sie enge und vielfach freundschaftliche Verbindungen, gleich ob sie in amerikanischen, englischen oder französischen Diensten standen. Sie tauschten ihre geheimen Informationen wie auf einer geheimen Börse nach dem Prinzip ›gibst du mir, geb ich dir‹ aus und konnten so ihre alliierten Führungsoffiziere nach Gutdünken hinters Licht führen. […] Ein Agent, der eine wirklich bedeutsame Information erhalten hatte, konnte sie mindestens je einem Geheimdienst der vier Alliierten verkaufen, außerdem aber noch den Landesämtern für Verfassungsschutz und meinem Amt.«44

Wie Urban war auch Hermann Baun (skizziert von Magnus Pahl) ein »Mann der Tat«. Baun, gebürtig aus Odessa, zählte zu den besten Russlandkennern in deutscher Uniform und qualifizierte sich damit für eine Verwendung im Amt Ausland/Abwehr, dem Geheimdienst der Wehrmacht.45 Seine spätere Zusammenarbeit mit der U.S. Army ergab sich, als dort der nachrichtendienstliche Blickwinkel von der besiegten Armee des »Dritten Reiches« zu den Streitkräften Stalins wanderte. Es gehört zur Tragik des früh verstorbenen Bauns, dass er, viel prädestinierter für die Aufklärung der Sowjetunion als Reinhard Gehlen, diesem unterlag, als es um die Gunst der Amerikaner ging:46 Für die Spitze jener Organisation, aus der ein Jahrzehnt später der staatliche westdeutsche Auslandsnachrichtendienst hervorgehen sollte, hatte Washington schon bald nach Kriegsende Reinhard Gehlen bestimmt. Baun schien der US-Seite zu eigensinnig, vor allem misstraute sie einem Mann, der eher im russischen Osten seine innere Heimat zu haben schien als im amerikanischen Westen.

Eng mit dem Osten und den russischen Verhältnissen vertraut waren auch zwei Baltendeutsche. Heinrich von zur Mühlen (dargestellt von Enrico Heitzer), geboren und aufgewachsen im heutigen Estland, Wehrmachtpropagandist im Zweiten Weltkrieg, dann in der frühen Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU) Motor des verdeckten Kampfes gegen die Diktatur in der SBZ,47 war ein Schreibtischorganisator von Widerstand, Spionage und Sabotage gegen das »Pankower Regime«. Von zur Mühlen gehörte zu den radikalsten Gegnern der SED-Diktatur. Zu den antikommunistischen »Subversiven« zählte auch Ewert von Dellingshausen (porträtiert von Stefan Creuzberger). Er stammte ebenfalls aus dem heutigen Estland und steuerte in der frühen Bundesrepublik an zentraler Stelle im Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen (BMG) verdeckte Maßnahmen gegen die Regierung in Ostdeutschland. Dellingshausens Antikommunismus resultierte – wie bei von zur Mühlen – aus frühen Kindheitserfahrungen, aber auch aus einer politischen Haltung, die das ostdeutsche Regime für die deutsche Teilung verantwortlich machte. Nach außen hin eher unauffällige, der Öffentlichkeit unbekannte Akteure wie Dellingshausen wirkten intern jedoch als Triebkräfte der Agitation gegen Ost-Berlin und vor allem dessen echte und vermeintliche »Fellow Travellers« im Westen. Ohne sie wäre der staatliche Beitrag zu einer westdeutschen Kultur des Antikommunismus kaum möglich gewesen.

Martin Riedmayr (dargestellt von Susanne Meinl und Marcus Schreiner-Bozic) begann seine Karriere in den 1920er Jahren in der bayerischen Schutzpolizei. Riedmayr war konservativ bis monarchistisch gesinnt, früherer Freikorpskämpfer, der dem Königshaus der Wittelsbacher nahestand. Unter der NS-Diktatur verhielt er sich opportunistisch. Obwohl er während des Zweiten Weltkrieges dem Massenmord der Einsatzgruppen des SD in Weißrussland und Russland aufgabenmäßig und räumlich sehr nahe kam, scheint er es verstanden zu haben, sich aus einer direkten Beteiligung an den Mordaktionen herauszuhalten. Er hatte sich dem Nationalsozialismus angepasst, ein klassischer Mitläufer, kein ideologisch Überzeugter – während Heinrich von zur Mühlen vor allem die antibolschewistische und offenbar in Grundzügen auch die antisemitische Komponente in der Weltsicht des NS-Regimes teilte.

Riedmayrs Anhänglichkeit an die untergegangenen Wittelsbacher mag aus heutiger Sicht befremdlich wirken. Für einen Erzbayern wie ihn war diese politische Überzeugung, so irreal sie schon dem distanzierten Betrachter in der frühen Bundesrepublik erscheinen konnte, nach den Erfahrungen von Weimarer Republik und »Drittem Reich« nicht vollkommen abwegig. Er stand damit auch keinesfalls allein. Andere Lebenswege führten von der Teilnahme am Hitler-Ludendorff-Putsch im November 1923 über Fememorde in Bayern, einer Tätigkeit als Militärberater der nationalchinesischen Regierung über die konservative Wendung gegen Hitler und das Schweizer Exil hin zu einigermaßen nebulösen Plänen zur Restauration der Wittelsbacher-Monarchie nach der alliierten Befreiung Deutschlands mit Übertragung der deutschen Kaiserkrone auf das bayerische Haus.48 Im Vergleich dazu war Riedmayr politisch geradezu bodenständig. In einer Gesamtschau auf das Spitzenpersonal im Sicherheitsapparat der westdeutschen Länder gehörte Riedmayr nicht zu den Extremen. In Rheinland-Pfalz etwa avancierte mit dem früheren SS-Hauptsturmführer Georg Heuser (1913–1989) der vormalige Gestapochef von Minsk zum Leiter des Landeskriminalamtes. Heuser hatte eigenhändig in der nahe der Stadt gelegenen Vernichtungsstätte Maly Trostinez Juden ermordet. Riedmayrs Aufstieg an die Spitze des bayerischen Verfassungsschutzes bildete dennoch einen Gegenentwurf zur personellen Lösung in der Führung der bayerischen Landespolizei.49

All die Jahre nach 1945 hatte Riedmayr auf zwei Schultern getragen, nämlich auch als »Sonderverbindung«50 Reinhard Gehlens, wie das im Jargon dessen Dienstes hieß; insofern wird von den Autoren an seiner Nachkriegsvita beispielhaft die Zusammenarbeit der Organisation Gehlen bzw. des frühen BND mit einem Akteur der inneren Sicherheit beleuchtet.

Zur inneren Sicherheit zählte im Kalten Krieg immer die Abwehr vermuteter kommunistischer Unterwanderung und der Schutz vor Ausspähung des eigenen politischen Lagers. Arrivierte Repräsentanten des Staates können ein »naturgegebenes« Aufklärungsziel geheimer Nachrichtendienste sein, weil sie über spezielles Regierungswissen verfügen. Zugleich gibt es staatliche Vertreter, die ihre Kenntnisse aktiv dem Gegner anbieten. In der bundesdeutschen Geheimdienstgeschichte stehen dafür die beiden Verfassungsschützer Klaus Kuron (*1936) und Hansjoachim Tiedge (1937–2011) sowie die BND-Beamtin Gabriele Gast (*1943) als prominente Beispiele. Bei Kurt Behnke (vorgestellt von Helmut Müller-Enbergs und Erich Schmidt-Eenboom), Präsident des Bundesdisziplinarhofes und damit bis zu seinem Selbstmord 1964 in einer judikativen Spitzenposition der Bundesrepublik tätig, ist die Faktenlage nicht so eindeutig. Fest steht, dass sich Behnke durch ein promiskuitives Liebesleben in die Gefahr geheimdienstlicher Kompromittierung begab und enge Beziehungen zu einem als MfS-Informanten verdächtigten V-Mann des bayerischen Verfassungsschutzes pflegte, der zusätzlich auch für Gehlens Dienst tätig war. Zusammen mit Gehlen agierte Martin Riedmayr im Verborgenen gegen Behnke, der seinerseits gleichfalls eine ehemalige »Sonderverbindung« Gehlens war.

Was den hochrangigen Verwaltungsbeamten Maurice Picard (vorgestellt von Michael Mueller), am Ende seines Berufslebens Präfekt der französischen Zivilverteidigung, zur Kooperation mit diversen ausländischen Nachrichtendiensten bewog, bleibt unklar. Seine Bereitschaft, nach der Besetzung des Landes durch die Deutschen 1940 mit diesen konspirativ zusammen zu arbeiten, lässt sich noch am ehesten aus seiner deutschfreundlichen Sozialisation in Lothringen in Kinder- und Jugendjahren herleiten. Allerdings besaß er nach 1945 in Paris auch Kontakte sowohl zu Vertretern des sowjetischen Dienstes als auch zu US-Amerikanern und Briten – die Gründe hierfür können nicht mehr abschließend festgestellt werden. War es Geltungsbewusstsein? Die Lust am geheimen »Spiel«, das ihm das Gefühl vermittelte, eine größere politische Bedeutung zu besitzen als ihm seine ohnehin recht hohen administrativen Ämter bereits geben konnten – erklären also enttäuschte weitergehende Karriereerwartungen das Verhalten des Präfekten? Sein Porträt fällt nicht nur deshalb aus den übrigen Skizzen heraus, weil Picard als einziger Dargestellter kein Deutscher war, sondern beinahe mehr noch, weil Picard unter diesen am ehesten den »Spieler« verkörperte, dessen handlungsleitendes Motiv sich nicht eindeutig erschließen lässt. Die Gerichtsverhandlung um den Mehrfachagenten Picard wurde jedenfalls noch ein Vierteljahrhundert nach seinen Kriegskontakten zu den Deutschen aufmerksam vom BND verfolgt.

Hans-Joachim Bamler