Lea Streisand wurde in Berlin geboren, eingeschult und immatrikuliert. Sie hat Abitur, einen Magisterabschluss und einen Freischwimmerschein. Lea ist Mitglied der Berliner Lesebühne „Rakete 2000“ und Gastgeberin der Minilesebühne „Hamset nich kleina?“ Ihre monatliche Kolumne im Berlinteil der taz heißt „Immer bereit“, ihre Radiokolumne am Montagmorgen bei Radio Eins heißt „War schön jewesen“.

„Vielleicht ist es ja doch zu was gut...“ ist nach „Wahnsinn in Gesellschaft“ und „Berlin ist eine Dorfkneipe“ ihr drittes Werk bei Periplaneta.

Es enthält Texte über Texte von Joachim Ringelnatz, Mary Shelley, Erich Kästner, Kurt Tucholsky, Theodor Storm,
Friedrich Schiller, Jacob und Wilhelm Grimm, Stieg Larsson, Alfred Hitchcock, Jurek Becker, Reinhard Lakomy u.v.a und ist auch als Audio-CD und Audio-Download erschienen.

Als Bonus enthält dieses E-Book Texte aus dem Debüt-Album „Wahnsinn in Gesellschaft“

www.leastreisand.de

Lea Streisand
„Vielleicht ist es doch zu was gut, dass sie fertig studiert hat“
Essays und Geschichten

E-Book Version - Frühjahr 2016 Edition Mundwerk,
© 2015 periplaneta.com,
Periplaneta - Verlag und Mediengruppe
Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a
10439 Berlin, www.periplaneta.com

Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlags.

Titelfotografie: Katharina Bohm (www.katharinabohm.de)
CD-ISBN: 978-3-95996-002-1
E-Pub-ISBN: 978-3-95996-004-5

Lea Streisand

Vielleicht ist es doch zu was gut, dass sie fertig studiert hat

Essays und Geschichten

periplaneta

Prolog

Habe nun, ach! Germanistik,

Skandinavistik, Literaturwissenschaft,

Und leider nicht Medizin, Juristerei

(oder sonst irgendwas Sinnvolles,

mit dem man schnell viel Geld verdienen kann)

Durchaus studiert, mit heißem Bemühn.

Da steh ich nun, ich armer Tor!

Und bin so klug als wie zuvor;

Heiße Magistra, heiße Schriftstellerin gar

Und lese nun schon 13 Jahr

Auf Lesebühnen und Poetry Slams

Schreibe für taz und Radioeins

Und habe so wahnsinnig lange studiert,

Bibliotheken besucht und Bücher kopiert

In Vorlesungssälen auf Stühlen gesessen,

Zu viel geraucht, zu wenig gegessen,

So oft verzweifelt über Foucault und Descartes,

Im Callcenter gejobbt, ständig Party gemacht.

Das alles im Dienste der Wissenschaft.

Und jetzt hab ich diese CD gemacht

Mit Essays übers Telefon,

Über Meerschaumpfeifen bei Theodor Storm,

Über Krimis, Märchen und Vampire

Über Zombiefilme und Satire,

Kurz: Ein wissenschaftliches Kompendium.

Und als Bonus eine Ode an den Fernsehturm.

Keine Ahnung, was die Welt

Im Innersten zusammenhält.

Doch habt viel Spaß mit diesem Buch,

zum Hören und Lachen. Ich hab’s versucht!

Stell dir vor es geht

und keiner kriegt es hin.

Die Liveschaltung

„Und hier ist wieder Kermit, der Frosch, von den Sesamstraßennachrichten. Ich melde mich live von der Ziellinie des Magisterarbeitsmarathons. Ich stehe hier direkt vor dem Hauptgebäude der Humboldt Universität zu Berlin. Wie sie alle wissen, ist heute der Abgabetag. Die Zuschauer warten mit Spannung auf die Kandidatin S. Die Bücherhändler decken vorsorglich ihre Ware zu, der Portier raucht vor Nervosität schon die dritte Zigarette. Es war ein nervenaufreibender Lauf, meine Damen und Herren. Erinnern Sie sich an geschlossene Archive, verschollene Bücher und falsche Quellenangaben. Dann die Dopingvorwürfe wegen übermäßigen Kaffee-, Schokoladen- und Tabakkonsums. Erinnern Sie sich an all die hysterischen Anfälle, an die vielen Momente wo wir dachten, das schafft sie doch nicht! Aber sie hat es geschafft, meine Damen und Herren! Sie hat es durchgezogen. Und hier kommt sie, meine Damen und Herren, auf dem Fahrrad kommt sie auf das Gelände gefahren. Jetzt steigt sie ab mit letzter Kraft, die letzten sechs Monate sind nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Jetzt greift sie ihre Tasche, schließt das Rad an, jetzt geht sie in das Gebäude hinein. Wir folgen ihr mit der Kamera. Und JETZT, meine Damen und Herren, JETZT SCHMEISST SIE DIE MAGISTERARBEIT IN DEN HAUSBRIEFKASTEN!!! Ist denn das die Möglichkeit!!! Ich bin völlig von den Socken, verehrte Zuschauer. Und jetzt kommt sie wieder heraus. Die Bücherhändler werfen mit Büchern, der Portier mit Zigaretten. Wahnsinn, meine Damen und Herren, es ist einfach Wahnsinn!

Frau S., Frau S.! Ein kurzes Interview für die Sesamstraßennachrichten. Wie fühlen Sie sich jetzt?

- Ähm, äh, ich äh...

- Ich danke Ihnen, Frau S. Sie sehen, meine Damen und Herren, was eine Magisterarbeit aus einem Menschen machen kann. Und damit gebe ich zurück ins Studio.“

Alle Macht den Telefonen!

Das Handy bei Erich Kästner

Schon 1931 beschrieb Erich Kästner in seinem Roman für Kinder „Der 35. Mai“ die automatische Stadt der Zukunft: Elektropolis. Niemand muss mehr arbeiten, weil alle Arbeit von Automaten erledigt wird. Die Menschen müssen nicht mal mehr selbständig laufen. Förderbänder sind in die Gehsteige integriert und transportieren sie zu jedem gewünschten Ziel.

„Am meisten imponierte ihnen aber folgendes: Ein Herr, der vor ihnen auf dem Trottoir langfuhr, trat plötzlich aufs Pflaster, zog einen Telefonhörer aus der Manteltasche, sprach eine Nummer hinein und rief: ‚Gertrud, hör mal, ich komme heute eine Stunde später zum Mittagessen. Ich will vorher noch ins Laboratorium. Wiedersehen, Schatz!’ Dann steckte er sein Taschentelefon wieder weg, trat aufs laufende Band, las in einem Buch und fuhr seiner Wege.“

Kästners Zukunftsvision ist längst von der Gegenwart überholt worden. Wer telefoniert denn heute noch mit Telefonen? Die Kommunikation mit dem Gerät ist längst vom Akustischen ins Schriftliche übertragen worden. Wir tippen auch nicht mehr, wir wischen, ziehen und schieben. Wir führen kaum noch Gespräche mit anwesenden Unbekannten. Alle Antworten und alle Freunde stecken stets in unserer Manteltasche. Niemand flirtet mehr in der U-Bahn, weil alle nur noch ihre Telefone streicheln.

Fragt man heute jemanden in der Fremde nach dem Weg, zum Beispiel: „Entschuldigen Sie, wo geht’s hier zum Goethe-Museum?“ in Frankfurt am Main, dann wird niemand mehr nachdenklich den Finger an die Nase legen und sich langsam um die eigene Achse drehen, während er murmelt: „Warten Sie mal, Goethe, das hab ich schon mal gehört, das muss hier irgendwo sein…“ um den Ratsuchenden schließlich in die völlig falsche Richtung zu schicken.

Das hat viel Gutes. Ich will gar nicht wissen, wie viele ahnungslose Berlintouristen ich in meinem langen Leben schon in die Irre geschickt habe, orientierungslos wie ich bin. „Excuse me, where is the Tränenpalast-Location?“, fragt mich neulich ein netter junger Mann auf der Straße Unter den Linden. Vermutlich war sein Akku alle. Ich bin gerade auf dem Weg in die Humboldt-Uni zu einem Seminar über Großstadtliteratur. „Tränenpalast“, überlege ich. Imaginäre Stadtpläne rutschen vor meinem inneren Auge vom Zwei- ins Dreidimensionale und vermischen sich mit absurden Kindheitserinnerungen vom November 89. Das war so bunt, damals! Meine Mutter hatte meine hundert Westmark sofort in Winterstiefel investiert, ein unglaublich autoritärer Akt des Verrats, der mich schon damals zweifeln ließ, ob jetzt wirklich alles besser werden würde. Immerhin bewirkte das ganze Geblinke der Werbetafeln am Kurfürstendamm, dass ich vergaß, einen Wutanfall zu bekommen. Kudamm, denke ich, Westen! Zu dem netten jungen Mann sage ich: „Okay, I got it. First you take the Bus number 100 and go to Zoologischer Garten. There you have to ask again.”

Ich fürchte, einige dieser Vorurteile, dass die Berliner alle so unfreundlich, scheiße und hinterhältig seien, wurden von Opfern meiner Hilfsbereitschaft in die Welt gesetzt.

Fragt man heute also jemanden in der Fremde nach dem Weg, zum Beispiel in Frankfurt am Main, wird derjenige in den meisten Fällen gar nicht erst anfangen nachzudenken, sondern sofort sein Smartphone zücken und sagen: „Augenblick. Goethe. Buchstabieren Sie mal!“, um einem daraufhin die exakte Anzahl der Meter zu nennen, die man noch zurückzulegen hat, um sein Ziel zu erreichen.

Neulich erzählte mir eine Freundin, wie sie telefonlos an einem S-Bahnhof irgendwo in der Pampa stand, der noch nicht mit diesen blauen Digitalanzeigen ausgestattet war. Weil sie ihr Smartphone vergessen hatte, musste sie erstmal überlegen, wie sie jetzt rauskriegen sollte, wann die Bahn käme. Dann stellte sie sich vor die Vitrine mit dem Fahrplan. Und weil die Schrift so furchtbar klein war, legte sie die Fingerspitzen auf die Glasscheibe und machte diese öffnende Handbewegung, mit der wir uns als Kinder gegenseitig an die Knie gefasst haben, weil es so schön kitzelte.

Kästners Elektropolis brennt am Ende wegen Hochspannung die Sicherung durch. Ich glaube, wir müssen uns ganz andere Sorgen machen.

Und wenn sie nicht gestorben sind...

Faulheit in den Märchen der Brüder Grimm

Es waren einmal zwei Brüder, die schufen eine Märchensammlung, die war so schön, dass selbst nach Hunderten von Jahren noch von ihr erzählt wird.

Am 20. Dezember 1812 erschien in Berlin der erste Band der von Jacob und Wilhelm Grimm gesammelten „Kinder- und Hausmärchen“ (KHM), 86 Geschichten, darunter vor allem Schwank-, Tier- und Zaubermärchen.

Zaubermärchen sind solche, in denen Wunder passieren, Aschenputtel zum Beispiel oder Dornröschen, Frau Holle oder Rumpelstilzchen. Kurz: Fast alle Geschichten, die uns einfallen, wenn wir über Grimms Märchen reden.

Viel wurde den Kinder- und Hausmärchen vorgeworfen in den letzten 200 Jahren. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden sie sogar als vermeintliches Saatgut im kollektiven Unbewussten der Deutschen für die Verbrechen des Nationalsozialismus verantwortlich gemacht.

Noch heute erzählen manch wohlmeinende Eltern ihren Kindern lieber versöhnliche, antiautoritäre Versionen der Geschichten. Im Regionalzug nach Schwedt hab ich mal gehört, wie ein Vater seinen Kindern erklärte, dass der Wolf, nachdem er die Geißlein gefressen hat, nicht mit Steinen im Bauch in den Brunnen geworfen würde. Nein. Mutter Geiß schaufelt ihm den guten Blumenkohl in den verfressenen Magen, den sie gerade noch auf dem Markt gekauft hat, während das Vieh ihre Kinder verspeiste. „Er hatte doch nur Hunger“, sagte der Vater.