Nataša Dragnić
Der Wind war es
Roman
ars vivendi
Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (Erste Auflage April 2016)
© 2016 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg
Alle Rechte vorbehalten
www.arsvivendi.com
Lektorat: Dr. Felicitas Igel
Umschlaggestaltung: ars vivendi, unter Verwendung eines Fotos von © plainpicture / Lubitz + Dorner
Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag
eISBN 978-3-86913-696-7
Inhalt
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
Dank
Die Autorin
Für Daša
1.
»Wahnsinn!«
Zu sechst standen sie auf dem Felsplateau, hinter ihnen der alte VW-Kombi, vor ihnen der Abgrund, der in einem endlosen, für das Auge fast unerträglich silbrig-, beinahe platinglitzernden Blau endete. Die frische Luft, der Nordwind im Rücken, das stechende Licht in den Augen ließen sie alle sprachlos. Minuten vergingen, Minuten, getarnt als Stunden. Viel gab es nicht zu sehen: eine größere Bucht, an deren beiden Spitzen jeweils ein Haus stand, ein Haus wie ein Leuchtturm. Oberhalb der Bucht weitere Häuser, eher Hütten aus Stein oder lediglich mit Steinplatten bedeckt. Darüber Weinberge an den steilen Hängen. Auf der rechten Seite unzählige kleinere Becken, mehr oder weniger tief, mehr oder weniger felsig, dazwischen größere und kleinere Kiesstrände, alles menschenleer und verlassen. Ein paar durch die Luft segelnde, lautlose Möwen auf der Suche, der Sonne entgegen. Auf der linken Seite ein Hügel, der alles verdeckte, was dahinter lag. Nichts war zu hören außer dem Brausen der Wellen und dem Pfeifen des Windes. Und dann, als hätten sie sich abgesprochen, als hätten sie wieder angefangen zu atmen:
»Ich liebe diesen ersten Anblick, den ersten Eindruck …«
»Wisst ihr, wie der Originaltitel von Jane Austens Stolz und Vorurteil war? First Impression!«
»Ich bin so aufgeregt!«
»Ich hab noch nie so was gesehen!«
»Es ist kälter, als ich dachte …«
»Ich hab Hunger, ihr nicht?«
»Ich hab das Gefühl, ich könnte fliegen.«
»Wieso ist alles so gelb?«
»Das wird ganz toll hier, ich sage es euch, Leute.«
»Das ist Ginster, ich liebe Ginster.«
»Als könnte ich fliegen, wirklich fliegen …«
»Ich rieche Abenteuer, große Abenteuer, boys and girls!«
»Da links, hinter dem Hügel, liegt Bol mit dem berühmten Strand am Goldenen Horn, der sich mit der Strömung bewegt, kann man auf jeder kroatischen Ansichtskarte sehen.«
»Aber wir sind nicht zum Vergnügen hier, ist klar.«
»Da will ich unbedingt hin!«
»Alles ist möglich, spürt ihr das auch? Das Gesetz der Wildnis …«
»Wir wollen ja unser Stück vorbereiten, denkt dran!«
»So stelle ich mir das Leben nach dem Tod vor.«
Alle drehten sich zu Katrin um, sahen sie an, als hätten sie sie nie gesehen oder als hätten sie vergessen, dass sie dabei war. Ihr langes blondes Haar flog um ihr Gesicht wie ein Schleier, verdeckte ihre bebrillten Augen.
»Das ist nur die frische Luft und das Meer und die Sonne. Wenn man aus dem Grau des hohen Nordens kommt … Lasst uns weiterfahren, den besten Teil haben wir noch vor uns«, sagte Barbara und schritt entschlossen Richtung Kombi. Obwohl sie nicht zu der Theatergruppe gehörte – sie war weder eine Schauspielerin noch die Regisseurin noch die Autorin des Stückes –, fühlte sie sich für das ganze Unternehmen verantwortlich, da das Haus ihrer Tante der Ort war, wo die kleine Theaterwahlfamilie in den kommenden Maiwochen das neue Stück von Stefan, ihrem Freund, auf die Beine stellen wollte.
Unwillig, sich von diesem Ausblick loszureißen, und durcheinander redend folgten ihr alle. Anton, der Regisseur, setzte sich hinters Steuer und Barbara neben ihn, um ihm den Weg zu zeigen. Man nannte die beiden »the croatian connection«, weil Antons Eltern aus Split stammten und er selbst auch dort geboren war, erst mit sechs Jahren war er nach Deutschland gekommen; und weil Barbaras Tante Julia, eine echte Münchnerin, einen Kroaten geheiratet hatte, zu ihm auf die Südseite der Insel Brac ˇ gezogen war, in dieses winzige Dorf, das nicht einmal einen Lebensmittelladen oder einen Kirchturm vorweisen konnte, und dort blieb, auch nachdem er vor einigen Jahren zu unerwartet, zu jung, zu lebendig, zu gesund an einem Herzinfarkt gestorben war. Nach einem Jahr Schockzustand hatte Julia, verliebt in diesen Ort, ein Traumhäuschen aus Stein – drei Zimmer, fünf Betten – unter dem ihren bauen lassen, auf einem Felsen direkt am Meer, auf der Westspitze der großen Bucht, und vermietete es von Juni bis Oktober.
»Vorsicht!«, schrie Barbara, als ein großer Stein mitten im Weg erschien. Die enge, steil abfallende Straße war nicht asphaltiert und durch wuchernde Ginsterbüsche unübersichtlich. Anton bremste, alle flogen aus den Sitzen. »Soll ich fahren?«, fragte Barbara.
Anton würdigte sie keiner Antwort.
»Und was passiert, wenn uns jemand entgegenkommt?«, fragte Michael, Germanistikstudent und einer der Schauspieler in Stefans Stück.
»Wir sollten alle beten, dass das nicht passiert«, sagte Barbara und meinte es auch so.
Anton schimpfte vor sich hin, seine Gesichtszüge angespannt, seine Hände verschwitzt und am Lenkrad verkrampft. »Ich brauche eine Zigarette«, sagte er leise. »Gibt es denn keinen andern Weg?«
»Aber klar doch, eine vierspurige Autobahn, aber ich wollte euch ein wenig Abenteuer bieten.« Barbara drehte sich um und lächelte die nervösen Gesichter im hinteren Teil des Kombis affektiert an.
»Schau besser nach vorne!«
»Sollen wir aussteigen und runterlaufen?«
»Könnt ihr machen, aber der Kombi muss trotzdem runter, das Gepäck auch«, meinte Barbara.
»Das ist keine Straße, das ist nichts als Löcher und Steine!«, regte Anton sich auf.
»Und es ist steil, Leute, sehr steil«, fügte Stefan hinzu und schaute aus dem Fenster. »Man sieht die Küste gar nicht, man landet direkt im Meer.«
Katrin schloss fest die Augen und umklammerte Stefans Arm. Ihre Lippen bewegten sich fast unmerklich.
»Hast du Angst, Katrinchen?«, scherzte der Autor und zog an Katrins Haaren.
»Lass das«, flüsterte sie.
»Wie alt seid ihr denn?«, empörte sich Barbara und bedachte ihren Freund mit einem bösen Blick.
»Seid doch alle still, Anton muss sich konzentrieren!«, schrie plötzlich Lisa, Medizinstudentin und die zweite Schauspielerin. Alle sahen sie erstaunt an, denn Lisa, die Jüngste unter ihnen, war für ihre Schweigsamkeit und Zurückhaltung berühmt und berüchtigt.
»Wenn du auch Angst hast, Hase, kannst du meine andere Hand halten, Katrin wird sicher nichts dagegen haben«, bot Stefan an.
»Aber ich vielleicht«, beeilte Barbara sich zu sagen.
»In solchen lebensgefährlichen Situationen ist Eifersucht völlig fehl am Platz, meine Liebe.« Dass Blicke ohrfeigen konnten, machte Stefan deutlich, indem er sich an die Wange fasste. »Autsch! Das hat aber wehgetan!«
Barbara hatte sich umgedreht, sie war wieder bei Anton, unterstützte ihn, wo es Sinn und wo es keinen Sinn machte. So schafften sie ein paar Kurven, als das Vorderrad plötzlich wegrutschte. Anton bremste hart, der Wagen blieb am äußersten Rand vor dem Abgrund stehen. Lisa, die am Fenster saß, schrie auf, legte aber gleich eine Hand auf den Mund. Katrin ließ die Augen lieber zu, ihre Brille rutschte zur Nasenspitze. Michael fasste sich an den Kopf, und hätte er keine Glatze gehabt, hätte man denken können, er wolle sich die Haare ausreißen. Stefan beugte sich zu Lisa hinüber, wollte sehen, was zu sehen war, und man hörte Steine den Hang hinunterrollen. Stefan schnellte zurück.
»Keiner bewegt sich«, sagte Anton leise, vollkommen ruhig. »Ich brauche eine Zigarette, verdammt.« Er zog die Handbremse an. »In keinem Stück von Shakespeare wird geraucht«, flüsterte Stefan in Katrins Ohr, alle hörten es, aber erstaunlicherweise erwiderte keiner etwas. Es wurde so still, dass man die Windböen deutlich hören konnte. Dann fiel aus dem Nichts ein Vogel auf die Motorhaube, blieb dort unbeweglich liegen. Alle schrien auf. »Ruhe! Genug jetzt!« Antons Gelassenheit war verflogen, tot wie der Vogel vor ihnen.
»Das ist kein gutes Zeichen, oder?«, murmelte Michael, vor sich starrend. Niemand antwortete. Nur flaches Atmen war zu hören.
So saßen sie. Bis Michael sagte: »Was für eine Scheißidee.«
»Eine langsame Höllenfahrt, würde ich sagen.« Stefan behielt sein tückisches Lächeln bei.
»Ich will nicht sterben«, flüsterte Katrin.
»Niemand wird hier sterben!«, schrie Barbara und schlug gegen die Tür. Wieder hörte man Steine hinunterrollen.
»Bist du wahnsinnig?!«, kam es aus mehreren Mündern.
»Im Jahr 1500 verbot Queen Elizabeth I. das Schlagen von Frauen nach zehn Uhr abends … wie spät ist es jetzt?«
Barbara sah Stefan nicht einmal an.
»Der Tag ist zum Sterben zu schön«, meinte Anton und stieg sehr langsam und sehr vorsichtig aus.
Sofort biss ihm der Wind ins Gesicht. Er duckte sich, drehte sich hin und her, um ihm zu entwischen: seine große, magere Gestalt wie ein Spielzeug. Er ging um den Kombi herum und untersuchte die Lage, dann schaute er zu den angespannten Gesichtern hinter den Scheiben. Daumen hoch, es sah nicht so schlecht aus. Er bedeutete ihnen, sie sollten langsam aussteigen. Katrin und Michael jammerten: der Wind, der Wind, der scharfzahnige Wind! Der plötzlich den leblosen Vogel erfasste und mitnahm, einige Male artistisch durch die Luft wirbelte, um ihn schließlich wieder fallen zu lassen, in das Gebüsch am Straßenrand. Alle sahen gebannt zu.
»Wahnsinn.«
»Ich dachte, hier wäre schon Sommer«, sagte Lisa, hinter Stefans breiten Schultern Schutz suchend.
»Wieso das denn! Es ist erst Anfang Mai, da muss man mit allem rechnen«, erklärte Barbara irritiert.
»Hier werden nicht mal die Toten in Ruhe gelassen. Was für eine gottlose Gegend!«, sagte Michael besorgt. Oder gespielt besorgt.
»Seit wann kümmern dich Gott und sein Treiben?«
»Schluss jetzt mit dem Unsinn. Wir haben zu tun.« Anton legte die Hand vorsichtig auf die Haube. »Wir müssen das Auto hier, an der Seite, alle gleichzeitig anheben und nach rechts schieben, klar?« Anton sah sie erwartungsvoll an.
»Das schaffen wir nie, es ist zu schwer«, murmelte Katrin, die Brille auf der Nasenspitze.
»Ach was, das ist ein Kinderspiel«, meinte Stefan und postierte sich rechts an der Stoßstange. »Also, los geht’s!«
Der Wagen bewegte sich, schwankte nach rechts, alle stöhnten.
»Noch einmal!«, rief Anton.
»Ich kann nicht mehr …«
»Alle zusammen, eins, zwei, drei und …«
Plötzlich rutschte Michael aus und stürzte, blieb am Straßenrand liegen.
»Michael, pass doch auf!«
»Jetzt komm schon!«
Als er sich aufrichten wollte, stellte er den linken Fuß auf einen lockeren Stein, der wackelte, Michael wackelte mit und rutschte noch einmal aus, fiel rücklings – diesmal den Hang hinunter. Er schrie auf, wedelte mit den Armen, suchte Halt und rollte und rollte und rollte, und mit ihm unzählige Steine und Erdbrocken –, bis er in einem großen Busch, fast schon auf dem nächsten, viel weiter unten gelegenen Straßenabschnitt hängen blieb. Er rührte sich nicht. Auch seine Freunde oben am Straßenrand rührten sich nicht, ein umfassender Schockzustand. Dann schrie über dem Meer eine Möwe – und alle wachten mit einem Mal auf, erschraken. Gleichzeitig brüllten sie in den Wind, während Michael jaulte, um Hilfe rief.
»Wir kommen, warte!«
»Wir kommen von unten!«
»Keine Angst, Michael, wir sind gleich bei dir!«
»Schnell, Leute, noch mal anheben!«
Keiner beschwerte sich, alle konnten plötzlich, und so stand der Wagen wieder auf der Straße. Anton stieg ein und fuhr langsam los, die anderen liefen vor ihm her, um so schnell wie möglich bei Michael zu sein.
»Passt auf die Steine auf!«, rief Barbara.
»Und auf die Löcher!«, ergänzte Stefan, der als Erster ankam und zu der Stelle hochkletterte, wo Michael in einem Strauch lag, hing, jammerte, nach Gott rief. Die Rettungsaktion dauerte eine gute Viertelstunde, in der Michael nicht aufhörte zu heulen. Schließlich saß er auf einem großen Stein am Straßenrand, alle sorgten sich um ihn, geschäftig, fassten ihn an, zogen an ihm und stellten Fragen nach seinen Wunden, dem Schmerz.
»Wie gut, dass wir eine Ärztin dabeihaben«, meinte Stefan und sah Lisa nicht an, Lisa, die rot wurde und schwieg.
Als schlussendlich ein wenig Ruhe einkehrte, meldete Anton entschieden: »Nichts gebrochen.«
»Woher weißt du das? Bist du jetzt auch Arzt?«, regte Michael sich auf.
»Du kannst doch laufen, oder? Und dich bewegen?«
»Ja, aber es tut weh …«
»Klar tut es weh, so ein Sturz, es ist ein Wunder, dass du ihn überlebt hast, wenn ich nur daran denke …«, sagte Katrin leise, schaute Michael mit großen, ängstlichen Augen an. Blicke wurden ausgetauscht, und dann saßen sie wieder im Kombi und fuhren weiter, noch langsamer als zuvor. Lisa, den Erste-Hilfe-Kasten auf dem Schoß, kümmerte sich um Michaels Schnittwunden im Gesicht und am Kopf, während er ununterbrochen wiederholte: »Ich bin fast gestorben, mein ganzes Leben zog an mir vorbei. Ich bin fast gestorben, mein ganzes Leben …«, bis Stefan ihn anschrie, er solle die Klappe halten, sonst werde sein Leben noch einmal an ihm vorbeiziehen, aber diesmal endgültig. Katrin weinte ein wenig und schüttelte den Kopf, sodass ihre Ersatzbrille, die sie immer in den Haaren trug, herunterglitt. Sie ließ sie zwischen den Füßen liegen.
»Wenn das kein vielversprechender Anfang ist!«
Irgendwann und irgendwie kamen sie schließlich an, in der tiefen Bucht, und wunderten sich, wo der Wind und mit ihm die Bedrohlichkeit der letzten Stunde geblieben sei.
2.
In der Zwischenzeit hatte Julia auf der Terrasse gestanden, im Windschatten des Berges, wo die Sonne ungehindert ihre Wärme entfaltete, und gewartet, ihr Cockerspaniel Diva zu ihren Füßen. Ihr Blick verfolgte, auf die Serpentinen gerichtet, die Odyssee des grünen Kombiwagens. Toma, der ewig Verfrorene, saß im Liegestuhl neben ihr, eingewickelt in eine Decke, und folgte ihrem Blick.
»Soll ich ihnen entgegenfahren?«, bot er sich an.
»Nein, lass sie allein klarkommen, das gehört dazu«, Julia lächelte, sah ihn aber nicht an und spielte mit einer Zigarette, als könnte sie sich nicht entscheiden, ob sie rauchen wollte oder nicht.
Toma setzte an, etwas zu erwidern, hielt dann doch den Mund und machte die Augen zu. »Was kann ein ehemaliger Polizeibeamter und ein verwundeter Kämpfer im kroatischen Heimatkrieg schon anderes tun, als am Meer in der Sonne zu liegen, vor sich hin zu dösen und seine verdiente Rente zu genießen«, sagte er ironisch, leise, aber laut genug, um von Julia gehört zu werden. In greifbarer Nähe der Frau, die er schon seit Jahren hoffnungslos liebt, fügte er unausgesprochen hinzu.
»Ach du«, war alles, was Julia dazu zu sagen hatte. Ein wenig abwesend langte sie nach dem Feuerzeug auf dem Tisch. Mitten in der Bewegung schrie sie leise auf, und Toma öffnete schlagartig die Augen: »Was ist?« Im Nu stand er bei ihr.
»Da, schau!«, zeigte sie in die Höhe, wo mitten am Berg der VW-Kombi ins Wanken geriet und mit einem Rad über dem Abgrund hing. Eine Windböe erwischte ihn seitlich, und er rutschte noch ein Stück weiter ab. »Das könnte unangenehm werden«, meinte Toma besorgt. »Soll ich wirklich nicht hinfahren?«
Julia wusste selbst nicht, was am besten wäre. Sie zündete die Zigarette an. Sie wollte sich nicht mehr als nötig einmischen. Barbara, ihrer Lieblingsnichte, hatte sie gesagt, sie und ihre Freunde könnten zwar kommen und im Gästehaus wohnen – aber das sei auch schon alles. Sie wollte den Frieden ihres Alltags bewahren, sich nicht gestört oder verpflichtet fühlen. Und Barbara, die ein häufiger Gast bei Julia war und sich gut auskannte, nicht nur in der Gegend, sondern auch mit allen Unannehmlichkeiten und Tücken dieses abgeschiedenen Lebens, hatte ihr versichert, voller Dankbarkeit, sie würde nicht einmal merken, dass sie da seien. Julia war damals schon genauso skeptisch gewesen wie heute, während sie die Szene am Berghang beobachtete. Aber auch besorgt und erschrocken, und die Muttergefühle, die sie – in Ermangelung eigener Kinder – für ihre Nichte hegte, wirbelten alles durcheinander.
»Also, was sagst du?« Toma sah sie von der Seite an, traute sich nicht, ihr den Arm um die Schultern zu legen.
Sie schüttelte den Kopf, zog tief an der Zigarette, bevor sie sagte: »Nein, die machen das schon.«
»Wenn du meinst«, erwiderte Toma, Kummer in den Augen. »Aber hör auf mit dem Rauchen, das wird niemandem helfen.«
»Lass mich doch!«
Diva wurde ebenfalls unruhig, stand auf und drehte sinnlose Kreise, bellte kurz den Berg an und stubste dann leicht gegen Julias Bein.
Julia streichelte ihr über den schwarzen, lockigen Hundekopf. »Alles in Ordnung, Diva, musst nicht bellen.« Toma wünschte sich manchmal, sie würde mit ihm in diesem kuscheligen Ton sprechen.
»Julia …«, fing er an, aber plötzlich hörten sie Schreie und sahen Steine und noch etwas anderes herunterrollen. »Was war das? Ist das ein Mensch? Ist da jemand runtergefallen?« Julias Stimme bebte vor Aufregung, ihre Hand blieb krampfhaft auf Divas Kopf liegen. Diva winselte und entzog sich ihr, dann bellte sie ganz laut und deutlich die Steine an, die sich wie ziellos geworfene Bocciakugeln gegenseitig den Weg abschnitten, aneinanderschlugen, wild herumsprangen.
»Sollen wir die Polizei rufen?«
Aber Toma war schon ins Haus gegangen, telefonierte mit den ehemaligen Kollegen, scherzte sogar ein wenig, bevor er die Lage schilderte.
»Sie werden kommen«, sagte er, als er wieder neben Julia stand.
»Also werden sie nicht kommen«, sagte sie leise, wie selbstverständlich.
»Man weiß es nicht.« Toma schwieg, schlechtes Gewissen verbreitete sich in ihm wie Regenwolken. »Nein, wahrscheinlich nicht.« Sie in diesem Augenblick anzusehen, wäre zu viel gewesen. »Es ist Sonntag.«
»Natürlich.«
Gebannt verfolgten sie die Ereignisse auf der Möchtegernstraße, die zu ihnen führte und schon für viele Schreckmomente gesorgt hatte. Aber sowohl Julia als auch Toma hatten sich, wie die große Mehrheit der Dorfbewohner, gegen eine asphaltierte, weniger gefährliche Umgehungsstraße erklärt – sie alle fürchteten die Touristenströme, die schon Bol und andere Orte auf der Insel überrollt hatten.
»Schau!«, sagte Toma und fasste Julia am Arm. Der grüne Kombi setzte sich in Bewegung – ja, doch, man konnte es Bewegung nennen, obwohl der Fortschritt mit dem bloßen Auge kaum zu sehen war. Julia lachte laut auf, Diva bellte verständnislos, aber freudig. »Ich mache ihnen was zum Essen, die werden völlig fertig sein, wenn sie irgendwann endlich ankommen«, sagte Julia und ging langsam ins Haus. »Ich dachte, du wolltest dich nicht einmischen, nicht mal den kleinen Finger rühren …«, zog Toma sie auf.
»Nur heute, heute ist der erste Tag, heute zählt nicht.«
»Natürlich nicht.«
Toma ging in die Hocke und fasste Diva unter die Ohren, ihre Zunge schnellte heraus und leckte ihn über das ganze Gesicht. Toma protestierte, es nutzte nichts, Diva wiederholte ihre Liebesbekundung noch einige Male, und dann stürzte sie sich auf Toma, warf ihn um, und sie wälzten sich auf den warmen Steinplatten.
»Meinst du, dein Frauchen mag mich, was glaubst du?« Diva bellte zustimmend. »Ja, wirklich? Weißt du das auch ganz sicher?« Bellen, was das Zeug hält. »Gut, ich glaub dir, ist in Ordnung.« Bellen, was die Kehle hergibt.
»Was macht ihr denn da?« Julia erschien am Fenster, eine Tomate und ein Messer in der Hand, ein lächelndes Fragezeichen im meeresblauen Blick. Zwei Köpfe drehten sich zu ihr, zwei verlegene Blicke, einer unschuldig, der andere als ob.
3.
»Das Begrüßungskomitee«, sagte Anton leise, hatte aber nicht einmal mehr die Kraft zum Schmunzeln. Barbara sprang aus dem Wagen, noch bevor er den Motor ausmachte, und fiel ihrer Tante in die Arme.
»Ihr habt’s geschafft, ihr habt’s geschafft«, flüsterte diese ihr ins Ohr.
Einer nach dem andern stiegen sie aus, abgekämpft, aber auch zufrieden, erschöpft, aber auch euphorisch, schauten sich um, argwöhnisch, aber auch erwartungsvoll. Michael, Katrin und Lisa, die drei Schauspieler, waren noch nie am Meer gewesen, noch nie, nicht einmal an der deutschen Nordsee. Also nahm Lisa Katrins Hand und führte sie den schmalen Weg zwischen den Rosmarin- und Salbei- und Lavendelbeeten zum Strand. Immer schneller zog Lisa Katrin hinter sich her, die vor Müdigkeit und Aufregung lautlos zu weinen begann. Und während unten, an der leisen Brandung, Schuhe und Socken ausgezogen, Hosen hochgekrempelt und Füße ins Wasser getaucht wurden, vervollständigte oben, zwischen der Terrasse und dem Kombi, Barbara die Vorstellungsrunde: Hände wurden geschüttelt, Lippen zu einem Lächeln verzogen.
Julia legte sanft die Hand auf Antons Oberarm, ihre Augen lächelten verständnisvoll: »Das haben Sie gut gemeistert.« Und schon war sie beim Nächsten, aber Anton spürte die Zärtlichkeit ihrer Berührung weiterhin, ihre Finger hinterließen eine bleibende Spur, wie einen Abdruck, einen liebevollen und mitfühlenden. Die Wärme der Geborgenheit und die Zuversicht, dass es machbar war, dass alles machbar war, breiteten sich in ihm aus. Und eine unvorstellbare Müdigkeit. Sämtlich Empfindungen, die seine Gedanken noch nicht erreichten, und so blieb er ahnungslos für den Augenblick. Die ganze Zeit sprang Diva herum und bellte und bellte und sprang herum. So lange, bis Barbara sie hochnahm und sich das Gesicht von ihr ablecken ließ.
»Wieso hast du was dagegen, wenn ich das machen will?«, fragte Stefan sie, als alle auf die Terrasse gingen und sich auf die niedrige Mauer setzten.
»Ach Stefan«, seufzte Barbara, gab ihm einen seichten Kuss auf die Wange und folgte den anderen.
»Wusstest du, dass Ibsen einen Skorpion als Haustier hatte, er stand auf seinem Schreibtisch zur Inspiration«, rief Stefan ihr hinterher und ertrug Barbaras Missachtung mit einem schiefen Lächeln.
»… und da zog mein ganzes Leben an mir vorbei, und ich dachte, das war es, ich bin tot, wie ein Film, ich sah alles, die Menschen, die Ereignisse, die Orte … Ich dachte, das ist mein letzter Atemzug …«, steigerte Michael sich hinein, genoss die Aufmerksamkeit von Julia, die ihn mitleidig ansah.
»Ach, Michael, hör schon auf!« Stefan schüttelte den Kopf, setzte sich auf den Boden und lehnte sich an die Mauer, schloss die Augen.
»Heulsuse«, stimmte Anton zu.
»Bevor du über etwas urteilst, musst du es selbst erfahren, ihr habt keine Ahnung, was wisst ihr schon vom Leben!«, empörte sich Michael.
»Darf ich mal sehen?«, fragte Toma und beugte sich über ihn, untersuchte seine Wunden, drehte und zog an seinen Gelenken, als täte er es nicht zum ersten Mal.
»Toma war im Krieg, er kennt sich aus mit solchen Sachen«, sagte Barbara leise zu Stefan.
»Dann hat er sicher schon Schlimmeres gesehen.«
Betretenes Schweigen kehrte ein, die Erschöpfung wurde mit jedem Augenblick spürbarer, Augenlider glitten langsam nach unten. Die Sonne näherte sich fast unmerklich der Meeresoberfläche.
»Wie war das im Krieg, Toma? Hast du auch solche Erfahrungen gemacht? Dass das Leben an dir vorbeizieht und so?« Barbara kannte Toma schon lange, schon seit sie vor vielen Jahren das erste Mal ihre Tante hier besucht hatte. Aber nie, nie hatte sie ihn ein einziges Wort über den Krieg und seine Verletzung äußern hören. Toma sah Barbara ruhig an, Julia Toma unsicher. In der allumfassenden Stille fühlten sich diese Blicke nicht angenehm an.
»Toma …«
Leise Schritte auf der trockenen Erde. Lisa strahlte, die Hosenbeine und Ärmel nass. Hinter ihr Katrin, am ganzen Leib zitternd.
»Was habt ihr gemacht?«
»Katrin ist ins Wasser gegangen! Sie ist geschwommen!«
»Wirklich?«
Katrin nickte, und ihre Zähne klapperten.
»Du musst dich gleich umziehen«, sagte Julia und eilte ins Haus. Katrin folgte ihr stillschweigend, ihre Augen ungläubig, erstarrt in der Aufregung des vergangenen Augenblicks, als könnte sie selbst nicht glauben, was sie getan hatte.
Lisa setzte sich auf einen Klappstuhl, sah Julia hinterher, bevor sie dann in einem Atemzug sagte: »Es war unheimlich, sie ist einfach weitergegangen, immer weiter, nicht ein einziges Mal hat sie angehalten, immer weiter, und dann ist sie verschwunden, ich dachte, ich werde hinterherspringen müssen, aber ihr Kopf erschien nach kurzer Zeit wieder, sie ließ sich vom Wasser treiben, sie sah mich stumm an, als wären wir in einem Traum …«
Alle wunderten sich über so viele Worte aus Lisas Mund.
»Ist das Wasser kalt?«, fragte Stefan.
»Na, warm ist es nicht!«
Dann schwiegen alle, es dämmerte schnell.
»Es war ein langer Tag, Leute, und wir müssen uns noch im Haus einquartieren, die Zimmer verteilen … Lasst uns runtergehen«, schlug Barbara mit matter Stimme vor.
Keiner rührte sich, als hätten die Müdigkeit und die untergehende Sonne und die Frische der Luft und das leise Meeresgeplapper und all die Erlebnisse sie wie eine leichte Wolldecke umhüllt und verschwinden lassen.
Julia erschien mit Katrin an der Tür, Diva lief ihnen entgegen und bellte einmal laut, alle zuckten zusammen und wurden plötzlich wieder ganz wach, standen auf, ein Stimmenwirrwarr ertönte, und die große Völkerwanderung setzte ein. »Du hättest auch mitkommen sollen, ins Meer«, sagte Katrin zu Michael, der sie abwesend ansah. »Wegen deiner Wunden, es hätte sie gleich geheilt.« Zögernd hob sie die Hand und berührte seine zerkratzte Wange.
»Lass das, mir geht’s gut.« Michael eilte davon zum Kombi, wo die anderen schon die Taschen und Koffer entluden. Katrin blieb einen Augenblick auf der Terrasse stehen, ihre Augen rot, die Haare in ein Handtuch eingewickelt, die zweite Ersatzbrille um den Hals gehängt. Sie betrachtete ihre Finger, die so schön zu modellieren wussten, zu meißeln, mit so viel Kraft und Sensibilität. So leer, abgewiesen und leer, die Geschichte ihres Lebens. Und zum ersten Mal dachte Katrin, die Kunststudentin, dass es womöglich ein Fehler gewesen war, herzukommen, überhaupt in diesem Stück mitspielen, aus dem Alltag ausbrechen zu wollen, nach dem Abenteuer zu suchen.
»Katrin, komm, hol deine Sachen!«, rief Barbara, und alle drehten sich um und sahen sie fragend an. »Ist was? Geht’s dir nicht gut?«
Katrin lächelte schwach in der Hoffnung, das würde genügen. Langsam schloss sie sich den anderen an, erlaubte nicht, dass Toma ihre Tasche trug.
Den schmalen Weg zum Haus auf dem Felsen, zu ihrem neuen Zuhause auf Zeit, gingen sie hintereinander, vorsichtig. Julia voraus, mit dem Schlüssel in der Hand. »Eigentlich braucht man hier nicht abzusperren, da ich es aber so viele Monate nicht nutze …«, erklärte sie, als sie auf der Treppe stand und die Tür aufschloss, sie öffnete und eintrat, alle anderen hinter ihr. Toma blieb draußen mit Diva und wartete.
Drinnen zeigte Julia ihnen alles, viel war es nicht, aber genug für sechs junge Menschen. »Hier habt ihr Handtücher und Bettlaken, Kissen und Decken sind in den Schubladen unter den Betten. Und ich dachte, die Liege hier könnte das sechste Bett ersetzen, oder, wenn euch ein Schlafsack lieber ist, da habe ich auch noch einen, oben, im Haus.« Geschäftig ging sie hin und her, berührte dies und jenes. »Ich habe euch das Nötigste schon besorgt, es liegt im Kühlschrank, und hier sind Brot und Müsli und Kaffee. Morgen müsst ihr dann selbst einkaufen gehen …«
»Aber nicht wieder die Straße hoch, hoffe ich!«
Julia lachte, während alle sie gespannt ansahen.
»Nein, wir nehmen das Boot«, beruhigte Barbara die anderen.
»Wer wird uns denn fahren?«
»Das kann ich machen, oder Toma, er wird nichts dagegen haben, und sein Boot ist noch größer, wenn alle mitkommen wollen …«
»Nein, morgen ist die erste Probe, die Schauspieler und ich werden hierbleiben, so viel Zeit haben wir nicht«, sagte Anton bestimmt.
Lisa ließ den Kopf hängen, murmelte etwas Unverständliches.
Katrin machte den Mund auf, aber Michael war schneller: »Wir sind aber keine Sklaven hier, wir wollen auch was sehen und ein wenig entspannen.«
»Und was erleben …«
»Ihr könnt nackt herumlaufen und am Strand schlafen und miteinander vögeln und Kroatisch lernen und eure Starallüren ausleben und die Insel erkunden – das können wir alles machen, wenn wir fertig sind.«
»Aber …«
»Ich dachte, es war allen klar, dass wir zum Arbeiten hier sind, so war das doch ausgemacht.« Wütend ging Anton in das am nächsten gelegene Zimmer und schlug die Tür zu. Das ganze Haus erzitterte.
»Dann hätten wir auch zu Hause bleiben können«, flüsterte Katrin, senkte den Kopf.
Für einen Augenblick bewegte sich keiner. Dann ging Barbara auf die geschlossene Tür zu, wandte sich aber zu Julia um, bevor sie sie öffnete: »Tut mir leid, Tante, das geht überhaupt nicht, das werden wir schon regeln, mach dir keine Gedanken.«
Julia sah sie nachdenklich an, die alte Skepsis beschlich sie wieder, aber sie sagte nichts, wünschte allen lediglich eine gute Nacht und verließ das Haus. Draußen vor der Tür hakte sie sich bei Toma unter, schüttelte den Kopf, und so gingen sie den schmalen Weg hinauf, ihre Körper ganz nahe beieinander.
Drinnen trat Barbara ohne anzuklopfen in das Zimmer, in das Anton sich geflüchtet hatte. »Was ist denn in dich gefahren?« Ruhig zu bleiben, bereitete ihr offensichtlich viel Mühe. »Was schreist du so herum?«
Anton saß auf der nackten Matratze, unbeweglich, als würde er warten, die Ellenbogen auf den Knien, ließ den Kopf hängen. Er war der Älteste unter ihnen, er bewegte sich auf seinem Terrain, hier am Meer war er zu Hause, mehr noch als Barbara. Er wollte gehört werden. Dieses Stück, diese drei Schauspieler – das war alles, was er noch hatte. Vielleicht. Man würde sehen. Er betrachtete eingehend den Holzboden, wunderte sich, wie sauber er war. »Hat sie heute das Haus für uns geputzt?«
»Was?!«
»Hat Julia das Haus geputzt? Sie wirkt nicht so, als würde sie das tun.«
Barbara schüttelte den Kopf, drehte sich zu den anderen, die an der Türschwelle stehen geblieben waren, und sah sie fragend an. Nichts Brauchbares kam von ihnen, nur Achselzucken, Augenverdrehen, Mundverziehen.
»Also, jetzt reiß dich bitte zusammen und sei einfach nett, hörst du?«, sagte sie dann zu Anton. »Komm in den Wohnraum, wir müssen uns organisieren und Zimmer und Aufgaben verteilen.«
Anton reagierte nicht, aber Barbara hatte es satt und war müde, und so verließ sie das Zimmer, ohne sich nach ihm umzudrehen. »Lass das nicht deine Sorge sein, Barbara«, flüsterte Stefan ihr ins Ohr, als sie an ihm vorbeiging. Sie tat so, als hätte sie ihn nicht gehört, denn es war immer alles ihre Sorge.
Sie saßen am Tisch, auch Anton hatte sich schließlich zu ihnen gesellt, aßen Brot und Käse und den Salat, den Julia gemacht hatte, etwas anderes gab es nicht, aber es schmeckte himmlisch, und zwar nicht nur, weil sie Hunger hatten und erschöpft waren.
»Das ist wahrscheinlich Tomas Käse, er hat Schafe und Ziegen und macht auch eigenen Wein …«
»Aus Ziegenmilch?«, fragte Stefan und lachte laut auf.
»Ha ha«, war alles, was Barbara für ihn übrig hatte in diesem Augenblick.
»Wahnsinn, das alles«, meinte Michael mit vollem Mund.
»Du solltest vielleicht weniger trinken, mit deinen Wunden …«, ermahnte ihn Katrin.
»Was bist du? Meine Mutter?«
»Ich sage nur, wenn wir morgen früh anfangen wollen …«
»Und das wollen wir, darauf könnt ihr Gift nehmen«, meldete sich endlich auch Anton zu Wort.
»Was für eine charmante Art, mit deinen Schauspielern umzugehen! Wo hast du diese Motivationstechnik gelernt?«, Michael sah ihn über den Glasrand an.
»Wir fangen morgen um neun Uhr mit der ersten Leseprobe an, und ich hätte dich gerne dabei, Stefan, wenn du schon hier bist. So können wir eventuelle Unklarheiten oder Unstimmigkeiten aus dem Weg räumen, und du behältst die Kontrolle über deinen Text. Was sagst du?«
»Ich sage, dass mir die Kontrolle nicht so wichtig ist wie dir, aber ich werde da sein«, lächelte Stefan. »Jemand muss doch die kleinen Kinder hier vor dir schützen«, er zwinkerte den drei Schauspielern, die nebeneinander auf der Bank saßen, zuversichtlich zu.
Bevor sich einer von ihnen oder Anton aufregen konnte, fragte Barbara: »Und wann gehen wir dann einkaufen? Ich dachte, wir beide würden das erledigen, solange die proben. Alleine schaffe ich das nicht.«
»Ich sehe schon, ich bin heiß begehrt«, grinste Stefan und legte seinen Arm um Barbaras Schultern. »Keine Angst, Süße, das machen wir schon.«
»Oder ich frage Toma, vielleicht fährt er mich nach Bol, sein Boot ist ja sowieso größer«, sagte Barbara und lächelte unschuldig.
»Er könnte dein Vater sein …« Stefans Lächeln wurde sauer.
»Das glaube ich nicht, er kannte meine Mutter ja gar nicht.«
Die beiden Liebenden wechselten herausfordernde Blicke.
»Apropos: Was ist da überhaupt zwischen Julia und Toma? Sind sie ein Paar?«, fragte Lisa neugierig und nahm noch eine dicke Scheibe Käse.
»Oder haben sie nur eine Affäre?«, ergänzte Anton mit einem falschen Lächeln und einer falschen Stimme. Alle wandten sich ihm zu.
»Was?!«
»Bist du interessiert?«, fragte Lisa.
»Bist du interessiert? Du hast angefangen …«
»Wusstet ihr, dass Lord Byron eine Affäre mit seiner Halbschwester hatte und sie schwängerte?«
»Ich glaube, ich gehe jetzt ins Bett, ihr seid unerträglich! Ich hoffe, ich werde es nicht bereuen, euch hierher eingeladen zu haben … meine Tante wird es nicht bereuen, mir zugesagt zu haben …«
Barbara wollte aufstehen, aber Stefan fasste sie am Handgelenk und zog sie zurück auf den Stuhl. »Reg dich nicht auf, Süße, lass sie doch, die sind nur neugierig«, beschwichtigte er sie und gab ihr einen Kuss. »Aber sag mal, so unter uns, was läuft da wirklich zwischen den beiden?«
Barbara sah sie alle, einen nach dem anderen, an und seufzte leise. »Ich weiß es nicht, ich glaube, sie sind einfach gute Freunde«, sagte sie und griff nach dem Brot.
»Ja, genau! Das glaubst du doch selbst nicht!«
»Wohnen die zusammen?«, wollte Anton wissen.
»Nein, Toma hat ein tolles Haus am anderen Ende der Bucht, ich zeige es euch morgen.«
»Seit wann ist deine Tante schon Witwe?«
»Seit fünf Jahren.«
»Und ist Toma verheiratet?«
»Nein, war auch nie, soviel ich weiß.«
»Dann ist alles klar.«
»Wieso ist dann alles klar?! Ihr Männer denkt nur …«
»Wir denken gar nicht, deswegen können wir auch keine Verantwortung für unsere Worte oder Taten übernehmen …«
»Ich gehe ins Bett«, sagte Barbara und stand auf, diesmal konnte Stefan sie nicht zurückhalten.
»Warte, wir haben die Zimmer noch nicht verteilt!«
»Das ist ja einfach: zwei Mädchen, zwei Jungs und Stefan und ich. So.«
Alle schwiegen.
»Hier sind Laken, Decken, Kissen … Gute Nacht.«
»Und wer schläft im Schlafsack?«
»Entscheidet doch selber! Ich bin nicht eure Mutter …«
»Oder wir zwei schlafen in einem Bett, Süße, mehr brauchen wir nicht, was sagst du?« Stefan stand auf, ging zu Barbara und umarmte sie fest. »Ich freu mich schon auf das kleine Bett«, sagte er leise und lächelte sie verheißungsvoll an. Er spürte, wie sie weicher wurde.
»Okay, lass es uns versuchen.«
Er küsste sie auf den Mund, strich mit der Zunge über ihre Lippen. »Ich kann es kaum erwarten …« Er nahm sie an der Hand und führte sie ins Schlafzimmer. »Gute Nacht, Kinder!«, sagte er noch jovial und schloss die Tür hinter sich.
4.
Auf der Terrasse lag Julia, in eine Decke eingewickelt, auf einem Liegestuhl und zählte Sterne. Nach dem klärenden Wind heute waren sie zum Greifen nahe und funkelten um die Wette. Julia stellte sich immer vor, sie wären Küsse, leidenschaftliche Küsse, von einsamen, sehnsüchtigen Lippen auf die Suche nach einem seelenverwandten Mund geschickt. Und manchmal hatte sie das Gefühl, etwas von dieser Leidenschaft würde auch ihre Haut berühren, manchmal prickelte sie nachts so eindringlich, entblößend. Sie trank einen Schluck Rotwein, das Glas hatte sie auf dem Boden abgestellt.
»Dein Wein ist in diesem Jahr besonders fein«, sagte sie leise, ohne Toma dabei anzusehen, der, ebenfalls in eine Decke gehüllt, auf der Mauer saß, an die Steinsäule angelehnt.
»Ich hatte Glück, es gab viel Sonne und genug Regen«, erwiderte er und betrachtete weiter das Spiegelbild der Sterne, des gelb leuchtenden Mondes im Wasser. Erst jetzt konnte Ruhe in ihm einkehren, jene tief reichende Ruhe, die er sonst nur vortäuschte; die ihn am Leben hielt; die alles und nichts mit seiner Liebe zu Julia zu tun hatte; die alles, aber auch absolut alles dem Meer verdankte.
Es herrschte Stille, eine Stille voller Liebeserklärungen der Natur, in der Nachtvögel sich gegenseitig zärtliche Serenaden vorsangen; in der das Meer den Kies sanft streichelte und ihm sanfte Worte zuflüsterte, die Felsen aber mit einer majestätischen Wucht eroberte; in der die Pinienbäume den Zypressen kühne Verse vortrugen. Die Nächte waren zum Lieben da. Das wusste jede Feldmaus und jede Heuschrecke und jeder Fisch und jede Krabbe. Und Julia wusste das auch, und Toma ebenfalls. Und dennoch saßen sie weit voneinander entfernt, weder sangen noch trugen sie etwas vor, vom Zuflüstern oder Erobern gar nicht zu sprechen – und so seit Jahren jetzt. Sie waren ein Paar, ohne eines zu sein. Das ergab keinen Sinn, und diese Sinnlosigkeit hielt sie zusammen wie zwei Seesterne.
»Was denkst du über die jungen Leute da unten?«, fragte Julia und drehte versonnen ihr Weinglas in der Hand.
»Das wird Ärger geben«, kam prompt Tomas Antwort, als hätte er sich schon Gedanken darüber gemacht – was sie überrascht hätte, denn Toma lebte anscheinend immer in seiner Welt, verließ sie nur oberflächlich. Anscheinend. Aber es wäre nicht das erste Mal, dass Julia sich in Toma geirrt hätte, so oft hatte er sie verwirrt, angenehm verwirrt – und dennoch behielt Julia diese Überzeugung Tomas tiefstes Wesen betreffend bei, als wäre sie unfähig, ihr Bild von ihm zu berichtigen.
»Warum denkst du das?«