image

Annerose Kirchner
Spurlos verschwunden

Annerose Kirchner

Spurlos
verschwunden

Dörfer in Thüringen –
Opfer des Uranabbaus

image

Die Entstehung dieses Buches wurde durch ein Stipendium der Kulturstiftung des Freistaats Thüringen gefördert.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet
diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Ebook-Auflage, März 2016,
entspricht der 1. Druckauflage vom März 2010
© Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de
Umschlaggestaltung: KahaneDesign, Berlin,
unter Verwendung eines Fotos von Erich Krauthahn:
Sprengung im Tagebau Culmitzsch, ca. 1960
Lektorat: Jana Fröbel, Berlin

ISBN 978-3-86284-335-0

Inhalt

Abgebaggerte Dorfzeit

Pechblende und Meerrettich

Sorge: Johannes Weiser nimmt Abschied von seinem Dorf

Kirschbude und Arbeiterstreik

Katzendorf: Annita Meyer vermisst nicht nur den Stundenstein vorm Haus

Kuhgespann und Absetzerhalde

Lichtenberg: Erika Nettbohl lebt mit ihrer Großfamilie an der Wipse wie auf einer Insel

Feuerwehr und Geigerzähler

Schmirchau: Dieter Sonntag sucht sein Dorf am Fuß der Schmirchauer Höhe

Sommerfrische und Haldenrutsch

Gessen: Renate Baum sah Bäume wie Streichhölzer knicken

Wasserschloss und Schlammteich

Culmitzsch: Lieselotte Luckner verließ als Letzte eine Ruinenlandschaft

Anhang

Literatur- und Quellenverzeichnis

Abbildungsnachweis

Dank

Angaben zur Autorin

image

Dörfer haben Hunderte – manchmal Tausende – von Jahren überlebt, Dörfer haben Gesichter, Dörfer haben Geschichten, Dörfer haben Runzeln und Linien, die sich nicht mehr wegwischen lassen.

Geert Mak, Wie Gott verschwand aus Jorwerd

Der Anblick verschlug die Sprache, ließ sie starr Aufderstelle stehn. Kaum vermochten sie sich zu orientieren: sämtliche Häuser des Ortes verschwunden :od zu Schutthaufen zermalmt, vertraute Straßenzüge Gärten Bäume, fort. Als hätten Prügeltrupps einem Menschen alle Zähne rausgeschlagen starrte sie die Unkenntlichkeit ihres Heimatdorfes an.

Reinhard Jirgl, Die Stille, Photo 93

Ich vergleiche die Umsiedlung eines Ortes mit dem langsamen Sterben eines Angehörigen.

Thomas Krieger, Pfarrer im ehemaligen Heuersdorf, Heuersdorf. Geschichte und Abschied eines mitteldeutschen Dorfes

Uran ist ein silberweiß glänzendes radioaktives Schwermetall. Im Periodensystem der Elemente steht es an 92. Stelle. Es kommt in der Natur in drei Varianten vor: U-234 (Halbwertszeit 245 000 Jahre), U-235 (Halbwertszeit 700 Millionen Jahre) und U-238 (Halbwertszeit 4,5 Milliarden Jahre).

image

Sorge-Settendorf. Abendstimmung an der »Kirche ohne Dorf«, 2009

Abgebaggerte Dorfzeit

I

Ein kalter, verregneter Sonntag im Dezember 2008. Über die Elsteraue nahe Meuselwitz treibt Nebel. Trotz des Wetters kann ich von der B 180 die beiden gigantischen weißen Dampfsäulen des Braunkohlenkraftwerks Lippendorf am nördlichen Horizont gut ausmachen. Ein Bild, das mir aus der Ferne bereits vertraut ist, denn inzwischen habe ich mehrmals die rund 350 Meter hohe sanierte Tafelhalde des einstigen Wismut-Bergbaubetriebes Beerwalde am Rande der Gemeinde Löbichau nördlich der A 4 bestiegen und vom Plateau aus bei klarer Sicht die Lippendorfer »Rauchzeichen« entdecken können. Heute lasse ich den wachsenden grünen »Zukunftswald« der aufgeforsteten Halde Beerwalde mit 80 000 Bäumen, darunter Traubeneichen, Winterlinden, Bergahorn, Vogelkirsche, Lärchen und Douglasien, hinter mir und fahre durchs Altenburger Land. Von Gera über Nedissen, Großpörthen, weiter nach Meuselwitz und Lucka. Mein Ziel heißt Heuersdorf, Ortsteil von Regis-Breitingen. Der kleine Ort in Sachsen, nahe der thüringischen Landesgrenze, machte weltweit Schlagzeilen – als Dorf des jahrelangen, doch vergeblichen Widerstandes gegen die »bergbaubedingte Umsiedlung« und durch die spektakuläre Umsetzung der denkmalgeschützten 750 Tonnen schweren Emmauskirche nach Borna im Herbst 2007.

Noch verzeichnen Landkarten den Ort am südöstlichen Rand des Großtagebaus »Vereinigtes Schleenhain«. Doch die Realität sieht anders aus. Rechtlich existiert die Gemeinde, entstanden aus Alt-Heuersdorf und Großhermsdorf, längst nicht mehr, und über die Hälfte der Häuser, in denen zum Beispiel 1990 fast 350 Menschen wohnten, ist seit Ende 2007 abgebaggert. 50 Millionen Tonnen Braunkohle lagern unter dem 700 Jahre alten Dorf. Die Mitteldeutsche Braunkohlengesellschaft mbH (Mibrag) fördert diesen Bodenschatz und transportiert ihn durch den vier Kilometer langen Tagebau direkt ins Großkraftwerk Lippendorf. Der Vattenfall-Koloss, seit 1999/2000 in Betrieb, verschlingt etwa zehn Millionen Tonnen Braunkohle im Jahr. Vierzig Jahre lang soll Lippendorf betrieben werden. Die erste Heuersdorfer Kohle ist schon verfeuert, und die Bagger nähern sich unaufhaltsam dem Dorfzentrum. Anfang 2010 wird hier wohl kein einziges Haus mehr stehen.

Im Frühjahr 2008 war ich das erste Mal in Heuersdorf, an einem Sonntag mit Kaiserwetter. Damals stand am Ortseingang ein Verbotsschild für Fahrzeuge aller Art. Jetzt ist es verschwunden. Das Dorf scheint auf den ersten Blick wie ausgestorben, doch hinter einigen Hoftoren wird geräumt und gepackt. Pkws warten vor den Grundstücken neben Containern, beladen mit Gerümpel. Nachts kommen die Plünderer. »Die haben keine Genehmigung, hier etwas aus den Häusern zu entfernen. Wenn wir einen erwischen, können wir den nicht mal bestrafen«, sagt einer der beiden schwarz gekleideten Security-Männer, die sofort mitbekommen, wenn sich Fremde dem Dorf nähern. Er wird gesprächig, als ich ihm erzähle, dass ich über Sorge, Katzendorf, Lichtenberg, Schmirchau, Gessen und Culmitzsch schreibe – Dörfer im östlichen Thüringer Schiefergebirge, die vor über vierzig, fünfzig Jahren dem Uranerzbergbau in der DDR weichen mussten.

Zwölf Heuersdorfer halten es noch im Dorf aus, sagt der Security-Mann. Darunter Horst Bruchmann, der ehemalige Bürgermeister und jetzige Ortsvorsteher, und Bernd Günther, Vorsitzender des Vereins Für Heuersdorf e.V. Sie gehören zu denen, die öffentlich Druck machen gegen die Mibrag, Vattenfall und die Umsiedlung. Sie werden wohl als Letzte ihre alte Heimat verlassen. Die Dorfgemeinschaft ist in alle Winde zerstreut, nach Regis-Breitingen, Hagenest, Ramsdorf oder Frohburg. Sie hat sich gegen einen neuen gemeinsamen Standort, gegen ein neu erbautes Dorf, entschieden. Der Security-Mann mahnt, leerstehende Gehöfte wegen der Einsturzgefahr nicht zu betreten. Als ich ihm erzähle, dass ich mir in Spanien für 200 000 Euro ein verlassenes Dorf kaufen und dort Pferdezucht oder Töpferkurse betreiben könnte, lacht er.

Ich laufe zur Taborkirche. Der Friedhof ist eine Baustelle. Die Gräber wurden vor kurzem nach Breitingen umgebettet. Das Gotteshaus ist entsegnet und wartet auf den Abriss. Doch zuvor werden die Archäologen hier, im »Tagebauvorfeld«, Siedlungsspuren sichern. Auf dem Anger stehen sich David und Goliath – ein wehrhafter Zwerg und ein mächtiger Riese – im Duell gegenüber. Die Skulpturengruppe, 1996 von Bündnis 90/Die Grünen (Leipzig) gespendet, ist für die Heuersdorfer ein sichtbares Symbol für ihren streitbaren, widerspenstigen Dialog. Sie wählten dafür den Ausspruch des engagierten Agrartechnikers und Weltreisenden Max Eyth: »Wer nicht manchmal das Unmögliche wagt, wird das Mögliche nie erreichen« und schrieben ihn auf ein Schild, das sie sichtbar am Anger anbrachten. Seit 1989 wehren sich die Heuersdorfer gegen die drohende Zerstörung ihres Lebensraumes. Es vergehen Jahre voller Hoffnung und Zweifel, begleitet von kleinen Siegen und bedrückenden Niederlagen. Eine Umsiedlung sei für die Heuersdorfer nur möglich, »wenn die energiepolitische Notwendigkeit nachgewiesen ist und ein Umsiedlungskonzept vorliegt, das eine ihren Interessen entsprechende Umsiedlung gewährleistet«, heißt es 1994 in einer Entschließung. 1995 unterzeichneten die Mibrag und der Freistaat Sachsen den Heuersdorf-Vertrag, der die sozialverträgliche Umsiedlung beschließt. Die Heuersdorfer verweigerten ihre Unterschrift und reichten Klage ein. Im Jahr 2000 erklärte das Sächsische Verfassungsgericht den Heuersdorf-Vertrag wegen Formfehlern für ungültig. 2004 wurde ein neues, das zweite Heuersdorf-Gesetz beschlossen. Die erneute Klage der Heuersdorfer wurde 2005 von den Verfassungsrichtern abgewiesen. Damit stand der geplanten Abbaggerung des Ortes, in dem nur noch an die 100 Menschen leben, nichts mehr im Wege.

II

Ich denke an die bewegenden Erinnerungen der von mir befragten Zeitzeugen in der Ronneburger Region, darunter auch ehemalige Bergleute der SDAG Wismut. Als ihre Dörfer Tagebauen, Schachtanlagen, Halden und Schlammteichen weichen mussten, gab es wegen der Geheimhaltungsstrategie im ostdeutschen Uranerzbergbau nur bedingt gesetzliche Einspruchsmöglichkeiten, meist gegen die geschätzte Höhe der Entschädigungen. Wer sich wehrte, hatte mit ernsthaften Konsequenzen zu rechnen.

Ein breiter öffentlicher Protest gegen Zwangsaussiedlungen im Braunkohlenrevier, wie er sich nach der politischen Wende ab 1990 in der Lausitz oder in Brandenburg entwickelte, mit Bürgerbegehren, Aktionen bis hin zu bestmöglichen Abfindungssummen, war in der zentralistisch regierten DDR, dem weltweit drittgrößten Uranproduzenten, unmöglich. Über die Devastierung der Braunkohle-Dörfer wusste die Bevölkerung weit über die betroffenen Regionen hinaus Bescheid, während die Themen »Uran« und »Wismut« bis 1990 in der Öffentlichkeit weitgehend tabu blieben, abgesehen von Aktivitäten der DDR-Friedens- und Umweltbewegung seit den achtziger Jahren mit Michael Beleites an der Spitze, der im Untergrund seine Dokumentation Pechblende – Der Uranbergbau in der DDR und seine Folgen veröffentlichte.

Im Sommer 2006 konnte ich noch nicht ahnen, wie viel Zeit und Energie meine Spurensuche in Anspruch nehmen würde. Ein Gespräch mit Dr. Rainer Hausigk aus Gera wirkte wie eine Initialzündung. Der Geophysiker, über dreißig Jahre bei der SDAG Wismut tätig, erzählte mir über die Initiativen des 2005 gegründeten Vereins für den Bau einer Gedächtniskapelle in der Neuen Landschaft bei Ronneburg. Dort, wo einstmals das Dorf Schmirchau gestanden hatte, sollte mit dem Neubau, geplant als Begleitprojekt der Bundesgartenschau 2007, an die verschwundenen Dörfer im Ostthüringer Wismut-Gebiet erinnert werden. Im Laufe unserer Diskussion nahm die Idee vage Gestalt an, ehemalige Bewohner der Dörfer über ihr teilweise kleinbäuerlich geprägtes Leben, über die Erfahrungen mit der zerstörten Landschaft, mit Umsiedlung, Heimatverlust und Neuanfang zu befragen.

Kurz darauf traf ich auf alte Menschen, die froh waren, sich endlich mitteilen zu können. Sie hatten gewartet, dass da jemand kommt und ihnen zuhört. Viel zu lange hatten sie geschwiegen, weil ihre Geschichten in der DDR nicht erwünscht waren, weil sie niemand hören wollte und aufschrieb. Sie, die letzten noch lebenden Zeugen, inzwischen 70, 80 Jahre alt, wissen, wie begrenzt die ihnen noch verbleibende Lebenszeit ist. Sie möchten, sofern sie gesundheitlich noch dazu in der Lage sind, den nächsten Generationen Bewahrenswertes über ihre Vergangenheit mitteilen und auch inneren Frieden finden. Einige Zeitzeugen verstarben bereits, wie Annita Meyer aus Katzendorf. Die 77-Jährige konnte mir nur einen Bruchteil ihrer Erinnerungen mitteilen und das schriftliche Ergebnis unserer Begegnungen nicht mehr zur Kenntnis nehmen. »Es ist bereits drei Minuten vor zwölf.« Diesen Satz hörte ich oft. Andere vertraten die Ansicht, die alten Geschichten lieber ruhen zu lassen. Sie meinten, die »Russen« könnten ja wiederkommen, um hier das letzte Uran aus der Erde zu kratzen. Außerdem würden täglich auf der Welt Dörfer aus ökonomischen Erwägungen aufgegeben und abgesiedelt. Sie nannten mir als Beispiele den Drei-Schluchten-Staudamm am Jangtse, wo bis zu zwei Millionen Menschen umgesiedelt wurden, und das rheinische Braunkohlenrevier, wo dem RWE-Power-Tagebau Garzweiler II in den nächsten Jahren zwölf Dörfer weichen müssen. Dort lagert der fossile Brennstoff in einer Tiefe von bis zu 200 Metern. Von Garzweiler II wird ein 185 Meter tiefes Restloch bleiben, dessen Dimensionen an die des ehemaligen Uranerztagebaus Lichtenberg erinnern. Projekte menschlicher Gigantomanie, die angesichts des immer schneller voranschreitenden Klimawandels eigentlich nicht mehr zu vertreten sind.

Das sehen manche meiner Zeitzeugen ebenso. Aus ihrem Langzeitgedächtnis tauchten im Gespräch verschüttete Wahrnehmungen auf vom Leben im Dorf, den Häusern, Nachbarn und vor allem aus der Kindheit – ein Stück Identität. Bis heute verbindet diese Menschen trotz oft verklärten historischen Wissens und abstrakter Ansichten eine gemeinsame Grundstimmung, die auf traumatisches Erleben verweist – den nicht mehr umkehrbaren Heimatverlust. Gerade deshalb ist ihre mündliche, ganz von innen erzählte Rede auch Vergangenheitsbewältigung.

Ein Tagebuch über den Ablauf der Umsiedlung hat vermutlich niemand geführt, und auf erhaltene Ortschroniken stieß ich selten. Nur wenige Zeitzeugen besitzen noch originale Dokumente oder Belege etwa über den Verkauf ihrer Grundstücke und Häuser. Fotos sind die kostbarsten Zeugnisse der Vergangenheit. Weil das Fotografieren im militärisch gesperrten »Atomstaat« grundsätzlich verboten war, gibt es nur wenige oder gar keine Bilder aus den letzten Stunden der Dörfer. Eine Ausnahme bildet Culmitzsch.

Unmittelbaren Zugang zur Geschichte boten verschiedene Archive; allerdings stieß ich besonders bei der Rekonstruktion der Devastierung von Sorge und Katzendorf auf eine dürftige Aktenlage. Die Lücken konnte auch das Wismut-Archiv bisher nicht schließen. Vielleicht finden Historiker etwa von der Technischen Universität Chemnitz in ihrem aktuellen Forschungsprojekt noch wichtige, bislang unentdeckte Quellen in Moskau, Berlin und Chemnitz. Auch die Suche in den Beständen der Birthler-Behörde blieb erfolglos.

Für jedes der von mir beschriebenen verschwundenen Dörfer wählte ich einen Zeitzeugen, dessen Einzelschicksal exemplarisch für die ganze Dorfgemeinschaft stehen könnte. Kinder und Enkel reagierten unterschiedlich. Während mir einige von ihnen Bruchstücke mitteilen konnten, hielt sich die Überzahl mit Antworten zurück, weil sie nach dem Abriss der Dörfer meist an anderem Ort geboren wurden, nichts mehr über die alte Heimat ihrer Eltern, Groß- und Urgroßeltern wissen oder sich (noch) nicht für dieses Kapitel der Familienvergangenheit interessieren.

Was gewesen, ist vergangen, doch nicht für die Alten, die bis heute den Verlust ihrer Heimat nicht verwinden konnten und ihrer Trauer emphatisch Ausdruck verleihen. Zugleich stehen ihre Biografien als Zeugnisse für 40 Jahre DDR und 20 Jahre im wiedervereinigten Deutschland.

III

Als ich 1979 nach Gera zog, waren die Dörfer im Greizer Land – hier nahm das Wismut-Gebiet um Ronneburg rund 1670 Hektar ein – längst verschwunden. Fortan prägten die Spitzkegelhalden von Reust und Paitzdorf auch meinen östlichen Horizont. Wer dort lebte, bewohnte »müde Dörfer«. Ronneburg erschien mir damals oft grauer und trister als die Bezirkshauptstadt Gera. Wanderungen im Gessental führten durch einen herrlichen Bach- und Weidegrund. Das Bild wurde allerdings getrübt durch die weißen, auf dem Wasser schwimmenden Schaumflocken – sichtbares Zeichen für die Einleitung hochgiftiger Wismut-Abwässer. Ich erinnere mich an eine Tour mit meinem Fahrlehrer nach Ronneburg, im Winter 1993, als ich zum ersten Mal am Rand des Tagebaus Lichtenberg stand. Eine provisorisch aus frischem Holz gezimmerte Aussichtsplattform schwebte über der riesigen Grube. Es war ein kalter, trüber Tag, nicht geeignet für einen Blick durchs Fernglas. Der heftige Wind zog mich wie ein unaufhaltsamer Mahlstrom näher an die schwarz-graue bodenlose Tiefe, in der bis 1976 Uranerz abgebaut worden war. Sie ähnelte einem riesigen Kraterloch, das seit drei Jahren mit Material der Gessener Laugungshalde verfüllt wurde. Die Konturen und Bewegungen von Kippern, die in dieser Tiefe Ameisen glichen, konnte ich in dieser aschefarbenen, verwitterten Masse nicht ausmachen, dafür aber den Verlauf zerfurchter, mit Birken bewachsener Strossen unterhalb der Anlagen des Bergbaubetriebs Schmirchau. Nur wenige Minuten dauerte der Blick in das ehemals größte Tagebaurestloch Europas, das 1990 nach Verkippungen aus umliegenden Schächten statt 240 nur noch eine Tiefe von 160 Metern hatte. Dann tauchte der Sicherheitsdienst auf und verwies uns vom Gelände.

image

Blick in das Tagebaurestloch Lichtenberg mit Bergwerk Schmirchau und Reuster Halden, 1991

Im Januar 2007, einige Monate vor der Eröffnung der Bundesgartenschau, erlebte ich fast am gleichen Standort eine total veränderte Landschaft. Die Stelle, wo ich damals in den Abgrund geschaut hatte, war verschwunden. Den verfüllten Tagebau dominierte ein Aufschüttkörper, auf dessen Plateau in fast 400 Meter Höhe ich jetzt stand. Hier oben, auf der künstlichen Schmirchauer Höhe, tobte der Wind – die ersten Anzeichen vom Sturmtief Kyrill. Mir flog fast der gelbe Schutzhelm vom Kopf. Krampfhaft musste ich meine Kamera festhalten, um wenigstens einige verwackelte Bilder aufzunehmen. In Schräglage auf unsicheren Füßen, die in Gummistiefeln steckten, überblickte ich zum ersten Mal das zukünftige Gelände der Bundesgartenschau. »Hier, wo Sie jetzt stehen, war mal Schmirchau«, erklärte mein Begleiter Klaus Hinke vom Bergbautraditionsverein Wismut.

Es war ein eigenartiges Gefühl, auf diesem Berg zu stehen und unter sich, irgendwo in der Tiefe, im ehemaligen Tagebau, die Trümmer eines Dorfes zu wissen. Reste verschütteter Geschichte. Ich dachte an das schwarze Loch, aus dem 160 Millionen Kubikmeter Bergemasse gefördert worden waren. Unvorstellbare Mengen, die 12 670 Tonnen Uran enthielten. Ein Teil des Wismut-Urans für Moskau, für die Herstellung sowjetischer Atomwaffen und für die Kernenergie. Das darf trotz der »blühenden Landschaften« rund um Ronneburg oder im sächsischen Bad Schlema nicht vergessen werden. Wie viel Uran aus der DDR mag heute noch in Atomsilos lagern? UNO-Vertreter sprechen von 27 000 atomaren Sprengköpfen weltweit, während des Kalten Krieges belief sich die Zahl auf etwa 60 000.

Während der Bundesgartenschau erhielten die Gestalter der »Neuen Landschaft« Ronneburg den Thüringer Landschaftsarchitekturpreis. Die Presse schrieb: »Eine Landschaft geheilt«. Stimmt das? Was geschieht über und unter Tage, in den bedeckten, verschlossenen »Sarkophagen«, in denen radioaktive Last schlummert? Sind sie sicher für die Zukunft, für unsere Nachkommen? Es ist nichts mehr sichtbar, aber alles ist noch vorhanden im Kreislauf der Erde, denn in ihm, auch das vergisst der Mensch gern, geht nichts verloren.

Gegen das ehemalige Tagebaurestloch von Lichtenberg kamen mir die Tagebaue in der sächsischen Braunkohle offener und überschaubarer vor. 1977 fuhr ich per Mitfahrerlaubnis des VEB Braunkohlenkombinat Regis auf einer Elektrolok der Werkbahn, beladen mit Abraum, durch den Tagebau Schleenhain, kurz »Schlee« genannt, lief einsam unter verrußtem Himmel auf der Landstraße von Regis-Breitingen bis zur rauchenden Brikettfabrik Deutzen oder besuchte Lucie Posenenske, die Stellwerkerin, zu Hause in Breunsdorf, dem Nachbarort von Heuersdorf. Das Schicksal dieses kleinen Straßendorfes war, was ich damals nicht wusste, schon längst besiegelt. Ab 1989 wurden die Bewohner, viele von ihnen in der Braunkohle beschäftigt, umgesiedelt. 1994 / 95 verschwand das fast 700 Jahre alte, durch frühere Auflassungen benachbarter Orte gewachsene Dorf, in dem Archäologen vor der Devastierung erstmals, ähnlich wie jetzt in Heuersdorf, Siedlungsreste aus dem Mittelalter freilegen und erfassen konnten.

Im sterbenden Heuersdorf schlage ich Wurzeln, bewege mich im Areal meiner Erinnerungen wie in einem Zeitspeicher. Hier kann ich ahnen, was es bedeutet, mit der Familie Abschied nehmen zu müssen vom alten Pleiße-Bauernland mit seinen Auen, den letzten Obstbäumen und alten Kopfweiden, von Haus, Garten und Scheunen, vom Kaninchenstall und der bemoosten Friedhofsmauer. Vier Jahre ist es her, seit mir ein Stückchen Heimat verlorenging durch den Abriss des Neubaublocks in Gera, in dem ich seit über 20 Jahren, zuletzt mit zwei anderen Familien, gewohnt hatte. »Stadtumbau-Ost« heißt die Zauberformel gegen den Wohnungsleerstand – ein Bund-Länder-Programm zur Stadtbauförderung. Statt Sanierung oder Rückbau wurde in meinem Fall der Abriss vollzogen. Dank »Umzugsmanagement« fand ich eine andere, passende Wohnung. Von meinem Haus ist eine Lücke im Stadtbild geblieben, an die ich mich nicht gewöhnen kann. Bis heute habe ich diesen einschneidenden Verlust nicht verwunden. Vielleicht ergeht es meinen ehemaligen Nachbarn ebenso. Vor allem das Gefühl der Ohnmacht, nichts gegen das Unabwendbare tun zu können, hielt lange an. Ich denke oft an dieses Haus, in dem ich so gerne wohnte, mitten im Zentrum der Stadt, nahe dem Geraer Markt mit dem Simsonbrunnen. Auch dieses Erlebnis hat mich motiviert, über die verschwundenen Dörfer zu schreiben, wobei ein Text über Gauern noch aussteht.

Angemerkt sei an dieser Stelle: Für eine Darstellung der Geschichte der Wismut, des Uranerzbergbaus oder eine Analyse der Sanierung seiner Hinterlassenschaften bin ich nicht die geeignete Autorin. Deshalb verweise ich besonders auf Rainer Karlsch, den ausgewiesenen Wirtschaftshistoriker, und sein Buch Uran für Moskau. Die Wismut – Eine populäre Geschichte, das mir oft nützliche Dienste leistete, auch mit Informationen über Johanngeorgenstadt im Erzgebirge. Hier förderten Bergleute bereits vor der Gründung der Sowjetischen Aktiengesellschaft (SAG) Wismut 1946 die erste Pechblende aus dem Waldgebirge. Wegen der entstandenen Bergschäden musste ab 1953 fast die gesamte Altstadt abgerissen werden. Über 3000 Bewohner wurden umgesiedelt. Gleiches widerfuhr auch dem nahen Oberschlema, wo über 300 Häuser verschwanden. Davon waren über 1000 Menschen betroffen. Im Gebiet um Ronneburg und Berga waren es an die 1900. Johanngeorgenstadt ist heute eine Stadt ohne Charakter. Wo sich einst der Marktplatz mit dem Rathaus befand, wächst monotoner Fichtenwald. Rund um die Altstadtkirche, das einzige historische Gebäude, das nicht abgerissen wurde, finden sich noch ein paar alte Wohnhäuser. Ich habe Johanngeorgenstadt besucht und als sterbende Stadt, als Teilwüstung erlebt, wohl für immer gezeichnet von den Folgen bergbaulicher Tätigkeit. Die Einwohnerzahl schwindet zusehends. In den frühen Jahren der Wismut lebten hier 45 000 Menschen, jetzt sind es knapp 5000. Längst hat das ehemalige Kulturhaus »Karl Marx« im Stadtteil Neustadt, der ersten »sozialistischen Stadt« in der DDR, in dem die Bevölkerung ihre Feste feierte, seinen Glanz verloren und harrt mit vermauerten Fenstern und Türen wohl auf den Abriss.

In Heuersdorf zieren Weihnachtssterne die noch bewohnten Häuser. Eine einsame Katze streicht umher, ein Hund bellt. Die Bagger rumoren und bewegen sich hinter Ruinen und Bergen von Bauschutt langsam vorwärts. Für die Heuersdorfer ist dieser Zustand nichts Neues. Ihre Vorfahren lebten schon mit Tagebau und Halden, seit um 1900 die ersten Gruben, Braunkohlewerke und Brikettfabriken im Südraum Leipzig entstanden waren. Der Bergbau bedingte den Abriss vieler Dörfer, auch in Mitteldeutschland. Für die Heuersdorfer war es die unmittelbare Nachbarschaft, die verschwand, mit Schleenhain und Droßdorf, zu DDR-Zeiten überbaggert. Bewohner dieser beiden Orte zogen auch nach Heuersdorf. Hier finde ich wieder Parallelen zu »meinen« Dörfern in Ostthüringen, die gar nicht so weit vom Bornaer Braunkohlerevier entfernt lagen. Als Schmirchau verschwand, zogen seine Bewohner auch nach Gessen und Lichtenberg und mussten diese Orte Jahre später wegen der intensiv erschlossenen Uranlagerstätten wieder verlassen. In Heuersdorf rüsten sich die letzten Familien für den Abschied. Der Platzwart sondiert den noch nicht gesperrten Fußballplatz. Am Nachmittag findet das letzte Spiel statt. SV Heuersdorf 1920 spielt gegen SV Groitzsch 1861. »Wer wird gewinnen?«, frage ich den Platzwart, der drüben am Anger wohnt. »Wir, das ist doch klar!« Er behält recht. Heuersdorf siegt 5 : 1. Das letzte Spiel für einen Verein ohne Zukunft.

Wieder in Gera, erfahre ich, dass die weitere Sanierung der Wismut-Altlasten in Thüringen und Sachsen wegen technischer Schwierigkeiten noch bis ins Jahr 2020 dauern wird und mehr Kosten verursacht als geplant, wie Monate später die Freie Presse aus Chemnitz meldet. Traurig stimmt mich in diesem Moment, dass sich der Bau der bereits erwähnten Gedächtniskapelle in der »Neuen Landschaft« von Ronneburg verzögert, weil der Verein die nötigen 150 000 Euro nicht aufbringen kann. Der bundeseigenen Wismut GmbH, die mit 6,5 Milliarden Euro in Sachsen und Thüringen ihr weltweit einmaliges Sanierungsprogramm umsetzt, würde es gut anstehen, dieses Projekt zu fördern. Könnte sich daran nicht vielleicht auch ihr Tochterunternehmen Wisutec, das international »Bergwerke umweltgerecht und wirtschaftlich« verwahrt, beteiligen? Während ich darüber nachdenke, kommt mir wieder in den Sinn, welche Veränderungen der Landschaft rund um Ronneburg aufgebürdet werden. Wie es dort mit dem ehemaligen Bundesgartenschau-Gelände weitergeht, fragen sich viele Einheimische und ihre Gäste. Der auf 20 Hektar errichtete Mittelalter-Themenpark »Weltentor« sollte auf 45 Hektar erweitert werden, doch er war schon zur offiziellen Eröffnung im Juli 2009 pleite und musste Insolvenz anmelden. Das Personal wurde um die Hälfte reduziert, und der Rest von etwa 25 Mitarbeitern hat eine Auffanggesellschaft gegründet. Rund drei Millionen Euro sind in den Park investiert worden. Keine überwältigenden Besucherzahlen, trotz gesenkter Eintrittspreise und »Mitmachaktivitäten«. Der Parkbetrieb sollte bis Saisonende Anfang November 2009 dauern. Doch Mitte Oktober mussten die Mitarbeiter wegen Geldmangel das Handtuch werfen und die Anlage schließen. Was künftig auf diesem Teil des revitalisierten Bergbaugebiets geschieht, ist nun völlig offen. War es ein gutes Konzept, das Mittelalter ins burgenreiche Thüringen zu holen? Ich könnte mir vorstellen, dass ein Handwerksmarkt, abgestimmt auf die Historie Ostthüringens, hier besser angesiedelt wäre als »Spannung, Spaß und jede Menge Fantasy«, wie es das Projekt »Weltentor« versprach.

Inzwischen unterstützt die Wismut GmbH den Bergbautraditionsverein finanziell bei der Verwirklichung des beachtlichen Zeitzeugniskonzepts »Vom Bergbau zur Sanierung«. Darin eingebunden ist die »Straße der Bergbau-Kultur« mit 39 Haltestellen, darunter zahlreiche »Raum-Zeit-Fenster«. Diese erinnern inzwischen an fast alle von mir beschriebenen rund um Ronneburg und Berga geschleiften Dörfer. Zum Beispiel steht das »Zeitfenster« von Sorge direkt an der Friedhofsmauer der markanten »Kirche ohne Dorf«. Von hier geht der Blick über die freie Fläche, wo sich ein Teil von Sorge befand, bis hinüber an die Fichthäuser. Zu Füßen der Erinnerungstafel liegt ein rundgeschliffener Sandsteinbrocken, ein Eiszeitfindling, der die gemeißelte Inschrift »Sorge-Settendorf« trägt. Einige der von mir befragten Zeitzeugen haben an der Einweihung dieser Erinnerungsorte teilgenommen, mit einem guten Gefühl, denn nun ist ihre Heimat fast am alten Ort wieder gegenwärtig. Und im Jahr 2010 wird auf dem Landschaftsbauwerk Schmirchauer Höhe auch Schmirchaus gedacht.

Symbolisch bekunde ich Solidarität mit den Kohledörfern in der Lausitz, sage »Abbaggern? Nein!« und verteile an Gleichgesinnte Aufkleber und Faltblätter des Volksbegehrens »Keine neuen Tagebaue. Für eine zukunftsfähige Energiepolitik«. Mitte Februar 2009 lese ich in der Tagespresse: Das Volksbegehren ist gescheitert. Für einen Erfolg wären 80 000 Unterschriften nötig gewesen; aber nur rund 25 000 wahlberechtigte Bürger gaben eine gültige Unterschrift ab. Fazit: Dem neuen Tagebau Jänschwalde-Nord werden ab 2030 die Dörfer Atterwasch, Grabko und Kerkwitz weichen müssen. 900 Bewohner werden umgesiedelt.

Im August 2009 besuche ich erneut den Leipziger Südraum. Heuersdorf ist fast vom Erdboden verschwunden. Die letzten Einwohner haben ihren Widerstand gegen die Umsiedlung aufgegeben und sind in neue Häuser oder Mietwohnungen gezogen. An das Doppeldorf erinnern vielleicht noch zehn, zwölf geräumte Gebäude im südlichen Areal, dazu ein paar Schuppen und Scheunen. Überall Spuren von Verwüstung. Abgedeckte Dächer, Berge von Schindeln, Schutt, Müll. Aufgelassene Höfe, hinter eingeschlagenen Fenstern Gardinenfetzen, demolierte Ställe und Zäune. An einer Hoftür hängen verdreckte Handtücher. Das alles überragt die Taborkirche, deren Frist nun endgültig abläuft. Das Abrissgelände wird durch Metallzäune und niedergetrampelte Absperrbänder gesichert. »Betreten verboten!«, warnt die Mibrag die Schaulustigen, die es fast täglich hierherzieht, sogar aus Ronneburg und Schmölln. Der Rand des riesigen Tagebauloches von Schleenhain wirkt wie eine alles verschlingende Kralle, die bald die Überbleibsel des trostlosen Dorfplatzes erreicht. Das Herrenhaus des Rittergutes steht auf öder Fläche. Verschwunden der Park, die Wiesenauen … Am Horizont hinterm Tagebau quellen die weißen Dampfsäulen vom Kraftwerk Lippendorf in den Himmel. Für mich heißt es endgültig Abschied nehmen von einem Dorf, das in Agonie liegt und das ich niemals mehr besuchen kann, weil es nicht mehr existiert.

Auf dem Weg zurück zum Auto begegnet mir ein älteres Ehepaar, ehemalige Heuersdorfer. Bis vor kurzem haben die beiden noch in einem der kleinen Doppelhäuser gewohnt, die in den dreißiger Jahren vorwiegend für in der Braunkohle Beschäftigte gebaut worden waren. »Wir wohnen jetzt in Regis-Breitingen, in der neuen Siedlung ›Am Wäldchen‹«, sagt der Mann. »Wir kommen dort nicht klar«, sagt die Frau. »Wir sind einfach zu alt für einen Neuanfang in neuer Gemeinschaft. Den Jüngeren fällt das leichter. Und die haben schon ihre Gärten hinterm Haus. Wir fahren so oft es geht hierher. Wir können keinen Abschied nehmen.« Ob auch ihr Haus in dem kürzlich erschienenen Buch Heuersdorf. Geschichte und Abschied eines mitteldeutschen Dorfes detailliert beschrieben wird, fällt mir nicht ein zu fragen. Dort heißt es im Vorwort von Dr. Peter Jantsch, »dass das Ende von Heuersdorf nicht das Ende der Zeit bedeutet. Das Leben für die Menschen geht weiter, auch wenn es jetzt anders ist.« Beruhigende Worte, aber wohl kaum ein Trost angesichts der für immer verlorenen Heimat, ob damals in Thüringen oder heute in Sachsen und anderswo.

Gera, im Herbst 2009

image

Johannes Weiser, im Hintergrund die Kirche von Sorge-Settendorf, 2007

Pechblende und Meerrettich

Sorge: Johannes Weiser nimmt Abschied von seinem Dorf

I

Pfingsten hat der Raps goldgelb geblüht, jetzt rascheln schwarze Körner in den papiernen Schoten. Zeit für den Direktdrusch. Das Feld drängt sich als stachliges Dickicht bis an den Weg, der um die Kirche und die Feldsteinmauer des Friedhofs von Sorge-Settendorf führt. Keine Sicht hinüber zum kleinen Wäldchen, hinter dem der Dreiseithof stand, in dem Johannes Weiser aufwuchs. »Ich konnte als Kind jeden Tag die Kirche sehen«, sagt er, »damals standen hier nur wenige Bäume.« Wir treffen uns nicht das erste Mal hier. Seit Längerem lässt mich Johannes Weiser seine verlorene Heimat entdecken und erinnert, welche Dörfer im nördlichen Vogtland und im südlichen Altenburger Land vor über vier, fünf Jahrzehnten dem Uranerzbergbau zum Opfer fielen oder teilweise abgerissen wurden: Sorge, Katzendorf, Schmirchau, Gessen, Lichtenberg, Culmitzsch. Nicht völlig verschwunden sind Gauern, Zwirtzschen, Friedmannsdorf und Trünzig.

Nach der Rapsernte wird der Blick frei sein für die Landschaft auf der Hochfläche des Ostthüringer Schiefergebirges, östlich der Weißen Elster. Der höchste Punkt misst 400 Meter. Hier steht einsam die Kirche von Sorge als prägende, weithin sichtbare Landmarke. Zwei Maurermeister aus Greiz und Tschirma namens Herold errichteten, unter Mithilfe eines Zimmermanns, 1739 das Gotteshaus.

Um die Kirche von Sorge rankt sich die Sage, das für den Bau benötigte Material sei wie von Zauberhand auf die Höhe gelangt. Ein paar Häuser sind geblieben: Ein Drittel der ehemaligen Streusiedlung schart sich weit hinterm Rapsfeld im Halbkreis, unmittelbar an der Grenze zum Freistaat Sachsen. Settendorf, auf 337 Meter Höhe, geht ein paar Steinwürfe entfernt zu Tal, Richtung Obergeißendorf. Beide Dörfer gehören als Ortsteil seit 1968 zu Teichwolframsdorf. Settendorf, vom sorbischen »settem« abgeleitet – ein Hinweis auf sieben Häuser –, ist knapp 100 Jahre älter als Sorge.

Das Dorf Sigibito wurde 1448 erstmals urkundlich erwähnt, Sorge 1555 mit dem Pferdefröner Andres Rott uff der Sorg. Später folgten Thomas Zader, Valten Lenhardt und Michael Somer. Weltgeschichte schrieben diese Dörfer nicht, sie erlebten aber bewegte Zeiten: Kriege, Hungersnöte, die Pest und andauernde Erbstreitigkeiten ihrer Herrschaften. Settendorf erregte einmal die Aufmerksamkeit der hohen Politik, als 1568 ein Fronstreit zwischen dem Bauern Georg Hempel und seinem Herrn Georg von Planitz auf Trünzig ausbrach. Auf der Prager Hochburg wurde der Fall verhandelt. Kaiser Maximilian II. höchstpersönlich verpflichtete Heinrich XV. aus dem Hause Reuß als Schlichter, ohne Erfolg. Der Bauer wurde für sein Aufbegehren im Stock gefesselt und starb an dieser Tortur.

Settendorf gehörte seit 1564 bis zur Abschaffung der Monarchie 1918 den reußischen Heinrichen, ältere Linie, in Greiz. Das östlich gelegene Sorge, mehrfach geteilt, unterstand ebenfalls den Reußen, dem Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach und dem nur ein paar hundert Meter entfernten Königreich Sachsen. Die Gutsblockflur Sorge entwickelte sich aus dem ehemaligen Culmitzscher Vorwerk. Sorge zählte mehr Bewohner und Häuser als Settendorf, eine Block- und Streifenflur. Ab 1625 wurden beide Orte unter ihrem Doppelnamen geführt. Die Volkszählung von 1811 ergab für beide Orte 30 Häuser, in denen 114 Menschen lebten. 1925 waren es 206, nach dem Krieg wurden hier im Jahr 1949 insgesamt 380 Bewohner registriert. 1949 betrug die Fläche der Streusiedlung 302 Hektar. 1915 vermeldete das Fürstl. Reuß-Plauische Amts- und Verordnungsblatt die recht ansehnlichen Ergebnisse einer Viehzählung: 35 Viehbesitzer hielten 23 Pferde, 164 Kühe, 365 Schweine, 75 Stück Jungvieh, 12 Bullen, Stiere und Ochsen, 34 Ziegen – und 1 Schaf.

»In Sorge hielten die Menschen zusammen. Jeder kannte jeden. Es brauchte keinen Grund für einen Besuch bei den Nachbarn. Alle halfen sich, bei der Ernte, beim Dreschen und Schlachten. Brände wurden gemeinsam gelöscht. Alle waren Selbstversorger, betrieben ihre kleine Landwirtschaft und noch ein Handwerk. Mit der Eröffnung der Eisenbahnlinien Gera – Weischlitz 1875 und Wünschendorf – Werdau 1876 wurde Sorge-Settendorf zum beliebten Ausflugsziel. Es gab drei Gaststätten, zwei hatten Tanzsäle. Die Freizeit verbrachte man in vier Turnvereinen, je einer für Frauen, Männer, Jungen und Mädchen. Im Ortskern hatten sich Schmied, Bäcker, Korbmacher und Glaser angesiedelt. Der Bürgermeister übte mehrere Posten aus, war Standesbeamter, Gemeindevorstand und Fleischbeschauer. Das Abfischen der Teiche, das Vogelschießen und die Feste der Turnvereine waren jährliche Höhepunkte. Ich habe hier eine schöne Kindheit verlebt. Bis die Wismut kam.«

image

Historische Postkarte von Sorge, »Gasthof zu den 3 Grenzen«

Johannes Weiser erinnert sich mit Wehmut an sein Dorf. Damit ihn sein Gedächtnis nicht täuschen kann, hat er vor einigen Jahren seine Tätigkeit als Chronist in eigener Sache begonnen. Alle 21 Häuser des Ortskerns, die 1951 abgerissen wurden, übertrug er auf eine Karte und versah sie mit Nummern. Nach unserer ersten gemeinsamen Ortsbesichtigung bei stürmischem Regenwetter im Herbst 2006 schenkte er mir Lageskizze und Tabelle. Von Himmelfahrt bis Ende September 2007 war er jedes Wochenende, Sonnabend und Sonntag, hier oben, öffnete für acht Stunden die Kirche und zeigte eine kleine Ausstellung. Über 200 Fotos hat er aufgestöbert, in eigenen Alben, bei ehemaligen Bewohnern und