Originaltitel: Caballeriza © 2006, Rodrigo Rey Rosa

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© der deutschen Ausgabe: 2014, Septime Verlag, Wien

Alle Rechte vorbehalten

 

 

 

 

 

Lektorat: Birgit Weilguny

Umschlag: Jürgen Schütz

Umschlagfoto: © dimasobko - Fotolia.com

EPUB-Konvertierung: Esther Unterhofer

ISBN: 978-3-903061-36-1

 

Printversion: Hardcover, Schutzumschlag, Lesebändchen

Hardcover ISBN: 978-3-902711-30-4

 

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Rodrigo Rey Rosa

2005 mit dem »Premio Nacional de Literatura Miguel Ángel Asturias« ausgezeichnet, wurde 1958 in Guatemala geboren. Er lebte nach seinem Studienabschluss in Guatemala in New York und danach in Tanger. In den USA, wo er sich nach dem Verlassen seiner Heimat niederließ, schrieb er sich an einer Filmschule ein, ein Studium, das er aber nie abgeschlossen hatte. Auf seiner ersten Marokkoreise lernte er 1980 Paul Bowles (1910-1999) kennen, der seine ersten drei Werke ins Englische übersetzte, wodurch Rey Rosa im englischsprachigen Raum bekannt werden konnte. Rodrigo Rey Rosa hatte mehrere von Bowles' Büchern und auch andere Autoren wie Norman Lewis, Paul Léautaud und François Augiéras ins Spanische übersetzt. Er war der Regisseur des Spielfilms Lo que soñó Sebastián (What Sebastian Dreamt), der auf seinem gleichnamigen Roman basiert und 2004 beim Sundance-Filmfestival lief.

 

Klappentext:

Zu Ehren des Großgrundbesitzers und Pferdezüchters Don Guido Carrión wird ein Geburtstagsfest mit einer Vorführung der prachtvollsten andalusischen Vollblutpferde seines Gestüts gefeiert. Mehr als dreihundert geladene Gäste, die wichtigsten Leute Guatemalas, finden sich auf der Finca Palo Verde des Gastgebers ein. Das Fest wird plötzlich durch einen Brand unterbrochen. Unter den Überresten der abgebrannten Stallungen wird der verkohlte Körper von Duro II, einem Zuchthengst im Wert von hunderttausend Dollar und eines der Lieblingstiere von Don Guido, aufgefunden.

»Sie sollten darüber schreiben«, fordert ein Unbekannter den Erzähler auf, und in der Tat, nach dieser makabren Entdeckung ist es nicht unvorstellbar, eine Geschichte zu ersinnen, doch der Erzähler versteht auch, dass sie nicht einfach zu erzählen sein wird. Wer kennt nicht den Preis, der in diesen Breiten für diese Art von literarischen Abenteuern zu zahlen ist?

Nach und nach kommen Einzelheiten aus den dunklen Kapiteln der Vergangenheit zutage, die die Familie des Gastgebers überschatten. Gekonnt führt Rodrigo Rey Rosa die Leser auf die Spur einer Affäre, deren finstere Facetten das andere Gesicht einer Familie und eines Landes enthüllen.

 

»Rey Rosa kreiert eine Gegenwelt zum magischen Realismus, in der nur Taten und Tatsachen zählen. Er beschränkt sich im Unterschied zum barocken Stil vieler lateinamerikanischer Schriftsteller auf die unentbehrlichen Wörter.«

Andreas Petyko

 

Rodrigo Rey Rosa

Stallungen

Novelle | Septime Verlag

 

Aus dem guatemaltekischen Spanisch von

Elisabeth López-Semeleder

 

 

 

EINS

 

 

So ist es schon vielen Schriftstellern ergangen; als sie es am wenigsten erwarteten, trat ein Unbekannter an sie heran und sagte: Über das hier sollten Sie schreiben. Meistens bleibt so ein Manöver wirkungslos, aber ich war gerade auf der Suche nach einem Thema und die Idee erschien mir interessant.

»Ja, schon«, sagte ich zu meinem Gesprächspartner, »nur kenne ich diese Kreise leider nicht gut genug, um die Sache in Angriff zu nehmen.«

»Das sollte Sie nicht abhalten«, erwiderte er. »Ich kenne sie nämlich gut, und wenn Sie möchten, helfe ich Ihnen.«

Wir befanden uns auf der Finca Palo Verde in der Nähe von Pueblo Nuevo Viñas, einer Gemeinde in der bocacosta, unweit der Pazifikküste: eine Gegend, die ich nicht gut kannte. Gerade hatten wir eine Show (wie es in der Einladung stand) mit andalusischen Pferden erlebt, Anlass war der achtundachtzigste Geburtstag des örtlichen Patriarchen Don Guido Carrión.

In den 1960er-Jahren hatte mein Vater, der heute an die achtzig ist, einen andalusischen Deckhengst aus dem Stall von Álvaro Domecq nach Guatemala gebracht, Pregonero, und der war den Leuten aus dem »Milieu« als das erste spanische Vollblut unserer kleinen Republik noch gut in Erinnerung. So galt mein Vater in den weit verzweigten guatemaltekischen Reiterkreisen als Pionier in Sachen spanische Pferde und man begegnete ihm immer noch mit einer gewissen Ehrfurcht. Es gab kaum einen Anlass dieser Art, zu dem er nicht eingeladen wurde, obwohl er seit über zwanzig Jahren keine Vollblutpferde mehr besaß und seit ungefähr fünfzehn Jahren kein Pferd mehr bestiegen hatte. Diesmal war ihm mitgeteilt worden, dass bei dem Anlass Ehefrauen nicht gern gesehen seien, es war zu erwarten, dass die einzigen anwesenden Frauen »Hostessen« und die ein oder andere Amazone sein würden, und so kam es mir als seinem einzigen Sohn zu, ihn zu begleiten.

Die Pferde waren prächtig und sehr, sehr teuer. Dem Moderator, der über Lautsprecher erschütternd unbedarft durch die Veranstaltung führte, war ein Ausrutscher passiert, der unter den Zuhörern Unmut hervorrief: er nannte den Preis für einen von einer Frau gerittenen Deckhengst, der kürzlich einen internationalen Wettbewerb gewonnen hatte: hunderttausend US-Dollar. Jemand hatte ihn wohl auf den Fauxpas aufmerksam gemacht und um sich aus der Verlegenheit zu retten, faselte der Unglücksrabe von der Liebe und Zuwendung, die die Stallmeister diesen wunderbaren Kreaturen bei ihrer Aufzucht und Dressur entgegenbringen. Man stellte zwangsläufig Überlegungen an, dass die Haltungskosten für nur eines dieser Tiere höher sein mussten als der Monatslohn von zehn Stallburschen (»Ohne die Amortisation bei so einem Tier zu berücksichtigen«, wie jemand anmerkte).

Die Stallmeister trugen alle dasselbe, eine schlechte Imitation der Festtagskleidung andalusischer Bauern mit Hut aus Córdoba, Stiefeln aus Jerez und so weiter - veredelt mit der einen oder anderen bei uns üblichen Verzierung wie den traditionellen geflochtenen Bändern oder den Quasten aus Todos Santos. Die kleinen Pseudoandalusier wirkten wie von den Maya abstammende Bauern und sahen neben den hohen, feurigen Rössern noch kleiner aus. Im allgemeinen Hin und Her kamen sie den Läufen der Fohlen und Deckhengste, vor denen sie sichtlich Respekt und verständliche Furcht hatten, gefährlich nahe. Das ist also die Basis der Pyramide, sagte ich mir.

Die nächsthöhere Stufe bildeten die Sicherheitsleute. Bei vielen wäre es nicht weiter aufgefallen, wenn sie sich wie Quiché oder Tzutuhil gekleidet hätten, sie trugen aber gewöhnliche Straßenkleidung und Cowboyhüte, die auf den Fincas ringsum immer noch modern waren. Fast alle führten Gewehre mit abgesägtem Lauf mit und hatten bunte Patronengürtel um die Mitte. Die Waffen glänzten und sahen recht neu aus, und das bildete einen lebhaften Kontrast zu den Sisalkordeln, an denen einige sie umgehängt trugen.

Die dritte Stufe der Pyramide bildeten vermutlich der Moderator, die Musiker und die Hostessen, ein Dutzend junge Frauen, deren Aufgabe es war, die Gäste zu begrüßen und die ersten Drinks zu servieren. Einige wirkten wie blutige Anfängerinnen, die anderen eher schüchtern und insgesamt gingen sie in der Menge der Gäste, ungefähr dreihundert Männer, die, was Alter und Aussehen betrifft, unterschiedlicher nicht sein konnten, völlig unter.

Mir kam vor, dass dieser Mikrokosmos der guatemaltekischen Gesellschaft insofern etwas Positives hatte, als ihre Vorliebe für Pferde alle dazu brachte, herzlich gern viele Unterschiede in Bezug auf Stand, Beruf, Gesinnung oder Irrglauben zu vergessen, die es unter anderen Umständen verhindern würden, dass eine so ungleiche Schar zusammen feiert. Ständig kamen neue Gäste an (die Spitze der Pyramide) mit ihren SUVs samt Chauffeur und Leibwächtern im schwarzen Anzug, mit Dienstautos, der eine oder andere mit dem Hubschrauber. Ich erkannte Persönlichkeiten aus der Politik (zwei oder drei Kongressabgeordnete, einen Vizeminister, einen ehemaligen Bürgermeister), der Hochfinanz und der Presse. Es waren alteingesessene und eingeheiratete Großgrundbesitzer da, Industrielle, Geschäftsleute, Versicherungsmakler, Ärzte, Tierärzte und ein paar wie ich, die nichts zu tun hatten.

Wegen der Frauenknappheit erinnerte das Ganze an ein Treffen arabischer Scheichs. Man hätte meinen können, es sei unhöflich, keine Pistole am Gürtel oder unter der Achsel zu tragen - ein Verstoß, der anscheinend nur den ganz Alten nachgesehen wurde. Von den jungen Leuten hatten viele zu ihrer schwarzen, blitzblanken automatischen Pistole auch noch Reservemagazine dabei - als rechneten sie früher oder später mit einer Schießerei und wollten sich nicht der Gefahr aussetzen, ohne Kugeln dazustehen.

Mein Vater und ich waren rechtzeitig zum Beginn der Show gekommen. In einer Reithalle saßen auf einem Podium aus einfachen Holzbrettern der Patriarch und seine engsten Vertrauten auf Plastikstühlen. Wir standen Schlange, um bis dorthin zu gelangen. Als wir an die Reihe kamen, schenkte mein Vater dem Jubilar ein Porzellanpferd aus dem Laden meiner Mutter. Nachdem wir mit dem alten Herrn und seinem Anhang kurz Höflichkeiten ausgetauscht hatten, wurden mein Vater und ich gebeten, uns rechts von der kleinen Gruppe an den Rand des Podiums zu stellen.

Auf der Reitbahn vollführten Fohlen und Deckhengste - Favorito 27, Justiciero 33, Duro II - und andere Pferde ihre Kunststücke, während Don Casildo polternd Belanglosigkeiten von sich gab, und zogen dann unter Applaus ab.

Da mein Vater und ich so nahe beim Jubilar standen, war es nicht einfach, der Prozession von Gratulanten auszuweichen, die fortwährend zum Podium strömten. Männer in Markenkleidung und offensichtlich bewaffnet, verbeugten sich vor dem Jubilar, umarmten oder küssten ihn und überreichten ein teures Geschenk oder eines mit hohem Erinnerungswert, wie jenes Foto, auf dem zu sehen war, wie sein erster Deckhengst in Puerto Quetzal mit dem Kran vom spanischen Frachtschiff gehoben wurde. Nach diesem kleinen Ritual und bevor sie sich einen Platz auf der provisorischen Tribüne auf dem offenen Reitplatz neben der Halle suchten, konnten die Neuankömmlinge gar nicht anders, als auch meinen Vater und mich zu begrüßen, was langsam lästig wurde. Außerdem war es bei einer Zusammenkunft wie dieser unvermeidlich, Leute zu treffen, die wir nicht sehen und noch weniger grüßen wollten: ein ekelhafter Kritiker, ein Anwalt, der einen übervorteilt hatte, der hervorragende Arzt, der es abgelehnt hatte, einen Freund zu operieren, weil er seine Golfpartie nicht verpassen wollte. Zu meiner Überraschung kam uns, sobald diese Leute stehenblieben, eine Art momentaner Gedächtnisverlust zu Hilfe; wir schüttelten Menschen freundlich die Hand, die wir fürchteten oder verachteten (oder beides zugleich). Die jungen Frauen servierten inzwischen Getränke und die Gäste witzelten mehr oder weniger hämisch oder blöd herum.

Hinter unserem Rücken, durch eine kaum zwei Meter hohe Mauer von uns getrennt, waren zwei Schlachter auf einem quadratischen Areal mit halb Erd-, halb Zementboden damit beschäftigt, über einem Eisentisch ein Schwein zu zerteilen. Kleine Schwärme grün funkelnder Fliegen flogen vom Tisch auf, schwirrten kurz über unsere Köpfe und wieder an den Ort des Geschehens zurück, um sich auf Exkremente, Eingeweide und gestocktes Blut zu setzen. Ein Schlachter zerkleinerte das Fleisch, während der zweite in einem Kessel über der Glut die in Streifen geschnittene Schwarte rührte und daraus Chicharrones machte. Die Gerüche, die mit dem Dunst aus dem Kessel aufstiegen, machten einem den Mund wässrig.

Mein Vater ertrug gleichmütig die lange Vorführung, die mit einem Defilee der Stuten mit ihren Jungen endete. Der Moderator hörte zu sprechen auf und über Lautsprecher erklang ein spanischer Pasodoble. Ich hörte, wie mein Vater erleichtert aufatmete. »Wenn das Mittagessen nicht vor zwei serviert wird, gehen wir«, flüsterte er mir ins Ohr.

Das greise Gefolge setzte sich langsam in Bewegung. Dicht gefolgt von ihren Leibwächtern, begaben sich die Alten, mit den eben erhaltenen Geschenken beladen, zum Herrenhaus der Finca, das auf einem kleinen Hügel rund hundert Meter von den Reitplätzen entfernt lag. Wir anderen gesellten uns zur Besuchermenge unter einem riesigen Schutzdach aus Segeltuch, wo die Hostessen und Kellner nun als Häppchen schwarze Bohnen, Guacamole und die frisch zubereiteten, noch warmen Chicharrones servierten.

Es kamen immer noch Gäste an. Wir hatten auf einem kleinen Areal hinter einem Wirtschaftsgebäude geparkt, in dem Pferdefutter und Sattelzeug aufbewahrt wurde. Nun war dort alles mit Autos vollgestellt, fast alles SUVs, einige gepanzert. Es wimmelte von Leibwächtern in dunklen Anzügen mit Sonnenbrillen. Die Zuspätkommenden parkten zu beiden Seiten eines Feldwegs, der unten als - von kolumbianischem Bambus gesäumter - Hohlweg begann und sich dann hügelaufwärts wand, im Blickfeld von zwei Wachtürmen aus Stahlbeton mit Blechdach und dunklen Schießscharten. In der Ferne, Richtung Nordosten, war der unregelmäßig geformte Kegel des Pacaya-Vulkans zu sehen. Am blassblauen Himmel formierten sich schneeweiße und flauschige Wolkenberge immer neu. Die hügelige Landschaft, bepflanzt mit Kaffeesträuchern und ihren Schattenbäumen, mit zitronengelben Bambushecken dazwischen, erstreckte sich bis zum Horizont. Es war eine friedliche Landschaft, aber die herzzerreißende Musik der Corridos und Rancheras, die nun über Lautsprecher erschallte, in Verbindung mit dem Whisky, der in Strömen floss, und den vielen Waffen, ließ sie mir als passende Szenerie für ein Verbrechen aus Leidenschaft erscheinen.

Der Sohn eines Freundes aus der Schulzeit kam auf mich zu und begrüßte mich, etwas verwundert, mich hier anzutreffen. Er war ein gutaussehender junger Mann und hatte sich ebenfalls als Cowboy verkleidet, trug aber keine Waffe. Nicht weit von uns entfernt umarmten sich zwei korpulente Hauptstädter überschwänglich und fingen plötzlich scherzhaft, mit kleinen Schritten, im Takt der eben erklingenden Norteña, zu tanzen an. Jemand rief spöttisch:

»Nehmt euch ein Zimmer, ihr Schwuchteln!«

Die beiden hörten zu tanzen auf und schauten sich nach der schmähenden Stimme um, die aber verstummt war.

»Pass bloß auf!«, brüllte einer der Beschimpften. »Wir würden dir auch für weniger den Arsch aufreißen!«

Es folgte allgemeines Gelächter und die Angelegenheit schien vergessen.

»Wofür denn bei so einem Fest die vielen Pistolen?«, fragte der junge Mann in missbilligendem Ton. »So wie sich hier alle besaufen, finde ich das keine gute Idee.«

»Gute Frage«, pflichtete ich ihm bei. »Übrigens, ist dein Vater da?«

»Nein, ich bin allein hier. Ich wollte Claudio sehen, den Enkel von Don Guido, aber man hat mir gerade gesagt, dass er nicht da ist. Er ist in den USA. Wie kommt man auf die Idee, so eine Riesenfeier ohne Frauen zu veranstalten?«, sagte er dann. »Ich glaube, ich werde bald gehen.«

Wir verabschiedeten uns und ich ging zurück zu meinem Vater, der sich an einem Plastiktisch unter einem großen Sonnenschirm, unweit des Zeltdaches niedergelassen hatte.

Jetzt, wo die Euphorie über das Reitereignis verflogen war, schien das Ansehen der Gastgeberfamilie von den verfügbaren Alkoholmengen abzuhängen. Don Guidos Neffen schleppten flaschenweise Whisky, Wodka und Rum vom Herrenhaus zur improvisierten Bar unter dem Zeltdach, wo von den Hostessen und Kellnern unermüdlich Drinks ausgegeben wurden. Es war immer noch nicht Mittag und meinem Vater zufolge bestand keine Chance, dass das Essen vor zwei serviert würde.

Zu meiner Verblüffung kam mehr als ein Fremder und auch der eine oder andere Bekannte zu unserem Tisch, um mich zu begrüßen. Sie hätten nicht erwartet, mich hier zu treffen, sagten sie. Manche beglückwünschten mich zu einem Zeitungsartikel oder einem Buch, das sie nicht gelesen hatten, von dessen Veröffentlichung sie aber wussten.

Eine Stunde noch, dachte ich, dann ist es vorbei. Kurz darauf begrüßten vier, fünf alte Freunde meinen Vater und setzten sich zu uns an den Tisch. Das Gespräch drehte sich um Pferde. Als ich meinem Vater einen Teller mit Häppchen und ein Glas Whisky mit Eis brachte, bemerkte ich, dass eine Hostess, ein Mädchen mit gequälter Miene und traurigen Augen, von einem Trio Hauptstadt-Cowboys, die sie belästigt hatten, gerade wieder in Ruhe gelassen wurde und nützte die Gunst der Stunde, um sie anzusprechen. Ein zarter Schweißfilm schimmerte diskret und attraktiv auf ihrem langen, glatten Hals und ihrem verdächtig wohlgeformten Dekolleté. Sie trug ein tief ausgeschnittenes, rotes Lackoberteil, eine knappe, kurze Hose, weiße Strümpfe aus Lycra und schwarze Stiefel mit hohen Absätzen. Gelangweilt fragte sie:

»Kann ich Ihnen etwas bringen?«

Ich verneinte und sagte, ich hätte nur kurz aufstehen wollen, um mich zu strecken.

Sie musterte mich von oben bis unten und scherzte:

»Es scheint mir nicht, dass Sie sich sehr gestreckt hätten«, und dabei blickte sie über meinen Kopf hinweg, um herauszukehren, dass sie etwas größer war als ich.

Sie erzählte, dass sie ein Diplom als Kosmetikerin hätte und jetzt im Fernkurs Internationale Beziehungen studiere. Wenn sie am Wochenende nicht als Hostess arbeitete, fahre sie am liebsten ans Meer, damit ist hier die Pazifikküste gemeint, um in der Sonne zu liegen und zu schwimmen.

»Hast du ein Haus am Meer?«, fragte ich sie.

»Nein.«

»Und wo fährst du hin?«

»Das hängt ganz davon ab. Meistens zu Freunden.«

Ich wollte ihr gerade vorschlagen, mich einmal am Wochenende zum Haus eines Freundes in einer Luxusgegend am Meer - diesem gigantischen Aphrodisiakum - zu begleiten, als wir trotz der lauten Musik einen Knall hörten.

Alle drehten sich gleichzeitig in die Richtung um, aus der das Geräusch gekommen war, zu den Stallungen, wo eine schwarze Rauchsäule aufstieg. Nach einer kurzen Stille - nur die Musik war noch zu hören, wurde aber bald abgestellt - hob eine Flut von Fragen an. Die bewaffneten Wachleute und die Leibwächter waren die ersten, die sich in Bewegung setzten. Die einen rannten in Richtung Stallungen, die anderen stürzten zu ihren Chefs, um sie zu schützen, und wieder andere liefen ohne erkennbares Ziel hin und her. Bei den Stallungen wurde geschrien und wir verstanden nur, dass ein Brand ausgebrochen war. Die Hostessen zogen sich eilig ins Herrenhaus zurück, als wäre das bei Gefahr so vorgeschrieben. »Entschuldigen Sie mich«, sagte das Mädchen in Lack, »hat mich gefreut.« Ein paar bewaffnete Männer bildeten eine geschlossene Gruppe und bewegten sich in Richtung Stallungen, gefolgt von einem Dutzend Gäste. Mein Vater sagte:

»Besser, wir warten hier, das wird das Vernünftigste sein.«

Die Freunde pflichteten ihm bei, aber ich stapfte mit einer entschuldigenden Geste um den Tisch und den Schaulustigen nach.

Zwischen den Reitplätzen und den Stallungen lag ein in Spiralmuster gepflasterter kleiner Platz mit einem Longierpfosten in der Mitte. Ein Geruch nach verbranntem Holz mit einem Hauch von versengtem Fleisch und Haar erfüllte die Luft. Ab und zu schoss eine Ratte oder Maus aus dem Stall, vor dem sich eine Menschenmenge gesammelt hatte, und überquerte eilig den Platz, um dem Feuer zu entkommen. Eine Unzahl Flöhe, Ameisen und Wanzen krabbelte zwischen den Steinen umher und winzige graue Falter flatterten in kleinen Schwärmen durch die Luft. Für einen Moment kam es mir vor, als hätte ich das alles schon einmal erlebt. Die kleinen Schmetterlinge schienen durch den Rauch die Orientierung zu verlieren und fielen ringsum tot zu Boden. Von den Stallungen her kam ein Durcheinander aus Geräuschen - Wiehern, Schnauben, Schreien, Ausschlagen. Ich blieb in der Mitte des Platzes stehen. Die Männer schrien nach mehr Wasser zum Löschen und nach Decken, um das Feuer zu ersticken. Die durchdringenden Klagelaute der Pferde und ihr verzweifeltes Ausschlagen gegen die Türen und Wände ihrer Boxen waren wie ein akustisches Abbild der Hölle.

Es waren nicht einmal fünf Minuten vergangen, seit wir die Explosion gehört hatten, aber die Zeit schien dehnbar zu sein. Alles geschah viel zu schnell oder zu langsam. Eine weibliche Gestalt drängte sich plötzlich durch die Menge am Eingang der Stallungen. Sie hatte ihr Gesicht hinter den Händen versteckt, aber am langen roten Haar und den Reitstiefeln erkannte ich die Amazone, die bei der Vorführung den Deckhengst um hunderttausend Dollar geritten hatte. Sie ging sehr schnell und kurz bevor sie an mir vorbeikam, nahm sie die Hände vom Gesicht und begann zu rennen. Ihre Augen waren gerötet und die Wangen tränennass. Ich dachte zuerst, es sei vom Rauch, aber als sie an mir vorüberging und schluchzte, begriff ich, dass sie weinte.

Gleich darauf tauchte der Sohn des gefeierten Patriarchen auf, den alle den »Zarten« nannten, und rannte hinter ihr her. Auch er lief an mir vorüber, ohne mich auch nur zu sehen. Wie ein Verrückter, dachte ich: die Augen aufgerissen, der Mund offen, als würde er gleich schreien, die Zunge halb heraußen. Ich sah ihn in Richtung Herrenhaus hinauflaufen, wohin auch die Amazone gerannt war, und ging zu den Stallungen weiter.

Einige Bretter dort rauchten noch und ab und zu fachte ein Windstoß die Flammen wieder an und ließ Funken sprühen. Die Sicherheitsleute kamen und gingen und gaben Anweisungen. Bald kursierte die Order, das Gelände abzusperren und niemanden gehen zu lassen. Mehrere Arbeiter erstickten mit Decken die letzten Flammen und Glutnester und die Gaffer bildeten einen Halbkreis um ein totes Pferd. Es lag seitlich auf dem Pflaster, halb unter einer Pferdedecke, der Schädel war geborsten, Schweif und Mähne versengt. Es war Duro II, der Hunderttausend-Dollar-Deckhengst, wie mir ein Mann mit wachem Blick, pechschwarzem Haar und Dreiteiler versicherte.

»Was ist eigentlich passiert?«, fragte ich ihn. »Ein Unfall?«

Er schaute mich mit einem eigenartigen Grinsen an und hob die Schultern.

»Kann sein, muss aber nicht sein«, antwortete er ernst und doch vertraulich.

Dann kam ein korpulenter Bauer zwischen den Zypressen hervor, die hinter den Stallungen Schatten spendeten. Er trug einen halb verkohlten und verformten Plastikbehälter. Zwei Wachleute passten ihn ab, um ihn zu befragen. Es war der Stallbursche und er sagte, er hätte den Behälter im Gestrüpp gefunden, gleich neben dem Pfad, der zur früheren Grenze des Anwesens hinunterführte.

Ich dachte mir gerade, dass es keine gute Idee war, den Behälter anzufassen, als mein Gesprächspartner sagte: »Über das hier könnten Sie ein Buch schreiben.«

Die Menge der Schaulustigen begann sich aufzulösen. Mein Gesprächspartner stellte sich als Rechtsanwalt heraus und machte sich mit mir auf den Weg zum Herrenhaus oben auf dem Hügel. Man informierte uns über das baldige Eintreffen der Polizei und bat uns äußerst höflich, nicht wegzugehen, bevor die Ermittler uns verhört und die Untersuchung eingeleitet hätten. Während wir also warteten, konnten wir vom Hügel aus eine Gruppe Arbeiter sehen, die in der Nähe der Stallungen begannen, eine Grube auszuheben, zu der sie eine Viertelstunde später den Kadaver von Duro II schleiften.

»Vielleicht sollten sie das Pferd nicht so schnell begraben«, sagte mein Gesprächspartner, »aber hier wird getan, was der Chef sagt.« Er schaute mich an. »Ich bleibe dabei, Sie könnten das hier als Stoff für ein gutes Buch verwenden. Etwas für uns Typisches.«

»Schon möglich.« Ich musste schmunzeln. »Ihr Interesse ist rein literarisch, nehme ich an.«

»Nicht nur, Sie haben recht«, erwiderte er. »Vielleicht ist es auch Eitelkeit. Jedenfalls würde ich Ihnen weder etwas in Rechnung stellen«, scherzte er, »noch verlangen, als Autor mitgenannt zu werden. Wenn Sie mir eine Widmung schreiben, bin ich natürlich nicht beleidigt.«

Wir lachten, aber die Idee fing schon an, mir zu gefallen.

Ich sagte zu ihm:

»Ich habe Sie gar nicht nach Ihrem Namen gefragt.«

Er zog eine Visitenkarte aus der Brieftasche, eine elfenbeinweiße Karte mit Schrift in der Farbe von getrocknetem Blut, auf der stand: Jesús Hidalgo, Rechtsanwalt und Notar.

»Ich glaube, ich habe alle Ihre Bücher gelesen«, sagte er, während ich die Karte einsteckte. »Mir gefällt, wie Sie schreiben. Aber ich würde sagen, Sie haben sich niemals ganz auf unsere Realität eingelassen. Mir scheint, das hier wäre eine Gelegenheit.«

Etwas später hörten wir den Motor eines Hubschraubers, der im Tiefflug Kreise über unseren Köpfen zog. Irgendwer erteilte vom Hubschrauber aus mit einem Megaphon Befehle: alle Personen, die sich auf der Finca befanden, sollten sich unverzüglich im Herrenhaus einfinden. Ich sagte, ich würde meinen Vater suchen gehen, der allein am Tisch sitzengeblieben war, und der Anwalt bot an, mich zu begleiten. Zu dritt kehrten wir dann langsamen Schrittes wieder zum Herrenhaus der Finca zurück.

Mein Vater und die anderen Alten wurden bald in Ruhe gelassen - ein Polizist begnügte sich damit, ihre Namen zu notieren, dann bat der Zarte sie ins Haus. Don Guido befahl, Sandwiches zu reichen und ihnen Schlafräume und ein Bad zur Verfügung zu stellen. Wir anderen wurden von den Ermittlern fotografiert und bekamen verschiedene Fragen gestellt. Es war schon fast Nacht, als sie uns gehen ließen.

»Sie können mich jederzeit anrufen«, sagte ich zu Jesús Hidalgo bei der Verabschiedung und gab ihm meine Nummer. »Wenn ich nicht von Ihnen höre, werde ich mich vielleicht melden.«

»Einverstanden«, sagte er.

Wir verabschiedeten uns und ich führte meinen Vater am Arm zum Auto. Als ich ihm beim Einsteigen half, fiel mir auf, dass seine Hose im Schritt nass war.

»Hast du dich eingenässt?«, fragte ich.

»Was soll ich machen? Die Windel war voll«, antwortete er trocken.

Ich schloss mit einem nachsichtigen Lächeln die Autotür und mein Vater ließ das Fenster herunter:

»Dir wird es auch so gehen«, warnte er mich, »wenn du so alt bist wie ich.«

Auf der Rückfahrt sprachen wir über mögliche Ursachen für das Unglück - ob es Neid war, den der Reichtum der Familie Carrión hervorgerufen hatte, oder Schicksal.

»Ein reiner Terrorakt«, sagte mein Vater. »Was kann das Pferd dafür? Ich danke Gott, dass ich keine Pferde mehr habe und auch sonst nichts, um das man mich beneiden könnte. Ich bin gespannt, ob es morgen in der Zeitung steht«, fügte er hinzu.

»Das glaube ich nicht«, sagte ich, »auch wenn heute zumindest ein Journalist da war.«

»Ein Arschkriecher war das«, sagte mein Vater, und das war mehr oder weniger das Ende unseres Gesprächs.

Als ich in mein Apartment kam, war ich so gut wie überzeugt, dass es ein geeigneter Stoff für eine Geschichte war.

 

 

 

ZWEI

 

 

Jesús Hidalgo gehörte der guatemaltekischen Rechtsanwaltskammer an, wo man mir seinen Lebenslauf zur Verfügung stellte. Er hatte an der Universität Rafael Landívar Jura studiert und einen Master in Familienrecht. Eine Zeit lang hatte er als Kolumnist für eine lokale Tageszeitung gearbeitet. Als Jugendlicher hatte er einen schmalen Gedichtband publiziert. Er war ledig.

Einige Tage nach dem Fest rief ich ihn an.

»Schade, dass Sie nicht länger geblieben sind«, sagte er. »Es ist ja verständlich, dass es wegen Ihres Herrn Vaters nicht ging. Ich erzähle Ihnen gerne, was danach passiert ist.«

Einmal mehr fragte ich mich, warum er mich in die Geschichte einweihen wollte, schlug ihm aber vor, uns noch heute zu treffen, worauf er mich in seine Kanzlei einlud.

Das Wartezimmer, klein, aber gemütlich, lag im fünften Stock eines alten Geschäftshauses mit Blick auf die Hangars und Pisten des Flughafens La Aurora und die Starts und Landungen der Flugzeuge sorgten für ein wenig Abwechslung. An einer Wand stand ein Bücherregal mit Enzyklopädien und Lexika und auf dem Tisch in der Mitte lagen die typischen Wartezimmerzeitschriften, alt und abgegriffen. Die Sekretärin, eine Matrone mit würdiger Haltung und opulenten Formen, bat mich ins Büro des Anwalts, der am Schreibtisch saß und telefonierte. Hinter ihm erhob sich ein hohes Bücherregal voller Gesetzbücher und anderer Hilfsmittel für seine Berufsausübung, und auch auf beiden Seiten waren die Wände von Büchern bedeckt - richtigen Büchern, auf denen ich zu meiner Freude die Namen einiger meiner Lieblingsautoren entdeckte.

Auf dem Schreibtisch des Anwalts herrschte ein Durcheinander aus Mappen und Dokumenten; eine Kristallkugel, in deren Innerem ein Skarabäus für die Ewigkeit konserviert war, diente als Briefbeschwerer. Mit einer Handbewegung lud er mich ein, auf einem Holzstuhl Platz zu nehmen, der überraschend bequem war, und seine Sekretärin bot mir etwas zu trinken an. Ich bat um ein Glas Wasser.

»Ist es Ihnen noch nie passiert«, fragte der Anwalt, als er den Telefonhörer auflegte, »dass Ihnen jemand eine Geschichte vermitteln will?«

Ich sagte, es sei das erste Mal und bedankte mich bei der Sekretärin für das Glas mit Eiswürfeln und die Karaffe mit Wasser, die sie auf ein Tischchen neben meinem Sessel gestellt hatte.

»Es könnte sein Gutes haben«, fügte ich hinzu, als die Sekretärin uns wieder alleingelassen hatte, »vorausgesetzt, die Geschichte ist glaubwürdig.«

Der Anwalt lachte.

»Klar, Ihre Geschichten haben Niveau. Haben Sie ein Aufnahmegerät dabei?«

»Nein.«

»Das freut mich. Denn was ich Ihnen jetzt erzähle, sollten Sie besser nicht Wort für Wort wiedergeben. Hören Sie? Sie werden eine fiktive Geschichte daraus machen müssen, Sie wissen schon, wie das geht.«

»Hm«, nickte ich. »Ich bin ja kein Journalist. Aber sagen Sie mir, Herr Anwalt, welches Interesse Sie daran haben, mir diese Geschichte, wie Sie sagen, zu vermitteln?«

Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück - ein bemerkenswerter Stuhl aus verchromtem Metall und Leder -, blickte zur Decke und sagte:

»Hätte ich eine Begabung dafür, dann wäre das eine Geschichte, die ich selbst gern schreiben würde.«

Mir kam vor, dass er feuchte Augen hatte. Er schlug den Blick nieder.

 

 

 

DREI

 

 

»Erinnern Sie sich an den Mann, der hinter dem Stall den Benzinbehälter gefunden hat? Das war ein Stallbursche der Familie Carrión. Am Ende haben sie ihn als einzigen Verdächtigen festgenommen. Sicher hätten auch andere ein Motiv gehabt, Don Guido und dem Zarten zu schaden. Aus Neid oder anderen Gründen. Don Guido schien seinem Stallburschen eine solche Tat nicht zuzutrauen und wollte seine Festnahme verhindern, aber der Zarte überzeugte ihn, sich nicht einzumischen. Ich war bei einem Teil der Befragungen anwesend und es hat mich gewundert, dass der Stallbursche, Juventino, gegenüber der wohlwollenden Geste seiner Herrschaft gleichgültig war, ja sogar Unmut zeigte. Sie erinnern sich doch an die Amazone, eine Deutsche. Sie hat das Pferd geritten, das verbrannte, und wurde auch verhört.«

Ich erinnerte mich an die Reiterin: unter dreißig, mittelgroß, langes, hennarotes Haar. Bei der Show und auch später, als sie an mir vorbeigerannt war, hatte ich sie nur von Weitem gesehen und deshalb nur eine vage Vorstellung von ihrem Gesicht; aber sie war mir attraktiv erschienen, mit ihrem flammenden Haar, dem aufrechten Oberkörper, den kleinen, aber gut positionierten Brüsten und den strammen Pobacken und Oberschenkeln einer Reiterin, die durch die schwarze, elastische Reithose noch betont wurden.

»Der Untersuchungsbeamte war unerbittlich«, sagte der Anwalt. »Er wollte wissen, ob sie verheiratet war, Freunde oder Liebhaber hatte, Besuch erhielt (sie wohnt auf Palo Verde, in einem kleinen Häuschen neben dem Herrenhaus), was er sie nicht alles gefragt hat! Er tappte im Dunkeln, aber die Ärmste hat sich sehr aufgeregt. Während der Vernehmungen habe ich meine eigene kleine Theorie aufgestellt, worum es bei der Geschichte gehen könnte und ich erkläre es Ihnen, wenn Sie Zeit haben. Sämtliche Vermutungen, die ich gleich äußern werde, haben als Ausgangspunkt einen Namen oder besser Kosenamen, den die Deutsche, die übrigens Barbara heißt, Doña Barbara Braun, unter Tränen bei der Befragung hervorgestoßen hat. Wo ist der Mincho?, fragte sie - glaube ich - auf Deutsch. Ich habe nur rudimentäre Deutschkenntnisse, vielleicht hat sie es also nicht genau so gesagt, aber ich bin sicher, dass der Name Mincho, für Domingo, gefallen ist. Domingo heißt der jüngste Sohn von Juventino, dem Mann, den sie verhaftet haben. Die Untersuchungsbeamten hatten davon keine Ahnung und gingen der Sache nicht nach. Aber warum zogen Don Guido und der Zarte es vor zu schweigen, wo sie es doch genau wussten? Das frage ich mich. Mincho hat seinem Vater von klein auf mit den Pferden geholfen, er war gut darin, Fohlen zuzureiten. Die letzten paar Jahre widmete er sich fast nur noch Duro II, dem Deckhengst, der verbrannt ist, und war der Assistent der Amazone. Aber am Tag der Show war er nicht da. Ein älterer Mann hat ihn vertreten, auch ein Verwandter von Juventino, dessen Namen ich nicht weiß. Ich habe die anderen Knechte diskret gefragt, ob einer wüsste, wo Domingo steckt. Keiner wusste es. Aber ich erfuhr, dass er am Vortag arbeiten war. Die Amazone und er probten die Nummer für die Aufführung und waren noch nicht fertig mit dem Reiten, als die anderen gingen.«

Der Anwalt machte eine Pause. Er hatte völlig ruhig gesprochen, bequem in seinem Stuhl zurückgelehnt. Nun beugte er sich vor und setzte fort:

»Bis hierhin reichen meine Beobachtungen. Was nun folgt, ist reine Spekulation. Stellen wir uns vor«, schmunzelte er und lehnte sich wieder zurück, »stellen wir uns vor, dass Mincho der Amazone nach dem Reiten bis spät in die Nacht hinein geholfen hat. Sie mussten wohl für Duro, den Star der Show, den Sattel ölen und das Zaumzeug bereitlegen. Auf dem Land wird früh Feierabend gemacht, wie Sie wissen. Für gewöhnlich ist es rund um die Stallungen ab fünf Uhr menschenleer. Aber an jenem Tag waren die Amazone und Domingo noch lange da.«

»Kennen Sie Mincho?«, fragte ich.

»Ja«, sagte der Anwalt. »Ein aufgeweckter Bursche, groß wie sein Vater, gutaussehend.«

»Ich sehe schon«, meinte ich.

»Also, soll ich weitererzählen? Den Zarten nennt jeder so, weil er schon als Kind so ruhig war. Seinerzeit habe ich ihn recht gut kennengelernt. Meinen Eltern gehörte die Finca Las Victorias, die an Palo Verde grenzte, ich bin dort aufgewachsen. Als mein Vater starb, machte Don Guido meiner Mutter ein Angebot, das sie nicht ablehnen konnte, und wir verkauften. Der Zarte stand immer im Schatten seines Vaters und war Frauen gegenüber lächerlich schüchtern. Er hat dann eine Ältere geheiratet. Es war sie, die ihn erobert hat, böse Zungen sagen wegen des Geldes. Ich jedenfalls denke, dass da jemand jungfräulich in die Ehe ging. Nämlich er. Die Frau ist ihm bald davongelaufen und hat ihm einen Sohn dagelassen, der jetzt sechzehn oder siebzehn sein müsste. Danach hatte der Zarte keine weiteren Liebschaften, wie ich glaube. Sexuell hat er sich in den teuersten Bordellen ausgelebt, was sonst. Bis Barbara auftauchte.«

Wieder machte der Anwalt eine Pause, aber diesmal sah er nicht mich an, sondern fixierte die Glaskugel. Dann sprach er weiter:

»Die Ehefrau war auch eine Deutsche. Er hat wohl den Geschmack daran nicht verloren.«

»Heißt das, die beiden sind ein Liebespaar?«, fragte ich.

»Sagen wir es ist so, denn wir wollen doch eine fiktive Geschichte erzählen, nicht?«

Ich erinnerte mich an die Szene vom Vortag, als mir bei den abgebrannten Stallungen die Frau über den Weg gelaufen und der Zarte hinter ihr hergerannt war.

»Also gut«, sagte ich.

»Stellen wir uns vor, es wäre nicht das erste Mal, dass die Amazone und der Stallbursche nach Feierabend allein bleiben. Ich weiß nicht, ob Sie schon in dem Wirtschaftsgebäude neben den Reitplätzen waren, wo auch die Toiletten sind?«

Ich war drin gewesen, weil ich meinen Vater ein paarmal bei seinen Ausflügen zum WC begleitet hatte. Es war ein einfaches Gebäude, das statt Fenstern nur oben ein paar Lichtluken hatte. An der einen Wand befand sich eine ganze Menge Sattelzeug, leichte englische Sättel, Zaumzeuge und Zügel, Halfter und Westernsättel; an der Wand gegenüber tonnenweise Futtergerste, Heuballen und Strohbündel. In der Raummitte stand ein großer, schlichter Holztisch und hinten befanden sich die Toiletten.

»Stellen wir uns vor«, fuhr der Anwalt fort und ein boshaftes Grinsen huschte über sein Gesicht, »die Verspätung von Stallbursch und Amazone wäre nicht allein auf die gemeinsamen Aufgaben und die Arbeit zurückzuführen, sondern auch …«, er machte eine Handbewegung, die wohl das Entschuldigen gewisser menschlicher Schwächen andeutete, »… Sie verstehen schon.«

Ich stellte mir folgende Szene vor: die Frau rücklings auf dem langen Tisch, an einem Ende, mit über die Stiefel gezogener Reithose, nackten Brüsten und zurückgelehntem Oberkörper, der junge Stallbursche über ihr, genau zwischen ihren Beinen, die Hose bei den Knöcheln, auf den Zehenspitzen, um eine bessere Penetration zu erreichen.

»Ich sehe schon«, sagte ich zu ihm.

»Dann mache ich mal weiter. Nehmen wir an, dass der Zarte davon nichts wusste, aber einen Verdacht hatte. Stellen wir uns also vor, er sucht an jenem Abend, als die Arbeiter gegangen waren, die Amazone. Vielleicht war er wegen der Vorbereitungen für das Fest angespannt oder wollte irgendeine Kleinigkeit für die Show besprechen. Wahrscheinlich hat er sie zuerst in ihrem Häuschen neben dem Herrenhaus gesucht und ist dann zu den Stallungen hinuntergegangen. Zu der Zeit war es schon dunkel und es drang vielleicht kein Licht durch die hohen Fensterluken der Sattelkammer. Aber nehmen wir an, er hörte im Vorbeigehen ein Geräusch aus dem Raum kommen: ein knarzendes Tischbein, ein Stöhnen oder einen Schrei. Angenommen, die Tür ist zugesperrt, aber der Zarte hat den Schlüssel. Stellen wir uns vor, er tritt ein und ertappt die Amazone und den Stallburschen in voller Aktion.«

Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück, der mir langsam nicht mehr so bequem vorkam, machte »aha« und wartete darauf, dass der Anwalt weiterredete. Er stand auf und tat ein paar Schritte durchs Büro, den Blick auf den Boden geheftet.

»Möglich, dass der Zarte bewaffnet war«, setzte er fort. »Aber ich glaube nicht, dass ihn die Wut übermannt hat, die dieser Anblick in ihm geweckt haben muss.« Mir stand wieder vor Augen, wie die Deutsche auf dem Tisch liegend die Schenkel spreizte, um den Burschen in sich aufzunehmen. »Wahrscheinlich hat er die Frau nach Hause geschickt und ist dageblieben, um mit dem Burschen abzurechnen, meinen Sie nicht?«

Der Anwalt setzte sich wieder.

»Wenn er, und darüber könnte man auch spekulieren, ihm in einem Eifersuchtsanfall gleich dort eine Kugel verpasst hätte«, fuhr er fort, »wäre die Frau niemals so ruhig geblieben (Sie wissen ja, wie deutsche Frauen sind) und ich bezweifle, dass sie am nächsten Tag an der Show teilgenommen hätte. Außerdem hätte sie dann nicht bei ihrer Vernehmung die Frage ›Wo ist der Mincho?‹ gestellt. Meinen Sie nicht auch?«

Der Anwalt schmunzelte wieder und das zeigte, dass er sich gern reden hörte - ich wiederum musste zugeben, dass er allen Grund zur Zufriedenheit hatte. Mir kam in den Sinn vorzuschlagen, er solle die Geschichte, die er erzählte, doch selbst aufschreiben, aber ich verzichtete darauf.

»Scheint mir logisch«, sagte ich, »aber was, denken Sie, ist dann passiert?«

»Dazu habe ich zwei Theorien. Die erste besagt, dass der Zarte, ich würde es ihm zutrauen, seinen Zorn unterdrückt hat und sich damit begnügte, den Burschen zu erniedrigen, zu sagen, dass er entlassen sei, sich nicht mehr blicken lassen solle und so weiter. Stellen wir uns vor, Mincho war wirklich in die Frau verliebt. So gedemütigt und hinausgeschmissen, könnte er nicht aus Rache den Brand gelegt haben?«

»Und die andere Theorie?«, fragte ich, denn der Anwalt schien Letzteres wenig überzeugt vorzubringen.

»Die andere«, sagte er langsam, »ist etwas kompromittierender. Für unsere Gastgeber, meine ich. Aber ich fürchte, sie ist stichhaltiger als die erste.«

Wieder machte der Anwalt eine Pause und betrachtete lange die Glaskugel. Ich sagte:

»Ich bin ein bisschen verwirrt. Was ist die andere Theorie, Herr Anwalt?«

»Stellen wir uns vor, dass der Zarte seinen Wutausbruch nicht ganz zurückhalten konnte, sagen wir, er hat ihn nur ›verschoben‹. Er schickt die Frau nach Hause und bleibt mit Mincho allein, aber nicht, um ihn nur zu entlassen, sondern, um ihn zu bestrafen. Verstehen Sie?«

»Ich glaube schon«, sagte ich.

»Natürlich«, er lehnte sich vor. »Das ist es, was ich glaube, oder vermute, aber es muss noch einiges überprüft werden. Nehmen wir also an, der Zarte hat den Burschen später getötet. Ein Verbrechen aus Leidenschaft wie viele andere. Dann verstehe ich aber immer noch nicht, wie Juventino so schnell von der Angelegenheit erfahren konnte, aber sagen wir mal, er hat es mitbekommen. Dann wäre nicht schwer zu verstehen, dass er den Deckhengst abfackelt, um sich zu rächen. Das würde auch erklären, warum der Zarte und Don Guido sich für ihn eingesetzt haben, sie wollten nicht, dass man ihn zu gründlich befragt und jemand weiterbohrt. Verstehen Sie?«

»Vorzüglich«, sagte ich.

»Na? Das wäre doch eine gute Geschichte, oder nicht?«, fragte er.

»Würde ich schon sagen, Herr Anwalt.«

Wir standen auf, um das Gespräch zu beenden, und er begleitete mich zur Tür.

»Wir sollten Juventino ein paar Fragen stellen, richtig?«, sagte er zum Abschied.

»Warum nicht«, antwortete ich.

 

 

 

 

VIER