Originaltitel: Los Sordos © 2012, Rodrigo Rey Rosa

All rights reserved

 

© der deutschen Ausgabe: 2016, Septime Verlag, Wien

Alle Rechte vorbehalten

 

 

 

 

 

 

Das Zitat von Maurice Maeterlinck stammt aus:

Das Leben der Termiten, Kiepenheuer & Witsch: 1955, übersetzt von Heinrich Fraenkel.

 

Das Zitat Ende Leibwächter/II/5 stammt aus:

Imre Kertész: Detektivgeschichte, Rowohlt: 2011,

übersetzt von Angelika und Peter Máté.

 

Lektorat: Elisabeth Schöberl

Umschlagbild/Brandloch: © schankz – Fotolia.com

EPUB-Konvertierung: Esther Unterhofer

ISBN: 978-3-903061-35-4

 

 

Printversion: Hardcover, Schutzumschlag, Lesebändchen

ISBN: 978-3-902711-50-2

 

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Rodrigo Rey Rosa

2005 mit dem »Premio Nacional de Literatura Miguel Ángel Asturias« ausgezeichnet, wurde 1958 in Guatemala geboren. Er lebte nach seinem Studienabschluss in Guatemala in New York und danach in Tanger. In den USA, wo er sich nach dem Verlassen seiner Heimat niederließ, schrieb er sich an einer Filmschule ein, ein Studium, das er aber nie abgeschlossen hatte. Auf seiner ersten Marokkoreise lernte er 1980 Paul Bowles (1910-1999) kennen, der seine ersten drei Werke ins Englische übersetzte, wodurch Rey Rosa im englischsprachigen Raum bekannt werden konnte. Rodrigo Rey Rosa hatte mehrere von Bowles' Büchern und auch andere Autoren wie Norman Lewis, Paul Léautaud und François Augiéras ins Spanische übersetzt. Er war der Regisseur des Spielfilms Lo que soñó Sebastián (What Sebastian Dreamt), der auf seinem gleichnamigen Roman basiert und 2004 beim Sundance-Filmfestival lief.

 

Klappentext

In den Bergen Guatemalas verschwindet ein gehörloser Maya-Junge und in Guatemala-Stadt verschwindet zur selben Zeit Clara, die Tochter eines reichen Bankers, einen Tag nachdem sie eine Benefizparty gegeben hat. Alle Bemühungen, Clara zu finden, laufen ins Leere. Stattdessen erhält die Familie seltsame Anrufe der Verschwundenen und Wochen später sogar eine Lösegeldforderung.
Cayetano, Claras junger, naiver Leibwächter vom Lande, der dank seiner Chefin das Leben in der Großstadt kennengelernt und sich offensichtlich in die schöne Frau verliebt hat, gibt den Plan, seine Chefin ausfindig zu machen, nicht auf. Er ist davon überzeugt, dass Javier, Claras Liebhaber, ihr Entführer ist. Trotz aller Ungereimtheiten und der Widerstände der Familie der Verschwundenen verfolgt er jede Spur und wird dabei selbst zum Täter.


Eine Spur führt ihn zu einem soeben eröffneten Sanatorium, in dem offensichtlich schreckliche Dinge vor sich gehen. Wieso weinen hier des Nachts so viele Kinder, woher kommen sie und was geschieht mit ihnen? Und wieder hat Cayetano das Gefühl, dass ihm niemand zuhört, nicht einmal, als er den verschwundenen gehörlosen Maya-Jungen in dem mysteriösen Krankenhaus ausfindig macht ...

 

 

 

 

Rodrigo Rey Rosa

Die Gehörlosen

Roman | Septime Verlag

 

 

Aus dem guatemaltekischen Spanisch von Anna Gentz

 

 

 

 

 

Aber wie bringt die geheime Macht es fertig,

die Verurteilten zu zählen, zu bezeichnen oder abzusondern?

MAETERLINCK, Das Leben der Termiten

 

 

 

 

 

Anmerkung des Autors

 

 

Es mag sein und wäre wünschenswert, dass die Leser sich in ein paar Jahren nicht mehr an die Bedeutung einiger Ausdrücke erinnern können werden, die auf diesen fiktiven Seiten auftauchen und die in der aktuellen guatemaltekischen Sprechweise gebräuchlich sind. Die Patrullas de Autodefensa Civil, die Patrouillen der zivilen Selbstverteidigung, kurz PAC genannt, wurden von der Armee Guatemalas als Teil der anti-aufrührerischen Politik eingeführt. Erst zwischen 1982 und 1983 wurde mehr als eine Million Landarbeiter rekrutiert, in der Mehrheit indigene Mayas im Alter von fünfzehn bis sechzig Jahren. So formierte sich ein Heer von Zivilisten, das dem indigenen Herrschaftssystem ein Ende setzte und sich zur Kontrollinstanz der von Mayas bewohnten Gemeindebezirke verwandelte. Fünfzehn Jahre nach Beendigung des Auflösungsprozesses der PAC sind die ländlichen Gebiete Guatemalas immer noch von den Aktionen dieser Ex-Paramilitärs (der Ex-PAC) betroffen. Kaibiles nennen sich die Elitesoldaten des guatemaltekischen Heers, die darauf abgerichtet wurden, Sonderoperationen auszuführen. Amnesty International hat zahlreiche Anzeigen von Menschenrechtsverletzungen, die von Ex-Kaibiles begangen wurden, registriert. Da die Handlung dies verlangte, stellte ich oberflächliche Nachforschungen an (ein Verfahren, das ich üblicherweise vermeide), um wenigstens in rudimentärer Weise in Erfahrung zu bringen, wie das jahrtausendealte Rechtssystem der Mayas funktioniert. Es freut mich, José Ángel Zapeta García, dem Ältesten von Totonicapán und Jurastudenten an der Universität San Carlos de Guatemala, für seine großzügigen, geduldigen Erklärungen danken zu dürfen, sowie Juan Tzoc Tambriz, der mich gemeinsam mit anderen Ältesten in seinem Büro im Amt für traditionelle Maya-Rechtsprechung, der Casa de la Autoridad Ancestral Maya de Nahualá, empfing, welche möglicherweise der Originalschauplatz des Quiché-Dokuments Título de los señores de Totonicapán (1554) und eines der wichtigsten Zentren der Maya-Jurisprudenz ist. Der Tz’ite’ ist das »heilige Bündel«, das man befragen muss, bevor man einen Prozess eröffnet oder eine Heilung beginnt; der Solonik ist eine juristisch-spirituelle Praktik, die man mit so etwas wie »die Knoten lösen« übersetzen könnte. Auch muss ich meinen Freunden und meiner Familie danken, die mir als Modelle – oder Medium oder Vehikel – dienten, um die gesteuerten Träume zu träumen, die Gegenstand dieser verlängerten Imaginationsübung sind.

 

 

 

 

 

 

Prolog

 

 

In San Miguel Nagualapán gab es drei Quiché-Indianer von bescheidener Herkunft – ein Großmütterchen und seine zwei Enkel –, die allwöchentlich zur Lagune reisten, um Miniaturmahlsteine an die Touristen zu verkaufen. Da der Vater in den Norden ausgewandert war und die Mutter regelmäßig ihre Kinder zurückließ, um auf einer Finca an der Küste Kaffeebohnen zu pflücken, kümmerte sich die Großmutter väterlicherseits, die Witwe war, um die beiden Kinder.

Der Junge war taub und hatte den Zeigefinger der linken Hand verloren. Er selbst hatte ihn sich mit einem fehlgeleiteten Meißelschlag abgehackt, als er gerade einen Vulkanstein bearbeitete, um einen Mahlstein daraus zu formen. Das Mädchen, drei Jahre alt, reiste immer, nach Art der Quiché-Indianer, in ein buntes Tragetuch gewickelt auf dem Rücken der alten Frau mit.

Andrés verständigte sich mit seiner Großmutter mithilfe einer Zeichensprache, die man in der Region, wo die Taubheit kein Anlass zur Scham ist, schon seit jeher kennt. »Sie haben Kräfte«, sagten manche, »sie kennen andere Welten, die Gehörlosen.«

Seine Welt war reich an Sinneseindrücken, von denen die einhüllende Zärtlichkeit der Großmutter, die ganz verrückt nach dem Jungen war, einer der wesentlichen war. Sie war ein Ort voller Formen, Gerüche und Geschmäcker, aber ohne Klang, denn sein Innenohr war ebenfalls inexistent.

Er wurde an einem Chuen geboren, am Tag des Affen. Das war sein Glück, sein Schicksal, hatten die Ältesten, die Tatas, und ihre Schutzgeister, die Nahual, gesagt. Er tauge zu jeder denkbaren Arbeit, ob künstlerisch oder nicht, sei freundlichen Charakters, wie die Affen, die sorglos und anmutig seien, aber auch vorsichtig, Meister darin, alles Mögliche zu imitieren, sagten sie.

Donnerstags und sonntags, an den Markttagen, traten sie immer ihre Reise zur von Vulkanen umringten Lagune an. Mit den Mühlsteinen in einer Tasche stieg die Quiché-Familie frühmorgens den Weg hinab, der von der Anhöhe zur Straße hinunterführte, und nahmen die Verbindung um sechs, einen alten Schulbus, der mit den örtlichen Farben und Namen bemalt war, um nach Tierra Blanca oder Los Encuentros zu fahren, dorthin, wo der Weg sich teilt. Dort stiegen sie auf einen Pick-up, der sie zu einem der Lagunendörfer brachte, wo sich Touristen jeder erdenklichen Art tummelten, oder Kaxlanes, wie die Quiché-Indianer die Leute mit heller Haut nannten. In ihrer Zeichensprache hatte die Großmutter ihrem Enkel erklärt, dass sie von einem anderen Teil der Erde kämen und wie Gespenster seien: mächtig, launisch und manchmal schlecht – so wie die, die sich die Ländereien der Großväter und Großmütter angeeignet und sie dazu gezwungen hätten, ihre Götterbilder zu vergraben und ihre Leintücher zu verbrennen, die mit den Figuren, die ihre Geschichten erzählten, oder wie die, die die Erde ausweideten, um wertvolle Metalle herauszuholen. Aber es gebe auch andere, die zu Freunden werden konnten – oder die wenigstens ihre kleinen Mühlsteine kauften, die sie unter so viel Mühsal zum Markt gebracht hätten.

Eines Sonntagmorgens, mitten im Dezember, wurde der überladene Pick-up, auf dem sie den kurvigen Weg von San Marcos zurücklegten, in einer Kurve plötzlich von einem umgekippten Sattelzug überrascht. Um ein Zusammenstoßen zu vermeiden, trat der Fahrer auf die Bremse und riss das Lenkrad zu stark herum; der Pick-up kam mit den Reifen nach oben am Wegesrand zum Liegen. Das Mädchen war tot. Die Großmutter, die sofort das Bewusstsein verlor, erlangte selbiges erst in einer kleinen staatlichen Ärztestation in Sololá wieder, wohin man sie in einem improvisierten Krankenwagen mit anderen schwer verletzten Landarbeitern gebracht hatte. Aber Andrés, der gehörlose Junge, war verschwunden.

 

 

 

 

 

Erster Teil. Die Gehörlosen

 

 

 

 

 

Leibwächter

 

 

I

 

1

Es war später Nachmittag und Don Claudio gähnte.

Er hob den Blick, um aus dem Fenster seines Arbeitszimmers zu blicken, einem großzügigen Raum mit Regalen voller Aktenordner an zwei Wänden und einem Computer – den er kaum nutzte – in einer Ecke. Das Fenster ging zu einem vor tropischen Pflanzen überquellenden Innenhof: Aloen, Philodendren und Orchideen, die einen seltsamen (seit mindestens fünf Jahren ausgetrockneten) Brunnen aus Lavastein einrahmten, das Werk seiner Tochter Clara.

Einen kleinen Teil seines Vermögens, welches immens war, hatte er bereits auf seine zwei Kinder überschrieben. Mittlerweile existierten bereits drei Testamente; in jeder neuen Version war die Summe, die er dem männlichen Nachkommen hinterlassen würde, kleiner geworden. Doch jetzt, so hatte er entschieden, würde er die verbleibende Summe (abzüglich einer Art Zehnten zugunsten des baskischen Wohltätigkeitsvereins und einer kleinen persönlichen Reserve für die wenigen Jahre, die er noch vor sich hatte) seiner Erstgeborenen Clara vermachen. Um dem Fiskus nicht noch mehr Geld zu bescheren, als er bereits an ihn abgeführt hatte, würde er den Transfer noch zu Lebzeiten in Form von Aktien vollziehen, obwohl dies seinen neuen Anwälten nach ein Vorhaben von zweifelhafter Legalität war. Aber diesbezüglich – so hatte er beschlossen – gab es nichts mehr zu besprechen.

Er war müde. Mehr als fünf Jahrzehnte hatte seine liebevolle Tyrannei über Familie und Angestellte nun angedauert. Ignacio, der Junge, hatte sich für eine friedliche Distanzierung vom väterlichen Haus entschieden, während Clara das Joch still und mit kindlicher Resignation ertrug.

»Aber nein, Papa«, sagte sie zu ihm.

»Nein? Nein was? Du kannst damit machen, was du willst. Du kannst es deinem nichtsnutzigen Bruder schenken, wenn du willst. Aber erst wenn ich tot bin, ist das klar?«

»Ich verstehe nicht«, sagte Clara.

Er hatte Hunger und war schlecht gelaunt. Die Schmerzen in der Hüfte, die er sich bald operieren lassen würde, quälten ihn. Er fuhr fort:

»Ich mache das, um dich zu befreien. Vor allem von diesem Land, das kein Ort mehr zum Leben ist. (Geschweige denn um mit Anstand reich zu werden, so wie er das getan hatte, dachte er.) Wenn ich nicht so alt wäre und wenn deine Mutter noch wäre, würden wir woanders hingehen. Ich gebe es dir nicht schriftlich, aber du musst wissen, dass es mein Wunsch ist, dass du, sobald du mich beerdigt hast, von hier fortgehst.«

Claras Augen füllten sich mit Tränen.

 

2

Er saß an seinem Schreibtisch, einem großen Möbel aus Mahagoniholz, und überprüfte die Buchführung, als es ihm plötzlich so vorkam, als ob seine verblichene Ehefrau, Catalina, ihre Gehhilfe hinter ihm abgestellt hätte, um sich über seine Schultern zu beugen. Er malte zwei rote Linien unter die Figur einer achtstelligen Zahl und hob die Augen zu der Uhr, die ihm gegenüber hing.

»Willst du das nicht sein lassen? Das Essen ist angerichtet«, hätte Catalina gesagt.

Guadalupe, das Hausmädchen, eine kleine, dickliche Frau in einem marineblauen Kleid in der Tradition der Mam-Indianer, erschien in der Tür. In einer Hand hielt sie ein schnurloses Telefon, ein völlig veraltetes Modell, das, seit der alte Herr sich ein Mobiltelefon zugelegt hatte, fast nie mehr klingelte.

»Man wünscht Sie zu sprechen, Don Claudio«, sagte sie.

Mit seinen achtzig Jahren war Claudio immer noch ein Mann, der sich auf seine Intuition verlassen konnte. Was er fühlte, als er den Apparat der kleinen Lupe aus der Hand nahm, verhieß nichts Gutes.

»Ja, bitte?«

»Claudio Casares?«

»Wer fragt?«

Ein Klick, die Leitung war tot.

»Wer war das?«, wollte das Hausmädchen wissen.

»Nichts Wichtiges. Ein Spaßvogel.«

»Noch einer, wollten Sie wohl sagen.«

Don Claudio zog einen weiteren roten Strich unter eine andere Zahl.

Er schloss das Grundbuch und stand auf, langsam und gequält, um nach der Gehhilfe zu greifen, die Guadelupe in seine Reichweite gestellt hatte. Langsam, zuerst einen Schritt, dann noch einen, gingen sie gemeinsam auf den Flur hinaus und glitten über den Parkettfußboden aus Zeder und Castello-Buchsbaum bis ins Anrichtezimmer, das sich hinter der Küche befand.

»Ich mache mir Sorgen um sie«, pflegte die Verstorbene zu sagen, wenn sie über Clara sprachen, »sie ist so allein.«

»Sie hat sich dieses Leben ausgesucht. Wir können sie nicht ändern.«

»Wenn sie wenigstens ein Kind hätte«, pflegte sie beharrlich hinzuzufügen, »aber dafür ist es schon ein bisschen spät.«

Diesbezüglich widersprach er ihr nie.

Er setzte sich an ein rundes Tischchen im Anrichtezimmer und die kleine Lupe servierte ihm die Suppe. Er aß schweigend einen Löffel nach dem anderen, als das Telefon erneut klingelte.

»Geh ja nicht ran!«, schrie Don Claudio Lupe an und fügte mit leiser Stimme hinzu: »Ich möchte in Ruhe essen.«

Der Klingelton ertönte noch mehrere Male, dann umgab sie Stille.

»Ich werde dieses Telefon abschaffen«, murmelte er nach einer Weile zwischen den Zähnen.

 

3

Er war allein im Arbeitszimmer. Er nahm sein Mobiltelefon, das er auf dem Grundbuch liegen gelassen hatte, und wählte Claras Nummer, aber er erhielt keine Antwort. »Ich muss mit dir reden«, sprach er auf den Anrufbeantworter.

Ein Tropfen Tau kullerte die grüne Neigung eines Blattes des Weißen Ingwers hinab und nahm dabei, mit animalischer Gefräßigkeit, einen weiteren Tropfen mit. Es entstand ein dickerer Tropfen, der weiter hinabglitt, um noch mehr Tropfen auf dem Weg zu verschlingen, bis er zu einer kleinen, durchsichtigen Schlange wurde, die mit immer größerer Eile immer weiter hinabglitt, bis sie schließlich von der Spitze des nach unten geneigten Blattes stürzte.

Drei Stunden später kam Clara an.

»Du hast dir Zeit gelassen.«

»Ich war in der Uni.«

»Natürlich. Das ist das Wichtigste.«

»Ich hatte Prüfungen.«

»Schon gut. Aber setz dich doch, wenn du Zeit hast.«

»Geht es Ihnen gut?«, fragte Clara.

»Es geht mir gut.« Er blickte auf seine Hüfte. »Ich habe Schmerzen, ja, aber nicht mehr als vorher. Es ist etwas anderes, worüber ich mit dir sprechen möchte.«

»Ich höre Ihnen zu.«

Ganz plötzlich nahm er seine wohlwollende Haltung ein. Die Züge seines großen, runden Gesichts entspannten sich wohlig, als er sagte:

»Ich habe viel über das nachgedacht, worum ich dich bitten werde.«

Er betrachtete sie, wie sie sich in ihrem Bürostuhl nach vorn beugte, mit aufmerksamem Blick.

»Heute gab es weitere Anrufe.«

»Drohanrufe?«

Der Alte nickte. Er sagte:

»Deine Mutter sorgte sich sehr um dich. Sie war traurig, dass du so alleine bist.«

»Ich weiß. Was soll ich machen?« Eine schwache Geste der Traurigkeit.

»Ich sorge mich auch.«

Clara schüttelte zweifelnd den Kopf.

»Wirklich. Ich möchte, dass du mir einen Gefallen tust.«

Ein Moment des Schweigens. Jetzt wird sie sich in sich selbst zurückziehen, dachte er, jetzt wird sie die Schotten dicht machen.

»Ich möchte, dass du jemanden findest, der auf dich aufpasst.«

Clara lächelte. Sie sagte:

»Einen Leibwächter?«

»Ein Ehemann wäre mir lieber«, witzelte er, »aber gut, fürs Erste einen Leibwächter.«

»Nein, Papi.«

»Nein? Ich bitte dich um einen Gefallen, Clara.« Er hatte diesen Moment kommen sehen; er hatte sich das nicht gewünscht. »Ja, einen Gefallen.« Er erhob nicht die Stimme; er war ein Tyrann, aber freundlich.

»Und wenn ich nicht möchte«, entgegnete Clara, »hat das dann Konsequenzen?«

Der Alte nickte. Clara betrachtete eine Weile den ausgetrockneten Brunnen vor dem Fenster.

»Ist gut«, sagte sie dann und sah ihren Vater an, geradeheraus, die Mundwinkel kaum merklich verzogen, »Sie gewinnen.«

Da war Wut in dieser Stimme, dachte der Alte.

»Aber ich werde ihn aussuchen«, fügte Clara hinzu.

»Und nun gewinnst du!«, sagte er gut gelaunt.

 

 

 

II

 

1

Es war ein ruhiger Abend und immer noch war etwas rötliches Licht am Horizont zu sehen, zwischen den Kegeln dreier Vulkane. Die Gäste waren in der Vorhalle.

Chepe, ein großer Leibwächter mit dunkler Haut, der ein bisschen an Gewicht zugelegt hatte und gut rasiert war, horchte auf. Er stand neben der Haupttür.

»Guten Abend«, sagte der Chef in seiner Rolle als Gastgeber und umarmte die Frau seines Freundes und dann den Freund.

»Die Tür war offen«, sagte sie, »Chepe hat uns das Tor aufgemacht.«

Es gab ein Mikrofon im Speisezimmer und Chepe hatte einen Funkkopfhörer im Ohr. Durch seine dunkle Sonnenbrille überwachte er auch den Garten vor dem Haus und das Eingangstor, das bereits von riesigen Scheinwerfern beleuchtet wurde. Unten, auf beiden Seiten des gepflasterten Weges, der den Garten teilte, bildeten weitere Leibwächter Duos oder Trios um die luxuriösen Autos der geladenen Gäste herum.

»Auf dem Tisch stehen die Häppchen; an der Bar die Drinks«, erklärte der Chef.

»Verdammt noch mal, tolle Vulkane«, sagte ein Gast, der sie durch die Fenster zum westlichen Balkon bewunderte.

Die anderen lachten.

»Verdammt noch mal, ja«, sagte eine Frau und Chepe drehte sich um, um zu sehen, wer sie war. »Wissen Sie, ich denke, dass dieses Land in Wirklichkeit so ist, wie es ist, wegen dieser Vulkane. Sie kontrollieren uns!«, rief sie aus. »Oder jemand kontrolliert uns von dort aus.« Sie hob den Blick zum höchsten der drei Gipfel.

Die Männer blickten sich untereinander an.

»Möglich, Clarita«, sagte der Chef zu ihr, »aber ich dachte, solche Sachen fallen dir nicht mehr ein. Hast du nicht aufgehört zu rauchen?«

»Mach dich nicht lustig«, antwortete Clara, »ich spüre es, wenn etwas Schlimmes passieren wird, und ich spüre es jetzt. Ich sage dir aus dem tiefsten Inneren meines Seins, es ist etwas, das mit diesen Vulkanen zu tun hat.«

»Warum nicht«, sagte ein anderer, »wir wissen, dass sie die ganze Zeit Gase freisetzen.« Er machte eine Grimasse und lachte.

»Ihr könnt euch ruhig lustig machen«, sagte Clara, »aber ich weiß, dass etwas passieren wird. Vielleicht passiert es schon und wir merken es nur nicht.«

Jetzt war sie es, die lachte, und die Männer blickten verdutzt drein. Der Frau war ein Lüftchen entwichen, das einen leisen Pfiff erzeugt hatte.

»Genial«, sagte der Gastgeber, »das ist der Gipfel der Offenherzigkeit, meine Liebe.«

»Du bist doof«, entgegnete ihm Clara, »das war völlig unbeabsichtigt. Ich schwöre es.«

Chepe hatte das lästige Geräusch gehört.

»Bin ich rot geworden?«, wollte sie wissen.

Chepe verspürte eine seltsame Erregung. Doch Clara war eigentlich nicht wirklich sein Typ, sie war zu dünn. Sie hatte einen runden Hintern; der reichte, um ihre Attraktivität zu erklären.

Auf der Straße, die auf den Berg führte, ließ ein Sattelzug sein Schiffshorn dröhnen. Chepe ließ seinen Blick erneut aufmerksam über den Garten schweifen. Plötzlich stand Clara vor ihm. Er richtete sich auf und grüßte sie mit einem leichten Kopfnicken.

»Doña Clara«, sagte er, »guten Abend.«

»Hallo, Chepe«, antwortete sie lächelnd, »ich weiß nicht, wie du die ganze Zeit diese Brille tragen kannst, Junge.«

Chepe gefiel das Parfüm, das sie trug. Er hatte einen sehr ausgeprägten Geruchssinn. Er war – und das vergaß er nicht – ein Wachhund. »Sie raucht nicht mehr. Sie ist rausgegangen, um noch einen fahren zu lassen«, dachte er, während er ihr zusah, wie sie eine Runde auf der Terrasse drehte.

Weitere Gäste kamen an; Chepe begrüßte sie trocken und ließ sie eintreten. Clara näherte sich ihm erneut.

»Du musst mir einen Gefallen tun, Chepito.«

»Sehr gern, Señorita.«

»Du kannst Clara zu mir sagen.«

»Sehr gern, Señorita.«

»Du musst mir jemanden empfehlen, einen Kerl wie dich. Schlau, vorzeigbar, taktvoll«, sagte sie und fügte hinzu, »und dass es mir ja kein Ex-PAC ist oder ein Ex-Kaibil. Ah, und auch kein Evangelikaler. Kennst du jemanden?«

»Ich glaube schon«, beeilte er sich zu antworten.

»Ich habe deine Nummer ja und du hast meine, oder? Sprechen wir später?«

Sie drehte sich um und ging, sich in den Hüften wiegend, bis zur ersten Gruppe von Trinkenden, die sich lauthals unterhielten. Jemand rief nach Musik. Man begann zu tanzen.

 

Chepe hörte von einer an sein Schlafzimmer angrenzenden Kammer aus, an einem Tisch mit elektronischen Steuerungen sitzend, den Gesprächen zu. Sein Chef scherzte mit seinen alten Freunden, wie üblich, über ihre Vorfahren und die Herkunft ihrer beträchtlichen Vermögen. »Wir«, sagte der Chef, »wir beuten keine Indios aus. Wir beuten Mestizen aus. Da ist ein Unterschied.« ‒ »Aber hier gibt es praktisch nur Indios, mit oder ohne traditionelle Kleidung, aber Indios«, wandte der Freund ein. ‒ »Vielleicht«, erwiderte der Chef, »aber die indigenen Indios sind billiger, das kannst du nicht leugnen.«

So gegen zwei Uhr hörte die Musik auf und nach und nach gingen die Gäste nach Hause. Chepe erhob sich und ging zur Küche, ohne dass die Stimmen in seinem Ohr aufhörten zu reden. Nichts Auffälliges, nichts, das dem Leibwächter, von Berufs wegen paranoid, seltsam oder bedrohlich erschien.

Von der Haupttür aus schrie eine Frau: »Wir gehen, Ramón! Vielen Dank für das Fest!«, und hinter ihr her gingen alle in die Vorhalle hinaus. Der Chef begann, nachdem er sie verabschiedet hatte – »Fahrt vorsichtig!«, wiederholte er ein ums andere Mal –, die Lichter aus- und den Alarm einzuschalten.

Guatemala ist voller Feiglinge, sagte Chepe zu sich selbst, während er in der Küche ein Glas Wasser trank. Das war der Grund, weshalb sich sein Mut in einen so gut bezahlten Beruf verwandelt hatte. Das war ein wunderbarer Gedanke fürs Zubettgehen.

Für gewöhnlich wachte er bei Morgengrauen auf. Eine Weile blieb er dann liegen, um den vertrauten Geräuschen zu lauschen: den Sperlingsvögeln, den Hähnen des Elendsviertels am Rande der Schlucht, dem Motorrad des Zeitungsausträgers, das mit Schwung die steile Straße hinauffuhr, einem Flugzeug, das gerade auf der Piste von La Aurora landete oder startete.

Sein Zimmer war hinter der Garage, in einem Flügel, den der Chef an das alte Haus, das er von seinen Eltern geerbt hatte, anbauen lassen hatte. Darin standen ein großes Doppelbett, ein kleiner Schreibtisch, ein Heimtrainer-Fahrrad und ein Satz Hanteln. Er konnte sich nicht beklagen.

In der angrenzenden Kammer, deren Tür er immer offen stehen ließ, waren, eingelassen in der hinteren Wand, die Überwachungsmonitore, die dazu dienten, die Garage und das Tor zu überwachen; die Eingangshalle; den Hauptflur; den Salon; den Balkon; die Gartentore. Es war niemand zu sehen.

Er machte ein paar Gymnastikübungen, duschte sich, zog sich den vorschriftsgemäßen zweiteiligen Herrenanzug an und setzte sich die Brille mit den dunklen Gläsern auf.

Er frühstückte allein. Das Hausmädchen, Doña Ana, stellte immer gesäuberte Orangen für den Saft bereit, Brot zum Toasten und das Kaffeepulver in der Filterkaffeemaschine. Nachdem er die Orangen geschält und die Kaffeemaschine angestellt hatte, schlug er ein paar Eier auf und begann, sie zu schlagen. Er dachte an die vorangegangene Nacht. Welchen arbeitslosen Freund sollte er Doña Clara wohl empfehlen? Ob er selbst in ihre Dienste treten sollte? Er dachte an jemanden aus der Gegend von Petén, einen guten Freund. Aber der war Kaibil gewesen, das stimmte. Camilo kam auch infrage. Sein Chef, ein Jurist, lebte seit geraumer Zeit im Ausland, und auch wenn er sehr wenig arbeite, wolle er eigentlich mehr Geld verdienen, aber es gebe keine Möglichkeit, dass man ihm das Gehalt erhöhe, beschwerte er sich immer.

Er schüttete die Eier in eine Pfanne auf dem Feuer und begann, Orangen auszupressen. Seit Monaten war er nicht mehr auf dem Schussplatz gewesen, dachte er. Er musste schleunigst wieder einmal hingehen. Er erinnerte sich an Igor, den Schießlehrer, einen ehemaligen Polizisten. Für Clara? Nein. Die Orangen waren sehr sauer; die Saison war vorbei. Dennoch trank er das ganze Glas, was ein leichtes Brennen im Magen verursachte. Als das Brot getoastet war, strich er langsam Butter darauf. Er erinnerte sich an seinen Neffen, Cayito, der bei seiner Schwester in Jalpatagua lebte. War er nicht noch sehr jung?

Vor der Tür zur Waschküche tauchte Doña Ana auf, eine korpulente Frau von vornehmem Aussehen. Sie wünschte Chepe einen guten Morgen, legte die Tageszeitungen vor ihm ab und schaltete den Fernseher ein. Gerade begann die Telenovela Soy tu dueña.

»Haben Sie nicht gut geschlafen?«, fragte ihn die Frau.

»Ich habe gut geschlafen, aber nicht viel.«

»Sie müssen ja nicht auf Teufel komm raus bis zum Ende der Partys bleiben«, erinnerte sie ihn mit mütterlichem Tonfall.

»Ich bin nicht geblieben.«

»Aber Sie haben weiter zugehört, nicht wahr?«, fuhr sie mit einem Lächeln fort, das gleich wieder verschwand.

»Sie haben recht«, sagte Chepe zu ihr; »Straffreiheit beherrscht das Land«, hieß es in einer Schlagzeile.

Bis der Chef aufstand, hatte Chepe die Zeitungen gelesen, die Horoskope eingeschlossen; sein Sternzeichen und auch das seines Chefs, dem die Sterne einen ruhigen Sonntag versprachen. »Du wirst wieder an die Magie glauben«, stand in seinem.

»Guten Morgen, Chepito«, ertönte die Stimme des Chefs über Funk, »Clara hat gerade angerufen. Sie wartet darauf, dass du mit ihr sprichst, hat sie gesagt. Ich werde heute nicht rausgehen. Ich möchte, dass du Gemüse von der Finca holst. (Sie lag eine Stunde von der Hauptstadt entfernt.) Danach hast du frei.«

Chepe wählte Claras Nummer auf seinem Handy.

»Ja, Doña Clara«, sagte er, »mir ist schon jemand eingefallen. Ein Neffe, den ich im Osten habe.«

 

In Wahrheit – dachte Chepe auf dem Weg zur Finca – war es nicht wichtig, dass Cayito, der gerade erst zwanzig geworden war, ein bisschen zu jung für den Beruf war; er musste arbeiten. Encarnación, Chepes Schwester, war eine alleinerziehende Mutter. Monat für Monat zahlte Chepe fünfhundert guatemaltekische Quetzales auf ihr Konto bei der Bank von Jalpatagua ein und damit und mit dem, was sie als Wäscherin verdiente, konnte die Frau überleben. Aber die Lebenshaltungskosten waren so schnell gestiegen, dass Chepe sich fragte, wie man damit über die Runden kommen könne.

Cayito war ein hochgewachsener Junge, schlank und mit einem leichten Silberblick. Er träumte davon, Viehzüchter zu werden. Von der Finca aus rief Chepe ihn auf seinem Mobiltelefon an, während er gemütlich am Lenkrad eines Geländewagens saß und ein Bursche Gemüse und Orangen für den Chef pflückte.

 

2

Cayetano war der Jüngste der Aguilar-Alamar-Familie aus Jalpatagua im tropischen Jutiapa. Die Aguilar waren magere, gedrungene Leute (Moriskenblut floss in ihren Adern), »arm – aber nicht sehr«. Sie besaßen ein wenig Land, einen auseinanderfallenden Jeep Willys und ein paar Hühner – außerdem Katzen, Spottdrosseln und eine Gelbscheitelamazone. Cayitos älterer Bruder, ein Revolverheld, hatte das Dorf auf der Suche nach Arbeit verlassen; er sei bei einer Schießerei ums Leben gekommen, hieß es. Die Schwester war Schönheitskönigin des Dorfes gewesen, wo Schönheit nichts Seltenes war. Kurz nach ihrer Krönung verliebte sie sich in einen Mann aus der Hauptstadt und verschwand. Böse Zungen behaupteten, dass der Sex nun ihr Geschäft sei. Sie kam nur zu den Festen nach Hause, manchmal beladen mit teuren – oder zumindest prächtigen – Geschenken für ihre Mutter und Cayetano.

Cayitos Vater war gestorben, noch bevor der Junge zu sprechen gelernt hatte. Er kannte sein Gesicht von den alten Fotos, die seine Mutter in einer Schublade des Nähtischchens zusammen mit ein paar Zeitungsausschnitten und einem Messbuch aufbewahrte. »Ein an dem Überfall beteiligter Beamter der Nationalpolizei wurde von Angestellten des privaten Sicherheitsdienstes des Bankunternehmens erschossen«, stand auf dem Zeitungsausschnitt mit dem Foto seines vor einer Bankfiliale liegenden Vaters, die Brust geschwärzt von Blut. Jemand hatte in großen Buchstaben das Wort »Lüge!« an den Rand geschrieben.

Niemand sprach jemals darüber.

 

Als das Mobiltelefon klingelte, lag Cayetano im Thermalbad der Höhlen von Andamira in der Sonne, wohin er am Vormittag mit dem alten Willys über einen schmalen, unbefestigten Weg gefahren war. Noch war er nicht in das lauwarme, ölige Wasser gestiegen und er freute sich, die mexikanische Melodie seines Telefons zu hören: Es war sein Onkel Chepe. Er zog schnell den Apparat aus der Tasche seines Hemds, das über der Lehne eines Stuhls hing, den er vorsichtigerweise weit genug vom Becken des Naturschwimmbads entfernt hingestellt hatte. »Hallo, Onkel.« Eine Bremse wollte sich gerade auf der Hand, die das Mobiltelefon hielt, niederlassen; er verjagte sie mit der anderen und ließ das Insekt nicht aus den Augen, das ihn, so ahnte er, erneut angreifen würde.

Auf der anderen Seite des Beckens standen ein paar Tische mit Sonnenschirmen. Eine Gruppe Badegäste hatte sich dort niedergelassen. Irina, ein Mädchen mit hellen Augen, das Cayo sehr gefiel, war mit dabei. Ihre Blicke trafen sich. Cayo grüßte sie mit einer Hand; dann senkte er die Augen, um sich ganz auf seinen Onkel zu konzentrieren, aber Irinas Anwesenheit lenkte ihn ab.

Der Onkel fragte nach Encarnación.

»Und du, hast du ’nen Job?«, wollte er danach wissen.

»Abgesehen von den vielen Sachen zu Hause findet man hier keine Arbeit, Onkel.«

»Aber willst du arbeiten?«

»Sie wissen, dass ich das will.«

»Es gibt eine gute Stelle, ich habe gerade davon erfahren. Aber du müsstest in die Stadt kommen. Und ’ne Waffe tragen.«

Während er darüber nachdachte, ging die Bremse wieder zum Angriff über. Seine Mutter würde nicht einverstanden sein, wenn er sie allein ließ; noch viel weniger, wenn er dabei noch bewaffnet sein musste, dachte er. Dieses Mal traf die Hand des Jungen das fliegende Insekt. Er trat mit seinem Stiefel nach und führte die Bewegung eines Salsatänzers aus, um sie an den Fliesenboden zu kleben.

»Ich will mich nicht drücken, Onkel, aber Sie wissen, wie meine Mama ist.«

»Das ist deine Entscheidung, Cayito. Du bist schon erwachsen. Sie wird das Beste für dich wollen. Die Bezahlung ist gut, das sagte ich ja schon. Es ist eine ehrliche Arbeit, wie jede andere auch«, er lachte, »nur weniger langweilig.«

»Ja. Aber die Waffen, die sind für sie wie ein rotes Tuch, Sie wissen, warum.«

»Aber sie ist eine Frau. Das ist normal. Es wäre völlig idiotisch, wenn du dir deshalb so eine Chance wie diese entgehen lassen würdest.«

»Ich habe ja noch nicht Nein gesagt.«

»Ich werde auch mit ihr reden. Sie muss das verstehen. Du sollst auf eine Frau aufpassen, eine Doña. Ich wünschte, ich hätte so eine Chefin, verdammt noch eins! Lass dir das nicht durch die Lappen gehen!«

»Danke, Onkel.«

Cayo legte auf und hob den Fuß, um die Überreste der Bremse zu betrachten; das einzig Identifizierbare war ein kleiner, durchsichtiger Flügel.

Er zog sich die Stiefel aus und ein eindringlicher Gestank stieg in seine Nase. Er blickte auf die andere Seite des Schwimmbeckens. Das Mädchen kehrte ihm den Rücken zu, während es mit irgendeinem Freund redete. Er zog sich die Hose aus, unter der er Badeshorts trug, und legte sich wieder auf sein abgegriffenes Handtuch in die Sonne. Mit gegen das starke Licht geschlossenen Augen (durch seine Lider schien es wie ein intensives Rosa mit funkelnder Maserung) hing er seinen Fantasien über sein zukünftiges Leben als Bodyguard einer reichen Frau in Guatemala-Stadt nach. Irinas Lachen drang, gemischt unter das der Gruppe auf der anderen Seite, zu ihm herüber. Er fühlte sich unglücklich. Ich werde den Job annehmen, dachte er. Er stand auf und bemerkte den feuchten Fleck, den sein Körper auf den Fliesen unter seinem Handtuch hinterließ. Statt in das laue Wasser zu gehen wie die anderen, beschloss er, zu der kleinen, kalten Wasserstelle hinaufzusteigen, die ein paar Hundert Meter bergauf lag. Dort war niemand um diese Uhrzeit, stellte er mit Erleichterung fest. Er zog sich komplett aus, während eine smaragdgrüne Eidechse ihn von einem Felsenvorsprung aus beobachtete, und stieg in das eisige Wasser, um zwischen den Steinen von einer Seite zur anderen zu schwimmen, trunken vor Wonne über die Kühle des Wassers in jeder Pore und das starke Sonnenlicht im Gesicht. Als er wieder hinausging, warf er, während er sich anzog, einen Blick des Abschieds in das Tal, das vor Hitze zu vibrieren schien, und auf den weißen versteinerten Wasserfall.

 

Ein paar Tage später nahm er den Morgenbus in die Hauptstadt, wo er erst nach der Mittagszeit ankommen würde. Nach einem leichten Frühstück bestehend aus Hühnerfüßen, Avocado und Tortillas, das er auf halbem Weg, als der Bus gerade die westliche Seite des Gebirges hinabfuhr, verzehrte, hörte er auf, an seine Mutter zu denken, die ihm unter Schluchzen das in ein Küchentuch eingewickelte Essen überreicht hatte. In seinem Rucksack befanden sich nur wenige Dinge: Kleidung zum Wechseln, eine Taschenlampe, seine Geburtsurkunde, sein Reifezeugnis und ein Auszug aus dem Vorstrafenregister, von dem der Onkel ihm aufgetragen hatte, ihn nicht zu vergessen. Cayetano hatte eine alte Pistole, aber er ließ sie in einem geheimen Versteck zurück, hinter einem unechten Ziegelstein, in einer der Wände seines Zimmers.

Am Busbahnhof begrüßte ihn sein Onkel, der den unvermeidlichen zweiteiligen Anzug, das weiße Hemd und die dunkle Sonnenbrille trug, mit einer schnellen Umarmung und fragte ihn nach den Papieren.

»Sehr gut. Wir werden dir das Schießeisen und die Lizenz besorgen«, sagte er zu ihm, »es ist noch Zeit.«

Cayetano stieg ein bisschen benommen in einen schwarzen Blazer Tahoe mit getönten Scheiben, und als die Türen sich schlossen, fühlte er sich, als ob er in eine flüssige dunkle Irrealität eintauchte. Das Innere des Autos roch nach gegerbtem Leder. Chepe ließ den Motor an, der fast kein Geräusch machte, und die Klimaanlage begann zu surren. Er drehte das Lenkrad und da sah Cayetano die verchromte Neunmillimeter, die er am Gürtel trug. Chepe führte eine Hand ans Ohr, an dem sich das kleine, kabellose Gerät seiner Freisprecheinrichtung befand.

Es war das erste Mal, dass er in die Stadt fuhr, und jetzt, durch diese dicken dunklen Scheiben hindurch, sah er sie mit großer Geschwindigkeit an beiden Seiten des Tahoe, den sein Onkel geschickt lenkte, vorbeirauschen.

»Bei dieser Chance«, sagte er zu ihm, »wirst du mehr Fahrer als Schütze sein, Cayo. Soll ich lieber Cayo zu dir sagen statt Cayito, ja, oder? Hört sich besser an.«

»Ist mir egal, Onkel«, bequemte er sich zu sagen.

»Du hast einen Führerschein, oder?«

»Seit ein paar Tagen.«

Sie bogen rechts ab. An einer weißen Mauer, entlang derer ein paar Männer unterschiedlichsten Alters eine lange Schlange, die um den Block ging, bildeten, las er die Abkürzung DIGECAM in großen schwarzen Buchstaben an die Wand gemalt.

»Hier geben sie die Lizenzen raus, damit man eine Waffe tragen darf«, sagte der Onkel und sie fuhren weiter, »da wirst du in den nächsten Tagen noch mal hinmüssen.«

Sie fuhren auf einen sehr breiten Boulevard mit begrüntem Mittelstreifen und großen Bäumen und Statuen an den äußeren Fahrbahnen. Große, opulente Gebäude – goldene oder blaue Glasfassaden, in denen sich der bewölkte Himmel spiegelte – erhoben sich zu beiden Seiten.

»Du wirst sehen«, sagte der Onkel zu ihm, »du wirst Geschmack dran finden.«

»Woran?«

»An diesem Leben. Der Arbeit, Doña Clara, der Stadt.«

Sie bogen in eine enge Seitenstraße ab, die einer anderen Zeit anzugehören schien als die Avenida, die sie gerade gekreuzt hatten, eher einer Zeit, in der man noch in Dörfern lebte. Ein Mispelbaum in einem lang gestreckten Garten, eine Bananenstaude. Ein Fenster mit Gitterstäben, ein blühender Stechapfel. Sie bogen wieder in eine breite Straße ab und hielten vor einem modernen, imposanten Gebäude.

»Hier sind wir«, sagte der Onkel, »jetzt stell gut die Lauscher auf.«

Sie meldeten sich in einem Wachhäuschen an, der Wächter ging an ein Telefon und öffnete, ohne ein Wort an sie zu richten, das Eisentor mit einer elektronischen Fernbedienung. Erneut bogen sie ab und fuhren über eine spiralförmige Rampe in ein schlecht ausgeleuchtetes Untergeschoss, wo Cayetanos Augen durch die getönten Scheiben fast nichts erkennen konnten. Chepe machte die Scheinwerfer des Autos an. Sie fuhren immer weiter in einer Spirale nach unten.

Sie parkten und die Schließanlage des Tahoe machte ein Bip, die Lichter blinkten. Sie fuhren mit einem Fahrstuhl in den elften Stock, wo die Señora sie schon erwartete. Die Tür des Apartments hinter ihr stand sperrangelweit offen – durch sie war weiter hinten eine große Fensterfront zu sehen. Cayetano fühlte sich überwältigt. Über dem Türrahmen befand sich eine kleine Überwachungskamera.

Chepe stellte sie gegenseitig vor (»Doña Clara«, »Cayo, mein Neffe«) und sie gab Cayetano die Hand.

»Sehr erfreut«, sagte sie, »wie ist Ihr richtiger Name? Ah, wie hübsch, Cayetano.« Er hatte noch nie eine Stimme wie diese gehört; tief, wohlklingend.

Sie gingen hinein.

»Er ist mein Patenkind, der Jüngste meiner Schwester. Ich bürge für ihn«, erklärte Chepe.

»Was macht sie, deine Schwester?«, wollte die Señora wissen.

»Sie ist Wäscherin. Sie hat es sehr schwer, die arme Frau. Ich helfe ihr, wann immer ich kann.«

Sie lud sie ein, sich in die Sessel des Salons hinter ein paar Pflanzen und einer Statue aus vergoldetem Holz – ein Götterbild, fragte sich Cayetano – zu setzen. Der Sitz war groß und weich. Cayetano spürte, wie er darin versank.

»Wie alt sind Sie, Cayetano?«, fragte ihn die Frau.

»Dreiundzwanzig.«

»Sie sehen jünger aus. Welches Studium haben Sie absolviert?«

»Ich habe nur die Hochschulreife, mehr nicht.«

Chepe erklärte, dass man ihm noch eine Lizenz und eine gute Pistole besorgen müsse. Der Junge sei ein gefürchteter Schütze, versicherte er.

»In weniger als einem Monat«, sagte er, »wird er den Personenschutz nach allen Regeln der Kunst beherrschen, Doña Clara. Vielleicht muss er noch ein bisschen an seiner Erscheinung arbeiten«, witzelte er.

Sie erhob, ebenso scherzend, Einspruch:

»Ich möchte nicht, dass er aussieht wie du, Chepito. Aber darum werde ich mich kümmern«, sagte sie. Erneut blickte sie Cayetano an: »Die Sonnenbrille, mein Junge, nur, wenn wir an der Sonne sind.«

Cayetano nickte.

Chepe sagte:

»Sie haben das Sagen.« Er berührte den kleinen Apparat an seinem Ohr, wie er es aus Reflex zu tun pflegte.

»Ich fühle mich nicht bedroht, aber mein Vater schon«, hob die Frau an. »Er hat mich darum gebeten, es hilft alles nichts. Seinetwegen werde ich Sie einstellen«, sagte sie zu Cayetano. »Eigentlich bezahlt er Sie und das alles hier. Sie werden hier wohnen müssen, nehme ich an«, sie wurde nachdenklich.

»Vielen Dank«, erwiderte Cayetano sehr ernst.

»Na also, sehen Sie, Doña Clara?«, sagte Chepe zufrieden.

Dann verblieben sie so, dass Cayetano am nächsten Tag in das Apartment ziehen sollte, in das Zimmer, das eigentlich für das Hausmädchen bestimmt war, das aber nicht dort übernachtete.

Auf dem öffentlichen Parkplatz stiegen sie aus ans Tageslicht. Der Onkel sagte:

»Na, wenn da einer nicht mal Glück hat! Sogar ein Zimmer gibt sie dir. Es ist ein bisschen seltsam, in einem Apartment, aber das kommt vor, hast du ja gesehen. Genieße es, das Glück, wer weiß, ob es anhält. Und dass du mir keinen Unsinn machst, ist das klar? In dem Job wirst du alle möglichen Leute kennenlernen. Für deine Arbeit brauchst du drei Dinge: ununterbrochene Aufmerksamkeit. Ständige Kontrolle deiner Macht, die mit dem Schießeisen einhergeht. Und das Schwierigste, und jetzt hör gut zu: Du wirst auf die Forderung nach Respekt verzichten. Hier ist es nicht wie im Dorf. Für die Leute bist du wie ein Hund. Oder schlimmer. Das ist es, was du brauchst, und ein Paar Eier, immer gut an ihrem Platz. Aber die, das weiß ich, die hast du.«

Cayetano spürte, wie ihm das Blut das Gesicht erwärmte.

»Danke«, sagte er.

Sie aßen früh zu Abend in einem Steakhaus in der Nähe der Pension San Jorge, wo Chepe ihm ein Zimmer reserviert hatte.

»Und hör mal«, sagte Chepe plötzlich, »falls es dir irgendwie gelingen sollte, Doña Clara zu bumsen, kastriere ich dich. Hast du gehört?«

Cayetano betrachtete sein Fleischstück und lächelte mit einem gewissen Unwohlsein.

»Alter«, sagte der andere, »das war ein Witz.« Er lachte schallend.

 

Cayetano verbrachte eine schreckliche Nacht in der Pension. (»Du bist in der dreizehnten Straße in Zone neun, falls du dich verirren solltest«, hatte ihm der Onkel nach dem Abendessen gesagt, als er sich verabschiedete, »morgen früh hier um acht?«)

Um Mitternacht weckten ihn die Schreie und das Gelächter einer Gruppe Jugendlicher. Betrunken oder unter Drogen, dachte er. Um drei öffnete er wieder die Augen. Die Alarmanlage eines Autos schrillte ununterbrochen. Er wälzte sich im Bett umher, schlief ein und wachte wieder auf, mehrere Male. Um fünf Uhr, als der Himmel sich über der Stadt zu lichten begann, stand er auf. Er ging in die Cafeteria hinunter, um zu frühstücken, aber sie war noch geschlossen. Er ging auf die Straße, wo die rattenfarbenen Weibchen und die vor lauter Schwärze fast blau schimmernden Männchen der Dohlengrackeln krächzten und um die Bäume kreisten. Es war kalt. Er knöpfte sich die Jeansjacke bis zum Hals zu und ging, die Hände in die Hosentaschen gesteckt, raschen Schrittes die Straße hinunter, auf der Suche nach einem Ort, an dem er einen Kaffee trinken konnte. Um diese Uhrzeit waren sehr wenige Autos auf der Straße. Zwei Straßenkehrer mit Warnwesten und Stadtwappen fegten mit enormen Besen die Abfälle aus Papier, Flaschen und Plastikbechern zusammen. Ein Mann, dessen Aussehen ihn an Onkel Chepe erinnerte, führte ein Chihuahuahündchen an einer Kevlar-Leine spazieren. Als er an ihm vorbeiging, grüßte Cayetano, doch der andere schenkte ihm keine Beachtung. Er ging beleidigt weiter. »Die haben kein Benehmen, die Leute aus der Stadt«, hatte ihn seine Mutter zu Recht gewarnt. Man müsse sich daran gewöhnen. Zwei Häuserblocks weiter fand er einen kleinen Laden; die chaotische Vielfalt der Verkaufswaren – von Kaugummis bis hin zu Wrestlingmasken – erinnerte ihn an die im Dorf. Er ging hinein und bestellte einen Fruchtsaft, Toast mit Bohnen und einen Kaffee. Er setzte sich in eine Ecke an einen kleinen Tisch, um zu frühstücken, und öffnete die Zeitung, die jemand dort liegen gelassen hatte. Auf der Hauptseite war die Farbfotografie einer Blonden in einem Tanga-Bikini zu sehen, die eine Biermarke anpries. In Jalpatagua sah er nie die Zeitungen durch, dachte er nach. Er begann, die Seiten durchzublättern. »Vier Jugendliche erschossen …« ‒ »Bei einer versuchten Vergewaltigung kam die attackierte Frau durch ihre Gegenwehr ums Leben. Ebenso wurde der Freund des Opfers von den unbekannten Tätern erschossen …« ‒ »Einundzwanzig Tote bei Unfall auf der Interamericana …«

Er musste plötzlich an Irina, das Mädchen aus Jalpatagua, denken. Kurz bevor er wegging, hatte er ihre Telefonnummer bekommen. Er musste sie anrufen, sagte er zu sich selbst, sie auf jeden Fall interessiert halten. Er legte die Zeitung zur Seite und verlangte die Rechnung.

Jetzt war auf der Straße viel mehr Verkehr als zuvor. Er spazierte eine Weile ziellos umher und spürte die angenehme Wärme der Sonne auf seinem Gesicht. Er griff zu seinem Mobiltelefon und wählte Irinas Nummer. Der Anrufbeantworter sprang an; er legte auf. Er rief seine Mutter an.

Um fünf vor zehn fuhr Chepe in dem schwarzen Tahoe vor, um ihn abzuholen. Sie würden ein bisschen ballern gehen, sagte er, ohne die Verspätung zu erklären.

»Das ist mein Kumpel, der Besitzer vom Schussplatz. Früher haben sie dir die Lizenz einfach so gegeben, ein sauberes Strafregister reichte da. Bald wird man sogar Prüfungen machen müssen. Vielleicht muss man das jetzt schon. Deswegen werden wir mit meinem Freund sprechen. Igor heißt er. Wir überspringen ein paar Hürden, Cayo. Oder willst du lieber Schlange stehen?«

»Natürlich nicht, Onkel.«

»Sehr gut.«

Er fuhr schnell in Richtung Norden, Autos und Fußgängern ausweichend. Sie fuhren an einer Art Kastell vorbei mit hohen grauen Mauern mit Zinnen, Wachtürmen und alten Kanonen, die auf die Straße zielten.

»Das ist nur Deko«, erklärte der Onkel, »das war mal eine Militärbrigade. Jetzt ist es ein Museum.«

Sie waren schon im Umland angekommen und fuhren nun einen gewundenen Weg bis zur Sohle einer Schlucht aus grauer Erde hinab.

»Das Geiertal«, sagte der Onkel, »so nennt man es.«

Cayetano erwiderte nichts, er betrachtete das perfekte Blau des Himmels, ein Blau, das unwirklich erschien, dunkler und intensiver als das von Jalpatagua.

Sie waren in der Talsohle angekommen; der Weg ging geradeaus mitten durch einen Schrottplatz voller Traktoren, Kräne und Gastanks hindurch. Zwei Mädchen in Jeans, T-Shirt und schwarzen Turnschuhen, eine dünn, die andere dick, gingen vom Asphalt, um sie vorbeizulassen.

»Scheiß-Maras. Hier«, sagte der Onkel und reichte ihm eine Pistole, »sie ist nicht geladen. Weißt du, wie du sie bedienst? Zerleg sie.«

Cayetano nahm sie am Griff, der aus schwarzem Plastik war. Auf dem ebenfalls schwarzen Lauf las er: HK Usp Expert. Er kannte die Marke nicht. Er fuhr mit der Hand über den Auszieher. Das war ein Kinderspiel, dachte er. Der Sicherungshebel machte klick.

»Das wirst du vor dem Ausbilder machen«, unterbrach ihn die Stimme des Onkels, »ich möchte, dass sie dir heute noch die Lizenz geben, wenn das geht. Natürlich vertraue ich auch auf deine Zielkünste.«

Cayetano lächelte zum ersten Mal an diesem Tag.

»Ich glaube, darauf können Sie vertrauen.«

»Behalt sie, es ist deine«, sagte der Onkel, als Cayetano ihm die Pistole zurückgeben wollte.

 

Nachdem er sie vor den Augen des Ausbilders mit Leichtigkeit zerlegt und wieder zusammengesetzt hatte, gingen sie eine Runde über den Schießstand: eine in Parzellen unterteilte Halle auf einem lang gestreckten Gelände, das von einer Seite von der sandigen Wand der Schlucht begrenzt wurde. Das gewohnte Gefühl, zu einer Waffe zu greifen und zu zielen, wurde jetzt, da er einen Gehörschutz trug, verstärkt. Die körperliche Distanz war ein schlichter visueller Effekt; der Lauf der Waffe, sein rechtes Auge und das Schwarze waren in Kontakt. Die Luft zwischen der Waffe und der schwarzen Silhouette am anderen Ende war nur ein feiner Film, durch den sich die Sonnenstrahlen brachen und der die Illusion von Ferne schuf. Was sein geöffnetes Auge vom Ziel entfernte, war eine nach unten geöffnete, wohl definierte Parabel. Er hatte das Magazin mit siebzehn Kugeln geleert ohne danebenzuschießen. Die anderen Schützen unterbrachen ihr Training, um die Zielsicherheit des Neuankömmlings zu bewundern, der gerade das zweite Magazin einlegte und weiterschoss, während die im hinteren Teil des Platzes aufgereihten Silhouetten zu Boden fielen und sich nur wieder aufstellten, um erneut umgerissen zu werden.

Während Cayetano die Waffe abermals lud, kehrte ein Moment der Stille ein. Ein gelber Schmetterling setzte sich auf eine der Silhouetten, die sich gerade wieder aufgerichtet hatte. Jemand sagte:

»Wetten, den triffst du nicht!«

Er hob die Waffe und in diesem Moment setzte das Insekt zum Flug an. Man hörte den Schuss, der in der Luft widerhallte. Der Schmetterling fiel auf den Boden, ein Flügel war zerfetzt. Ein weiterer Schuss löschte ihn aus. Es folgte ein donnernder Applaus.

Als sie sich verabschiedeten, überreichte der Ausbilder Cayetano seine Karte. »Igor Canales, persönlicher Trainer.«