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Julia Onken

 

 

Eigentlich ist alles schief gelaufen

 

Mein Weg zum Glück

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

Julia Onken blickt zurück auf verschiedene Etappen ihres unkonventionellen, an Spannungen und Brüchen reichen Lebens und macht die Feststellung: Häufig entwickelt sich gerade im Scheitern und Misslingen eine Kraft, die Neubeginn und selbstbewusste Lebensgestaltung ermöglicht. Insbesondere Frauen dürfen sich sagen lassen, dass Glück lernbar ist. Ein ermutigendes Buch, das nicht mit intellektueller Gedankenartistik prahlt, sondern direkt aus dem vollen Leben schöpft. Ein im besten Sinne unverschämtes Buch, das vielen Frauen Energie vermitteln wird, so dass sie sich aus der angelernten Demutshaltung aufrichten, das Trotzdem wagen und bereit sind, Glück zu erfahren.

Über die Autorin

Julia Onken ist diplomierte Psychologin, Psychotherapeutin, Leiterin des Frauenseminars Bodensee (gemeinsam mit ihrer Tochter Maya), Dozentin in der Erwachsenenbildung und Herausgeberin des Magazins Generation Superior – von der Kunst des langen Lebens. Von ihr sind bei C.H.Beck u.a. lieferbar: Feuerzeichenfrau. Ein Bericht über die Wechseljahre (7. Aufl. 2014), Altweibersommer. Ein Bericht über die Zeit nach den Wechseljahren (3. Aufl. 2011), Glück. Ein Bericht aus dem Liebesalltag (3. Aufl. 2003), Vatermänner. Ein Bericht über die Vater-Tochter-Beziehung und ihren Einfluß auf die Partnerschaft (6. Aufl. 2012), Wenn Du mich wirklich liebst. Die häufigsten Beziehungsfallen und wie wir sie vermeiden (3. Aufl. 2011).

www.frauenseminar-bodensee.ch

Inhalt

Nichts als Schieflage

Beinahe auf falschem Kurs

Wenn die Liebe aus dem Ruder läuft

Kentern – ohne nass zu werden

Windschief im Glück

Freistilschwimmen

Schwimmhilfen

Hart am Wind

Segeltörn im Nebel

Tauchstation Mutterglück

Land in Sicht

Trotzdem.
Ein Interview mit Meta Zweifel

Danksagung

Nichts als Schieflage

Wenn ich innehalte und auf mein Leben zurückblicke, wundere ich mich, dass ich so fröhlich bin. Vieles ist da schief gelaufen, entwickelte sich nicht nach meinen Vorstellungen. Trotzdem stelle ich verblüfft fest, dass ich noch nie von so vielen beglückenden Gefühlen erfüllt war wie in meiner gegenwärtigen Lebensphase. Glück, ich weiß, ein verdächtiges Wort, es riecht nach Rosamunde-Pilcher-Schnulze. Dieses Glücksempfinden ist aber weit mehr als eine rosarote Zufriedenheit. Mir ist, als würden meine Zellen frohlocken, ich bin von einem vitalen, dynamischen und vor allem kraftvollen Jubelgefühl erfüllt. Woher das kommt? Vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass mein Schicksal wie eine unförmige Schildkröte in meinem Schrebergarten hockte und seine ganz eigenen Fähigkeiten der Fortbewegung entwickelte. Schließlich sind schwierige Situationen ohne eine Mobilisierung unserer Talente nicht zu meistern. Oft sind es gerade die hürdenreichen Lebensphasen, die uns nötigen, Begabungen in uns zu erschließen, Begabungen, die sich destruktiv gegen einen selbst richten, wenn sie nicht zum Zuge kommen und umgesetzt werden. Ich weiß, wovon ich spreche. Es gab Jahre, da hatte ich das Gefühl, demnächst zu explodieren. Depressive Stimmungen wechselten sich ab mit der Angst, in die Psychiatrie eingewiesen zu werden. Viele Frauen kennen diesen Zustand, den sie nicht zu deuten wissen und der sie krank macht. Heute verstehe ich, was mich damals derart verwirrte: Begabungsstau heißt das Schlüsselwort, das alles erklärt. Es geht um einen Begabungs- und Lebensstau, der zu einer inneren Blockierung führt und sich nach außen wie eine Depression manifestiert. Das ist eben eine beschissene Situation: Wenn ich genau weiß, ich kann reiten wie der Teufel, aber ich habe kein Pferd, höchstens ein Dreirad – dann erstarre ich und werde kreuzunglücklich!

Dass eine glückliche Kindheit eine Art Schutzbrief sein kann für den weiteren Lebenslauf und dass Geborgenheit und das Gefühl des Geliebtwerdens ganz wesentlich sind für den Aufbau des seelischen Immunsystems, pfeifen inzwischen die Spatzen von den Dächern. Die Liebe der Eltern, so pflegend und aufbauend sie sein kann, ist jedoch noch lange kein Passwort für eine harmonische und günstige Entwicklung des Kindes und einen weithin glücklichen Fortgang seines Lebens. In meiner psychotherapeutischen Arbeit habe ich auf Grund vieler Lebensgeschichten den Eindruck gewonnen, dass elterliche Liebe zwar wichtig, aber nicht allein ausschlaggebend für den günstigen Verlauf einer Lebensgestaltung ist. Vielmehr kommt es darauf an, dass es überhaupt eine Menschenseele gibt, die uns zublinzelt und zu verstehen gibt: Schön, dass es dich gibt! Dieses Gefühl des Angenommenseins kann sogar noch in homöopathischer Dosierung wirksam werden. Es kann ein Verwandter sein, der seinem kleinen Neffen gelegentlich schreibt und sich nach seinem Wohl erkundigt, oder eine nette Patentante, bei der das Kind einmal im Jahr während einiger Tage zu Besuch sein darf. Selbst die Nachbarin, für die es ab und zu Besorgungen machen darf und von der es mit einer Tasse lecker duftender, heißer Schokolade belohnt wird, kann dieses Gefühl der Wertschätzung hervorrufen. Häufig sind es winzige Lichtblicke, Momente nur, in denen ein Kind wahrnimmt, dass es anerkannt oder geliebt wird. Aus solchen Lichtblicken schöpft es die Kraft, schwierige Lebenssituationen durchzustehen.

Kinder führen oft innere Dialoge mit Personen, die ihnen nahe stehen. Mit einer verstorbenen Großmutter etwa oder auch mit einer vertrauenswürdigen Figur aus einer Erzählung, von der es sich verstanden und unterstützt fühlt. Früher hatten Schutzengel Begleitfunktionen – und es ist gut, dass ihre Bedeutung in jüngster Zeit wieder vermehrt ins Bewusstsein der Menschen getreten ist. Zurzeit erleben wir ja eine literarische Engel-Invasion!

Sprechen wir von glücklicher Kindheit, dann tun wir dies aber ausschließlich aus der Erwachsenenperspektive. Es wäre wohl wichtig, besser darauf zu hören, was uns Kinder über das Glück zu sagen haben. Die Gleichung «unglückliche Jugend = unglücklicher Lebensverlauf» taugt auf jeden Fall genauso wenig wie die Gleichung «glückliche Kindheit = glückliches Leben». Glück fällt nie einfach vom Himmel und ruft uns begeistert zu: «Hallo, hier bin ich, mein Name ist Glück!» Die Befähigung zum Glück hängt einerseits von einem sich dem Leben öffnenden Lernprozess und andererseits von der Lernbereitschaft ab, die vom Leben angebotenen Lektionen zu überdenken und daraus Nutzen zu ziehen.

Die deutlichste Spur in meinem Kinderleben hat – wie könnte es anders sein – die Beziehung zu meiner Mutter hinterlassen. Die Familienverhältnisse waren so verquer und ungesichert wie nur vorstellbar. Mein Vater, bei meiner Geburt 64 Jahre alt, nicht mehr in seinem Beruf als Lagerist tätig und ohne jegliche Rente, war 30 Jahre älter als meine Mutter, und seine Töchter aus erster Ehe waren älter als seine zweite Frau. Vater war gleich alt wie mein Großvater mütterlicherseits: Die beiden Männer hätten Zwillingsbrüder sein können, bekämpften einander jedoch erbittert. Mein Vater, ein sturer deutscher Sohn eines Fischers, stand dem Großvater gegenüber, der ein sturer Schweizer Bauer war. Diesem sturen Schweizer Großvater gelang es übrigens erfolgreich, mit nur einem einzigen Zahnstummel im Mund mindestens 20 Jahre lang jegliche Nahrung zu zerkleinern.

Vaters erste Ehe muss eine gute Gemeinschaft gewesen sein, ganz im Gegensatz zur Ehe mit meiner Mutter. Weil von Glück in dieser zweiten Ehe keine Rede sein konnte, führte Vater die Ehe mit seiner verstorbenen ersten Frau sozusagen virtuell weiter und bildete zusammen mit seinen Töchtern eine in sich geschlossene Familiengruppe. Meine Mutter, die zwar für den gesamten Familienunterhalt aufkam, war so etwas wie die vom Hausherrn geschwängerte Magd, der aber sonst keinerlei Wertschätzung zuteil wurde. Meine um sieben Jahre ältere Schwester wurde noch halbwegs in die Vater-Familie integriert, doch bei mir, dem unwillkommenen Nachzüglerkind, waren die Schotten dicht. Ich gehörte zu meiner Mutter, sie gehörte nicht dazu, und somit war auch ich ausgeschlossen. Das brachte mir den Vorteil, dass ich meine Mutter ganz für mich alleine hatte.

Meine Mutter arbeitete in einer Fabrik und hatte in den Sechzigerjahren einen Stundenlohn von 1 Franken und 57 Rappen. Zum Vergleich: Unser monatlicher Mietzins betrug damals 80 Franken. Da meine Mutter eine ausgesprochen begabte Näherin war, erhielt sie ab und zu den Auftrag, den Prototypen eines Modellkleides zu nähen. Solche Aufträge wurden etwas besser bezahlt. Nach getaner Arbeit trug Mama den Lohn sorgfältig in ein kleines Notizbuch ein. Kamen da mehr als 20 Franken pro Tag zusammen, lag ein Stolz in ihren Augen, als ob sie sagen wollten: Fantastisch! Ich habe es geschafft. In solchen Momenten hatte ich als Kind stets das Gefühl, diese Frau, die offensichtlich mit meinem Vater sehr unglücklich war, sei dennoch glücklich. Vielleicht hat sich mir damals bereits die Ahnung in meinen Zellen eingenistet, dass man auch aus Arbeit ein Höchstmaß an Freude und Befriedigung erlangen kann.

Ich empfand die Fabrikarbeit meiner Mutter in keiner Weise als Belastung, sondern im Gegenteil als wunderbare Möglichkeit, verschaffte sie mir doch viel ungebundene, unkontrollierte Zeit, in der mich kein Erwachsener von meinen Fantasiespielen abhalten konnte. Es gab bei uns in der Familie nur wenig Spielzeug, aber ich konnte meine eigene Welt erfinden und wurde dabei von niemandem gestört. Abends um 18 Uhr holte ich immer meine Mutter am Fabriktor ab. Gemeinsam machten wir uns auf den Heimweg – es begann der Abend, «unser» Abend, den ich immer wie ein Fest erlebte. Meine Mutter gehörte dann ganz allein mir. Wir aßen zu zweit, weil die übrigen Familienmitglieder sich anderweitig organisiert hatten. Ich konnte meiner Mutter alles erzählen, was ich tagsüber erlebt hatte und was mich bewegte. Und sie hörte mit ungeteiltem, intensivem Interesse zu, wenn ich ihr etwa berichtete, wie ich mir vorstellte, auf unserer Hauptstraße im Dorf einem Elefanten zu begegnen. Ich gestand auch, dass ich schon geflunkert und einem Kind weisgemacht hätte, diesem Elefanten tatsächlich schon begegnet zu sein. Es kränkte mich sehr, von diesem Kind der Lüge bezichtigt zu werden. Meine Mutter schalt mich nicht aus, sondern erklärte mir den Unterschied zwischen einer Wahrheit, die an der Realität gemessen und von daher bewertet werden muss, und einer anderen Wahrheit, die sich von inneren Bildern herleitet. Sie versicherte mir, dass sie sehr wohl verstehe, dass ich diesen Elefanten innerlich gesehen hätte, und ich deshalb für sie keine Lügnerin sei.

Auch wurde ich niemals müde, den Erzählungen meiner Mutter von ihrer Kindheit und Jugend zu lauschen. So erfuhr ich viel von der eigenen Atmosphäre und der engen bäuerlichen Welt im schweizerischen Hinterthurgau von einst. Immer wieder wollte ich die Geschichte hören von Mutters Stiefmutter, die mir wie die böse Hexe aus dem Bilderbuch erschien. Diese Frau erkrankte an einem Geschwür. Der geizige und vor allem eigensinnige Großvater wollte keinen Arzt rufen, sondern schaffte ein Riesenquantum irgendeiner schmierigen Salbe herbei, mit welcher die Kranke sozusagen einbalsamiert wurde. Aber das Geschwür fraß sich dennoch weiter, und diese Stiefmutter-Großmutter verfaulte buchstäblich bei lebendigem Leib. Das war eine schauerlich schöne Geschichte, zudem befriedigte sie mein Gerechtigkeitsempfinden. Diese schreckliche Stiefmutter, die so böse zu meiner Mutter und ihren Geschwistern war, erhielt ihre gerechte Strafe, und ich glaube, dass es diese Geschichte war, die in mir das Grundvertrauen und den Glauben nährte, alles füge sich letztlich zum Guten. Nun, manchmal dauerte es eben etwas lange.

Meine Mutter verfolgte alles, was ich dachte und tat, mit größtem Interesse, und ihre mir zugewandte, wache Aufmerksamkeit hielt bis zur letzten Stunde ihres Lebens an. Diese ungebrochene mütterliche Anteilnahme an meiner Gedankenwelt empfinde ich heute noch als mein wichtigstes Kapital: Ich lebe in der Überzeugung, dass das, was mich beschäftigt und was ich mitteilen möchte, für andere äußerst interessant ist. Die Beziehung zu meiner Mutter ist für mich zum Maßstab geworden: Wenn eine Beziehung nicht auf einem lebhaften und ehrlichen gegenseitigen Interesse beruhte, kam für mich eine solche als Freundschaft nicht in Betracht.

Nach dem Abendessen beschäftigte sich Mutter jeweils mit den Näharbeiten, die sie von der Fabrik mit nach Hause gebracht hatte. Sie nähte, und ich schnitt mit einer kleinen Schere die Fäden ab. Das war der Tageshöhepunkt! Es gab keinen Gedankengang, den ich ihr nicht erzählte. So gewöhnte ich mich früh daran, alles, was mich bewegte, auszusprechen, sowohl die klugen, schönen als auch die ungehobelten und vielleicht nicht gerade feinen Gedanken. Ja, rückblickend müsste ich im Grunde sagen, dass ich keine eigentliche Erziehung genossen habe. Es gab zwar bestimmte Anstandsregeln, aber gedanklich war ich frei. Meine Gedanken waren wie wilde, ungezogene Kinder, die sich vor den Augen meiner Mutter austoben durften. Ich war Mutters Ein und Alles, ihr Sonnenschein. Trat ich ins Zimmer, ging auf ihrem Gesicht die Sonne auf. Und dieses Gefühl sitzt bei mir in jeder Zelle, jubelt und jauchzt, selbst dann, wenn die Sonne einmal nicht aufgehen sollte. Dieses grundsätzliche Einander-wohlgesinnt-Sein in gemeinsamer Arbeit, wie das zum Beispiel auch in Projekten zum Ausdruck kommt, bei denen man gemeinsam etwas zu bewältigen hat und sich einander mitteilen kann, ist für mich auch heute noch eine besondere Oase des Wohlbefindens.

Mit Zuwendung hatte auch die Wahl meines Vornamens zu tun. Ich hätte ein Knabe werden sollen, mein Vater hatte ja schon fünf Töchter, und so legte man sich nur einen männlichen Vornamen zurecht. Ich war also als Stammhalter vorgesehen, obwohl keineswegs ein besonders erfolgreicher oder außergewöhnlicher Stamm fortzuführen gewesen wäre. Die Enttäuschung war groß: wieder ein Mädchen. Mein Vater schüttelte seinen verletzten Stolz dadurch ab, indem er an mir nicht das geringste Interesse zeigte. Das muss ja wohl für meine Mutter ein erhebendes Erlebnis gewesen sein: ignoriert schon im Wochenbett. Diesem unerfreulichen Zustand verdanke ich meinen Namen. Im Spital wurde die Mutter von einer besonders liebenswürdigen Schwester betreut, die sich als Einzige um sie kümmerte. Sie hieß Julia.

Ist es bei dieser Vorgeschichte verwunderlich, wenn ich grundsätzlich mehr Vertrauen zu Frauen als zu Männern habe? In schwierigen Situationen waren es immer wieder Frauen, die mir zur Seite standen. Meine Erfahrung ist die: Frauen sind tüchtig. Auf Frauen kann ich mich verlassen. Sie sind integer, gradlinig, intelligent und fantasievoll.

Meine schwierigen Familienverhältnisse mit dem permanenten Unfrieden zwischen den Eltern und den Spannungen zwischen meiner Mutter und den älteren Töchtern aus erster Ehe erzeugten alles andere als eine Atmosphäre von Aufgehobensein und Geborgenheit. Ich hatte ständig das Gefühl, in einer hochexplosiven, kriegerischen Situation zu leben – ein falsches Wort nur, und schon konnte alles mit lautem Knall in die Luft fliegen. All das beschäftigte und belastete mich, aber eigenartigerweise habe ich mich letztlich immer auf das konzentriert, was meine Mutter und mich verband. Ich konnte mich auf eine Insel zurückziehen, in der die Welt in Ordnung war. Als mein Vater im Alter von 75 Jahren mitteilte, er werde verreisen, um ein halbes Jahr lang seine Töchter in Amerika zu besuchen, sah ich das Tor zum Paradies weit offen – ich konnte mit meiner Mutter allein leben. Nein, mein Vater war keineswegs ein Scheusal, er soff nicht, er schlug nicht, aber er nahm mich nicht zur Kenntnis. Für andere war er sehr unterhaltsam und witzig. Ich jedoch hatte bei ihm keine Chance.

An der Entwicklung meines Grundvertrauens war auch meine Freundschaft mit dem Bodensee beteiligt. Ich muss etwa drei Jahre alt gewesen sein, da bin ich von zu Hause ausgerissen, mit meinem Puppenwagen zum See gegangen, und dort fand man mich dann, ganz ins Spiel vertieft. Der See war immer wichtig, in späteren Jahren wurde er eine Art Kraftquelle, ihn suchte ich zu allen Jahreszeiten auf. Sogar in der Beziehung zu meinem Vater, der mich ja kaum beachtete, spielte der See eine Rolle.

Vater stammte vom gegenüberliegenden deutschen Ufer. Besuchte er einmal im Monat seine Verwandten, durfte ich oft mit ihm auf dem Schiff hinfahren. Während der Überfahrt hörte ich die Nebelhörner tuten, aus den Nebelschwaden stiegen Elfen und Wassergeister auf, während sich die Radschaufeln ins Wasser gruben und das schwere Schiff in großen Atemzügen die Wellen teilte. Ich genoss es, von den deutschen Verwandten abgeholt und als Kind aus dem vom Krieg verschonten Land Schweiz, wo Milch und Honig zu fließen schienen, bestaunt zu werden. Der einzige Schatten, der auf diese Seefahrten fiel, war der Umstand, dass meine Mutter nicht teilnehmen wollte. Es war eben undenkbar, dass Vater und Mutter je etwas gemeinsam unternommen hätten. Erzählten andere Kinder am Montag in der Schule von Ausflügen, die sie mit ihren Eltern hatten unternehmen dürfen, war mir dies stets überraschend fremd. Schwierig war, dass ich nach der Heimkehr von der Reise meiner Mutter haarklein berichten sollte, was der Vater bei den Verwandten über sie erzählt hatte. Ich verstand ihr Anliegen, wusste aber auch, dass ich sie mit einer präzisen Wiedergabe der Gespräche kränken und traurig machen würde. Beide Eltern waren ja miteinander sehr unglücklich. Und so jonglierte ich mich bei meinen Berichten von den Besuchen bei den Verwandten durch ein Minenfeld, wählte jedes einzelne Wort behutsam, klopfte es zuerst nach möglichen kränkenden Aspekten für meine Mutter ab, schwächte ab, korrigierte leicht oder beschönigte notfalls großzügig. Diese Schummelei lag mir schwer auf dem Gewissen. Aber andererseits wusste ich, dass ein einziges falsches Wort, ja schon eine unachtsam gewählte, verdächtige Vorsilbe sich wie eine Explosion auswirken konnte. Zu meiner Entschuldigung erinnerte ich mich an das, was meine Mutter mich gelehrt hatte: Es gibt schließlich auch noch eine innere Realität. Und die sieht eben manchmal ganz anders aus.

In unserem Haus herrschte entweder offener Krieg, oder die Waffen ruhten vorübergehend. Bei Waffenstillstand sprachen die Eltern über Wochen kein Wort miteinander. Während des Mittagessens, bei dem man sich gemeinsam an den Tisch setzte, hing der Unfriede wie eine Glocke über uns. Die Luft war gleichsam elektrisch geladen, jederzeit konnte es zu einer Detonation kommen. In diesem Familiensystem, in dem es außer zwischen Mutter und mir gänzlich an Kommunikation fehlte und in dem Gefühle entweder unterdrückt oder auf verletzende Weise geäußert wurden, so dass daraus eine neue Kränkung entstand – in diesem System ist wohl mein Interesse an Kommunikation erwacht. Früh begriff ich, dass diese Unfähigkeit, Dinge zur Sprache zu bringen und im Gespräch zu bereinigen, ein unnatürlicher und leidvoller Zustand ist. Ich konnte auch beobachten, dass meine Mutter mit mir zusammen glücklich war, sich aber im größeren Familienverband sofort verschloss und zurückzog. Diese «geteilte» Mutter, die in zwei unterschiedlichen Gefühlswelten lebte, beschäftigte mich ebenfalls. Dem Bild der liebevollen und mitteilsamen Mutter blieb ich treu, aber ich ärgerte mich auch, wenn sie sich verweigerte und verstummte. Ich hatte das unbestimmte Gefühl: Die Welt macht etwas mit Frauen. Es kränkte mich, wenn meine Mutter vom Hausmeister heruntergeputzt wurde, weil sie etwa die Vorfenster, welche die Kälte abhalten sollten, erst nach Ostern entfernt und in den Keller geschleppt hatte. Dieses mickrige, unscheinbare, farblose und einfältige Männchen hatte offenbar die Befugnis, meine tüchtige, gescheite und begabte Mutter abzukanzeln und klein zu machen – verkehrte Welt! Und das Schlimmste war, dass sich meine Mutter nicht zur Wehr setzte. Später erlebte ich, dass auch zwei Ehemänner meiner Halbschwestern dem gleichen Muster folgten: Das waren zwei dumme, uninteressante Männer, die aber offenbar die Macht hatten, meine Mutter herumzukommandieren und zu beleidigen.

Wenn ich heute leidenschaftlich dafür kämpfe, dass sich Frauen wehren und ihre Rechte einfordern, kommt es mir manchmal vor, als wolle ich meine Mutter nach ihrem Tod noch rehabilitieren und darüber hinaus alle anderen Frauen und Mütter ebenfalls.

Wäre ich Anwältin geworden und nicht Psychologin, würde ich, statt Bücher zu schreiben und Vorträge zu halten, weltweit herumreisen, Sammelklagen verfassen und Strafanzeigen stellen, rückwirkend für unsere Mütter, Großmütter, Urgroßmütter usw.:

1. wegen Namensenteignung,

2. wegen Kindesraubs,

3. wegen lebenslanger Zwangsarbeit ohne Entschädigung, Versicherung und Rente.

Und in vielen Ländern hätten diese Anklagepunkte auch in der Gegenwart noch Gültigkeit.

Zu radikal? Keineswegs. Im Gegenteil! Wir müssen diese Dinge endlich beim Namen nennen. Mit «wir» meine ich alle Frauen, die wie ich in einem bereits privilegierteren Frauenleben angelangt sind. Wir können uns doch nicht einfach in den Liegestuhl legen, vor uns hin träumen und nur darum bemüht sein, keinen Sonnenbrand einzufangen.

Ich fühle eine tiefe Solidarität mit anderen Frauen. Die Geschichte meiner Mutter hat mich sensibilisiert und mich hellhörig gemacht.

Nachhaltig wirkt auch ihre Entwicklungsgeschichte auf mich. Obwohl sie ein sehr intelligentes Mädchen war, kam eine Berufsausbildung für sie überhaupt nicht in Frage, und so nahm sie mit 18 Jahren als Hilfspflegerin die Arbeit in einer psychiatrischen Klinik auf. Was sie mir aus jener Lebensphase erzählte, hat vermutlich mein Interesse an Menschen geweckt, die sich in einer besonderen seelischen Notsituation befinden. Beim Anblick der Patienten, die da vor sich hin vegetierten, wurde ihr schlagartig bewusst: Wenn ich so leben müsste, würde ich auch durchdrehen. Und sie begann unverzüglich, die Patienten mit kleinen Handarbeiten zu beschäftigen, und zwar zu einer Zeit, da noch niemand die Begriffe Beschäftigungstherapie oder Ergotherapie kannte. Bei uns zu Hause gab es praktisch keinen Gegenstand, der nicht von einer gestrickten oder gehäkelten Hülle umgeben war, und jedes Stück war eine Erinnerung an jene Klinikzeit. Der jungen Frau war es offenbar auch gelungen, den Zugang zu verstummten Menschen zu finden und sie zum Sprechen zu bringen. Diese Arbeit, in der sie sich bestätigt fühlte, bedeutete für meine Mutter eine zutiefst beglückende Erfahrung – sie war mit Sicherheit hoch begabt und brachte, ohne dass sie davon eine Ahnung hatte, therapeutische Prozesse in Gang und konnte helfen. Vielleicht ist es deshalb auch nicht verwunderlich, wenn der Funke auf mich übersprang und ich später die Psychotherapie zum Beruf machte.

Ich war an der Lebensgeschichte meiner Mutter sehr interessiert. Dazu gehörte auch die Tatsache, dass im Elternhaus meiner Mutter die weiblichen Kinder weniger galten als das Kleinvieh. Den Schmerz, als Individuum vom Vater überhaupt nicht wahrgenommen worden zu sein, habe ich wohl als mütterliches Erbe von ihr übernommen und weitergeführt. Der Schmerz ihrer Kindheitserfahrung führte die junge Frau schließlich zum 30 Jahre älteren, verwitweten Mann, der ihr zunächst Aufmerksamkeit schenkte und ihr emotionales Defizit auszugleichen schien. Auch die den meisten Frauen wohl bekannte Mitleidstour hatte Wirkung gezeigt: Meine Mutter wollte diesen alten Mann, der so dringend ihre Zuwendung brauchte, nicht enttäuschen. Für ihren Entschluss, ihn zu heiraten, war sicherlich der Umstand oder vielmehr der Makel, dass sie vor ihrer Ehe trotz eines nicht zur Gänze vollzogenen Beischlafs schwanger geworden war, ausschlaggebend. Mutter erzählte mir ausführlich, wie sie von ihrem Vater als Hure bezeichnet und aus dem Haus geworfen wurde und dass sie die geliebte Arbeit in der Klinik verlassen musste, während der Pfleger, der sie geschwängert hatte, selbstverständlich seinen Arbeitsplatz behielt. Sie brachte ihr Kind in einem Heim für ledige Mütter zur Welt, der Kindsvater besuchte sie zuweilen, gemeinsam schob man auf Spaziergängen den Kinderwagen – aber Mann und Frau sprachen sich nie mit dem vertraulichen Du an, man war ja kein Liebespaar und kannte sich kaum. Eines Tages kündigte der Mann an, dass sich nun alles zum Guten wenden würde. Die Hoffnung meiner Mutter, geheiratet zu werden und ihr Kind in geordneten Verhältnissen aufziehen zu können, zerschellte jäh: Der Vater ihres Kindes wollte mit einer anderen Frau die Ehe eingehen, das Kind sollte in seiner Familie aufwachsen.

Was meine Mutter erzählte, war traurig und herzzerreißend. Aber dass sie mir so vieles erzählte, machte mich glücklich, und in der Intimität der Erzählsituation und der sich daraus ergebenden Nähe und Vertrautheit hatten wir es beide gut miteinander.

Diese früh in der Kindheit angelegte Fähigkeit des Rückzugs auf Oasen, in denen Überleben möglich war, stützt mich auch heute noch auf verschiedenen Ebenen. Ein thematisch schwieriger Vortrag zum Beispiel ruft auch bei mir Nervosität und Herzflattern hervor. Dennoch bin ich in der Lage, die Reise und die Annehmlichkeit eines hübschen Hotelzimmers oder einer guten Tasse Cappuccino ungetrübt bis zur letzten Minute zu genießen. Ich halte dieses völlig entspannte Wohlgefühl bis kurz vor Beginn des Vortrags wach – und dann bin ich bereit für die Herausforderung. Auch wenn etwas sehr Unangenehmes auf dem Terminplan steht, höre ich nicht zwei Tage vorher auf zu leben, mache ich mich nicht unnötig und vorzeitig unglücklich. Ich habe diese Art Lebensökonomie früh und unbewusst eingeübt, später als nützlich erlebt und entsprechend kultiviert.

Bereits in der 4.Primarklasse kam mir die Fähigkeit, ein einzelnes Segment, das mir besonders zusagte, aus einem eher unangenehmen Kontext herauszulösen, sehr entgegen. Ich kam zu einem Lehrer, der als eine Art pädagogisches Schreckgespenst von allen als bedrohlich und besonders streng verschrien war. Dieser Mann hatte ein ausgesprochenes Talent, das ihn in meinen Augen als guten Lehrer auswies: Am Samstag pflegte er aus einem Buch vorzulesen, das mir unendlich und wunderbar dick und gewichtig erschien und das Geschichten aus dem Alten Testament enthielt. Bis zum heutigen Tag kommt mir beim Anblick des Bodensees jene Geschichte in den Sinn, in der die mächtige Hand Gottes wie eine große Schaufel das Rote Meer teilt – und ich stelle mir vor, wie sich die Wellen links und rechts eines Weges zu gigantischen Mauern auftürmen.

Ja, so hinterlassen Eindrücke aus der Kindheit unvergessliche Spuren und begleiten uns durch das Leben. Zu dieser Kindheitsspur gehört auch mein besonderes Liebesverhältnis zu Deutschland. Dass die Grenze zu Deutschland der Anfang einer weiten und ganz unbekannten Welt war, spürte ich, als meine deutsche Verwandtschaft Geschichten aus dem Krieg erzählte. Ich ahnte etwas von Weltgeschichte, zusammengesetzt aus lauter Einzelschicksalen. Da ging es etwa um einen Sohn, der in Russland verschollen blieb, und schon das Wort Russland setzte meine Fantasie in Bewegung. Entscheidend beeinflusst hat mich aber auch, dass nach Kriegsende dank eines Abkommens zwischen der deutschen Stadt Konstanz und dem schweizerischen Kreuzlingen deutsche Kinder zu uns kamen, die sich hier einen Tag lang satt essen konnten und dann, versorgt mit Essensportionen, wieder heimfuhren. Die beiden Kinder, die in unser Haus kamen, brachten eine neue Erzählwelt in mein Leben. Sie berichteten in hochdeutscher Sprache von Hunger und Entbehrung – und darüber hinaus kam durch sie auch noch das Theater in meine kleine Welt. Die Eltern der Kinder, die später ebenfalls öfter bei uns waren, arbeiteten als Schauspieler am Theater von Konstanz. Als die Grenze wieder offen war, befreundeten sie sich mit meiner Mutter und brachten zum Zeichen ihres Dankes für geleistete Hilfe Freikarten für Theateraufführungen mit. Das hieß, dass ich zusammen mit der älteren Schwester im Theater fünfmal hintereinander «Dornröschen» sah – unvergessliche Bilder haben sich in mir angereichert! Ich versank in der Sprache, in Farben und der ganzen Fabelwelt des Theaters. Und schließlich konnte ich das auf der Bühne Geschaute mit den beiden deutschen Geschwistern weiterspinnen, wir spielten miteinander Theater und entwickelten die Geschichte weiter und weiter. Ging es am Familientisch wieder einmal klirrend kalt zu, konnte ich mich in eine herzerwärmend bunte Theaterszene zurückziehen. Ich hatte das Gefühl, einen geheimen Schatz in mir zu bergen, auf den ich jederzeit zurückgreifen konnte, und ich fühlte mich bald meinen aus wohlgeordneten Schweizer Familien stammenden Schulkameradinnen und -kameraden nicht mehr unterlegen: Sie mochten in übersichtlichen Familienstrukturen aufgehoben sein und Sonntagsausflüge machen – ich dagegen kannte die Welt des Theaters, ich fühlte mich gleichsam am Puls des Lebens.

In den Theateraufführungen ereignete sich derart viel Elementares, dass es Teil meines Lebensfundamentes wurde. Als ich älter wurde, war es für mich immer noch selbstverständlich, dass ich mindestens dreimal die gleiche Vorstellung besuchte. Als 14-, 15-Jährige war ich noch nicht in der Lage, den Inhalt eines Stückes ausreichend zu reflektieren – aber ich konnte mich tief in das Bühnengeschehen versenken.

Die Geschichten von «Heidi», «Theresli» und «Vreneli», die ich ebenfalls eifrig und hingerissen las, sorgten dafür, dass meine Schweizer Wurzeln im gleichen Maße mit Sauerstoff versorgt wurden und nicht verkümmerten. In der Kindheit war Lesen gleichbedeutend mit vertieftem, andächtigem Staunen, jedes Buch wurde mehrmals gelesen. Erst später kam der Hunger auf, sich lesend möglichst schnell und möglichst viel einzuverleiben.

Sehr zum Leidwesen meiner Mutter führten mich Theaterbesuche und Bücher im Verlaufe meines Heranwachsens auf einen Weg, der nicht der ihre war. Obwohl sie an kulturellen Dingen großes Interesse zeigte, war sie in erster Linie doch eine leidenschaftliche Hausfrau, auf dem sauberen, gewachsten und spiegelglatt gebohnerten Fußboden hätte man essen können. Sie kochte mit Inbrunst, aber ich sah nicht ein, wozu dieser Einsatz nützlich sein sollte. So verweigerte ich mich als halbwüchsiges Mädchen systematisch der Welt der häuslichen Unbill – zumal meine Schwester mit der Mutter zusammen ein effizientes Team bildete und ich lediglich für Handlangerdienste eingesetzt werden sollte. Meine Verweigerung führte zu ersten Auseinandersetzungen mit meiner Mutter, die sich mit vorpubertären Spannungen verbanden und die innige Verbundenheit und das Gefühl der Zweisamkeit gründlich störten und schließlich zerstörten.

Die Abneigung gegen alles, was mit Haushaltsarbeiten zu tun hatte, verstärkte sich zunehmend. Ich konnte darin für mich keinen Sinn entdecken – diesen sah ich viel mehr in der Beschäftigung mit Büchern. Mit hingebungsvollem Eifer lernte ich Gedichte auswendig, prägte ich mir besonders interessante Wortkombinationen ein. Hinter dem Haus befand sich eine Schaukel, auf der ich viele Stunden verbrachte und die mich im einförmigen Rhythmus des Hin- und Herschwingens wie in Trance ins Land der Sprache hinübergleiten ließ. Der Vers «Am Anfang war das Wort» aus dem Neuen Testament hat für mich einen ganz eigenen, persönlichen Klang – es geht um ein Urerlebnis, ein Wechselbad zwischen Luftreise und Sturzflug, um aerodynamisches Begreifen, damit sich der Satz unauslöschlich einprägt: «… und ohne das Wort ist nicht eines geworden, das geworden ist».

Irgendwann entdeckte ich den Rhythmus des Schiller-Verses aus Maria Stuart: «Das Ärgste weiß die Welt von mir. Und ich kann sagen: Ich bin besser als mein Ruf.» Fasziniert vom sprachlichen Feuerwerk, trällerte ich schaukelnd diesen Vers vor mich hin, bis er zu einer inneren Melodie wurde und ich allmählich begann, auch den Inhalt zu verstehen. Und ich überlegte mir, dass diese Unabhängigkeit vom Urteil anderer gleichbedeutend mit Freiheit sei. Später hat sich die Erkenntnis herausgebildet, dass man keine Energie darauf verschwenden sollte, um vor anderen in einem möglichst guten Licht dazustehen. Das Licht fällt in jedem Fall so, wie es will. Die Interpretation meines Auftritts und meiner Äußerungen hängt immer davon ab, wer mich interpretiert – und vermutlich wird keine Interpretation je mein eigentliches Ich erfassen können. Wem von Anfang an einige Dinge klar sind und wer die Richtung kennt, lebt gut und öffnet sich dem Glück. «Das Ärgste weiß die Welt von mir»: Mit diesem Wissen fällt es nicht schwer zuzugeben, dass man etwas nicht weiß, sich da oder dort getäuscht oder einen Fehler begangen hat. Aus dieser Haltung heraus habe ich auch keine Mühe, in Büchern über meine eigenen Unzulänglichkeiten zu sprechen, und es kommt mir nicht in den Sinn, etwas zu vertuschen. Fragt man mich, ob es nicht ziemlich riskant sei, so viel von sich preiszugeben, erstaunt mich dies. Wäre es nicht viel riskanter, etwas zu verheimlichen?

Den Zugang zur Welt der Geschichten, wundersamen Märchen und traurigen Balladen verdanke ich noch einer anderen Person, die in meiner Jugend eine große Bedeutung hatte: Tante Anna. An einem Sommersonntag saßen meine Mutter, meine ältere Schwester und ich in Konstanz in Engstler’s Biergarten. Als wir Mädchen die Toilette aufsuchten, begegneten wir dort einer Klofrau, die ausnehmend freundlich war. Begeistert erzählten wir Mutter von dieser Begegnung. Nachdem Mama ebenfalls Richtung Toilette verschwunden war, kam sie lange nicht mehr zurück. Um dann festzustellen: «Ihr habt Recht. Das ist ein ganz besonderer Mensch.» In der Folge freundete sie sich mit dieser Frau an, die eine Kriegsrente von 46 Mark im Monat bezog, in einem engen, höhlenähnlichen Raum lebte und sich mit der Toilettenreinigung ein paar Pfennige dazuverdiente. Ihre äußere Erscheinung ließ alles andere als eine arme Rentnerin vermuten. Anna trug stets grießbreiweiße Blusen, verziert mit irgendwelchen Spitzeneinsätzen an Kragen und Ärmeln, dazu einen beinahe bodenlangen, dunkelbraunen Trikotrock, der ihr wegen ihrer beachtlichen Leibesfülle Ähnlichkeit mit einer Bärin verlieh. Das spärliche Haar, ihr großer Kummer wohl, vegetierte mehr, als dass es ein Schmuck des Hauptes gewesen wäre. Dennoch bemühte sie sich unermüdlich, dieses wehrlose Flaumgebilde doch noch in ein paar Wellen zu formen. Wie auch immer, wir liebten diese Frau. Sie wurde unsere Tante Anna. Und fortan wäre ein Weihnachtsfest oder ein Geburtstag ohne Tante Annas Gegenwart undenkbar gewesen.

Diese mausarme Frau besaß einen großen inneren Reichtum. Sie konnte Balladen singen, melodisch erzählte sie von Kriegsschicksalen, vom Abschied des Sohnes von seiner Mutter, von Heimweh und unerfüllter Liebe, vom bangen Warten auf Briefe, die niemals eintrafen, und von Gräbern, an denen weinende Frauen standen. Mit dieser gütigen und so besonderen Frau kam ein neues Element in mein Kinderleben, ein Erkennen, das sich mit zunehmendem Alter verdichtet und erweitert hat. Es interessiert mich nicht, ob jemand einen Titel hat, sondern ob er Geschichten erzählen und sich mitteilen kann. Es interessiert mich nicht, wie viel jemand verdient, sondern ich will wissen, ob er sein Leben in Wahrhaftigkeit lebt. Tante Annas Persönlichkeit hat mir früh klar gemacht, dass man sich von gesellschaftlichen Zwängen möglichst frei machen sollte. Befreien etwa vom Diktat, die Qualitäten eines Mannes bestünden erstrangig darin, dass er eine Familie ernähren könne, oder von der Regel, man müsse sein Lebenshaus einzig auf Sicherheit bauen. Wenn ich lerne, autonom und unabhängig zu sein und zu denken, unterziehe ich überkommene Leitsprüche einer Prüfung und komme dann möglicherweise von gängigen Denkmodellen ab. Vielleicht verliebe ich mich in einen Mann, der jünger ist als ich und der in seiner Situation nicht in der Lage ist, mir ein bequemes Leben zu schaffen? Ich baue dann mein Haus vermutlich nicht auf Sicherheit, sondern gehe Lebensrisiken ein und folge der Devise: «Ich versuch’s mal», wohl wissend, dass das Leben nie vollständig abgesichert werden kann. Die größte Unsicherheit ist die Sicherheit – sie kann jederzeit platzen wie eine schillernde Seifenblase.

Die Klofrau Anna von Engstler’s Biergarten hatte in meinem Herzen den stolzen Status einer Königin, ich liebte sie. Was sie zu bieten hatte, stand mir näher als das, was mir in der Schule geboten wurde.

Ich hatte keine Lernschwierigkeiten, gute Zensuren schienen sich eben so zu ergeben. Das eigentlich Interessante in den Primarschuljahren war der Umstand, dass ich einer Übungsklasse zugeteilt war. Dies bedeutete, dass uns jede Woche zwei andere junge Seminaristen unterrichteten – und so beschäftigten mich laufend neue Persönlichkeiten, ich beobachtete ihre Bewegungen und interessierte mich für ihre unterschiedlichen Sprechweisen. Besonders faszinierten mich die unterschiedlichen Schweizer Dialekte, die sich im Moment des Versuchs, Hochdeutsch zu sprechen, in eine Sturzflut unkontrollierter Laute verwandelten. Ich hatte oft den Eindruck, dass die Zungen dieser Personen etwas zu lang geraten waren und sie deshalb so mühsam im Zaum gehalten wurden, damit sie sich nicht plötzlich um einen Felsblock schlingen konnten, um davon nur schwer wieder loszukommen.