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GEBÄNDIGT

Eine Novelle aus der Welt der Wolf Diaries

KAPITEL 1

»Wo kriegst du nur diese Strümpfe her, Doc?«, knurrte Niles Van Holtz, von seinen Freunden und seiner Familie Van genannt. Diese Strümpfe mit dem sexy Streifen hinten hätten aus einem Film aus den vierziger Jahren stammen können. Und bestimmt trug sie auch Strapse. Mann, die Frau trieb ihn total in den Wahnsinn, und sie merkte es nicht einmal.

Kalte, gnadenlose, blassblaue Augen richteten sich auf Van. »Ah ja«, seufzte sie. »Niles Van Holtz. Mein Abend auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung wäre nicht komplett ohne deinen beißenden Witz und deine anhaltende Besessenheit von meiner Unterwäsche.«

»Was glaubst du, warum ich mich sonst ausgerechnet ins Naturwissenschaftsgebäude schleppe, wenn nicht, um dich zu sehen?«

Van hatte schon eine Menge niederträchtige Weiber kennengelernt. Da er aus einer wohlhabenden Familie voller mörderisch starker Raubtiere kam, war er eher überrascht, wenn er mal auf eine nette Frau traf. Aber Irene Conridge, die schon im zarten Alter von fünfzehn Jahren ein Rhode-Stipendium erhalten hatte und nun Inhaberin mehrerer Doktortitel war, machte aus ihnen allen Hackfleisch.

Irene Conridge war ein Wunderkind, oder zumindest war sie eines gewesen. Aber mit knackigen fünfundzwanzig hatte sie alle Kindlichkeit längst hinter sich gelassen.

Seit Irene sich zum ersten Mal auf dem Campus der Universität gezeigt hatte, war Van ihrer Witterung gefolgt und hatte sie gnadenlos gejagt. Sie war damals achtzehn gewesen, Van zwanzig. Er hatte gedacht, sie sei einfach irgendeine Erstsemester-Studentin. Oder, wie seine Kumpel es gern nannten, Frischfleisch. Aber er hatte nur zu bald herausgefunden – als sie ihn nämlich eiskalt abserviert und sprachlos mitten auf dem Platz hatte stehen lassen –, dass sie in Wirklichkeit Gastprofessorin war. Und eine große Nummer. Elitehochschulen des ganzen Landes und in Europa hatten sich um sie gerissen. Aber aus irgendeinem unbekannten Grund hatte sie den Job an dieser kleinen, aber elitären Universität an der Grenze von Seattle, Washington, angenommen. Sie hatte Harvard, Yale, MIT, Berkley und Oxford einen Korb gegeben … allen.

Niemand verstand es. Niemand außer Van. Warum mit einem Haufen anderer ehemaliger Wunderkinder an eine große Uni gehen, wenn man an einer kleineren die große Nummer sein konnte? Denn Irene war bei wirklich klein gelandet, und sie bestimmte hier, wo es langging. Man verwehrte ihr nichts, gab ihr, was immer sie brauchte, und legte sich mächtig ins Zeug, um sie glücklich zu machen. Irene ihrerseits sorgte dafür, dass der Name der Universität in akademischen Kreisen lebendig blieb, dass Studenten darum bettelten, an der Uni aufgenommen zu werden, damit sie sich für ihren Kurs einschreiben konnten – bis sie tatsächlich einen ihrer Kurse durchstehen mussten – und das Geld weiter floss. Die Frau war nicht charmant, aber irgendwie zog sie das Geld von einigen der reichsten Familien im Nordwesten an. Unter anderem das seiner Familie.

»Außerdem bin ich wirklich nur von deiner Unterwäsche besessen, Doc.« Er wusste, dass sie es hasste, wenn er sie so nannte. »Sag mir, trägst du Strapse?«

»Ja«, antwortete sie ohne Umschweife. »Ich mag keine Strumpfhosen, ich finde sie so einengend.«

Van konnte nicht anders, er knurrte abermals. Laut genug, dass sie sich umdrehte und ihn direkt ansah. »Hast du mich gerade angeknurrt?«

»Es war eher ein Schnurren.«

»Faszinierend.«

»Bin ich das?«

»Nein. Bist du nicht. Aber die Tatsache, dass ein erwachsener Mann wegen Strapsen knurrt, ist faszinierend. Ich bin sicher, der Fachbereich Psychologie würde dich für ein fesselndes Studienobjekt halten.«

»Wie schmeichelnd.«

Sie runzelte die Stirn, und es war kein ärgerliches oder besorgtes Stirnrunzeln, sondern ein sehr nachdenkliches. »Bin ich das? Man sagt mir sonst, ich sei kalt und ziemlich abweisend.«

Van hatte wirklich alle Mühe, nicht zu lachen. Um ehrlich zu sein, er kannte keine kältere Frau auf dem Planeten. Steinzeitdamen, die seit Jahrmillionen irgendwo im Gletschereis eingefroren waren, hatten mehr Wärme als Irene. Und doch … er konnte sie einfach nicht in Ruhe lassen.

Seine Schwester, die gegenwärtig irgendwo auf der Feier herumschwirrte und allen aus dem Weg ging, die sie nervten, verstand seine Obsession wegen dieses »reizlosen Mädchens«, wie sie Irene nannte, überhaupt nicht. Er hatte schon öfter gehört, dass man Irene als »reizlos« bezeichnete oder, sein persönlicher Favorit, als »nicht abstoßend«. Aber Van wusste nicht, wovon sie redeten. Die Frau war absolut reizvoll. Schwarzes, schulterlanges Haar, das sich völlig unkontrolliert wellte und ihn aus irgendeinem unbekannten Grund ständig an verschwitzten, harten Sex denken ließ. Volle Lippen, die er im Laufe der Jahre in mehr als einem feuchten Traum gesehen hatte, und eine majestätische Nase. Ein hochgewachsener, kurviger Körper, den sie ständig hinter langweiligen, geschniegelten Hosenanzügen in den ödesten Farben versteckte. Aber sie trug immer diese sexy Strümpfe und diese Killer-Heels. Doch es waren die Augen, die ihm den Rest gaben. Er kannte Augen wie ihre von Polarwölfen. Von so hellem Blau, dass sie eigentlich gar nicht mehr blau waren. Er hatte schon etliche Leute diese Augen unberechenbar oder beunruhigend nennen hören, aber er konnte ewig in sie hineinschauen.

»Ich wette, du bist gar nicht wirklich kalt, Doc. Nicht ganz tief drinnen.«

»Tatsächlich bin ich das durchaus. Oh! Und Jackie und ich habe eine Wette laufen.« Sie deutete auf ihre Mitbewohnerin, Jaqueline Jean-Louis, ein ehemaliges Musikwunderkind. Die beiden Frauen kannten sich seit Jahren, und Jean-Louis unterrichtete im angesehenen Musikfachbereich der Universität. Was Van an der ganzen Beziehung faszinierend fand, war die Tatsache, dass Jean-Louis eine Gestaltwandlerin war. Genau genommen ein Schakal. Er fragte sich immer, ob Irene Bescheid wusste. Wenn ja, ließ sie es sich absolut nicht anmerken. Aber es wäre auch nicht ungewöhnlich, wenn sie es nicht wüsste. Viele Gestaltwandler schafften es ihr ganzes Leben lang, vor den Vollmenschen in ihrer Nähe erfolgreich zu verbergen, was sie wirklich waren. Für ihre Art war es wichtig, ihre wahre Natur zu verbergen. Tatsächlich wurden manchmal schwere Entscheidungen getroffen, um ihr Geheimnis zu wahren.

»Ach ja?«, fragte er und nahm ein Glas Champagner von dem Tablett, das gerade vorbeigetragen wurde.

»Ja. Ich bin davon überzeugt, dass du mich für eine Jungfrau hältst und immer gehofft hast, mich schänden zu können.«

So sehr er es auch zu verhindern versuchte, verschluckte er sich an seinem Champagner.

Sie verstand es einfach nicht. Seit fast sieben Jahren war der Mann jetzt hinter ihr her. Bei jedem Wohltätigkeitsevent. Bei jeder Universitätsfeier. Bei jeder Veranstaltung, der beizuwohnen sie sie gegenüber der Universität verpflichtet war, tauchte auch Niles Van Holtz auf. Er zeigte sich gewöhnlich nicht sofort. Er wartete, bis sie sich schließlich mit dem Gedanken angefreundet hatte, dass er beschlossen hatte, nicht zu kommen, und dann – zack – da war er. Meistens schlich er sich von hinten an sie heran und flüsterte ihr irgendeine ziemlich unangemessene Frage ins Ohr. Man konnte beinahe sagen, dass sie gelernt hatte, das zu erwarten.

Irene schaute hoch in Van Holtz’ attraktives Gesicht. Er sah wirklich gut aus. Umwerfend, um genau zu sein, wenn man sich an die normalen gesellschaftlichen Standards hielt. Dunkelbraunes Haar mit weißen, schwarzen und grauen Strähnen verdeckte beinahe diese eigenartig gefärbten Augen. So etwas wie goldener Bernstein oder so. Sie war nicht wirklich ein Farbmensch, sie überließ derartige Entscheidungen Jackie. Auch heute hatte ihre Freundin das Kleid, das Irene trug – ein helles, silberfarbenes … Ding – für sie ausgesucht.

Van Holtz hatte außerdem einen ziemlich markanten Kiefer und eine Nase, bei der sie darauf gewettet hätte, dass darin früher einmal eine Nasenscheidewandverkrümmung zu finden gewesen war, so wie sie sich gleich unter seinen Augenbrauen krümmte, und einen eher ungewöhnlich breiten Nacken.

Ja, ein sehr gut aussehender Mann. Und vielleicht eins der arrogantesten Wesen, das ihr je über den Weg gelaufen war. Im Ernst, wenn sie irgendein emotionales Interesse an diesem Mann hätte, wäre sie gezwungen, ihn vom Planeten auszulöschen. Aber Irene hatte nur sehr wenig emotionales Interesse an irgendjemanden. Jackie und Jackies Freund Paul deckten diese Interessen so ziemlich ab. Und das war in Ordnung für sie.

Mehr als in Ordnung.

Van Holtz räusperte sich. »Ähm … und warum glaubst du, es würde eine Rolle für mich spielen, ob du noch Jungfrau bist?«

Irene zuckte die Achseln. »Du hast diese Art an dir. Ich stelle mir vor, dass es dir wahrscheinlich gefällt, wenn die Jungfrau dir sagt: ›Au! Du bist zu groß. Bitte, wir müssen aufhören!‹ Und du sagst«, sie senkte die Stimme um mehrere Oktaven, um sich der von Van Holtz anzupassen. »›Mach dir keine Sorgen. Ich werde zusehen, dass es gut für dich wird, süße kleine Jungfrau.‹«

Van Holtz starrte sie mindestens eine geschlagene Minute an und Irene begann sich zu fragen, wohin Jackie verschwunden war. Sie nahm die Frau schließlich mit, damit sie Irene daran hinderte, solche Sachen zu machen. Wie zum Beispiel etwas zu sagen, das in finanzieller Hinsicht gewaltige Konsequenzen nach sich ziehen konnte. Die Familie Van Holtz gab der Universität eine Menge Geld, und mit dem dummen Versuch, ehrlich zu sein, würde Irene möglicherweise dafür sorgen, dass dieser Geldstrom versiegte.

Aber dann warf Van Holtz den Kopf in den Nacken und lachte. Ein Lachen, das Irene schockierte und alle im Raum veranlasste, sich umzudrehen und sie anzustarren. Wenig überraschend erschien plötzlich Jackie an ihrer Seite.

»Was ist los?«, fragte sie unverzüglich, ein liebreizendes, falsches Lächeln auf dem Gesicht.

»Ich weiß nicht genau, ob man über mich lacht oder mit mir«, erklärte Irene ihrer Freundin.

»Mit dir, Doc«, brachte er schließlich hervor. »Ich schwöre es. Du schaffst es immer, mich zu unterhalten.«

»Nachdem ich das jetzt weiß, ist mein Leben perfekt.«

Jackie zupfte sich an einer Haarlocke. Ein Signal, dass sie jetzt den Mund halten sollte.

Es war jedes Mal so, dass zwei Personen, sofern sie in der Nähe waren, auftauchten, wenn Irene sich im Gespräch mit Niles Van Holtz wiederfand. Seine ältere Schwester, die unangenehme Carrie Van Holtz. Und Farica Bader. Eine Frau, die sich offensichtlich für Van Holtz interessierte. Die beiden Frauen umringten sie, während sie sich gegenseitig genau beäugten.

»Habe ich irgendetwas verpasst?«, fragte Carrie ihren Bruder.

»Ja. Aber ich erzähl es dir später.« Diese bernsteinfarbenen Augen schauten Irene an. »Ich habe gerade etwas Zeit mit meiner Lieblingsbiophysikerin verbracht.«

»Warum?«, fragte seine Schwester, und Irene musste ihre Offenheit anerkennen. Jackie tat das natürlich nicht, und ließ ein warnendes kurzes Fauchen hören, das Irene beinahe ein Lächeln entlockte. Nur dass Irene nicht lächelte. Wenn sie es tat, fühlte es sich seltsam und unangenehm an. Also machte sie sich nie die Mühe, es sei denn, sie wurde überrumpelt.

»Van«, hauchte Farica heiser und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihn auf die Wange zu küssen, »ich habe dich bei der Zusammenkunft letzte Woche vermisst.«

»Tut mir leid, Farica.« Van Holtz drückte einen schnellen Kuss auf ihre Fingerknöchel, aber sein Blick ruhte weiterhin auf Irene. »Ich musste nach San Francisco, um nach dem neuen Restaurant zu sehen.«

»Ich dachte, dein Vater regelt solche Dinge.«

»Normalerweise tut er das auch«, murmelte er, während er den Blick an Irenes Kleid auf- und abwandern ließ. »Aber in letzter Zeit hat er sich in einen ziemlich anspruchsvollen Scheißkerl verwandelt.«

»Vielleicht denkt er daran, sich zur Ruhe zu setzen.« Und selbst Irene konnte die Hoffnung in dieser kalten, kultivierten Stimme hören. Die Baders waren eine kleine Familie, wollten aber offensichtlich in der Elite von Seattle Einfluss gewinnen. Verbindungen zu den Van Holtz’ würden dafür sorgen. Besonders eine Heirat. Doch nach allem, was Irene in den letzten sieben Jahren gehört hatte, würde man ein Ochsengespann und viele Ketten brauchen, um Niles Van Holtz vor den Altar zu bekommen. Der Mann blieb nie lange bei einer Frau, auch wenn er möglicherweise zwischen seinen Favoritinnen hin- und herwanderte.

Sex. Es hatte alles mit Geschlechtsverkehr zu tun. Etwas, das Irene aktiv mied, wenn es irgend möglich war. Wie sie Van Holtz gesagt hatte, war sie keine Jungfrau mehr. Zwei Jahre auf dem MIT hatten dafür gesorgt. Aber es war nie angenehm für sie gewesen, obwohl sie es mit verschiedenen Partnern versucht hatte. Die ganze Prozedur fand sie ziemlich abstoßend. Sie hatte das deutliche Gefühl, dass sie das Niles Van Holtz eines Tages würde erklären müssen, damit er aufhörte, in ihr seine nächste Eroberung zu sehen. So attraktiv er war, die Vorstellung, sich nackt mit ihm herumzuwälzen, verursachte ihr leichte Übelkeit. Es lag nicht an ihm per se. Es war der physische Akt selbst.

Irene schauderte ein wenig bei dem bloßen Gedanken. Van Holtz trat näher und drang damit in ihre persönliche Distanzzone ein. »Ist dir kalt?«

»Nein«, antwortete sie schlicht. »Ich bin nur angewidert.«

»Warum? Hast du in letzter Zeit in einen Spiegel geschaut?«, bemerkte Farica.

Irene blinzelte nicht einmal. Farica hatte sie schon früher beleidigt und sie hatte sich darüber nie Gedanken gemacht. Die Frau musste mit ihren eigenen quälenden Unsicherheiten fertig werden. Es schenkte ihr ein wenig Befriedigung, Irene anzugreifen, und Irene weigerte sich, darauf einzugehen. Aber Van Holtz drehte sich so schnell zu Farica Bader um, dass diese mehrere Schritte vor ihm zurückwich, nur um gegen seine Schwester zu stoßen. Das unselige Lächeln auf deren Gesicht machte klar, dass Carrie Van Holtz Farica mit Freuden in ein Becken voller Haifische werfen würde, sollte sich die Gelegenheit dazu bieten.

Aber es war Jaqueline, Irenes selbsternannte Beschützerin, die vortrat, die Hände kampfbereit zu Fäusten geballt.

Mit einem Seufzen nahm Irene ihre Freundin am Arm und zog sie zurück. »Komm mit, Jack. Ich will dir meinen neuen Computer zeigen. In meinem Büro.« Irene ging davon, und Jackie stampfte wütend hinter ihr her.

Sie machte sich nicht die Mühe, sich umzudrehen und Van Holtz oder seine Schwester anzusehen. Wie bei den meisten Leuten hatte sie sie bereits vergessen, kaum dass sie in den Flur getreten und die Treppe zu ihrem Büro hinaufgegangen war.

»Sprich nie wieder so mit ihr«, knurrte Van. Wären sie auf der Jagd, hätte er Farica Bader jetzt auf dem Rücken mit entblößtem Bauch, seine Zähne an ihrer Kehle.

Wenn sie glaubte, es würde sie und ihr kleines Rudel bei Van beliebter machen, wenn sie Irene beleidigte, war das ein trauriger Irrtum.

»Mir war nicht klar, dass du so an ihr hängst, Van.«

»Ich hänge nicht an ihr. Das war gemein. Unnötig gemein. Schlägst du auch kleine Kätzchen?«

»Wie kannst du es wagen …«

Carrie trat zwischen die beiden. »Hau ab, Farica. Mein Bruder hat kein Interesse an dir. Und ich fände es schrecklich, wenn wir dein Rudel auslöschen müssten, nur so, du weißt schon, zum Spaß.«

Mit einem letzten bösen Blick drehte sich Farica auf ihren überteuerten Absätzen um und stürmte davon, um ihre Wunden zu lecken.

»Sag mir, dass du nie mit ihr geschlafen hast.«

»Bist du high?« Van knallte das mittlerweile leere Champagnerglas auf ein weiteres Tablett, das gerade vorbeikam. Die Tatsache, dass diese Tabletts an echten menschlichen Wesen befestigt waren, bemerkte er kaum. »Diese Frau will nur eines. Nämlich von einem Van Holtz markiert und als Partnerin ausgewählt werden. Ich würde mir lieber den eigenen Arm abkauen.«

»Ich bin froh, das zu hören, aber«, und Van wusste, dass ihm jetzt eins dieser qualvollen Gespräche mit seiner großen Schwester bevorstand. »Ich will dich eines Tages mit irgendjemandem gepaart und glücklich sehen. So wie ich es bin. Aber vorzugsweise nicht mit Irene Conridge.«

Van schnaubte. »Gepaart? Mit Irene? Moment mal, lass mich das umformulieren. Gepaart? Mit irgendjemandem? Das wird nicht passieren, Schwesterherz.«

»Du hast nicht die Absicht, jemanden als die Deine zu markieren?«

»Verdammt, was für einen Haufen Scheiße Mom und Dad dir erzählt haben. Und du bist voll darauf eingestiegen. Ich hätte dich für klüger gehalten.« Die Vorstellung, ein weibliches Wesen zu beißen und sie damit für immer zu der Seinen zu machen und damit jede andere verfügbare Muschi auszuschließen, war mehr als lächerlich. Van glaubte nicht an diese Wölfinnenmärchen. Er hatte einfach zu viel Verstand. Nicht nur das, er würde es niemals aufgeben, mehrere Frauen haben zu können. Warum sollte er auch? Wenn sie da waren, feucht und willig, würde er mit ihnen schlafen. Er sah es geradezu als seine Pflicht an … ja, so war er.

»Um deine Frage zu beantworten, nein. Ich habe nicht vor, irgendjemanden als die Meine zu markieren« – er zeichnete an dieser Stelle Anführungszeichen in die Luft. »Ich bin viel zu klug, um mir das anzutun.«

»Okay. Aber du hättest Dad vom Hals, wenn du dich mit jemandem verpaaren würdest.«

Beide Geschwister hatten bemerkt, dass ihr Vater im vergangenen Jahr viel unangenehmer geworden war. Griesgrämig reichte nicht aus, um seiner jüngsten Verfassung Genüge zu tun. Ständig bedrängte er Van, und dieser wusste nicht, warum. Vielleicht wollte der alte Wolf sich zur Ruhe setzen. Und das war in Ordnung. Er sollte einfach die Firma und das Rudel abgeben, und Van würde sie gern übernehmen. Aber das Leben war zu kurz und zu wahnsinnig, um diese barbarischen Spiele eines jungen Wolfs, der den alten besiegt, zu spielen. Sie waren Van Holtz, verflucht noch mal. Sie waren zivilisiert, kultiviert und sahen verdammt gut aus. Wenn der alte Mann einen Kampf wollte, sollte er mit dem Magnus-Rudel rumhängen oder besser noch, mit den Smiths. Diese Meute brachte nur Alphamänner hervor, und wenig überraschend fanden ständig interne Machtkämpfe statt.

Van jedoch gefiel sein Leben genau so, wie es war. Eine wunderbare Firma, die Fähigkeit, sich in einen Wolf zu verwandeln, wann immer er in der Stimmung dafür war, die Gelegenheit zu reisen, so viel er wollte, und eine Überfülle an Frauen zu seiner Verfügung. Warum sollte er das für irgendetwas oder irgendjemanden ändern?

Tatsächlich würde er es nicht ändern.

»Nun, was immer du tust, vielleicht solltest du dich von Conridge fernhalten. Sie scheint nicht wirklich interessiert zu sein.«

»Stimmt, sie widersetzt sich mir. Aber ich kriege sie schon noch klein. Wie damals, als wir in Kanada diesen Elch zur Strecke gebracht haben. Es hat uns zwei Tage gekostet, aber wir haben es geschafft.«

Seine Schwester seufzte. »Ich mache mir langsam Sorgen wegen deines Geschmacks, kleiner Bruder. Sie ist … seltsam.«

»Sie ist seltsam, weil sie genial ist.« Er deutete auf den Ausgang, durch den die Frau verschwunden war. »In diesem Augenblick diskutiert sie über Dinge, die du und ich niemals auch nur verstehen können.«

»Natürlich könnte ich ein Lichtschwert erschaffen.«

»Das könntest du nicht.«

»Könnte ich doch, das ist alles Wissenschaft.«

»Ich dachte, ein Jedi zu sein sei ein Mythos?«

Irene schnaubte. »Ein Mythos, dass ich nicht lache. Das ist alles Wissenschaft.«

Irene schloss die Tür zu ihrem Büro auf und trat ein, gefolgt von Jackie. Sie ging um ihren Schreibtisch herum und ließ sich auf den Bürostuhl fallen, die Füße auf der Holzplatte. Ihre Freundin setzte sich auf den Stuhl gegenüber.

»Das von eben tut mir leid, Süße.« Jackie seufzte.

Irene blinzelte. »Was tut dir leid?«

»Wie das mit Farica Bader gelaufen ist.«

Stirnrunzelnd sah Irene ihre Freundin an.

»Du weißt schon«, fuhr Jackie fort. »Farica Bader? Die dich erst vor wenigen Sekunden beleidigt hat?«

»Ach so, die.«

»Wie machst du das bloß?«, fragte Jackie mit einem Lächeln.

»Wie mache ich was?«

»Dir Sachen nicht unter die Haut gehen zu lassen? Ich meine, ich hasse diese Frau.«

Irene zuckte die Achseln. »Warum sie hassen? Es erfordert Gefühle, die meine Zeit kosten. Die Farica Baders dieser Welt können sagen, was sie wollen. Aber am Ende kehren sie in ihr kleines, schäbiges Leben zurück, während Leute wie wir vor den Regenten und Regentinnen Europas auftreten oder weltbewegende Erfindungen machen. Sie ist bedeutungslos für uns. Das sind sie alle.«

Jackie sah sie mehrere Sekunden lang an, und Irene staunte darüber, wie unheimlich schön Jackie war. Atemberaubend, um genau zu sein, mit mandelförmigen braunen Augen von der mütterlichen Seite und natürlichem blondbraunem Haar von der väterlichen.

»Ich hab dich lieb, Irene«, sagte Jackie schließlich.

Überrascht fragte Irene: »Tust du das?«

»Natürlich. Du bist meine beste Freundin, und du bist unglaublich. Ich weiß nicht, was ich in den letzten Jahren ohne dich gemacht hätte.«

»Da wären wir schon zu zweit, meine Freundin. Aber jetzt hast du ja Paul.«

»Ja. So ist es wohl. Aber er benimmt sich in letzter Zeit ziemlich merkwürdig.«

»Er ist wahnsinnig in dich verliebt und versucht herauszufinden, wie er damit umgehen soll. Gib ihm ein oder zwei Wochen Zeit.«

Jackie lachte. »So sicher sind Sie sich also, Doktor Conridge?«

»Natürlich. Wann hätte ich mich je geirrt?«

Immer noch lachend stand Jackie auf und ging zur Tür.

»Wohin willst du?«

»Aufs Klo.«

»Benutz’ das im anderen Flur. Das hier um die Ecke ist durch die Umbauarbeiten blockiert.«

Jackie stand in der Tür und starrte auf den so gut wie zerstörten Flur. »Wann wollen sie das denn fertig machen?«

»Nicht früh genug«, antwortete Irene, während sie ihren Computer hochfuhr. Die Chancen für ihre Rückkehr zu der Cocktailparty verringerten sich merklich, als ihr neuer Rechner ansprang. »Ich hatte schon sechs Auseinandersetzungen mit dem Polier wegen des Lärms. Wie ich bei all diesem Gehämmer irgendetwas von meiner Arbeit erledigt bekommen soll, weiß ich nicht.«

Jackie trat wieder ins Büro. »Hey. Das war in deinem Postfach.« Sie reichte Irene einen Umschlag mit dem Büro des Dekans als Absender.

»Na wunderbar«, murmelte Irene, die Angst vor einer weiteren Beschwerde einer Studentin hatte, die sie zum Weinen gebracht hatte. Schwäche. Sie verabscheute Schwäche.

Sie riss den Umschlag auf, dann warf sie einen schnellen Blick auf den Brief, nahm alles in sich auf und verarbeitete es. Die Farbe – das wenige an Farbe, was da war – wich aus ihrem Gesicht. »Oje.«

Wieder kam Jackie zurück ins Büro. Das arme Ding, sie schaffte es einfach nicht bis zur Damentoilette. »Was ist los?«

»Sie brauchen nächste Woche Zugang zu den Labors.«

»Und?« Dann wurden Jackies Augen schmal. »Irene, sag mir, dass du dich um diese kleine Angelegenheit gekümmert hast, über die wir gesprochen haben.«

»Ähm …« Irene atmete hörbar aus. »Nicht ganz.«

»Irene!«

Sie hob die Hand. »Keine Sorge. Ich werde mich morgen darum kümmern. Es ist perfekt. Es ist ein Samstag. Nur sehr wenige Studenten werden hier sein, und die kann ich dazu bewegen, wieder zu gehen, falls es nötig sein sollte.« Als Jackie sie nur noch grimmiger anfunkelte, fuhr Irene fort: »Ich verspreche es. Bis morgen ist das alles verschwunden.«

»Das sollte es auch besser.« Jackie stürmte hinaus und wurde diesmal nicht plötzlich gezwungen, wieder hereinzukommen.

Irene wandte sich wieder ihrem Computer zu, ging zu ihrer Eingabeaufforderung und rief all ihre Dateien über das Terminate-Projekt auf. Sie hatte diese Dateien dummerweise behalten, in der Überlegung, dass sie sie vielleicht später noch brauchen würde. Es war schwer, etwas loszulassen, an dem man so lange und hart gearbeitet hat. Aber jetzt, da sie wusste, was es bewirken konnte … Jackie hatte recht. Es musste alles verschwinden. Sie tippte DEL C:\Projekt8 und drückte auf ENTER.

Mit einem tiefen Seufzer, da wenigstens das jetzt weg war, lehnte sich Irene wieder auf ihrem Stuhl zurück, aber ein Knacken draußen vor ihrer Tür ließ sie wieder hochfahren. Okay. Jetzt war sie paranoid … oder?

Sie hörte noch ein Geräusch. Irene stand auf und ging zu ihrer Bürotür. sie schaute in beide Richtungen, sah jedoch nichts. Ein weiterer Laut vom Ende des Flurs, der nach draußen führte, ließ Irene am ganzen Körper erstarren. Sie schaute sich um und begriff, dass sie nichts hatte, womit sie sich verteidigen konnte, sollte es notwendig sein. Schnell ging sie zu den Utensilien der Bauarbeiter, die auf dem Boden lagen, und schnappte sich das Erste, was sie sah.

Langsam ging sie näher an die Baustelle heran, wobei sie ihr Bestes gab, keinen Lärm zu machen. Vielleicht bildete sie es sich nur ein, aber sie spürte, dass jemand da war. Hinter einem Haufen Baustützen. Lächerlich, natürlich. Es waren mehrere Jahre vergangen, seit ihre Regierung oder auch nur irgendeine Regierung sie beschattet hatte. Man hatte langsam das Interesse an ihr verloren, als sie sich dazu entschieden hatte, zu unterrichten, statt für eine staatlich finanzierte Biowaffenfabrik zu arbeiten. Trotzdem, wenn jemand etwas über ihre kleine Erfindung erfahren hatte, hatte Irene keinen Zweifel, dass der Betreffende die üblichen Maßnahmen ergreifen würde, um wenigstens eine Probe davon zu bekommen.

Irene stutzte. Agenten der Regierung hatten immer Waffen. Sie hatte ein Kantholz … Wann war ihr eigentlich ihr legendärer Scharfsinn abhanden gekommen? Na gut, sie hatte ihre eigene selbstgemachte Waffe in ihrem Rucksack, aber sie würde diese noch nicht gegen eine Pistole einsetzen. Nein, sie musste Jackie holen und verschwinden. Auch wenn es sehr wahrscheinlich war, dass sie sich das alles ohnehin nur einbildete. Aber Vorsicht war besser als Nachsicht.

Wie es aussah, wusste niemand von ihrem Projekt, und es würde auch niemand etwas davon erfahren. Dafür würde sie sorgen.

»Alles okay, Doc?«

Ohne nachzudenken und allein aus dem Reflex heraus drehte Irene sich um und ließ das Kantholz auf Niles Van Holtz’ Kopf niederkrachen. Sie schlug so fest zu, dass sein Kopf gegen die gegenüberliegende Wand prallte und er zu Boden sackte.

»Oh … oh, das kann nicht gut sein.« Sie hatte einen Van Holtz getötet. Während sie sich neben ihn kniete, ging Irene im Kopf rasend schnell sämtliche juristischen Bücher durch, die sie im Laufe der Jahre gelesen hatte, auf der Suche nach irgendeiner Möglichkeit zu beweisen, dass das hier Notwehr gewesen war.

»Was zur Hölle … Irene, was hast du getan?«

Irene schaute ihre Freundin an. »Er hat sich an mich angeschlichen«, antwortete sie ruhig.

Jackie kniete sich neben den auf dem Boden liegenden Van Holtz. »Du hast ihm den Schädel gespalten.«

»Das muss nur mit ein paar Stichen genäht werden. Vielleicht hat er jetzt einen kleinen Hirnschaden, aber nichts, das uns auffallen würde.« Sie legte ihm die Finger an den Hals. »Ich fühle noch einen Puls. Die Chancen stehen gut, dass er überlebt.«

Seufzend funkelte Jackie sie an. »Das Gefühl, das du gegenwärtig empfinden solltest, ist Bedauern, gemischt mit ein wenig Schuldbewusstsein.«

Seit sie sich vor vielen Jahren kennengelernt hatten, war Jackie die »Emotionale« gewesen, und Irene die »Logische«. Jackie als Künstlerin hatte ihre Empfindlichkeiten. Sie hatte keine Kontrolle über ihr Kaufverhalten oder ihre Neigung zu Wutanfällen. Irene verstand menschliche Gefühle nicht und hatte es schon lange aufgegeben, es zu versuchen. Während die meisten kleinen Mädchen, wenn sie im Park hingefallen waren und sich die Knie aufgeschürft hatten, geweint hatten, hatte Irene analysiert, warum es zu dem Sturz gekommen war und weshalb genau ihre Beine so wehtaten. Dann hatte sie die Aufprallstärke analysiert, die nötig war, um tatsächlich das Ausmaß an Schaden anzurichten, den man beobachten konnte.

»Schuldbewusstsein?«, fragte sie. »Wieso? Es war Notwehr.«

»Da werden die Geschworenen niemals mitspielen.«

»Verdammt.« Sie hatte wirklich gehofft, dass es ausreichen würde.

»Erzähl mir, was passiert ist.«

»Ich dachte, ich hätte etwas gehört.«

»Du hast tatsächlich etwas gehört. Ich habe es auch gehört.«

Die beiden Freundinnen sahen sich an, dann packte Jackie Van Holtz’ Arm und legte ihn sich um den Hals. »Wir machen jetzt Folgendes: Ich werde ihn zu seiner Familie zurückbringen. Du siehst zu, dass du das Scheißzeug heute Nacht hier rausbringst.«

»Ja, aber …«

»Kein Aber, Irene. Schaff es heute Nacht hier raus. Okay?«

Irene nickte und begriff, dass sie ihr Ego jetzt beiseiteschieben musste. »In Ordnung.« Sie musste ihrer Freundin nicht helfen, den immer noch bewusstlosen Van Holtz hochzuheben.

»Weißt du schon, was du damit machst?«

»Überlass das mir.« Irene war schon wieder auf dem Weg in ihr Büro. »Ich habe meinen Rucksack im Wagen und Wechselkleidung hier. Ich ziehe mich um, und dann werde ich das Zeug hier rausschaffen.«

Jackie ging den Flur entlang. »Wir treffen uns in ungefähr einer Stunde zuhause?«

»Ja. Perfekt.«

Irene machte die Bürotür hinter sich zu und zog eine Tasche heraus, die sie für Notfälle oder wenn es mal richtig spät wurde, hier aufbewahrte. Nichts Schickes, nur ein T-Shirt, Jeans und Sneakers. Aber die perfekte Montur für das, was sie jetzt tun musste.

Trotzdem, die Frage blieb … sollte sie wirklich alles loswerden? Konnte es schaden, ein kleines Fitzelchen zu behalten? Natürlich nur zu Testzwecken?

Bevor Van die Augen öffnete, begriff er zwei Dinge. Erstens, er lehnte an einem Auto. Zweitens, seine Schwester war sauer.

Die Hand auf seine arme, geschundene Stirn gelegt, zwang Van sich, die Augen zu öffnen und sich umzusehen. Wie er vermutet hatte, lehnte er mit dem Rücken an der Familienlimousine, während seine Schwester gerade der Schakalin den Kopf abriss.

»Wo ist das kleine Miststück? Ich werde sie höchstpersönlich umbringen!«

Die Schakalin schien unbeeindruckt von der Tirade seiner Schwester.

»Wenn du auch nur in die Nähe meiner Freundin kommst, werde ich dir höchstpersönlich die Kehle aufreißen.«