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Impressum

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Tropen

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»Distrust that Particular Flavor« im Verlag Putnam Adult, New York

© 2012 by William Gibson

© 2013 by J. G. Cotta'sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Herburg Weiland, München

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-50314-2

E-Book: ISBN 978-3-608-10360-1

Dieses E-Book entspricht der ersten Auflage der Printausgabe von 2013

Inhalt

Einleitung: Afrikanisches Daumenklavier

Rocket Radio

Seit 1948

Any ’Mount of World

Der fieseste Gangster der Welt

Rede für die BookExpo in New York

Gesänge eines Toten

In die Zukunft gedacht

Disneyland mit Todesstrafe

Mr Buks Schaufenster

Glänzende Schlammkugeln: »Hikaru Dorodango« und Tokyu Hands

Eine Einladung

Metrophagie: Die Kunst und Wissenschaft, sich Großstädte einzuverleiben

Moderne Jungs und Handy-Mädchen

Meine Obsession

Mein Tokio

Der Weg nach Ozeanien

Skip Spences Jeans

Terminal City

Einführung: »Der Körper«

Das Netz ist Zeitverschwendung

Zeitmaschine Kuba

Werden wir Computerchips im Kopf tragen?

William Gibsons filmloses Festival

Johnny: Notizen zu einem Prozess

Den Cyborg googeln

Quellennachweis

Personenregister

Einleitung:
Afrikanisches Daumenklavier

Als ich mit dem Schreiben von Literatur begann, wusste ich, dass ich keine Ahnung vom Schreiben hatte. An sich war es von Vorteil, mir meiner Ahnungslosigkeit bewusst zu sein, obwohl ich damals ziemliches Muffensausen deswegen hatte. Wer dazu bestimmt ist, Autor zu werden, dachte ich, muss doch auch über das nötige Handwerkzeug verfügen. Und da ich es nicht besaß, war ich womöglich nicht zum Schreiben bestimmt. Ich saß an meiner Schreibmaschine, auf der ich bis dahin lediglich ein paar studentische Hausarbeiten getippt hatte, und versuchte, einen Einstieg zu finden.

Schließlich begann ich einen Satz und werkelte mehrere Monate daran herum. Er wurde immer länger und las sich schließlich so: »Nachdem Graham Nachmittag für Nachmittag in dem abgedunkelten Vorführungsraum verbracht hatte, wurden die absteigenden Zahlen auf dem Startband für ihn zu hypnagogischen Sigillen, die dem Traumzustand des Films vorausgingen.« Kann sein, dass die Figur nicht Graham hieß, sondern Bannister. Der Satz erinnerte so oder so in eklatanter Weise an den Stil J. G. Ballards, der seinen Protagonisten stets handfeste, alltägliche Nachnamen aus der britischen Mittelklasse gab.

Ich hatte keinen blassen Schimmer, was der Satz bedeutete oder wie die Geschichte weitergehen sollte – was nicht unbedingt von Nachteil war, wie ich heute weiß. Ich hatte den ersten Schritt in die Welt der Fiktion getan, genau wie mein Protagonist. Eine Tür hatte sich geöffnet, wenn auch nur einen Spaltbreit. Im Geiste sah ich das verlassene Bürogebäude vor mir, in dem Graham / Bannister seine Filmkritiken schrieb. Es hatte im Innenhof einen Springbrunnen, in dem neben den üblichen Münzen auch Dutzende Armbanduhren lagen, manche davon recht teuer. Vielleicht hatte die Zeit aufgehört zu existieren oder die Menschen wollten sie einfach nicht mehr zur Kenntnis nehmen. Und damit endete mein Vorstoß – die Tür schloss sich wieder. Möglicherweise spürte ich unterbewusst, dass mit einem Ballard-Abklatsch, selbst einem guten, keine Lorbeeren zu gewinnen waren.

Einige meiner späteren Versuche spielten im Weltraum – allerdings in einem von Alfred Bester und Samuel R. Delany inspirierten. Ich kann mich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern. Meine Frau parodiert sie manchmal scherzhaft mit dem Satz: »Mit einem Zittern seiner langen grünen Ohren glitt Fimo von der Anlage herunter.« Damals hatte ich einige Schwierigkeiten mit den Figurennamen. Eine Zeitlang erwog ich sogar ernsthaft, Produktnamen aus dem IKEA-Katalog zu verwenden. Außerdem gab es in den Geschichten immer eine »Anlage«. Eine bis dahin (zumindest für mich) unvorstellbare und daher noch namenlose Technologie. Schon damals ahnte ich, dass es besser ist, dem Leser die genauen Einzelheiten und die Funktionsweise dieser Technologie nicht gleich zu verraten, selbst wenn sie einem selbst schon klar sein mögen. Mit einem Satz wie »Javnaker glitt von dem Quantenuniversumsspalter herunter, der keine Zeitmaschine war« tut man dem Leser keinen Gefallen.

Und es ist diese Erkenntnis, die mir auch einen Hinweis darauf liefert, wie wir lernen zu schreiben. Das Schreiben lernen wir nämlich zu einem Zeitpunkt, an dem wir das Lesen zu einem gewissen Grad schon gemeistert haben. Als ich mit dem Schreiben begann, hielt ich mich für einigermaßen belesen – zumindest was die Literatur anbelangte, die ich mochte. Welche Autoren wir gerne lesen, ist aber eigentlich zweitrangig, wichtig ist vielmehr, wie wir lesen. Wenn man selbst schreiben will, muss man lernen, verschiedene Leseerfahrungen zu vergleichen – die angenehmen und die unangenehmen – und daraus die eigenen Vorlieben abzuleiten. Es geht nicht um das direkte Nachahmen, sondern darum, eine ganz persönliche Mikrokultur zu schaffen.

Da ich weiß, wie ernst angehende Schriftsteller die Aussagen von erfahrenen Autoren oft nehmen, beschränke ich mich in der Regel auf folgenden Rat: Möchte man Literatur schreiben, so ist es hilfreich, vorher eine Menge gelesen zu haben. Meistens wird es etwas dauern, bis man den richtigen Einstieg und die passende Vorgehensweise gefunden hat. Zum Beispiel erinnere ich mich kaum noch daran, wie ich Autofahren gelernt habe. Außer einem netten Trick zum Einparken ist mir aus dieser Zeit nichts in Erinnerung geblieben. Beim Schreibenlernen ist es nicht anders (nur dass kein nervöser Fahrlehrer neben einem sitzt – obwohl man den gewissermaßen selbst mitbringt).

Irgendwann gelang es mir schließlich, eine Geschichte zu schreiben, die dann auch gedruckt wurde, wenn auch quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Später – nach einer Reihe von Fehlstarts, so kam es mir damals zumindest vor – schrieb ich noch ein paar mehr. Ich lernte andere angehende Science-Fiction-Autoren kennen, die allesamt nichtkommerzielle Möglichkeiten gefunden hatten, zu schreiben und gelesen zu werden. Um die Science Fiction hatte sich im Laufe der Zeit eine tiefe Kompostschicht aus Fanzines gebildet, eine Art generationenübergreifendes Zeitungsinternet, das für viele Autoren offenbar eine enorme Faszinationskraft besaß. Nachdem ich diese Form der Veröffentlichung einige Male ausprobiert hatte, beschloss ich jedoch, davon Abstand zu nehmen.

Ich fing gerade erst an, den inneren Raum zu erkunden, aus dem meine Geschichten kamen, und es erschien mir einfach sinnvoller, Literatur zu schreiben, die sich auch verkaufen ließ. (Wobei ich das angehenden Autoren nicht als Ratschlag mit auf den Weg geben möchte, weil es zweifellos Schriftsteller gibt, bei denen genau die umgekehrte Vorgehensweise zum Erfolg führt.)

Es ging mir weniger um den Unterschied zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit oder um die genaue Geldsumme, die ich mit meinen Werken erzielen würde. Es ging mir darum, mit einem Gedanken in der wirklichen Welt etwas zu bewegen – also um eine sehr viel grundlegendere Unterscheidung. Jedes von mir geschriebene (oder geschriebene und dann wieder gestrichene) Wort hatte einen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit, dass in der Außenwelt etwas geschah. Entweder würde es mir gelingen, einen Profi, der mit der Auswahl von Geschichten seinen Lebensunterhalt verdiente, davon zu überzeugen, meine Werke zu kaufen, oder eben nicht. Das erschien mir wie Magie, und es ist bis heute so geblieben. Als könnte man eine Tüte Lebensmittel herbeizaubern, indem man ein paar Runen auf die Erde zeichnet. Hat man das einmal geschafft, macht man es beim nächsten Mal weniger der Lebensmittel wegen, sondern weil es einfach ein absolut erstaunlicher Vorgang ist.

Die Tür zum Schreiben öffnete sich für mich in der Folgezeit immer häufiger und müheloser. Es hatte viel mit der Routine zu tun, die ich mir beim Schreiben von Literatur aneignete. Und obwohl ich den Drang zu schreiben vielleicht einfacher auf andere Weise hätte befriedigen können (und ich kein besonders disziplinierter Mensch bin), machte ich es mir zur Auflage, ausschließlich fiktionale Literatur zu schreiben.

Deshalb sind mir auch die Texte, die dieses Buch versammelt, nicht ganz geheuer.

Sie widersprechen diesem frühen Vorsatz, denn sie sind keine Literatur. Schlimmer noch, man kann sie eigentlich auch nicht als Sachtexte bezeichnen, weil sie aus der Perspektive und mit dem Handwerkszeug des Belletristikautors geschrieben sind – dem einzigen, das ich besitze. Auf die Herausforderung, Sachtexte zu schreiben, fühlte ich mich nur unzureichend vorbereitet. Es war in etwa so, als sollte ich eine Solodarbietung auf einem Instrument abliefern, das eine ungefähre Ähnlichkeit mit dem hatte, das ich beherrsche.

Ich hatte keinerlei Ausbildung als Journalist. Und die Vorstellung, ein Tagebuch zu führen oder ungefilterte autobiografische Texte zu verfassen, hat mir nie sonderlich behagt. Als ich die ersten Anfragen erhielt, ob ich nicht den einen oder anderen Zeitschriftenartikel verfassen könnte, war die Membran, die den Ort in meinem Inneren umgab, an dem meine Geschichten entstanden, allerdings bereits angenehm dünn und porös geworden. Die Welt drang hindurch, und wurde, wenn ich Glück hatte, in etwas anderes verwandelt. An einem guten Arbeitstag gelang es mir in einem weitgehend unbewussten Prozess, aus der Realität (oder was dafür gehalten wird) eine Fantasiewelt zu machen. Und genau so gefiel es mir, so wollte ich mein Geld verdienen. Sachtexte zu schreiben, schien dem zu widersprechen.

Und dennoch – die Gelegenheit, neue Orte zu besuchen und interessante Menschen kennenzulernen, Fragen stellen zu dürfen … all diese Dinge können auch für einen Belletristikautor außerordentlich wertvoll sein. Die absonderlichsten Eindrücke dringen durch die Membran herein – in Tokio, in Singapur, in der Zona Rosa oder in einem Nachtclub in Dublin. Und man wird sogar noch dafür bezahlt …

Das alles hat mich letztlich dazu verlockt, Angebote anzunehmen, die ich, einem inneren Gefühl gemäß, lieber hätte ausschlagen sollen. Die Ergebnisse sind hier versammelt, zusammen mit ein paar »Vorträgen« – eine für mich noch problematischere Textform. Schriftsteller sollten schreiben und keine Reden halten! Aber wie bei den quasi-journalistischen Auftragsarbeiten sind auch mit Vorträgen Flugtickets und Hotelzimmerreservierungen verbunden, in Städten, die man sonst vielleicht nie besucht hätte. Beim Redenschreiben findet man außerdem oft heraus, was man zu einem bestimmten Zeitpunkt über ein bestimmtes Thema denkt. Über die Welt an sich. Oder die Zukunft. Oder die Unmöglichkeit, über beides allgemeingültige Aussagen zu treffen. Das Redenschreiben fällt mir noch schwerer als das Verfassen von Zeitschriftenartikeln und Essays, aber später, wenn ich wieder zur Literatur zurückkehre, stelle ich oft fest, dass mir dabei einiges klar geworden ist.

Am Ende meiner Schreiblernversuche hatte ich es irgendwann geschafft, etwas zu verfassen, das als Literatur durchging. Ich kam mir nicht mehr wie ein Hochstapler vor. Beim Schreiben von Sachtexten hatte ich dagegen oft das Gefühl, die Wände eines Wohnzimmers mit einer Zahnbürste anzustreichen. Wieder schrie alles in mir: Hochstapler. Vielleicht werden die Leser den Stil meiner Texte für das Resultat einer bewussten Entscheidung halten. (Nun, vielleicht auch nicht.) Das Schreiben von Literatur ist für mich jedenfalls eine einzigartige Erfahrung, die Bewegung durch eine neurologische Landschaft, ein veränderter Bewusstseinszustand. Bei Sachtexten ist das anders. Inzwischen gelingt es mir aber immer öfter, etwas zu verfassen, das als Zeitungsartikel oder Essay durchgeht.

Die folgenden Stücke sind demnach auf dem afrikanischen Daumenklavier gespielt, einem Instrument, das ich nur ansatzweise beherrsche.

Komponiert wurden sie dagegen auf einem, das keinen Namen hat und von dem mir noch jede Vorstellung fehlt.

Vancouver,

August 2011

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Rolling Stone
Juni 1989

Der Junge hockt neben einem Gartenzaun in Virginia und lauscht Chubby Checker in seinem Rocket Radio. Der Zaun ist aus Eisen, sehr alt und ungestrichen, seine Pfosten vom Regen und dem steten Wechsel der Jahreszeiten abgewetzt. Das Rocket Radio ist aus rotem Plastik und mit einer Krokodilklemme am Zaun befestigt. Der Sound kommt aus einem Plastikstöpsel im Ohr des Jungen. Die Drähte, die den Ohrstöpsel und die Klemme mit dem Rocket Radio verbinden, besitzen einen »fleischfarbenen« Ton, wie es in der Bauanleitung heißt. Das Rocket Radio selbst passt in die Handfläche des Jungen. Seine Mutter nennt es ein Detektorradio und sagt, Jungen hätten solche Radios schon gebaut, bevor es sie im Laden zu kaufen gab – um die Signale aufzufangen, die vom Himmel kommen.

Das Rocket Radio braucht keine Batterie. Ein verrosteter Nachbarzaun, etwa 300 Meter lang, reicht als Antenne aus.

Und Chubby Checker singt: Do the twist.

Der Junge mit dem Rocket Radio liest eine Menge Science Fiction – die ihn nur ungenügend auf die zukünftigen Realitäten des Netzes vorbereitet.

Er weiß nicht einmal, dass Chubby Checker und das Rocket Radio Teil des Netzes sind.

Kommunikationstechnologien, die einmal perfektioniert wurden, sterben selten komplett aus. Stattdessen schrumpfen sie zusammen, um bestimmte Nischen in der globalen Infostruktur zu füllen. Detektorradios könnten beispielsweise isoliert lebenden agrarischen Stämmen die idealen Saatzeiten übermitteln. Das Samisdat-Potenzial des Mimeographen – einer von vielen Dinosauriern des urbanen Büroraums und das spätviktorianische Äquivalent zum Desktop-Publishing – in den rückständigen Regionen dieses Jahrhunderts ist ungebrochen. In unzähligen Dritte-Welt-Dörfern werden in den Banken die Tagesbilanzen auf schwarzen Addiermaschinen der Firma Burroughs errechnet, die lange, seltsam festlich anmutende Papierschlangen mit endlosen Reihen blasser, indigofarbener Ziffern ausspucken. Die Sowjetunion, in der sich die neuen, schönen Wegwerftechnologien noch nicht durchgesetzt haben, ist mittlerweile die letzte verlässliche Quelle für Elektronenröhren. Die 8-Spur-Kassette hat in den Truckstops der US-amerikanischen Südstaaten überlebt, als Medium für Countrymusik und Pornografie.

Die Menschen verwenden die Dinge häufig ganz anders, als von den Herstellern vorgesehen. Der Mikrokassettenrekorder – ursprünglich dazu gedacht, die Anweisungen von Firmenchefs aufzunehmen – wird zum revolutionären Medium der Magnitisdat. Mit seiner Hilfe werden in Polen und China heimlich verbotene politische Reden verbreitet. Pager und Handy werden zu Werkzeugen im heiß umkämpften Markt der illegalen Drogen. Andere technologische Artefakte wandeln sich überraschend zu Kommunikationsmitteln, wenn die Umstände es möglich oder notwendig machen. Die Erfindung der Sprühdose führte zur Entstehung der urbanen Graffiti-Matrix. Sowjetische Rocker benutzen alte Röntgenaufnahmen, um daraus Schallfolien zu pressen.

Der Junge mit dem Rocket Radio wird älter. Eines Tages entdeckt er das zwei Meter lange Stück eines merkwürdig dünnen Magnetbandes, das sich am Straßenrand in Ontario in einem Gebüsch verfangen hat. Wir befinden uns am Ende der 8-Spur-Ära. Aus seinem Fund – diese halb vertraute Substanz, die frustriert aus einer vorbeirasenden Corvette geworfen wurde, um sich wie neutechnologisches Engelshaar auf das Gebüsch zu legen – schließt der Junge auf die Existenz des neuen, exotischen Kassettenformats.

Ich gehöre zu einer Generation von Amerikanern, die sich noch vage an eine Welt vor dem Fernsehen erinnern können. Vielen von uns ist das sogar ein bisschen unangenehm – als sei die Welt vor dem Fernsehen irgendwie noch gar keine richtige Welt gewesen. Die fernsehlose Welt war die Welt vor dem Netz – vor dem Aufkommen der Massenkultur und ihren Informationsmechanismen. Und heutzutage sind wir Netzmenschen – sich an ein anderes Dasein zu erinnern, heißt zuzugeben, dass man einmal nicht menschlich war.

Im Laufe unseres Lebens hat sich das Netz mit der Geschwindigkeit einer Viruserkrankung ausgebreitet, und diese Entwicklung setzt sich weiter fort.

In Japan, wo so viele Komponenten des Netzes erfunden und hergestellt werden, steht man dieser rasanten Evolution mit uneingeschränkter Begeisterung gegenüber. Akihabara, Tokios riesige Elektronikmeile, vibriert und summt vor Geschäftigkeit. In dieser Stadt werden Fernseher meist schon nach drei Jahren ausrangiert und landen auf der Müllkippe. Doch selbst in Tokio löst das Netz bei manchen Menschen Übergangsängste aus, wie ich zu meiner Beruhigung erfuhr, als ich Katsuhiro Otomo kennenlernte, den Schöpfer von Akira, einer äußerst populären Comicserie. Keiner von uns sprach die Sprache des anderen. Unser gemeinsamer Verlag stellte uns einen Dolmetscher zur Verfügung, und unser »Gespräch« wurde erbarmungslos aufgezeichnet. Dennoch gelang es Otomo und mir, einen Moment kulturübergreifender Technik-Angst zu teilen.

Sein Wohnzimmer wurde von einem riesigen mattschwarzen Mediencenter dominiert, bei dessen Anblick jeder Hollywood-Produzent blass geworden wäre. Er deutete auf einen zwanzig Zentimeter hohen Stapel von Fernbedienungen.

»Damit umgehen kann ich nicht«, sagte er. »Das können nur meine Kinder.«

»Ich komme mit meinen auch nicht zurecht.«

Otomo lachte.

Heute ist Otomos Sammlung von Fernbedienungen wahrscheinlich Teil einer sorgfältig planierten Gomi-Fläche auf einer Müllkippe von Neo-Tokio. Gomi ist das japanische Wort für »Abfall«, der zum großen Teil aus veralteter Unterhaltungselektronik besteht – wie die kürzlich überflüssig gewordenen Fernbedienungen. Im Vertrauen auf ständigen Nachschub vergrößern die Japaner inzwischen ihre Insel damit.

Der Sex-Appeal des Neuen, und wie schnell er nachlässt. Die Metaphysik der Kauflust im ausgehenden 20. Jahrhundert …

Vor zwei Jahren habe ich mich endlich breitschlagen lassen, mir eine vernünftige Stereoanlage zuzulegen. Ein Freund hatte eine Karriere als Importeur moderner Audiogeräte begonnen und konnte einfach nicht mehr mit ansehen, dass ich noch mein altes »System« besaß. Er bot mir eine komplette Anlage mit Rabatt an, vorausgesetzt, ich ließe ihn die einzelnen Komponenten auswählen.

Ich stimmte zu.

Und die Anlage hat tatsächlich einen guten Klang.

Ich bin mir jedoch nicht sicher, ob ich die Musik damit mehr genieße als mit dem Low-Fi-Schrott, den ich vorher hatte. Die Musik selbst bleibt davon unberührt. Man kann sie auch aus dem verbeulten Lautsprecher eines Datsun Sunny B210 hören, der Löcher im Bodenblech hat. Manchmal ist das sogar genau die richtige Art, Musik zu hören.

Ich kannte mal einen Mann, der seine Jugend im L. A. der Vierziger Jahre verbracht und viel Jazz gehört hatte. Er erzählte mir, er habe an den Nachmittagen oft völlig verzückt der Musik von 78-U / min-Schallplatten gelauscht, die mit einer spitzen Stahlnadel abgespielt wurden. Die Platten waren bereits »weiß von der Abnutzung« – was bedeutet, dass das Schellack mit den Rillen auf diesen ursprünglich schwarzen Schallplatten schlichtweg nicht mehr vorhanden war. Die Musik, die er hörte, konnte nur noch eine entfernte Ähnlichkeit mit ihrem ursprünglichen Klang gehabt haben. (Wie er erklärte, waren auch Plattenspielernadeln damals der Rationierung unterworfen. Weshalb verzweifelte Hipster in ihrer Not die Dornen großer Kakteen benutzten.)

Trotzdem liebte dieser Mann seine Musik.

Die Rolling Stones hörte ich zum ersten Mal auf einem batteriebetriebenen, basketballförmigen Miniaturplattenspieler mit Schweinslederbezug aus Frankreich – ein Low-Tech-Gerät, das damals bahnbrechend war, heute jedoch völlig in Vergessenheit geraten ist. Bahnbrechend deshalb, weil der jugendliche Besitzer seine LPs überallhin mitnehmen konnte und selbst noch in der Pampa eine berauschende Auswahl hatte.

Eine völlig neue Möglichkeit, seine Lieblingsmusik zu hören. Wobei »Auswahl« der entscheidende Begriff ist. Das revolutionäre Potenzial des batteriebetriebenen Plattenspielers wurde erst wieder vom Walkman übertroffen, mit dessen Hilfe sich Musik quasi in jede Landschaft integrieren lässt.

Der Walkman hat unsere Wahrnehmung der Stadt verändert.

Joy Division hörte ich zum ersten Mal auf einem Walkman, und bis heute ist die düstere Majestät der Songs für mich untrennbar mit der Entdeckung verbunden, wie aufregend es sein kann, sich – eingekapselt in Musik – durch den urbanen Raum zu bewegen.

In den Siebzigern begann das Netz immer mehr zu wachsen. Lücken schlossen sich, und ein Paradox trat zutage: Obwohl die Künstler das Netz brauchten, um ein größeres Publikum zu erreichen, kam die beste Kunst, zumindest anfangs, aus den Lücken.

Ich bin von Hause aus Science-Fiction-Autor. Soll heißen, die Literatur, die ich bis dato geschrieben habe, wurde mithilfe eines Marketingmechanismus namens »Science Fiction« an den Verbraucher gebracht. Im Laufe der letzten zwanzig Jahre hat sich das Netz um die großen Verlage – und die Science Fiction – genauso geschlossen wie um die Musikindustrie und um alles andere.

Als Science-Fiction-Autor wird mir oft die Frage gestellt, ob ich das Netz für eine gute Sache halte. Das ist so, als würde man fragen, ob es gut ist, ein Mensch zu sein. Eine Frage – wir befinden uns schließlich im postmodernen Zeitalter –, die ich nicht beantworten kann. Allerdings werden einige von uns bald die Möglichkeit zum Vergleich haben, weil sie nämlich nicht mehr ganz menschlich sein werden.

Derweil bildet das Familienmediencenter in meinem Wohnzimmer immer neue Metastasen – CD-Spieler, Joysticks, alles Mögliche. Wie die Kinder von Mr Otomo versammeln sich auch meine eigenen einem Schwarm Fliegen gleich darum herum.

Die zweite Frage, die einem als Science-Fiction-Autor häufig gestellt wird, lautet: »Was denken Sie, wie es weitergehen wird?«

Sollte ich darauf irgendwann mal etwas anderes antworten als ein qualifiziertes »Ich habe keine Ahnung«, dann erschießen Sie mich bitte. Auch wenn in der Science Fiction manchmal richtige Vorhersagen getroffen werden, ist sie doch selten in der Lage, die tatsächlichen Auswirkungen einer neuen Entwicklung auf die Gesellschaft vorauszusehen. Der Fernseher zum Beispiel, der in vielen Geschichten aus den Zwanzigern bis in die Vierziger hinein zum obligatorischen Inventar gehörte, wurde in der Regel als privates Kommunikationsmittel dargestellt. Niemand hat Fernsehwerbung, Gameshows oder Heavy-Metal-Musikvideos vorhergesehen.

Das vorausgeschickt prophezeie ich, dass unser Familienmediencenter zu einem zunehmend komplexeren Konglomerat zusammenschmilzt. Verschiedene Geräte werden in einem integriert sein. Die Unterscheidung zwischen Fernseher, CD-Spieler und Computer erscheint heute schon willkürlich. Ein leicht durchschaubarer Betrug, der lediglich dazu dient, die Arbeitsplätze jener Roboter zu erhalten, die die Platinen löten. Wozu das integrierte Netzcenter aber eines Tages in der Lage sein wird – dafür fehlen uns heute noch die Worte.

Ein Beispiel. Ein BBC-Angestellter, der an einer neuen Vision des »interaktiven Fernsehens« arbeitete, bot mir an, mich durch eine kleine Forschungseinrichtung in San Francisco zu führen. Ich sollte mit der neuen Technologie etwas »machen«. In dem Labor, das wir besuchten, habe ich mir verschiedene Dinge, Apparaturen und Konsolen angeschaut, an denen Leute herumbastelten. All diese Geräte trugen irgendwelche Bezeichnungen, was aber fehlte, waren die Verben. Niemand dort konnte mir auch nur ansatzweise erklären, was ich denn genau täte, wenn ich mich mit einem dieser Geräte, nun, beschäftigen würde. Schreiben war es nicht und Regie führen auch nicht. Trotzdem waren diese Leute eindeutig an etwas dran und auch alle sehr eifrig bei der Sache. Aber ihnen mangelte es an Worten, um das, was sie taten, zu beschreiben.

Ein weiteres Beispiel. Eine Woche später besuchte ich ein Spezialeffekte-Studio in einer ruhigen Nebenstraße im Norden Hollywoods und erlebte einen heftigen Zukunftsschock. Meine Gastgeber – allesamt junge, intelligente Wissenschaftler – hatten eine Echtzeit-Videopuppe entwickelt, einen Max Headroom mit ausdruckslosem Gesicht, der im imaginären Raum hinter dem Fernsehbildschirm hing. Mithilfe eines Steuergeräts, das entfernte Ähnlichkeit mit einem Gyroskop hatte, konnte ich diesen schlafenden Golem zum Zucken und Zittern bringen. Mir standen die Haare zu Berge. Am Ende der Führung erhielt ich eine Videoaufzeichnung davon, wie ein professioneller Puppenspieler die Puppe bewegt. Sie wirkte wesentlich natürlicher, als ich im Fernsehen jemals aussehen werde. Aber wie soll man beschreiben, was diese jungen, intelligenten Leute da machten?

Wir rasen auf einen imaginären Wirbel zu, das Ende des Jahrhunderts …

Wenn er morgens aufsteht, schaut er zehn Minuten Much-Music, während er darauf wartet, dass das Kaffeewasser kocht. Die Kinder schlafen noch, weil es noch nicht Zeit für Die Dinos ist. MuchMusic ist Kanadas Pendant zu MTV. Morgens schaut er es meistens ohne Ton, wenn nicht gerade ein Video aus Québec läuft. Das hört er sich an, weil er kein Französisch kann.

Er will nicht, dass das Netz an den Überresten seiner nächtlichen Träume nagt. Jedenfalls nicht, solange er noch nicht bereit dafür ist.


Die Texte in diesem Buch sind nicht in chronologischer Reihenfolge angeordnet, aber dieser hier ist ein relativ frühes Beispiel. Damals bereitete mir die Frage, wie man an einen solchen Text herangeht, einiges Kopfzerbrechen. Allein die Tatsache, dass es sich um eine Auftragsarbeit handelte, erzeugte bei mir ein mulmiges Gefühl, wie ich mich erinnere.

Woran ich mich nicht mehr ganz erinnere, ist, was ich damals mit dem »Netz« gemeint habe, auch wenn ich in dem Artikel mit dem Begriff so selbstverständlich um mich werfe. Damals kannte ich das Netz noch gar nicht, obwohl ich einige Freunde hatte, die viel davon redeten. Ich kommunizierte mit ihnen per Fax, über meterweise glattes, seltsam riechendes Thermopapier. Längere Dokumente wurden per FedEx geschickt, als Ausdruck oder auf Floppy-Disks. Mein Wissen über das »Netz«, soviel lässt sich also mit einiger Sicherheit sagen, war damals nur vorgetäuscht. Hatte es etwas mit diesen »E-Mails« zu tun, die manche Leute irgendwie zwischen ihren Computern hin- und herschickten? Oder war es ein abstrakterer Begriff, der den Cyberspace als Ganzes meinte? Vermutlich hatte ich Letzteres im Hinterkopf, formulierte den Text jedoch so, dass es den Eindruck erweckte, als sei ich mit Ersterem besser vertraut, als ich es in Wirklichkeit war.

Ich glaube nicht, dass ich damals schon einen Computer mit Internetverbindung gesehen hatte. Der erste, an den ich mich erinnere, war mein eigener. Und den hatte ich erst ein paar Jahre später. Ich wartete, bis die Technik stark vereinfacht wurde – was zwangsläufig geschehen musste, dessen war ich mir sicher.

Ein Rocket Radio hatte ich aber als Kind tatsächlich und fand auch einmal einen Fetzen braunes Magnetband am Straßenrand, woraus ich auf die Existenz der modernen Kassette schloss.

Der Datsun Sunny B210 mit den Rostlöchern im Bodenblech war ebenfalls mein eigener. Er stand draußen vor der Tür, während ich diesen Artikel schrieb.


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Autobiografie für meine Website
November 2002

Gene Wolfe hat einmal gesagt: Ein Einzelkind zu sein, dessen Eltern verstorben sind, ist so, als sei man der einzige Überlebende des untergegangenen Atlantis. Eine komplette Zivilisation, ein ganzer Kontinent, einfach so verschwunden. Und man selbst ist der Einzige, der sich daran erinnert. So war es auch bei mir. Mein Vater starb, als ich sechs war, meine Mutter in meinem achtzehnten Lebensjahr. Brian Aldiss glaubt, dass sich im Leben eines jeden Romanautors ein frühes traumatisches Erlebnis finden lässt – meines bildet da keine Ausnahme.

Ich wurde an der Küste South Carolinas geboren, wo meine Eltern gerne Urlaub machten, als die Gegend noch weitgehend unerschlossen war. Mein Vater hatte eine Anstellung im mittleren Management einer großen, florierenden Baufirma. Das Unternehmen war am Bau des Atomforschungslabors in Oak Ridge beteiligt, und paranoide Legenden über das »Sicherheitsaufgebot« in Oak Ridge waren Teil unserer Familienkultur. Wir hatten eine Zigarrenkiste voller merkwürdiger ID-Karten, die mein Vater dort getragen hatte. Aber die Arbeit in Oak Ridge war offenbar von Erfolg gekrönt, nicht nur für ihn, sondern auch für seine Firma. Nach dem Krieg begann sie im Süden der USA ganze Vorstädte aus roten Backsteinhäusern im Levittown-Stil aus dem Boden zu stampfen. In der Folge zogen wir häufig um, und mein Vater war oft unterwegs, um neue Projekte an Land zu ziehen.

Es war die Welt des frühen Fernsehens, eines neuen Oldsmobile, das Ähnlichkeit mit einer Rakete hatte, und des Science-Fiction-Spielzeugs. Irgendwann unternahm mein Vater eine letzte Geschäftsreise, von der er nicht mehr zurückkehrte. Er erstickte an etwas in einem Restaurant – das Heimlich-Manöver war noch nicht erfunden –, und alles wurde anders.

Meine Mutter zog mit mir in die Kleinstadt im Südwesten Virginias zurück, aus der sie und mein Vater ursprünglich stammten – ein Ort, wo die Moderne zwar bis zu einem gewissen Grad schon Einzug gehalten hatte, aber auf großes Misstrauen stieß. Neben dem Tod meines Vaters und dem damit verbundenen Trauma war es höchstwahrscheinlich diese abrupte Verbannung in die Vergangenheit, die meine Begeisterung für die Science Fiction auslöste.