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Über den Autor

PETER ALTENBERG (1859 – 1919), mit bürgerlichem Namen Richard Engländer, war Spross einer wohlhabenden jüdischen Familie. Nach dem Scheitern einer »bürgerlichen Karriere« – Altenberg brach sein Medizin- und Jurastudium sowie eine Buchhändlerlehre ab – konnte er sich infolge einer von einem Nervenarzt attestierten »überempfindlichkeit des Nervensystems« ganz dem Schreiben widmen, war allerdings zeitlebens auf die finanzielle Unterstützung seiner Schriftstellerfreunde Karl Kraus, Arthur Schnitzler, Egon Friedell u. A. angewiesen. Trotz literarischer Erfolge führte Altenberg ein gebrochenes, von Krankheit und Alkoholismus gezeichnetes Leben. Seine letzten zehn Lebensjahre verbrachte er größtenteils in Nervenheilanstalten.

Zum Buch

Bereits zu Lebzeiten ist Peter Altenberg ein legendärer Vertreter der klassischen Wiener Kaffeehausliteratur und dennoch sind seine ironischen Aphorismen und verspielt-melancholischen Prosaskizzen alles andere als leichtfertig hingeworfene »Sprachhäppchen«. Mit kurzen kräftigen Pinselstrichen porträtiert Altenberg in ihnen die Extrakte flüchtiger Lebensaugenblicke – zufällig mitgehörte Gesprächsfetzen und philosophische Gedankensplitter, augenblickliche Stimmungslagen, vorüberziehende Gerüche und Farben – zu einer künstlerischen Gesamtschau, in der sich nicht nur das politische und kulturelle Panorama der untergehenden Wiener Moderne, sondern das Leben selbst in einer poetischen Momentaufnahme konzentriert.

Im vorliegenden Band sind in Auswahl versammelt: Wie ich es sehe, Was der Tag mir zuträgt, Pròdrōmos, Märchen des Lebens, Bilderbögen des kleinen Lebens, Neues Altes, Semmering 1912, Fechsung, Nachfechsung, Vita ipsa, Mein Lebensabend.

Peter Altenberg zählt zu jenen Autoren, die, wie er selbst einmal sagte, das Ideale nicht im Vollkommenen suchen, sondern es im (vermeintlich) Unvollkommenen, Alltäglichen, millionenfach Gesehenen finden, um es in der dichterischen Anschauung neu und gleichsam »wirklich« zu erschaffen: die Anmut der Frau, einen japanischen Apfelbaum, einen Schlehdornzweig, das Reich der verlorenen Kindheit, die belanglosen Plaudereien eines kleinen Mädchens. Mal in heiter-selbstironischem, mal in liebevoll-gerührtem Ton werden ihm diese liebenswürdigen »Nichtigkeiten« zu »Bilderbögen des kleinen Lebens«, deren Reiz neben der sprachlichen Schönheit der Lebensbildnisse darin liegt, dass sie das autobiographische Vermächtnis eines unvoreingenommen und mutigen Menschen sind, der sich dem Leben in allen seinen Erscheinungsformen ganz überließ.

Peter Altenberg

Das macht nichts

Peter Altenberg

Das macht nichts

Neues Altes aus dem Kaffeehaus

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Alle Rechte vorbehalten

Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2012
Redaktion: Stefanie Evita Schaefer, marixverlag GmbH
Covergestaltung: Nicole Ehlers, marixverlag GmbH
Bildnachweis: Figuren und Ornamente auf dem Dach der Hofburg, Wien, Österreich
eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main

ISBN: 978-3-8438-0298-7

www.marixverlag.de

INHALT

Wie ich es sehe

Dialog

De Amore

Der Revolutionär hat sich eingesponnen

Ein schweres Herz

Genesung

Ein Liebesgedicht

Schlehdornzweig

Ashantee

Paradies

Physiologisches

Was der Tag mir zuträgt

Motto

Selbstbiographie

Die Liebe

Neu-Romantik

Der »Fliegende Holländer«

Gedichte an Ljuba

La Zarina

Ganz kleine Sachen

Gedicht

Ansichtskarten

Aphorismen einer Primitiven

Pròdrŏmos

Splitter

Hetäre

Zur Männer-»Schönheits«-Konkurrenz

Naturalismus und Romantik

Goethe

Obmann

Verzauberte Prinzessin

Ballast

Das Bangen

Lob der Mangelhaftigkeit

Tür an Tür

Aus dem Tagebuch eines süßen Mädels in Wien

Märchen des Lebens

Ein Brief

Das »Flugerl«

Liebesgedicht

Erlebnis

Aus unseren Tränen wird Weisheit; aber aus eurem Lächeln?!?

Landpartie

Mama

Bilderbögen des kleinen Lebens

Gedicht

Die »gewöhnliche« Frau

Die Bonne

Über Gerüche

Du hast es so gewollt

Japanisches Papier, Pflanzenfaser

Aus einem Brief an Frau L. St.

Gregory-Truppe

Die Mitzi

Lektion

Zusammenhänge

Leitmotiv für eine edle Dame

Automobilfahrt

Englische Tänzerinnen

Neues Altes

Texte auf Ansichtskarten

Der Nebenmensch

Brangäne

Inschrift

Eifersucht

Im Stadtpark

Memoiren

Eine ganz wahrhaftige Beziehung

Ansprüche einer Romantikerin

Nachtcafé

Die Nerven

Das Dorf

Semmering 1912

Psychologie

Das Glück

Sanatorium für Nervenkranke

Landpartie

Vom Rendezvous

Frage

Die Niere

Entzweit

Plauderei

Erkenntnis

Klara

Liebesgedicht

Noch nicht einmal Splitter von Gedanken

Die Brosche

Jalousie

Fechsung

Nachtrag zu Pròdrŏmos

Entdecken

Splitter

Semmering-Fotogravüren

Farbe

Philosophie

An die Frauen!

Revanche

Variation über ein beliebtes Thema

Über die Anständigkeit

Philosophie

Werdet einfach!

Die junge Gattin

Autogramme

Splitter

Altern

Nachfechsung

Splitter

Klage

Über die Eifersucht

Splitter

Physiologisches

Splitter

Zwei Welten

Splitter

Bild der Menschheit

Der Tod

Wie Genies sterben

Eine unglückliche Liebe

Freunde

Splitter

Frauengunst

Splitter

Verdacht

Schmetterlinge

Vita ipsa

Anhänglichkeit

Das Benehmen

Anerkennungen

Die Maske

Mein Begräbnis

Frühling

Splitter

Liebeserklärung

Erinnerungen

Splitter (in eigener Sache)

Landeindrücke

Splitter

Wie ich mir Karl Kraus »gewann«

Das Wesentliche der »Ablenkung«

Aphorismus

Splitter

Splitterchen

Blumen

De Amore

Das Wiegenlied

Ewige Pubertät

Beziehungen

Mein Lebensabend

Erinnerungen

Der »Abgewiesene«

Splitter

Die Seele

Treulosigkeit

Die Nacht

WIE ICH ES SEHE

DIALOG

Er und sie sitzen auf der Bank in einer Linden-Allee.
Sie: Möchten Sie mich küssen?!
Er: Ja, Fräulein – – –.
Sie: Auf die Hand – –?!
Er: Nein, Fräulein.
Sie: Auf den Mund –?!
Er: Nein, Fräulein.
Sie: Oh, Sie sind unanständig – –!
Er: Ich meinte »auf den Saum Ihres Kleides!«
Sie erbleicht – – –.

DE AMORE

Ich liebe dich

Ich liebe dich. Ich liebe deine hellblauen seidenen Socken. Ich liebe deine zarten weißen Batistkleidchen. Ich liebe deine seidenen Gürtel mit den langen wunderbaren Schleifen. Ich liebe dich.

Ich liebe deine drei von dir geliebten Puppen, Mildred, Baby und Dorothy, welche du an dein Herz drückst und zu welchen du sagst: »lhr macht mir viel Kummer, meine Lieben, wisst ihr das?! Immer gleich verdrückt und schiefe Hüte – – –!«

Ich liebe dich. Ich liebe den Duft deines Zimmers, deines Kleiderschrankes, deines Bettes. So duften die Rinden der Bäume im Vorfrühling, wenn noch kein Laub ist und alle Kraft im Baume drinnen liegt. Ich liebe dich.

Ich liebe dich, wenn du gestraft wirst und du eine Träne wirst, wie Daphne ein Baum.

Die Großen weinen. Aber die Kleinen werden Tränen. Ich liebe dich. Noch lehnst du lächelnd an dem Tor des Lebens. Ich liebe dich.

Weltenweisheit hast du – – – da du noch nichts weißt. Pallas Athene du! Unbeirrten Auges thronst du auf dem weißen Throne deiner Kindlichkeiten! Ich liebe dich. Ah, melde mir die Nacht, in der die grausame verzerrungsfreudige Natur zum Weib dich macht!

Dann will ich Abschied nehmen – – – von meiner Liebe.

Ich hasse dich

Ich hasse dich, Geliebte! Ich hasse deine schönen seidenen Blusen, die deines Atmens Wellenschlag mir weisen und meiner Sinne »griechisches Lächeln« zum Ernste des Barbaren zwingen. Ich hasse dich.

Ich hasse deiner Worte Willkürherrschaft, die mich erbleichen und erröten machen, krank und gesund, blöde und weise. Ich hasse dich.

Ich hasse deine Schönheit. Deine Schönheit hass’ ich, die mir Ersatz für Weltenschönheit wird und so mit Blindheit schlägt mein Weltenauge.

Ich hasse deiner Stimme holden Klang, der mir Beethovens Symphonien leer macht und so mein Ohr betrügt um Welten-Klänge! Ich hasse dich!

Ich hasse dich, die meine Weltenkräfte, die zersplittern und verkommen wollen, allzu sorglich ins Dienstes-bette drängt.

Vorsorglich! Gescheite! Ich hasse dich.

Ich hasse dich, »fixe Idee meiner Seele«!

Ich hasse dich, wenn du mir sagst: »Komm’ wieder«, ich hasse dich, wenn du mir sagst: »Oh bleib’«. Denn ich, ich komme wieder und ich bleibe Beschränktheit meiner Schrankenlosigkeiten! Ich hasse dich!

Ich hasse deine Tugenden, die mich rühren, ich hasse deine Fehler, die mich nie verletzen.

Ich hasse dein Erröten, das mich selig und dein Erbleichen, welches mich besorgt macht. Ich hasse dich, dass ich auf diesem geliebten Antlitz die Runen schwerer Stunden ängstlich lese.

Die grenzenlosen Kräfte meiner Seele vermählen sich dem All nicht, sie treiben Ehebruch mit deinem Herzen, oh Geliebte!

So hass’ ich alles, was ich an dir liebe. Ich hasse dich! Weltendummheit hast du! Denn du fühlst in mir des Weltenganzen einfachen Vertreter, das Weltgebilde, das du nicht begreifst, in einem Weltextrakte, den du fassen kannst.

Ich aber bin es nicht. Ich kann es werden. Doch nicht bei dir und nicht durch dich, Geliebte! Nur durch die Weltenschönheit kann ich’s werden, die mit dem Kreidewald und Farrenwald begann und weiterzieht bis zu den letzten Stunden.

Durch Weltenschönheit kann ich’s werden, die ihrer Kräfte endelose Ströme durch meine heiligen Augen in mich ergösse, und ich, ich tränke sie und machte sie zu Blut, zu Geist!

Doch deine Ströme, oh geliebteste Geliebte, machen mich nur zum Herren des Alltages, der zeugt und stirbt. Ich hasse dich! Indem du mich von meinem Weltenwege ablenkst, zeigst du den kargen Weg mir, der vielleicht mir ziemt. Und weist mit deines Leibes griechischer Schönheit den kleinen Kreislauf, der dem Schwächeren frommt! Wer Ruhe sucht im Weibe, ist kein Wanderer!!

Und doch! Geliebte Reichmacherin, die du mir die Welt verarmst!

Siehe! Des fremden Kindes Lächeln muss mir teurer bleiben als meines eigenen Lachen!

Weib, verstehst du das?!!

Denn meine väterliche Liebe reicht gerade aus für alle Kinder, die da sind und die da kommen werden, wenn sie nur schön sind und der Frühling sind.

Tausendfach armselig, tausendfacher Un-Mann, wer da fühlt, dass er, um seines Herzens Vaterliebe anzubringen, sich erst ein Wesen schaffen muss dazu!!

Du aber bleibst, Geliebte und Gequälte, die heilige Jungfrau-Mutter! Und sonst nichts.

Geliebte Lügnerin, die du mich leitest zu Höhen, um mich zu deinen Höhen nur herabzuleiten! Ver-Führerin! Ich hasse dich.

Ah, melde mir den Tag, da ich dich nicht mehr liebe – – – dann will ich Abschied nehmen – – von meinem Hasse!!

Ich liebe dich

Sie: »Wie werden Blätter gelb?!«

Er: »Das grüne Chlorophyll des Blattes verwandelt sich in Gelbstoff, Xantophyll, unter dem Einflusse der Kälte.«

Sie: »Wie werden Blätter rot?!«

Er: »Das grüne Chlorophyll des Blattes verwandelt sich in Rotstoff, Erythrophyll, unter dem Einflusse der Kälte.«

Sie: »Und schwarz?!«

Er: »Das ist das Sterben des Blattes. Wenn es nicht mehr Kraft hat, Farben umzuwandeln, wird es schwarz.«

Sie: »Und Blätter werden Erde?!«

Er: »Ja. Der Schnee zermürbt sie, präpariert sie vor.«

Sie: »Lehre mich Botanik. Aber nicht wie in der Jugend, wie viele Staubgefäße jede Blume hat, wie sie lateinisch heißt, wo man sie findet. Lehre mich das Tiefe, wie sie wird und stirbt und niemals aufbegehrt und wieder wird und stirbt und wieder stirbt und dann doch auflebt – – –.«

Er: »Anatomie, Physiologie der Pflanzen?!«

Sie: »Ja, das.«

Er: »So komm. Es ist zu kalt zum Sitzen im Freien. Und wir sind in Jahren – – –. Wir brennen Holz im Ofen und ich lehre dich, wie junge Stämme ihren Ring ansetzen. Vor allem, weißt du, wenn im ersten Frühjahr – – –.«

Und sie ging schweigend, lauschend neben ihm.

DER REVOLUTIONÄR HAT
SICH EINGESPONNEN

Kannst du dir vorstellen, mein Freund, dass ein Botaniker, mit dem »unheiligen organischen Hunger« in seinen Nerven, fähig sei, ein Gericht von Erbsen oder Blumenkohl auf sein Wesentliches zu prüfen?! Und ihr, Un-Gelehrte, mit eurem »unheiligen organischen Hunger« in den Nerven, unterfangt euch, dieses zarteste Gebilde »Weib« zu diagnostizieren?!

Elende! Von eurem Hunger aus!

Sein eigenes Leben nicht ernster nehmen als ein Stück von Shakespeare! Aber auch nicht minder ernst! Sich von dem Leben in Besitz nehmen lassen wie im Theater. Das Theater des Lebens. Der ideale Zuschauer seiner selbst sein! Ganz drin sein und dennoch aus den facheusen Komplikationen herauskommen können in die frische Nachtluft; erlebt haben, was man nicht erlebt hat, nicht erlebt haben, was man erlebt hat!

So reinigst du dich von dir selber!!

Und die »Tragödien deiner selbst« bringen dir das Lächeln – – der Weisheit!

Die tragischen Schwächungen: Essen, wenn man nicht hungrig ist. Trinken, wenn man nicht durstig ist. Sich bewegen, wenn man Ruhe-bedürftig ist. Sich begatten, wenn man Liebe-los ist.

In Weisheit führt uns die Natur! Wenn wir hungern, zum Brote. Wenn wir dürsten, zum Wasser. Wenn wir müde sind, zum Schlafe. Wenn wir Liebe-voll sind, zum Weibe.

Der Mann legt die Frauen-Seele auf das ProkrustesBett seiner Bedürfnisse.

Alles verzeih’ ich dem Mann – – nur nicht das vergebliche Ringen! Schweigend verhülle dein Haupt, Cäsar des Lebens, wenn Brutus, das Schicksal, tödlich gegen dich stößt! Vergebliches Ringen geziemet dem Weibe, der Sklavin des Lebens! Noch, im Abgrunde schwebend, krümmt sie die Finger zum Griff!!

Das Unvermögen, sich mit einem anderen Weibe zu vereinigen als jenem, welches man mit der Seele liebt, ist – – göttliche Potenz!

Der Mann hat eine Liebe – – die Welt!

Die Frau hat eine Welt – – die Liebe!

Der vorsichtige feige Lebens-Mensch versetzt seine Ideale vermittels der Religionen in die Sterne, in den Himmel, um sich das Vergebliche eines Versuches, denselben nahe zu kommen, zu beweisen.

Der unbedenkliche und kühne Künstler-Mensch versetzt sie in seine eigene Brust, um ihnen nicht entrinnen zu können!

Die Frau ist die vom Schöpfer in die Welt gesetzte göttliche Wunsch-Maid Brunhilde, der »Weib gewordene« Wunsch Gottes selbst: Mann, werde Gottgleich! Werde All-gütig, All-weise und All-mächtig, deines eigenen Alls mächtig, über dich selbst die Macht habend!

Aber diese anderen fordern: Mann, sei Tier! Teufelinnen!

Mann, Herr des Lebens! Wann wirst du dich endlich entschließen, dich mit dem geliebten Weibe in einen anderen Kontakt zu setzen als den, welchen du mit dem Hunde, dem Paviane und dem Schweine gemeinsam zu haben die Ehre und das Vergnügen hast?!!

Gehört die Almwiese dem Hias’l, der sie bewirtschaftet?!

Sie gehört dem Wanderer, der sie empfindet!

Der Künstler-Mensch verlangt von seinem Weibe nur eine einzige Treue – – –, dass sie ihm die Rasse nicht verschandele!

Schönheit, Vervollkommnungen träumt er. Das ist seine Liebe!

Aber diese anderen wollen – – – sich fortpflanzen. Ha ha ha ha – – auch eine Art, Vervollkommnungen zu träumen!

Ich will ein König sein, der bettelt bei einer Königin, nicht ein Bettler, der König ist bei einer Bettlerin!!

Die Eifersucht ist keine Leidenschaft. Sie ist eine Furcht!

Die tiefste Furcht, die ewige des Lebens, die unentrinnbare organische Furcht, etwas zu verlieren, ohne das man nicht mehr lebendig sein kann – – seine Lunge, sein Rückenmark, sein Gehirn, das Herz des anderen, welches unseres geworden ist und welches unseren Blutkreislauf erhält und schützt wie das eigene. Wie wenn dieses stille stünde, ist der Verlust des anderen.

Die Eifersucht ist keine Leidenschaft! Die Eifersucht ist eine Furcht, die ewige organische unentrinnbare, innerlich sterben zu müssen! Eine Todesfurcht!

Indem der Dichter das »Reich, das da kommen wird«, in sich trägt und das »Reich, das da ist«, erlebt, befindet er sich in Frieden mit jenen neuen Ansprüchen der Seele, welche die alten Herzen der anderen in Unruhe versetzen und zerstören. Denn die Unruhe ist die Wirkung des »Ungewissen«. Der Dichter aber weiß in sich, was kommen wird!! In Ruhe wartet er und singt indessen und verkündet!

Es gibt drei Idealisten: Gott, die Mütter, die Dichter! Sie suchen das Ideale nicht im Vollkommenen – – – sie finden es im Unvollkommenen.

Ökonomie:

»Du sollst erst essen, bis du hungrig bist und schon aufhören, ehe du satt bist«, ist ein tieferes, göttlicheres Gesetz als »Es soll dich nicht gelüsten nach – – « und anderes. Denn jenes macht diese entbehrlich. In ihm liegt die Kraft, die Ruhe, die Weisheit, die Wahrheit und das Glück!!

Im Ausdrucke des Antlitzes steht es mit einfachen klaren Linien geschrieben: »Hier herrscht das teuflische Überflüssige« oder: »Hier regiert die göttliche Notwendigkeit«! Mehr Dampf in einer Lokomotive erzeugen als nötig ist für ihre höchste Bewegung, ist die Tat eines wahnsinnig gewordenen Maschinenführers.

So ist der Mensch!

Er rast dahin den Weg des Lebens und wird zu Brei zermalmt auf seiner Strecke!

Mode-Journal:

Dein Gewand sei die Erweiterung und Fortsetzung deines Wesens über die Epidermis hinaus. Die letzte Hülle deiner Seele, die dich enthüllt! Faltenreiches weites Gewand ist das Symbol deiner Vergeistigung, deiner Immaterialisierung! Der Körper verschwindet, und es bleibt weite reiche fließende Bewegung. Weiche seidene Stoffe in tausend Plissées sind daher die wahre »englische Mode«. Je mehr Bewegung ein Gewand dir gestattet, desto göttlicher ist es. Das schönste Gewand wären Flügel!

Die Frauenseele ist bescheiden: Sie sucht Jesus Christus und Napoleon, Diogenes und Hölderlin vereint in einem Wesen! Diese einzige Wahrheit des noch Lügelosen und Konzessions-freien Herzens nennen die Hunde: Backfisch-Träume!

Der Schlaf ist der heilige Versuch der Natur, die Tages-Wunden zum Verheilen zu bringen. Den Schlaf vorzeitig unterbrechen, heißt, heilige Verbände vernarbender Wunden wegreißen!

Man fragte eine Mutter: »Wie erziehen Sie Ihr Töchterchen?!«

»Ich lasse sie schlafen – – «, antwortete diese Beste, Weiseste.

Die Frau stellt in ihrer »schönen Form« das dar, was der Künstler-Mensch in seinem »schönen Geiste« zum Ausdruck bringt. Die Genialität ihres Leibes ist gleich der Genialität seines Geistes. Ihr Leib ist sein »Materie gewordener« Geist. Sein Geist ist ihr entmaterialisierter Leib. Was er »denkt«, »ist« sie!

Die überschüssigen Kräfte seiner Seele loswerden können in Räuschen, in Ekstasen! Das ist die Hygiene der Herzen, welche – – an überschüssigen Kräften leiden.

Aber die zarte Frauenseele hat nur Träume. Träume sind keine Ekstasen. Träume sind keine Räusche. Es sind die – – Träume von Räuschen! Sie kann ihre überschüssigen Kräfte nicht loswerden. Sie hat keine Hygiene. Sie bleibt überladen, krank. Die Hunde aber sagen: »Hysterisches Frauenzimmer!« Das ist ihre Rache für die Ekstasen, die sie nicht bereiten – –!

Wenn ich denke, rede ich – – – wenn ich liebe, begehre ich.

Sonst bleibe ich ewig stumm!

Das ist Menschentum!!

Menschentum ist: schweigen, wenn Geist und Seele nicht sprechen! Es ist tönender, ins Wort, in Begattung sich aussprechender, sich offenbarender, sich erlösender Geist! Das Wort, das ich spreche, der Kuss, den ich gebe, sind die heiligen Geburten des Geistigen in mir zu »lebendigem Leben«, zu »physischer Tat«!

Treue ist das »Gesetz der Trägheit« der Seele.

Ah, treue Seelen, wie treulos seid ihr eurem Werden!

Die Frau ist ihre Sehnsucht!

Das, was sie nicht geworden ist, ist sie!

Dieses zweite geheimnisvolle Leben der Frau will zum Leben kommen, geboren werden, sein!

Indem sie eine Tochter gebiert, gebiert sie ihre »Sehnsucht« zu einem »lebendigen Organismus« aus und kann zur Ruhe kommen ihrer drängenden Kräfte. Die Frau ist ein Halb-Wesen. Sie und ihr Töchterchen zusammen sind erst Eines! In dieser will sie erst sich selbst erleben, die nie lebte!

Heilige Zwei-Einigkeit!! Der »Sehnsucht seiende« Mensch und seine »Mensch gewordene« Sehnsucht!

Wehe dir, tochterlose Frau! Wo wirst du dieses ungeborne Leben »Sehnsucht« anbringen, dass es zur Welt komme?!

Eine junge Dame sagte einmal: »Niemand versteht A. K. – – – denn jeder Satz ist schon der achte Satz.«

Die vorhergehenden sieben Sätze überlässt er uns! So eine Achtung hat er vor unserem Herzen, unserem Geiste. Wie mit »Mündigen des Lebens« verkehrt er mit uns. Wie ein Kapellmeister der Hof-Oper mit seiner Künstlerschar. Bescheiden sitzen sie an ihren Pulten, blicken vertrauensvoll hin und verstehen seine Intentionen.

Aber mit euch müsste er reden wie mit Schulbabys: »a, a, a, a, b, b, b, b.

Sehet! Wenn man mir am Klaviere die sieben Noten anschlägt: a, f, e, gis, a, ais, h, so spüre ich das ganze Liebes-Leid Isoldens!«

Glückliche Liebe?! Eine, die das Unglück hat, dass ihr der »heilige Weg« durch ein Ziel abgeschnitten wird.

Unglückliche Liebe?! Eine, die das Glück hat des »ewig Wandernden zur Sonne«.

Auch Bewegung ist ein Rasten – – vom Rasten!

Auch die Dissonanz hat ihre Idee! Ihre Idee ist die Sehnsucht nach Erlösung in der Konsonanz. Konsonanz?!

Eine Dissonanz, die ihre Idee verloren hat.

Keuschheit?!

Organe, welche bisher Selbstherrscher, Caracallas waren, in die heiligen und ausschließlichen Dienste des Kaisers »Seele« zwingen!! Sie zu heiligen Vollstreckern kaiserlicher Befehle erhöhen!!

Christentum?! Heidentum?! Einen einzigen Menschen gab es bis heute.

In Keuschheit wurde Er geboren! Daher bekam Er nur Reines mit. Und konnte Liebe geben ohne Gegendienste!! Und um Liebe sterben, weil die »blöde Leidenschaft des Lebens« ihn nicht zeugte und sich nicht in seine Nerven grub!

Wandle seine Bahnen!

Dante Alighieri stand in einem Lorbeer-Walde 16 Jahre und wartete auf Beatrice – – –.

Diese anderen aber warten einen Tag – – und gehen dann doch in die »Kleine Blutgasse; nicht läuten, klopfen«!

EIN SCHWERES HERZ

Es steht mitten zwischen Wiesen und Obstgärten ein riesiges gelbes Haus. Es ist ein Mädchen-Institut der »Englischen Fräulein«. Es gibt viele »heilige Schwestern« darin und viel Heimweh.

Manches Mal kommen die Väter an, besuchen ihre Töchterchen. »Papa, grüß dich Gott – – –.«

In dieser einfachen Musik »Papa, grüß dich Gott – – – « liegen die tiefen Hymnen der kleinen Herzen. Und in »Adieu, Papa – – « verklingen sie wie Harfen-Arpeggien! Es war ein regnerischer Land-November-Sonntag. Ich saß in dem lieben kleinen warmen Café und rauchte und träumte – – –.

Ein schöner großer Herr trat ein mit einem kleinen wunderbaren Mädchen.

Es war eigentlich ein Engel ohne Flügel, in einer gelbgrünen Samt-Jacke.

Der Herr nahm an meinem Tische Platz.

»Bringen Sie ›Illustrierte Zeitungen‹ für die Kleine«, sagte er zu dem Marqueur.

»Danke, Papa, ich möchte keine – – – «, sagte der Engel ohne Flügel.

Stille – – –.

Der Vater sagte: »Was hast du – – –?!«

»Nichts – – – «, sagte das Kind.

Dann sagte der Vater: »Wo seid ihr in Mathematik?!«

Er meinte: »Sprechen wir über etwas Allgemeines. In der Wissenschaft findet man sich – – –.«

»Kapitalrechnungen«, sagte der Engel. »Was ist es?! Was bedeutet es?! Ich habe keine Idee. Wozu braucht man Kapitalrechnungen?! Ich verstehe das nicht – – –.«

»Lange Haare – kurzer Verstand«, sagte der Vater lächelnd und streichelte ihre hellblonden Haare, welche wie Seide glänzten.

»Jawohl – – «, sagte sie.

Stille – – –.

Ich habe ein so trauriges Gesichterl nie gesehen! Es erbebte gleichsam wie ein Strauch unter Schnee-Last.

Es war, wie wenn Eleonora Duse sagt: »Oh –!« Oder wenn Gemma Bellincioni es singt – – –.

Der Vater dachte: »Geistige Arbeit ist eine Ablenkung. Und jedesfalls, kann es schaden?! Man wiegt die Seele ein – –. Man muss das Interesse wecken. Natürlich schläft es noch – – –.«

Er sagte: »Kapitalrechnungen! Oh, es ist interessant.

Das war seinerzeit meine Force (ein Schimmer des vergangenen Kapitalrechnung-Glückes huschte über sein Antlitz). Zum Beispiel – – warte ein bisschen – – zum Beispiel jemand kauft ein Haus.

Hörst du zu?!«

»Oh ja. Jemand kauft ein Haus.«

»Zum Beispiel euer Geburtshaus in Görz. (Er machte die Sache spannender, indem er geschickt Wissenschaft und Familienverhältnisse in eine ziemlich nahe Beziehung brachte.) Es kostet 20000 Gulden. Wie viel muss er an Zins einnehmen, damit es 5% trage?!«

Der Engel sagte: »Das kann niemand wissen – –, Papa, kommt Onkel Viktor noch oft zu uns?!«

»Nein, er kommt selten. Wenn er kommt, setzt er sich immer in dein leeres Zimmer. Merke auf. 20 000 Gulden. Wie viel ist 5% bei 20 000 fl.?! Nun, doch jedesfalls soviel mal 5 Gulden, als hundert in 20 000 enthalten ist!? Das ist doch einfach, nicht?!«

»Oh ja – – – «, sagte das Kind und begriff nicht, warum Onkel Viktor so selten komme.

Der Vater sagte: »Also wie viel muss er einnehmen?! Nun, 1000 Gulden ganz einfach.«

»Ja, 1000 Gulden. Papa, raucht die große weiße Lampe im Speisezimmer noch immer beim Anzünden?!«

»Natürlich. Also hast du jetzt eine Idee von Kapitalrechnung?!«

»Oh ja. Aber wieso trägt Geld überhaupt Zinsen?! Es ist doch nicht wie ein Birnbaum?! Es ist doch ganz tot, Geld.«

»Dummerl – – – «, sagte der Vater und dachte: »Übrigens, es ist Sache des Institutes.«

Stille – – –.

Sie sagte leise: »Ich möchte nach Hause zu euch – –.«

»No, du bist doch ein gescheites Mäderl, nicht –?!«

Zwei Tränen kamen langsam die Wangen heruntergeschwommen.

Erlösung! Tränen! Schimmernde Perlen gewordenes Heimweh!!

Dann sagte sie lächelnd: »Papa, es sind drei kleine Mädchen im Institute. Die Älteste darf drei Buchteln essen, die jüngere nur zwei und die Jüngste eine. So diätetisch sind sie! Ob sie nächstes Jahr gesteigert werden?!«

Der Vater lächelte: »Siehst du, wie lustig es bei euch ist?!«

»Wieso lustig?! Uns kommt es so vor, weil es lächerlich ist. Das Lächerliche ist doch nicht das Lustige?!«

»Kleine Philosophin – – «, sagte der Vater glücklich und stolz und sah an den feuchtglänzenden Augen seines Töchterchens, dass Philosophie und Leben zweierlei seien.

Sie wurde rosig und bleich, bleich und rosig –. Wie ein Kampf war es auf diesem süßen Antlitz. Es stand darauf geschrieben: »Adieu, Papa, oh, adieu –.«

Ich hätte dem Vater gerne gesagt: »Herr, schauen Sie dieses Marien-Antlitz an! Sie hat ein brechendes kleines Herz! – – –.«

Er hätte mir geantwortet: »Mein Herr, c’est la vie! So ist das Leben! Es können nicht alle Menschen im Kaffeehaus sitzen und vor sich hinträumen – –.«

Der Vater sagte: »Wie weit seid ihr in Geschichte?!«

Er dachte: »Man muss sie ablenken. Das ist mein Prinzip.«

»Wir sind in Ägypten«, sagte das kleine Mädchen.

»Oh, in Ägypten«, sagte der Vater und machte, wie wenn dieses Land einen wirklich ganz ausfüllen könne. Er war geradezu erstaunt, dass man sich noch etwas anderes wünsche als Ägypten.

»Die Pyramiden«, sagte er, »die Mumien, die Könige Sesostris, Cheops! Dann kommen die Assyrer, dann die Babylonier – – –.«

Er dachte: »Je mehr ich aufmarschieren lasse, desto besser.«