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Fuldaer Hochschulschriften

Fuldaer Hochschulschriften

Im Auftrag der Theologischen Fakultät Fulda

herausgegeben von Jörg Disse

in Zusammenarbeit mit Richard Hartmann

und Bernd Willmes

Rupert M. Scheule (Hrsg.)

Spielen

Philosophisch-theologische Annäherungen an einen menschlichen Grundvollzug

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

© 2012 Echter Verlag GmbH, Würzburg

Inhalt

„Der will doch nur spielen!“ – Zu diesem Buch

Rupert M. Scheule

„Deus ludens“ – der spielende Gott Überlegungen im Ausgang von Spr 8,22–31

Markus Lersch

„Im Spiel verborgen ist eine Welt“ – Anmerkungen zum Schöpfungskonzept von Spr 8,22–31

Matthias Helmer

Spieltrieb, Imagination und Variation Spielerische Freiheit bei Schiller und Ricœur

Anja Solbach

Spiel, Sprache, Norm – Eine moralanthropologische Verhältnisbestimmung

Rupert M. Scheule

„Homo ludens“ Der vor Gott spielende Mensch in der Liturgie

Cornelius Roth

„Homo ludens“ Der vor Gott spielende Mensch in Liturgie und religiöser Erziehung

Dieter Wagner

Autorin und Autoren des Buches

„Der will doch nur spielen!“ – Zu diesem Buch

Rupert M. Scheule

„Der will doch nur spielen!“ Hört der Jogger im Wald diesen Satz und ein kläffender Dackel nähert sich ihm mit hoher Geschwindigkeit, wird er den Ernst der Lage erkennen und seinen Schritt beschleunigen. Nicht auszuschließen aber, dass er – sofern es die Angst zulässt – über die Merkwürdigkeit dieser seiner Situation nachdenkt: Er flüchtet vor einem spielen wollenden Kleintier.

Spielen ist ein Lebensvollzug von so hohem Allgemeinheitsgrad, dass wir ihn auch außerhalb unserer Gattungsgrenzen zu erkennen glauben, allerdings – zumindest im Fall des rasenden Dackels – mit der Subtextbotschaft „Da ist einer wie wir, schließlich sind wir Menschen doch spielende, und welches Wesen auch immer spielt, es wird uns damit vertrauter“. Pfeift das Frauchen den Dackel nicht zurück, dann vielleicht deshalb, weil uns die naive Freude des Spielenden meist so sehr rührt, dass wir geneigt sind, ihn gewähren zu lassen. Wer spielt, scheint immer irgendwie im Recht zu sein. Ferner ist mit der Spielansage eine Art Entwarnung verbunden. So schlimm wird es schon nicht kommen, wenn einer „nur spielen“ will. Aber selbst wenn der Jogger glaubt, ein Dackel könne tatsächlich nur spielen wollen und genau das sei hier und jetzt der Fall, wird er sich doch das Recht herausnehmen, jetzt nicht spielen, sondern eben joggen zu wollen. Spiel und Nötigung vertragen sich schlecht. Schließlich wird der Jogger aber auch zu erwägen haben, dass das Spiel sehr bald ernst werden oder ernste Konsequenzen haben könnte: ein Biss in die Wade, ein Tritt nach dem Dackel, die sich anschließende Auseinandersetzung mit seinem Frauchen …

Das Spiel gibt uns auf vielfache Weise zu denken: Welche Wesen sind überhaupt vorstellbar als „spielende“? Wie viel Realität steckt im Spiel und von welcher Art ist sie? Woher kommt die Freude beim Spiel? Was haben Spielregeln und Moral gemein? Wie verhalten sich Spiel und Freiheit, Spiel und Lernen, Spiel und Sprache, Spiel und Gottesdienst zueinander? Um diese Fragen und noch ein paar mehr wird es in dem vorliegenden Buch gehen. Es basiert größtenteils auf Referaten, die im Sommer 2011 im Rahmen des Kontaktstudiums an der Theologischen Fakultät Fulda gehalten wurden. Alle Beiträge wurden für die Publikation aber überarbeitet und untereinander vernetzt, so dass das Buch nunmehr insgesamt einen Diskursbeitrag zur Spiele-Thematik aus philosophisch-theologischer Sicht darstellt.

Den Anfang macht Markus Lersch. Ausgehend von einer „Positivphänomenologie des Spielens“, die dem Leser ein nützliches Begriffsinventar zum Phänomen „Spiel“ an die Hand gibt, fragt er, ob Spielen nicht als Wesensausdruck Gottes betrachtet werden kann. Er findet in Spr 8,22–31 eine theologisch vielbeachtete, aber noch immer ergiebige biblische Belegstelle, von der aus er die Trinität als theatralisch-spielerische Bezogenheit der drei göttlichen Personen aufeinander beschreibt. Auch im Schöpfungshandeln Gottes erkennt Lersch spielerisch-verschwenderische Züge, um schließlich auch das Erlösungsgeschehen „theodramatisch“ mit dem Spielbegriff in Verbindung zu bringen.

Ist Spr 8,22–31 für Lersch der Ausgangspunkt für eine Art Gotteslehre des Spiels, so sieht Matthias Helmer seine Aufgabe in einer gründlichen philologischen Analyse der Schriftstelle. Er bescheinigt dieser Passage jüdischer Weisheitsliteratur eine eigentümliche Schöpfungstheologie, in der der Weisheit die Funktion zukommt, sich über Gottes Schöpfungstaten aktiv zu freuen wie im Spiel.

Auch wenn es keine direkten inhaltlichen Abhängigkeiten zwischen den Werken Friedrich Schillers und Paul Ricœurs geben mag, so weist Anja Solbach im dritten Beitrag dieses Buches doch hin auf einen erstaunlichen Gleichklang des Interesses beider Denker am Zusammenhang von Poesie und Moral. Sieht Schiller uns im Spiel befreit von den Nötigungen, die uns unsere Sinnlichkeit heteronom und unsere Vernunft autonom auferlegen, so ist es bei Ricœur die Metapher, die Suspendierung des wörtlichen Sinns, die uns ähnliche Freiheitserlebnisse ermöglicht.

Rupert M. Scheule fragt nach dem Verhältnis von Spiel und Normativität. Er rezipiert einige aktuelle Studien zum Spielverhalten von Menschenkindern und Schimpansen, die am Leipziger Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie durchgeführt wurden und ihrerseits von den sozialphilosophischen Arbeiten John Searles inspiriert sind. Scheule zeigt, dass ausweislich dieser Forschungen die Moral dem Menschen nicht oktroyiert werden muss, sondern in frühesten Kindertagen spielerisch zu ihm kommt. Spiele bleiben aber notwendigerweise auf die Reichweite einer Spielvereinbarung beschränkt. Wenn nicht auch für die Moral eine Reichweitenbegrenzung gelten soll, muss sie gedacht werden als „Spiel ohne Grenzen“, für welches der christliche Glaube eine robuste praktische Heuristik liefert.

Ist Liturgie Spiel? Dieser Frage, die von der „Liturgischen Bewegung“ schon in der Zwischenkriegszeit diskutiert und insbesondere von Romano Guardini entfaltet wurde, stellt sich Cornelius Roth. Er würdigt dabei die Einwände gegen die Vorstellung der Liturgie als Spiel, hält aber durchaus an einem modifizierten liturgischen Spielbegriff fest, den er zudem an einigen praktischen Fragen zur Gestaltung des liturgischen Raums erprobt.

Dieter Wagner beschließt den Band mit einem Beitrag zur Religionspädagogik des Spiels. Er verwahrt sich ebenso gegen eine schroffe Abgrenzung der Arbeit vom Spiel wie gegen die Instrumentalisierung des Spiels – als Anreiz, Belohnung, Lockmittel – für die Arbeit. Es gilt, am Ziel spielerischen Arbeitens in der Schule festzuhalten.

Die sechs Beiträge dieses Bands werden nicht alle Fragen nach dem Spiel beantworten können. Aber sie legen ein paar philosophisch-theologische Trassen in die Spiele-Thematik, die den Leser bereichern und ermutigen könnten, seine Erkundungsreisen zum Spiel auf eigene Faust fortzusetzen.

Prof. DDr. Jörg Disse, der Reihenherausgeber der Fuldaer Hochschulschriften, investierte viel Zeit und Mühe in die kritische Durchsicht des Manuskripts. Frau Edeltraud Kübler erstellte geduldig die Druckvorlagen. Beiden sei herzlich gedankt. Dank gebührt auch der Theologischen Fakultät Fulda, die die Publikation dieses Buches finanziell ermöglichte.

Fulda am Hochfest Pfingsten 2012,

der Herausgeber

„Deus ludens“ – der spielende Gott Überlegungen im Ausgang von Spr 8,22–31

Markus Lersch

Einführung

Deus ludens – der spielende Gott – Gott spielt – Gott ist ein Spieler. Wird der Mensch in der neueren Anthropologie mit einigem Recht als homo ludens, als spielender Mensch, bezeichnet,1 so kann dies mit umso größerem Recht von Gott gelten. Die Vorstellung eines spielenden Gottes oder spielender Götter ist ein menschlicher Archetyp, ein Urmythos der Menschheit, der als solcher nahezu alle Religionen und Kulturen durchzieht. Die sehr vielfältigen und verschiedenartigen Fassungen dieses Urmythos beschreiben in der Regel ein göttliches Kind (schließlich gilt das Kind von jeher als eigentlicher Experte in Sachen Spiel, mit Hermann Hesse als ludimagister), dessen Spiel sich mit der Entstehung des Kosmos befasst bzw. das Verhältnis der Gottheit zum Kosmos zum Ausdruck bringt. Der kindliche Gott schafft die Welt spielerisch bzw. er spielt mit ihr, wie es schon bei Heraklit heißt: „Der Äon ist ein spielender Knabe, ein Brettspiel spielend. Dem Knaben die Herrschaft!“2

Auch nur ein kleiner Überblick über die vielfältigen Versionen jenes Urmythos Deus ludens würde den vorliegenden Rahmen sprengen. Hier sei vor allem auf die klassische Einführung in das „Wesen der Mythologie“ von Carl Gustav Jung und Karl Kerényi verwiesen, die sogar nach dem genannten Mythos benannt ist: „Das göttliche Kind“.3 Aus genuin theologischer Perspektive ist dazu noch Hugo Rahner zu nennen, dessen überaus dichter und reicher Essay „Der spielende Mensch“4 eine wesentliche Inspiration und eine wahre Fundgrube patristischer Schätze für diesen Beitrag gewesen ist.

Gott als Spieler, Welt und Mensch als Spielzeug. Lässt sich dieser Mythos auch christlich lesen, ist es möglich, den christlichen Gott als Deus ludens zu begreifen? Eine erste Antwort auf diese Frage sei emblematisch mit einer griechischen Fassung des Mythos gegeben: Der Knabe Eros erhält von seiner Mutter Aphrodite die Sphaira, die Weltenkugel, das ehemalige Lieblingsspielzeug des kindlichen Zeus. Eine Terrakotta-Figur der Eremitage aus dem vierten vorchristlichen Jahrhundert zeigt diese Szene: Aphrodite hält den Sohn sitzend im linken Arm, in der Rechten hält sie den Ball, der – vermutlich aus statischen Gründen – auf einem zepterartigen Stab steckt. Die frappierende Nähe dieses Bildes zu einem Zentralmotiv christlicher Ikonographie dürfte sofort ins Auge springen.

Doch lässt sich dieses augenscheinlich nicht ganz unproblematische religionsgeschichtlich-mythologische Menschheitserbe auch theoretisch mit dem christlichen Gottesglauben ins Gespräch bringen? Nun, nicht erst die von Rahner zusammengetragene Fülle an Belegen zeigt, dass dies in der Tradition de facto häufig geschehen ist, und so sei auch im Folgenden der Versuch unternommen, den Gott des Christentums als einen Spieler verstehbar zu machen. Wie könnte eine solche christliche Lesart des Mythos lauten, durch die sich die tiefe Wahrheit des folgenden Platonzitats aus den „Nomoi“ erschließen würde?

„Ich meine dies: auf das Ernste soll man Ernst verwenden, auf das Nichternste aber nicht; seiner Natur nach ist aber Gott alles seligen Ernstes würdig; der Mensch dagegen ist, wie wir früher gesagt haben, als Spielzeug Gottes [Image] geschaffen worden, und dies ist in der Tat das Beste an ihm. Dieser Rolle nun sich fügend und die allerschönsten Spiele spielend [Image], muß ein jeder, Mann und Frau, sein Leben zubringen [Image], in einer der derzeit vorherrschenden entgegengesetzten Denkweise.“5

Ausgangs- oder besser Absprungpunkt für die systematischen Überlegungen zum christlichen Deus ludens soll aber ein biblischer sein, und zwar der geschichtsträchtige Abschnitt Spr 8,22–31,6 der die göttliche Weisheit wesentlich als eine vor Gott spielende präsentiert. Im Ausgang von dieser Stelle und ihrer Rezeptionsgeschichte soll eine mögliche christliche Lesart des Mythos skizziert werden unter den drei Gesichtspunkten des Deus ludens als Dreifaltigem, als Schöpfer und als Erlöser. Bevor dies geschehen kann, sei aber zunächst noch eine „Positivphänomenologie“ des Spielens umrissen.

1. Thesenartige Positivphänomenologie des Spielens

Worin liegt der positive Wert des Spiels, der erlaubt, den Menschen essentiell als homo ludens zu beschreiben, als ein Seiendes, das vor allem im Spiel zu sich selbst kommt – nach Schillers berühmtem Wort: „… der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“?7 Anders formuliert, ließe sich bereits mit Blick auf die Passage aus dem Sprüchebuch nach dem zunächst kontraintuitiv erscheinenden Zusammenhang von Weisheit und Spiel fragen. Thomas von Aquin begründet diesen zweifach, nämlich mit der Freude und mit der Selbstzwecklichkeit, die Weisheitsbetrachtung und Spiel auszeichnen.8 Hier seien acht Thesen angeführt, die diese positiven Charakteristika des Spielens aufgreifen und erweitern sollen (unter bewusster Ausblendung möglicher negativer Deutungen des Spiels):

Spielen ist zweckfrei bzw. frei von vordergründigen Zwecken. Spielen ist ein menschliches Tun, das keinem vordergründigen, kurzfristigen Zweck dient und insofern der „Zweckfreiheit“ des Menschen selbst entspricht.9 Dies schließt freilich nicht aus, sondern bedingt erst die Möglichkeit, dass das Spiel einen tieferen Sinn hat, ein inneres Ziel/Telos, das sich beispielsweise als Summe der im Folgenden aufgeführten Charakteristika beschreiben ließe.10

Spielen dient der Zerstreuung und Erholung. Eben weil das Spiel keinem Zweck dient, nützt es dem Menschen als Gegenpol, als Kompensation und als mögliche „Heterotopie“11 zur zweck- und stressbeherrschten Alltagswelt.12

Spielen ermöglicht zugleich Sammlung und Konzentration. Indem das Spielen zentrifugal die Alltagssorgen zerstreut, versammelt und konzentriert es den Menschen zugleich zentripetal auf den gegenwärtigen Augenblick, auf sich selbst in seiner Ganzheit (Schiller) und auf den mit dem Spiel gegebenen tieferen Sinn hin.13

Spielen erfordert Hingabe und Engagement. Das Gelingen der spezifischen Zerstreuung und Sammlung durch das Spiel sowie der Konstruktion seiner eigenen Welt, des „Andersorts“ Spiel, setzt das freie Engagement und die Hingabe des Menschen voraus, wodurch das Spiel dem Menschen die Einübung ihm existentiell wesentlicher Haltungen ermöglicht.14

Spielen ist harmonisch-unkritisch. Die im Spiel einzuübende freie Hingabe des Menschen kann als aktiver Vollzug dessen betrachtet werden, was sich mit Wust und Ricœur als „zweite Naivität“15 oder mit dem Evangelium als ein „Wie-die-Kinder-Werden“ beschreiben ließe, nämlich den vollbewussten, rational gesteuerten Verzicht auf kalt-nüchterne Durchrationalisierung der Wirklichkeit.

Spielen impliziert Freude und Weltzustimmung. So kann sich im hingebungsvollen und zweckfreien, nicht irrationalen, aber doch „irrationalistischen“ Spiel jene grundsätzliche Haltung ausdrücken, die Josef Pieper „Zustimmung zur Welt“ genannt hat16 und die theologisch als implizite Affirmation des Schöpfers und seines Willens gedeutet werden kann.

Spielen ist kreativ. Das Spiel ist aus sich selbst heraus, d. h. ohne dies bewusst zu intendieren oder zu „bezwecken“, kreativ, es schafft eine eigene Welt und ist notwendig unbegrenzt und expansiv, es weitet sich aus, schafft sich neue Spielräume, -rollen, -partner und -regeln.

Spielen ist ein Beziehungsgeschehen mit bestimmten Rollen. Jedes Spiel fußt fundamental auf Beziehung und Differenzierung, Zuteilung und beziehungshafter Zuordnung von Rollen, und seien diese nur virtuell (wie der imaginierte Spielgefährte bzw. das personifizierte Spielzeug des Kindes).

Spielen hat eine wichtige Sozialfunktion. Gesellschaften leben wesentlich von ritualisierten, öffentlichen Spielvollzügen, die der Institutionalisierung (Max Weber), der Integration des Religiös-Numinosen (Rudolf Otto), der sozialverträglichen Einhegung individueller Lebensübergänge (Arnold van Gennep, rites de passage) sowie der Bewältigung von Glücks- und Kontingenzerfahrungen dienen.17

Dem Spielen eignet eine eigene Zeitstruktur. Im Spiel wird die mathematisch-chronologische Zeit durchbrochen durch eine wesentlich subjektive „Hetero-“ bzw. „Diachronie“, eine innere Zeit im Sinne des augustinisch-phänomenologischen Zeitverständnisses, die das Spiel (vor allem freilich das liturgische) theologisch auch als Prolepse der Ewigkeit erkennbar werden lässt.

Inwieweit erlaubt diese „Positivphänomenologie“ des Spiels nun – im Ausgang von Spr 8,22–31 – die Rede vom christlichen Gott als einem Deus ludens?

2. Der christliche Gott als „Deus ludens“

a) „Deus ludens trinitas“

Viele Kirchenväter haben Spr 8 als alttestamentlichen Hinweis auf die immanente Trinität gedeutet, als Indiz dafür, dass Gott von Ewigkeit her nicht eine undifferenzierte Einheit, sondern Beziehung ist.18 In ihrer allegorischen, christologischen Exegese haben sie die Stelle auf Jesus Christus hin gedeutet.19 Die alttestamentliche Weisheit ist demnach eine Allegorie, ist ein Typos bzw. Vorausbild Christi. Christus, der ewige Logos Gottes, ist identisch mit der ewigen Weisheit des Alten Testaments, die vor Gott dem Vater spielt resp. tanzt. Diese Identifikation findet sich bereits im Neuen Testaments, implizit in der engen Assoziierung Jesu mit der Weisheit Gottes (vgl. Mk 6,2par; Lk 2,40.52), explizit bei Paulus (1 Kor 1,24). Einen eminenten plastischen Beleg dieser Identifikation stellt die Hagia Sophia dar, Justinians gewaltige Hauptkirche der östlichen Christenheit aus dem 6. Jh., die nicht einem abstrakten Prinzip Weisheit geweiht ist, sondern eben Christus als der Weisheit Gottes. Ein zweiter Beleg ist ein klassischer Marientitel, dem ein fester ikonographischer Typos entspricht: Maria als sedes sapientiae, als Sitz/Stätte/Thron des Weisheit-Christus – dargestellt z. B. im Apsismosaik der Hagia Sophia. Ein letzter Verweis auf die lex orandi: Der Weisheit-Christus findet sich in der westlichen Liturgie etwa in der ersten adventlichen O-Antiphon.20

Zahlreiche Väter und Theologen der patristischen Zeit haben sich mit der Stelle beschäftigt,21 was wohl daran liegt, dass das Alte Testament bekanntlich nicht sonderlich reich an vestigia trinitatis, an spurhaften Hinweisen auf die Trinität, ist, die ja erst mit der neutestamentlichen Offenbarung klar in Erscheinung tritt. Als solche Spuren werden in Tradition und systematischer Theologie in aller Regel neben der hypostasierten bzw. gar personifizierten Weisheit Stellen über den hypostasierten Geist, die Gegenwart/Anwesenheit (Image) sowie das Wort Gottes herangezogen. Andere Versuche greifen den häufigen Majestätsplural YHWHs, das dreimalige „heilig“ der Seraphim (Jes 6,3) oder die vermeintlichen göttlichen Dialoge in den Psalmen auf (die sogenannte prosopologische Exegese, die beispielsweise den Vers „Spricht der Herr zu meinem Herrn“ [Ps 110,1] auf unterschiedliche trinitarische Personen aufteilt). Am häufigsten schließlich findet sich der Verweis auf Gen 18, die Perikope der Eichen von Mamre mit den drei Engeln, die Abraham doch im Singular als „Herr“ (Image Gen 18,3) anspricht.

Spr 8,22–31 nun nimmt in diesen apologetischen Bemühungen einen zentralen Platz ein und wird nicht zufällig zu einer Zentralperikope in den arianischen Streitigkeiten um die wahre Göttlichkeit Jesu Christi. Dies liegt freilich vor allem daran, dass es in der Passage von der (unisono auf beiden Seiten!) mit Jesus Christus identifizierten Weisheit nicht nur heißt, dass sie am Anfang, im Ursprung, vor den Werken etc. bei Gott gewesen sei, sondern dass dieser sie „geschaffen“ (Image Spr 8,22) habe. Sofern das hier verwendete schillernde hebräische Verb Image tatsächlich mit „schaffen“ übersetzt wird (mögliche Alternativen wären – der nizänischen Orthodoxie natürlich eher gelegen – „erzeugen, gebären“ oder „für sich behalten“ bzw. „erwerben“),22 entspricht der Vers in geradezu kongenialer Weise der „Christologie“ des Arius:

„Gott, die Ursache aller Dinge, ist beim Empfangen wahrlich ohne Anfang und völlig allein, der Sohn aber, zeitlos vom Vater gezeugt und vor den Äonen geschaffen [!] und gegründet, war nicht, bevor er geschaffen wurde.“23

Jesus Christus ist für Arius das höchste Geschöpf, das gemeinsam mit dem Geist in besonderer Gottesnähe steht und auch schöpfungsmittlerische Funktionen wahrnimmt, das aber eben nicht Gott, sondern geschaffen ist, was sich wesentlich in seiner Zeitlichkeit zeigt – sei es, dass vor ihm eine innergöttliche Zeit existiert, sei es, dass mit ihm die Zeit des Äons/Kosmos entsteht. So schreibt Basilius der Große mitten in den arianischen Wirren:

„Die [Arianer; M. L.] aber flüchten sich in den Text Salomos und von dort aus, wie aus einem befestigten Lager, greifen sie den Glauben an. Deswegen nämlich, weil über die Person der Weisheit gesagt wird, ,Der Herr hat mich erschaffen [Image]‘, schlussfolgern sie, sich erlauben zu können, den Herrn ein Geschöpf zu nennen.“24

Die vornizänische und nizänische Orthodoxie behilft sich hier unterschiedlich – will sie doch die Identifikation der Weisheit mit Christus nicht opfern: Mal wird auf die allgemeine Dunkelheit des Alten Testaments verwiesen, dann auf die genannte Mehrdeutigkeit von Image, mal wird der Abschnitt auf die Inkarnation hin gedeutet – was ihm freilich die Pointe nimmt, sich auf die immanente Trinität zu beziehen. Nach Überwindung des Arianismus entschärft sich das Problem um Image, und etwa der Kirchenschriftsteller Salonius kann die Stelle im fünften Jahrhundert scheinbar unproblematisch auf den ewigen Logos hin deuten:

„Was [der Text] sagt, spielend, muss verstanden werden als sich freuend. Er spielte alle Tage, das heißt, er freute sich, eins zu sein; d. h. einer Substanz mit dem Vater, von Anfang an, seit den Tagen der Ewigkeit. [Veranus:] Wie aber spielte er allezeit auf dem Erdkreis? [Salonius:] Weil er auch als die Zeit des Erdkreises und der Kreaturen anbrach, selbst als Sohn sich freute, weil er das, was er war, allezeit im Vater blieb.“25

Ähnlich emphatische christologische Deutungen der Stelle finden sich später bei Beda Venerabilis, Hrabanus Maurus und in den „Glossa Ordinaria“.26 Die Weisheit bzw. der Sohn, die zweite Person Gottes, „spielt“ vor Gott dem Vater seit Ewigkeit her und in Ewigkeit hin. Was aber heißt das? Welche Implikationen des Spielbegriffs lassen sich auf das Leben der Dreifaltigkeit in sich, also auf die immanente Trinität, übertragen?

Zunächst einmal und vor allem der Gedanke, dass das Spiel in aller Regel ein Beziehungsgeschehen mit fester Rollenverteilung ist. Das Spiel ist insofern ein treffendes Modell gerade für das Proprium des christlichen Gottesbildes, das Gott ja als dreifaltige Beziehung, als ewiges Beziehungsgeschehen deutet. Die drei Pole innerhalb dieses Geschehens – Vater, Sohn und Geist – werden im Laufe der Theologiegeschichte meist mit dem Begriff „Person“ bezeichnet. Aber Vorsicht: Alle theologischen Begriffe sind bloß analog, sind menschliche Hilfsmittel und Annäherungen an das Geheimnis Gottes und immer in der Gefahr, es zu verfehlen. So ist gerade der Personbegriff27 aufgrund seiner weiteren Entwicklung in der Neuzeit (Stichworte: völlige Selbstbestimmung, Autarkie, Autonomie) hoch problematisch in der Trinitätstheologie.28 Ursprünglich drückte dieser Begriff, der vermutlich aus der Theatersprache stammt (auch wenn die direkte etymologische Herleitung von Image oder per-sonare mittlerweile als unwahrscheinlich gilt), nämlich genau das Gegenteil aus: nicht den Selbststand, sondern die Beziehungshaftigkeit, das Bezogensein der Person; in der Sprache der heutigen Theatertheorie oder eben des Spiels: die Rolle, welche die Person den anderen Rollen bzw. Charakteren gegenüber einnimmt. Wohl aus diesem Grund wird der Personbegriff theologiegeschichtlich dann auch präzisiert durch jenen der Relation: Vater, Sohn und Geist sind wesentlich relationes, d. h. spezifische Beziehungen zueinander. So schreibt das Unionskonzil von Florenz bekanntlich, dass die göttlichen Personen in allem eins und identisch seien, mit Ausnahme ihrer jeweils spezifischen Beziehung zueinander.29 Man könnte – um im „Spielvokabular“ zu bleiben – also davon sprechen, dass die göttlichen Personen wesentlich Rollen sind, und ihre Aufgabe darin haben, im immanenttrinitarischen Spiel eine spezifische Funktion/Stellung den beiden anderen Personen gegenüber innezuhaben. Allerdings ist gleich wieder einem neuen Missverständnis vorzubeugen: Diese Rollen sind nicht beliebig, akzidentell oder austauschbar (wie im menschlichen Spiel), sondern machen das eigentliche Wesen der jeweiligen göttlichen Person notwendig und ewig aus: Der Vater „spielt“ (oder besser: ist) immer die „Rolle“ des Vaters, niemals aber jene des Sohnes, der Geist niemals jene des Vaters usw. Thomas von Aquin spricht daher davon, dass jede göttliche Person eine relatio subsistens sei30 – Existenz als (je spezifische) Beziehung. Die „Proprietät“, der Eigenstand oder Besitz der innertrinitarischen Personen, besteht also allein in ihrer jeweiligen (Ursprungs-)Relation zu den beiden anderen Personen.31

Man könnte also das, was in der klassischen Theologie Perichorese oder Circumincession genannt worden ist, das ewige Geschehen der innigen gegenseitigen Durchdringung der drei göttlichen Personen, auch als Spiel bezeichnen.32 Ein Spiel, das wie jedes Spiel – und zwar nun in höchstem Maße – selbstgenügsam und frei von vordergründigen Zwecken bzw. Spiel als Selbstzweck ist. Ein Spiel voller Freude und Harmonie, von unendlicher Kreativität, völliger Zustimmung zueinander und auch von vollkommener Hingabe: Wie eben mit dem „Florentinum“ formuliert, gehen die Personen ganz in ihren Rollen auf, wollen nichts anderes sein bzw. sind de facto nichts anderes als die je eigene Beziehung zu den beiden anderen. Der mit dem Spielbegriff konnotierte Aspekt der Zerstreuung und Erholung lässt sich nur schwer auf Gott übertragen, er könnte aber dennoch die Leichtigkeit und Unbeschwertheit dieses immanenttrinitarischen Spielprozesses hervorheben, der sich in kritik- und distanzloser Unmittelbarkeit vollzieht.

Wie lässt sich diese Vorstellung eines in ewiger Selbstgenügsamkeit spielenden Gottes nun aber mit dem Gedanken der Schöpfung verbinden? Wieso ist Gott gerade auch als Schöpfer spielender Gott, wie es ja schon der religions-geschichtliche Urmythos implizierte? Inwiefern lässt sich der Schöpfungsakt als ein spielerisches Beziehungsgeschehen mit den oben umrissenen Attributen verstehen?

b) „Deus ludens creator“

Werfen wir auch einen systematischen Blick auf den Deus ludens als Schöpfergott: Inwiefern ist das Spiel eine treffende Beschreibung für Gottes Schöpfertätigkeit? Was haben Spielen und göttliches (Er-)Schaffen miteinander zu tun?