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Band 32

 

Der schlafende Gott

 

von Michelle Stern

 

 

 

Eigentlich ist er der einsamste Mensch der gesamten Milchstraße: Dr. Eric Manoli, der als Arzt mit Perry Rhodan zum Mond flog und dort im Sommer 2036 auf die Außerirdischen traf. Jetzt aber muss er sich auf dem fernen Planeten Topsid durchschlagen; er ist dort der einzige Mensch unter Milliarden von intelligenten Echsen.

Manoli weiß weder, wie es Perry Rhodan und seinen Gefährten geht, noch hat er eine Ahnung von den Verhältnissen auf der heimatlichen Erde. Sein einziges Ziel war zuletzt, die Wirren eines verheerenden Bürgerkrieges zu überstehen. Doch all seine Fluchtbemühungen waren vergebens; er wird Gefangener des regierenden Despoten.

Mit einigen Dutzend Arkoniden vegetiert er in einer Art »Reality-Show« dahin, bei der er Tag und Nacht von unsichtbaren Kameras beobachtet wird. Manoli findet heraus, dass ein interstellarer Konflikt zwischen den echsenartigen Topsidern und den menschenartigen Arkoniden droht – wenn er selbst überleben will, muss er aus der Gefangenschaft fliehen ...

»Hier ist hier. Jetzt ist jetzt. Bündele deine Kraft.

Ein Jenseits gibt es nicht.«

Elfter Satz der Sozialen Weisung

 

 

1.

Am Abgrund

Eric Manoli

 

Unter ihm war nichts. Gähnende Leere, in schwarze Schatten gebettet. Kein Aufglitzern eines Staubkorns verriet, wie tief der Antigravschacht zu seinen Stiefeln in die lehmige Erde Topsids reichte.

Eric Manoli zwang sich, die Augen geöffnet zu halten und hinunter in den endlos wirkenden Abgrund zu sehen. Das Bild erschien ihm wie ein Ausdruck seiner Gefühle. Auch seine Seele hatte sich in einen Schacht verwandelt, bodenlos, aber nicht leer. Schwarze Furcht breitete sich darin aus und ließ seine Gedanken rasen.

Eben noch habe ich den Beelkar bezwungen, habe ich das Rätsel gelöst, wie ich den Thron der Weisen erreiche und zehntausend Meter in die Höhe gelange. Ich bin am Gipfel angekommen, aber meine Hoffnung auf Flucht ist es nicht. Sie ist die Flanke des Berges hinabgestürzt. Vorbei am Labyrinth der Wissenssuchenden, um am Grund im Nebel zu zerschellen.

Vorsichtig bewegte Manoli die Hände hinter dem Rücken. Handschellen pressten die Arme aneinander und machten seine Fingerspitzen taub. Sie sollten ihn davon abhalten, sich auf seinen Begleiter zu stürzen: Megh-Takarr, den Despoten der Topsider.

Manoli schluckte. Als ob ich diese riesenhafte Echse wirklich angreifen würde. Er wusste aus schmerzlicher Erfahrung, dass die Topsider den Menschen körperlich überlegen waren. Megh-Takarr konnte ihn mit einem Arm oder seinem breiten Stützschwanz wegfegen, wenn er es wollte. Ganz davon abgesehen fühlte sich Manoli viel zu niedergeschlagen, um ernsthaft auf die Idee zu kommen, den Despoten anzugreifen. Seitdem Oric-Altan ihn, Khatleen-Tarr und den Weisen Trker-Hon auf der Spitze des Berges Beelkar gefangen genommen hatte, bestand er aus Angst.

Angst um Trker-Hon und Khatleen-Tarr, die man von ihm getrennt hatte.

Angst vor Megh-Takarr, dessen Willkür er hilflos ausgeliefert war.

Angst um sein Leben.

Neben ihm züngelte der Despot. Sicher nahm er mit der Zungenspitze den Geruch von Schweiß auf, der Manoli umgab. Die letzten Ereignisse hatten ihm alles abverlangt. Topsid besaß eine höhere Schwerkraft als die Erde, und der Arzt und ehemalige Astronaut war körperlich, geistig und seelisch durch die Hölle gegangen.

Zuerst der Aufstieg an der steilen Felswand des Beelkar, der selbst mithilfe der kontrahierenden Seilsysteme das anstrengendste Erlebnis in Manolis bisherigem Leben gewesen war, dann das unerwartete Zusammentreffen mit Trker-Hon. Es hatte Manoli elektrisiert. Der Weise war mit Crest da Zoltral und Tatjana Michalowna auf die Suche nach der Welt des Ewigen Lebens gegangen. Manolis Kameraden Perry und Reg waren mit einigen weiteren Gefährten gefolgt und nicht zurückgekehrt.

Die Sorge um die Freunde hatte Eric Manoli dazu getrieben, wiederum ihnen zu folgen, auf sich allein gestellt. Seiner Verzweiflungstat war der Erfolg verwehrt geblieben: Der Transmitter hatte ihn nach Topsid gebracht. Doch der Weise Trker-Hon lebte. Also mochten auch Perry und Reg und die anderen noch am Leben sein!

Bevor Manoli Trker-Hon hatte ausfragen können, hatte man ihn gefangen genommen.

Manoli war am Ende. Er hatte geglaubt, auf dem Gipfel Scharfauge zu treffen, den mysteriösen Anführer der topsidischen Oppositionellen, und mit dessen Hilfe diese Welt der Echsen zu verlassen. Stattdessen befand er sich nun wieder in Kerh-Onf, der Hauptstadt des Planeten, aus der er vor wenigen Tagen erst geflohen war.

Eine Kreisbewegung, dachte er mit engem Hals. Ich bin wieder am Ausgangspunkt meiner Flucht angelangt. Dieses Mal kann ich mich nicht im Purpurnen Gelege bei Khatleen-Tarr verstecken.

Er sah die ehemalige Soldatin vor sich, die desertiert war und sich im Purpurnen Gelege als Prostituierte vor dem Militär verborgen hatte. Lag sie in diesem Moment tot in der Kanalisation unter der Stadt? Er hob die Schultern an, als könnte er sich auf diese Weise vor dem inneren Bild schützen. Im Gegensatz zu ihm war dem Despoten eine einfache Soldatin nicht wichtig. Topsider gab es viele auf Topsid. Soldaten auch. Arkoniden dagegen besaßen für den Despoten einen gewissen Wert. Wäre es anders, würde Manoli nicht mehr leben.

Manoli starrte das aufrecht gehende Echsenwesen in Uniform neben sich an. Es stand ganz starr, hatte von schneller Bewegung in den Modus der Regungslosigkeit umgeschaltet. Der Blick vermittelte das Gefühl, einen Irren vor sich zu haben, doch Manoli wusste, dass dies der Ausdruck eines Topsiders in Wartehaltung war. Mehrere Schuppen am Hals hatten ihre Farbnuance verändert und wirkten ausgebleicht. Ein Zeichen der Hochstimmung, in der sich der Despot befand.

Am liebsten hätte Manoli Megh-Takarr gehasst, aber selbst für Hass oder Wut war er zu ängstlich und zu müde. Er wollte nur fort, sich verkriechen dürfen; seinem hämmernden Herzen eine Ruhepause gönnen.

»Du bist bemerkenswert«, sagte der Despot unvermittelt, ohne ihn anzusehen. Sein weites Gesichtsfeld ermöglichte es ihm, Manoli aus den Augenwinkeln wahrzunehmen. »Von Anfang an hast du dich als würdiger Gegner erwiesen. Du bist mir entkommen und untergetaucht. Ich hätte dich niemals in Khir-Teyal vermutet. Ausgerechnet in diesem schlammigen Viertel.« Er machte ein rasselndes Geräusch, das ein Äquivalent zu einem Lachen war. Seine Zunge schnellte vor. »Und dann bist du mir mit dieser ›Harr-Turr‹ entwischt, dieser Hure. Meinen treuen Jäger Gihl-Khuan hast du zum Verräter gemacht.« Er drehte den Kopf und musterte Manoli. Die gelben Augen verengten sich eine Spur.

Manoli wurde schwindelig. Er fürchtete, die sechsfingrigen Hände würden vorschnellen, um ihm mit einer einzigen Bewegung das Genick zu brechen. Doch die Schuppen am Hals unter dem Maul leuchteten nach wie vor ein wenig heller. Der Despot war weder zornig, noch in der Stimmung zu töten.

Er hielt dem Blick stand. Erinnerungsfetzen jagten sich in ihm. Er war durch den Transmitter im Wega-System gegangen. Ein einziger Schritt, doch er hatte ihn in eine andere Welt befördert. Er hatte den Schritt getan – und dann waren da nur noch Bruchstücke, die sein Gehirn vergeblich zu einem kohärenten Ganzen zu montieren versuchte. Er sah sich aus der Vogelperspektive durch die fremden Straßen mit den hohen Turmbauten hetzen. Energieblitze zuckten durch die zähe Luft, durchschnitten den Nebel und schossen an ihm vorbei. Was davor geschehen war, wusste er nicht. Sicher haben sie mich gefangen und misshandelt. Wie konnte ich damals entkommen?

Blinzelnd konzentrierte er sich auf den Despoten. »Gihl-Khuan«, wiederholte er den Namen, den der Despot genannt hatte. »Dann stimmt es. Er war Ihr Lakai. Sie haben ihn geschickt, um mich und Khatleen-Tarr gefangen zu nehmen.«

Er und Khatleen-Tarr hatten Gihl-Khuan auf ihrer Flucht aus der Stadt getroffen nach dem gescheiterten Anschlag auf den Despoten durch den Bordellbesitzer. Ich hätte es mir denken können. Thersa-Khrur hat mich vor ihm gewarnt. Die Weise hatte intuitiv erfasst, dass Gihl-Khuan zum Despoten gehörte.

Der Despot neigte den Kopf. »Er war schwach. Hat gegen seine Befehle gehandelt.« Die Stelle am Hals nahm die grünbraune Färbung der sie umgebenden Schuppen an. »Wer das Schwache stärkt, schwächt die Ganzheit. Sein Tod war rechtens.«

Manoli musste sich zwingen, nicht zurückzuweichen. Seine Muskeln spannten sich, dass es schmerzte. Sein Magen verkrampfte. »Er ist tot?«

Das war ihm neu. Er hatte geglaubt, Gihl-Khuan wäre entkommen. Log Megh-Takarr?

Der Despot wandte den Kopf ab. »Du hast es in den Hort der Weisen geschafft«, fuhr er im Plauderton fort, als hätte er die Frage nicht gehört. »Dort, wo niemals zuvor ein Nicht-Topsider gewesen ist. Dich haben sie am Leben gelassen. Mehr als das. Dir ist sogar der Aufstieg auf den heiligen Berggipfel gelungen. Um Schuppenbreite wärst du mir beinahe ein weiteres Mal entschlüpft, aber am Ende war ich der Schnellere.«

Manoli schloss die Finger zu Fäusten. »Was ist mit Khatleen-Tarr und Trker-Hon?«

Wieder keine Antwort. Der Despot stand starr wie eine Statue aus Stein, die jemand achtlos in den Antigravschacht geschoben hatte. Hätte sich die Stelle am Maul unter den geblähten Nüstern nicht bei jedem Ausatmen dunkler verfärbt, Manoli hätte kein Anzeichen für Leben an ihm gesehen.

Resigniert senkte Manoli den Kopf. Es ging weiter hinab, langsam und stetig. Der Grund lag in Dunkelheit.

Ob der Despot von der Rolle weiß, die Trker-Hon bei der Beendigung der Invasion des Wega-Systems gespielt hat? Und dass er danach mit Crest aufgebrochen ist, das Rätsel um die Unsterblichkeit zu lösen? Eine weitere Frage drängte sich auf, die Manoli abrupt den Blick heben ließ. Weiß er vom Geheimnis der Welt des Ewigen Lebens? Hat er die Ferronen vielleicht deshalb angreifen lassen?

»Gefällt es dir auf Topsid?«, fragte der Despot freundlich. »Sind wir so, wie du dir eine junge, aufstrebende Macht vorstellst?«

Manoli schwieg verwirrt. Offensichtlich hielt ihn der Despot nach wie vor für einen Arkonidenabkömmling. Dann hatte Trker-Hon vermutlich nicht geredet, und die Position der Erde sowie ihre Unabhängigkeit von den Arkoniden war nach wie vor ein Geheimnis.

»Ist meine Hauptstadt nicht beeindruckend?« Die Stimme des Despoten hatte einen Beiklang, der Manoli nicht gefiel.

Megh-Takarr erwartet keine Antwort. Seinen Fragen fehlt der Nachdruck. Was will er wirklich? »Ich bin beeindruckt«, räumte Manoli ein. Nicht nur, weil der Despot es hören wollte, sondern auch, weil es stimmte. Hätte man ihm als kleinem Jungen erzählt, »eines Tages wirst du auf der Suche nach einem Freund durch einen Torbogen aus Schwärze gehen und der erste Mensch auf einem Planeten voller Echsen sein«, er hätte das Legoraumschiff in seiner Hand fallen gelassen und sein Gegenüber aus großen Augen angestarrt. Niemals, hätte er gedacht. Eher gibt Dad mir den Pick-up für die Schule, als dass so was passiert.

Wenn er an diesem Tag sterben sollte, wusste er zumindest, dass er mehr gesehen hatte, als er als Kind und Mann zu träumen gewagt hatte.

Unter ihnen kam ein heller Fleck in Sicht. Nach und nach schälte sich der Grund aus der Dunkelheit. Der Boden. Endlich. Es mussten gut fünfzig Meter sein, bevor der Antigravschacht endete. Die Topsider hatten so tief in die Kruste ihres Planeten gebaut, als wollten sie bis zum Kern vorstoßen.

Der Despot packte Manolis Unterarm und zog ihn mit sich, hinaus auf einen braunen Gang. Der Boden unter ihren Füßen sah wie Wasser aus, fühlte sich aber fest an. Die Luft war dick und feucht – wie überall auf diesem dampfenden Planeten.

»Komm!«, sagte der Despot und zerrte an Manoli. In seiner Stimme lag Gier.

Manoli ging unsicher neben ihm her. Der wasserartige Boden verwirrte seine Sinne, dass er glaubte, auf Wellen zu laufen.

Sie hielten an einer Tür, die auf eine Sensorberührung Megh-Takarrs hin zur Seite glitt. Ein Raum öffnete sich vor ihm. Seine vorherrschende Farbe war Schwarz: schwarzer Boden, schwarze Decke. Rußgeschwärzte Metalltrümmer, aus denen die Reste zweier Säulen ragten.

Wie erstarrt blieb Manoli stehen. Beklemmung drückte auf seinen Brustkorb, als trüge er einen schweren Raumanzug. Es musste eine Explosion in diesem Raum gegeben haben oder einen Brand. Die Säulenreste wirkten wie die Beinstümpfe einer verkohlten Riesenechse. Ein Bild blitzte vor ihm auf, wurde aus dem Nebel des Vergessens gerissen und verschwand sofort wieder in ihm. Ich kenne diesen Ort.

»Du bist tatsächlich bemerkenswert«, wiederholte der Despot. »Allein, wie du hierhergekommen bist ...«

Endlich begriff Manoli. Seine Augen weiteten sich, das Herz hämmerte in der Brust. Er stand vor den Überresten eines Transmitters! Das war der Ort, an dem er auf diese vielfach verfluchte Welt gekommen war, um Perry, Crest und die anderen zu finden. In diesem Raum musste er herausgekommen und geflohen sein, ehe die Topsider seiner habhaft werden konnten.

»Ich sehe, du verstehst mich.« Der Despot züngelte mehrfach hintereinander, als könnte er auf diese Weise seinen Triumph auskosten. »Ich frage mich, was für ein Wesen du bist, Erikk-Mahnoli.«

Die Angst erreichte einen neuen Höhepunkt. Zu sterben würde schlimm sein, aber vor seinem Tod preiszugeben, dass er ein Mensch war, von einem Planeten in Reichweite der Topsider, die mit ihrer Expansionsgier bloß darauf warteten, die Koordinaten seiner Heimat zu erfahren, das war ein weit größeres Grauen. »Ich ... ich bin ein Arkonidenabkömmling von einem Randplaneten des Großen Imperiums ... nichts Besonderes ...«

In Gedanken sah Manoli torpedoförmige Schiffe in der Luft über dem Stardust Tower stehen. Energiestrahlen fuhren in die neu erbauten Viertel Terranias und ließen Gebäude in Flammen aufgehen. Menschen rannten vor den Mündungen topsidischer Waffen davon, stürzten sterbend in den Sand.

Irgendwie musste er es schaffen, den Despoten von seinem Verdacht abzulenken. »Ich ...«

»Maul halten!«, befahl Megh-Takarr. »Ich will deine Lügen nicht hören, Weichhaut. Worte genügen nicht mehr – ich will Taten. Gib mir die Unsterblichkeit!«

»Was?« Manoli glaubte, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Dieses Mal schwebte er keinen Schacht hinab, er stürzte. Der Aufprall würde tödlich sein.

»Hast du geglaubt, mich täuschen zu können? Dieser Transmitter ist ein wahres Wunderwerk – und das Tor zur Welt des Ewigen Lebens! Du wirst es für mich öffnen.«

»Der Transmitter ist zerstört. Er ...« Verzweifelt suchte Manoli nach den richtigen Worten. Gab es in dieser Lage überhaupt richtige Worte? Seine Stimme hörte sich an, als käme sie aus weiter Ferne. Er fror. Vor ihm verschwamm die hervorstehende Schnauze des Despoten zu einer unförmigen Kontur. Die Augen der Echse verwandelten sich in auflodernde Flammen. Manoli atmete tief ein. Ein dünner Film aus Schweiß benetzte seine Stirn, und er spürte, wie die Hose und das arkonidische Hemd, das die Wachen Megh-Takarrs ihm vor der Auslieferung angezogen hatten, sich mit Feuchtigkeit anreicherten. Akute Belastungsreaktion. Leichte Bewusstseinseinengung, beginnende Dissoziation, starker Schweißausbruch, Kältegefühl ...

Mit der medizinischen Analyse versuchte er, sich zu schützen, Abstand zur Situation zu halten, wie er als Arzt Abstand zu seinen Patienten und deren Leid hielt. Es gelang ihm nicht. Er fiel immer tiefer in die Panik hinein.

»Der Schein trügt.« Megh-Takarr ging auf die Überreste des Transmitters zu. Sein Stützschwanz hob sich vom Boden und zeigte mit der Spitze auf die verkohlten Teile. »Meine Spezialisten messen energetische Aktivität in den Trümmern an.«

»Ich weiß nicht ...«

Megh-Takarr fuhr zu ihm herum. Seine Stimme klang leise und kalt. »Du wirst diesen Transmitter für mich reparieren, Erikk-Mahnoli, denn du bist durch ihn nach Topsid gelangt.«

Manoli überlegte, ob er eine Lüge vorbringen sollte, die ihm Zeit verschaffte, doch sein Gehirn war wie abgestorben. »Das ist unmöglich. Das kann ich nicht.«

»Inakzeptabel!«, zischte der Despot. »Ich gebe dir drei Tage, Erikk-Mahnoli, dich eines Besseren zu besinnen. Drei Tage. Dann wirst du mit der Arbeit anfangen oder die Konsequenzen tragen.«

Bestürzt starrte Manoli auf die verkohlten Trümmer. Ein Kokon aus Verzweiflung schloss sich um ihn. Er hatte eine Gnadenfrist erhalten, aber das Ende blieb dasselbe: Wenn der Despot erst begriff, dass Manoli die Wahrheit gesagt hatte, würde er sterben.

2.

Gorrs Ruinen

Hisab-Benkh

 

Hisab-Benkh schnaufte und kniff die Augen gegen das Sonnenlicht zusammen. Seine beiden Assistentinnen standen kampflustig auf der weißen Erde. Er hoffte, dass sie wieder zur Vernunft kamen, ehe er einschreiten musste.

»Ich gehe zuerst hinein!« Emkhar-Tuur schlug mit der Schwanzspitze so auf den staubigen Boden, dass der feine Sand wie eine Wolke aufstob und sich auf Hisab-Benkhs Anzug sowie in die Kerben zwischen den braungrünen Gesichtsschuppen legte. Sie hatte die Handrücken in die Seiten gepresst, um sich breiter zu machen. Ihr Blick richtete sich auf das freigelegte Ruinengebäude vor ihnen. Ein zylindrischer Spezialroboter rollte langsam auf seinen flexiblen Ketten am Zugang entlang, scannte und analysierte.

»Nein, ich gehe zuerst! Du machst bloß wieder was kaputt, Emk! Denk an den Robotarm, den du gestern reparieren wolltest!« Tisla-Leherghs Lippen verzogen sich vor Hohn. Sie wiegte den Kopf hin und her als Zeichen ihrer Geringschätzung. »Knacks hat es gemacht!« Gehässig imitierte sie das knackende Geräusch des abbrechenden Arms, indem sie mit der Zunge schnalzte. Dabei sah sie mit gierigem Blick auf den Eingang des jahrtausendealten Gebäudes, von dem einzig das unterste Stockwerk übrig geblieben war.

Obwohl der Bau an den Wänden starke Verwitterung zeigte, bewies die Architektur eindeutig, dass sie nicht von den Gorrern stammte, die auf diesem Planeten heimisch waren. Dafür war das Material zu weit entwickelt. Selbst in ihrer Glanzzeit hatten die Bewohner Gorrs keine vergleichbaren Werkstoffe herstellen können. Auch hatten sie niemals derart hoch in den Himmel hineingebaut, als wollten sie die Sonne berühren. Hisab-Benkh glaubte, dass die ursprünglichen Bauten vor ihrer Zerstörung höher als die Himmelsstecher in Sendschai-Karth gewesen waren. Nur Arkoniden hatten sie errichten können. Vermutlich war dieser Bereich die Hauptstadt einer größeren Kolonie gewesen.

»Das Gelenk war locker!«, verteidigte sich Emkhar-Tuur und wirbelte weiteren Staub auf, sodass ein Berrak auf einem Ast über ihr empört aufheulte. »Ich habe ihn kaum berührt!«

»Du hast ihn amputiert!«

Der Berrak flatterte mit seinen vier Schwingen vom Baum. »Kaslar«, kam es misstönend aus seinem Maul, was auf Gorrisch so viel wie »Dummkopf« hieß.

»Was hat das mit der Sache zu tun? Ich werde ...«

»Ruhe!« Hisab-Benkh griff in die breite Utensilientasche an seinem Gürtel und zog einen feinborstigen Pinsel heraus. Er strich sich über die Gesichtsschuppen, um den Sand aus den Ritzen zu entfernen. »Keine von euch geht zuerst. Dafür haben wir Roboter.« Mit oder ohne Arm.

Er züngelte und fragte sich, warum seine beiden Assistentinnen keinen Tag ohne Streit verbringen konnten. Wäre wenigstens Vollmondkonstellation auf Topsid, hätte er es auf eine instinktive Aggressionserhöhung aufgrund der steigenden Paarungsbereitschaft zurückführen können. Aber die beiden waren bei jedem Mond streitlustig. Vielleicht war ihr Ei beim Brüten besonders heiß geworden, immerhin stammten die Zwillinge aus einer Schale und hatten deshalb mehr Wärme produziert als üblich. Wenn es darum ging, wer von beiden sturköpfiger war, standen sie sich in nichts nach.

»Dann gehe ich zuerst nach dem Roboter!«, begehrte Tisla-Lehergh auf. »Du willst nicht wirklich diesen Trampel vorlassen, Hisab. Er würde ...«

»Trampel?«, unterbrach Emkhar-Tuur. »Mach so weiter, und ich fordere dich zum Sikk-Hekurr!«

»Ach ja? Wohl schon länger keinen Schlamm in den Öffnungen gehabt!«

Hisab-Benkh hielt im Bestreichen seines Gesichts inne. Wenn er sich umsah, war seine Mühe ohnehin vergebens: Valkaren war mit Steinstaub gefüllt, wohin das Auge reichte. Früher musste es mehrere der weißen Kalkfelsen gegeben haben, die einen Rand der Kolonie gegen das waldige Umland abgegrenzt hatten, bevor irgendetwas die Felsen zu feinstem Staub zerrieben hatte, der auch nach Jahrtausenden nicht vollständig verweht war.

»Hört endlich auf zu streiten, oder ich nehme keine von euch mit! Es gibt genug andere Angehörige der Expedition, die sich darum reißen, eure Plätze zu bekommen. Und wenn ihr tatsächlich vorhabt, euch wie Schlüpflinge rituell im Schlamm zu prügeln, könnt ihr nach Hause fliegen!«

Manchmal fragte er sich, ob er die Zwillinge nicht besser in der Armee untergebracht hätte. Wenn man von ihrer auffallenden Türkisfärbung absah, die ihre Schuppen ohne Tarnanzug zum Nachteil werden ließen, gab es gute Gründe dafür. Die Schwestern besaßen viele Eigenschaften, die sie zu hervorragenden Soldatinnen gemacht hätten: Sie waren ausdauernd, körperlich in Bestform, kannten kein Selbstmitleid, suchten unerschrocken das Abenteuer und waren bereit, für das Wohl Topsids zu sterben. Wenn er sie gelassen hätte, wären beide in den Dienst des Despoten getreten, allerdings hätte er dann damit leben müssen, sie vielleicht als Leichen im Wassertank zurückkommen zu sehen, und das hätte er nicht ertragen können.

Seine beiden Assistentinnen gingen demonstrativ einen Schritt zurück. Emkhar-Tuur betrachtete die verwitterte Ruinenwand. Ihr Stützschwanz zuckte noch immer. Mehrere Schuppen an ihrer Stirn hatten sich azurblau verfärbt. Tisla-Lehergh dagegen sah über das Trümmerfeld hinweg, dessen höchste Gebäude Turmbauten darstellten, die aus Bruchstücken aufgeschichtet waren. Ein architektonischer Plan war nicht zu erkennen. Höher als zehn Längen war keines der Trümmergebilde. Ein Schwarm Berraks kreiste wie eine braune Wolke um die Spitzen, stieß schrilles, gespenstisches Heulen aus und ließ vereinzelt gorrische Schimpfworte in die Tiefe fallen.

Mehrere Topsider standen in Gruppen an den Türmen, um ihren Grundriss zu untersuchen. Viele der Trümmerhaufen ragten über den historischen Gebäudefundamenten der arkonidischen Kolonie auf, die die Topsider auf Gorr gelockt hatte.

Die archäologische Expedition umfasste insgesamt siebzig Teilnehmer. Die meisten waren Wissenschaftler und arbeiteten so weit wie möglich unabhängig voneinander in ihren jeweiligen Kleinverbänden. Oft bekam Hisab-Benkh sie tagelang lediglich morgens und abends im Lager zum Essen und den Berichterstattungen zu Gesicht. Doch an diesem Tag hielten sich alle in der Nähe von ihm, dem Expeditionsleiter, auf. Der Grund lag auf der Klaue.

Bald ist es so weit. Nach einem Monat des Wartens haben die Maschinen endlich ein Gebäude vollständig freigelegt, das wir betreten können. Und mir steht es zu, als Erster hineinzugehen. Einerseits begeisterte ihn die Vorstellung, der Erste zu sein, andererseits zuckten seine Mägen vor Aufregung. Nervös steckte Hisab-Benkh den Pinsel in die Utensilientasche. Beim Zurückziehen der Hand streiften die Finger beiläufig den Griff der Strahlenwaffe. »Ob es viele Fallen geben wird?«, fragte er in die Stille.

Einen Moment schwiegen alle. Der salzige Geruch nach Meer wehte herüber. Sie konnten das Fauchen des Windes hören. Wie der Atem einer vielmauligen Terr-Bestie zischte der Laut um die gorrischen Türme. Hisab-Benkh schmeckte Salz auf der Zunge und spürte trotz der Aufregung einen Anflug von Hunger. Er rieb sich den Anzug über dem fülligen Bauch. Nach dem Vorstoß würden sie ins Lager zurückkehren und sich einen guten Jall-Sakirr schmecken lassen. Der deftige Insekteneintopf wurde bereits für den Abend vorbereitet. Wenn alles gut ging, würden sie zum Sonnenuntergang im grünen Dämmerlicht Tatliras ein Fest feiern. Wenn alles gut ging. Er schluckte trocken.

»Glaubst du, es gibt Fallen, die speziell auf organische Wesen reagieren?«, fragte Emkhar-Tuur. Ihr Gesicht sah genauso besorgt aus wie Tisla-Leherghs. Die Schuppen glänzten fahl, wie mit Wachs eingerieben, die braungoldenen Sprenkel, die ihre Wangen zierten, traten schärfer hervor als die Schuppenrillen.

»Ich hoffe nicht.« Hisab-Benkh dachte an Fahk-Kerr. Sein Stellvertreter hatte die Vorsicht außer Acht gelassen und war in eine uralte Falle der Arkoniden geraten. Energieblitze hatten ihn eingehüllt und seinen Schutzanzug zerstört. Hisab-Benkh hatte ihn nach Rayold I evakuieren lassen. Im zentralen Hospital der Festung erhielt er die beste Versorgung, die denkbar war, dennoch schwebte Fahk-Kerr nach wie vor in Lebensgefahr.

Die anderen Forscher taten, als wäre nichts Furchtbares vorgefallen, und dachten vermutlich nicht einmal mehr über den Vorfall nach. Der Schwache war selbst schuld an seiner Schwäche. Der Verletzte wurde der Verletzung überlassen. Hisab-Benkh war anders als seine Kollegen. Üblicherweise verbarg er es gut, weil er wusste, dass seine sozialen Neigungen in dieser Welt fehl am Platz waren. Topsider waren eben keine Arkoniden.

Der Roboter vor ihnen hielt in der Arbeit inne. »Anlage analysiert. Öffnung ist möglich und kann vorgenommen werden. Dokumentation wurde aktualisiert.«

»Ja!«, entfuhr es Emkhar-Tuur. »Na los, du Blechkasten! Worauf wartest du?«

Die Maschine drehte sich wieder um und machte sich an die Arbeit. Trotz Emkhar-Tuurs Worte tat sie es mit der ihr einprogrammierten Behutsamkeit. Die Ausgrabungen gingen auch deshalb quälend langsam voran, weil die Wissenschaftler bei ihrer Arbeit so wenig wie möglich zerstören wollten. Erkenntnisse über die Vergangenheit der Arkoniden sowie ihren Untergang auf Gorr gewannen sie vor allem dann, wenn die zu untersuchenden Objekte erhalten blieben.

Die gelbe Sonne Tatlira wanderte höher, es wurde angenehm warm. Die Zwillinge gingen im Zickzack vor der Ruine auf und ab. Regloses Stillstehen war nie ihre Stärke gewesen. Selbst im Schlaf hielten sie keine Ruhe und wälzten sich von einer Seite der Nestmulde auf die andere. Endlich öffnete sich der Zugang vor ihnen, und der Roboter glitt in die Dunkelheit hinter der Öffnung, um nach Abwehrmechanismen zu suchen.

Hisab-Benkh trank bitteren Farrik-Saft, kaute knusprige Terk-Stangen und betrachtete die von weißen Kletterpflanzen überwucherte Ruinenstadt. Die Berraks über ihnen waren zur Ruhe gekommen und hatten sich in Schwärmen auf den wenigen verkrüppelten Bäumen niedergelassen, die zwischen den Trümmertürmen aufragten. Die Türme selbst mieden sie. Sicher lag es daran, dass die Gorrer die für sie sakralen Türme vor der Ankunft der Topsider für heilig erklärt hatten und sie hatten bewachen lassen. Große Leuchtfeuer hatten auf ihnen gebrannt, die Flugwesen fernhielten und für die Gorrer eine mystische Bedeutung besaßen. Sie sollten die Götter zurückholen, die einst nach ihrem Aberglauben in dieser Stadt gelebt hatten, denn die Götter sollten die Welt für sie heilen.

Eine sonderbare Vorstellung, Götter zurückzuholen, um die Welt zu heilen. Hisab-Benkh konnte mit Göttern so wenig anfangen wie mit arkonidischen Märchen. Für ihn zählten Zahlen und Daten, Geschichte und die Rätsel darum, was eine Kultur hatte aufstreben lassen und was sie letztlich zu Fall gebracht hatte. Denn alle gingen sie unter, selbst die mächtigsten Reiche. Das Trümmerfeld um ihn war der beste Beweis dafür. Auch die Topsider würden irgendwann das galaktopolitische Feld räumen müssen. Und wenn diese Schlammköpfe in der Regierung nicht aufpassen, dann vielleicht eher, als uns lieb sein kann.

»Friss deinen Schwanz!«, erklang eine misstönende Stimme ganz in der Nähe. Hisab-Benkh sah erschrocken hoch. Er fühlte sich ertappt, als hätte ein Mitglied aus Regierungskreisen seine lästerlichen Gedanken abgehört. Zum Glück war es kein anderer Topsider. Der Berrak hatte gesprochen, und zwar ungewöhnlich viele Worte für ein Tier seiner Intelligenzstufe. Was sie bedeuteten, wusste das Flugwesen natürlich nicht, aber es hatte verständlich auf Topsidisch geredet!

»Den Satz hat das Vieh von euch«, sagte Hisab-Benkh mit einem bösen Blick zu den Zwillingen. Er mochte die braunen Mistviecher genauso wenig wie Politiker. Sie hinterließen überall ihre stinkenden Auswürfe und verschmutzten die wertvollen historischen Artefakte. Kurz überlegte er, die harte Terk-Stange nach dem Flugsäuger zu werfen, doch dann biss er lieber hinein.

Emkhar-Tuur setzte zu einer Antwort an, kam aber nicht mehr dazu. Der Roboter kehrte zurück. Gespannt warteten sie auf sein Ergebnis.

»Keine aktiven Systeme feststellbar. Statik sicher. Dokumentation vorläufig abgeschlossen. Begehung möglich.«

Tisla-Lehergh wollte Richtung Eingang vorschnellen, doch Hisab-Benkh fasste sie mit einer schnellen Bewegung an der Schulter und hielt die Terk-Stange drohend vor ihr Gesicht. Er überragte seine Assistentin um eine Kopflänge. »Ich gehe vor. Und keine Streitereien mehr! Wer nicht auf mich hört, kehrt zum Lager zurück!«

Hinter ihnen näherten sich weitere Mitglieder der Expedition. Semthar-Terr winkte ihnen zu. »Viel Glück, Hisab! Möget ihr dem Despoten neue Erkenntnisse zum Niedergang der Arkoniden schenken!«

Gerade dem, dachte Hisab-Benkh verächtlich. Laut sagte er: »Wir geben unser Bestes, Semthar.« Mit dem Schwanz machte er eine auffordernde Geste in Richtung der Zwillinge. »Kommt!« Er steckte die Terk-Stange weg, schloss seinen Helm, aktivierte seinen Schutzschirm und schritt voran, in den Schatten hinein. Nach der langen Zeit in der Sonne traf ihn die Kühlung unangenehm. Wenn es etwas gab, was er noch mehr verabscheute als Politiker oder Berraks, war es Kälte.

Sein Herz raste. Er züngelte mehrmals und nahm den Duft der Umgebung durch die Filter des Anzugs auf. Im Inneren lag weniger Steinstaub. Eine süßliche Note mischte sich in den schwach anklingenden Geruch von verschmortem Kunststoff. Irgendetwas hatte die arkonidische Siedlung gründlich zerstört. Vermutlich ein Angriff aus dem Weltraum oder ein Unfall von apokalyptischen Ausmaßen. Die entstandene Hitze hatte selbst Stahl schmelzen lassen.