Cover

Inge Helm

Haste Töne

Edel eBooks

VORWORT

Nein, nein, nein«, wütet Sohn Christoph, Fäuste in die Hüften gestemmt, vierzehn Jahre, angehender Journalist und Filmkritiker.

»Ich will nicht, dass meine Mutter all diese dämlichen Kleinkindergeschichten über uns schreibt. Wie steh ich denn später da?«

Es liegt auf der Hand, mit dem Knaben werde ich noch Ärger haben. Da sind Töchter doch ganz anders. Corinna und Viola hoffen, durch eine schriftstellernde Mutter zu Ruhm und Ehren zu kommen. Kompromissbereit verspreche ich meinem wutentbrannten Sohn: »Du kannst ja alles vorher lesen.« Aber der berühmte Filmkritiker hält mich nur noch eines vernichtenden »Du bist ja keine Mutter, du bist eine Katastrophe« für würdig und knallt die Tür zu, dass die beiden Rauhaardackel unter meinem Schreibtisch erschreckt zusammenfahren.

Seufzend schließe ich also meine Notizen in die unterste der unteren Schubladen meines Schreibtischs, in die hinter der klemmenden Tür.

Vier Jahre später halte ich die Notizen wieder in der Hand.

Es ist in der Zwischenzeit so einiges geschehen: Trennung vom Vater, Umzug mit den Kindern und der Dackelin

Luci in eine Hochhauswohnung, Berufstätigkeit; alles das hat die Kinder sehr selbstständig gemacht. Aber seit kurzem sind wir wieder eine vollständige Familie. Ein junger Berner Sennenhund samt Herrchen stieß zu uns, und wir ziehen wieder einmal um: in eine andere Gegend, in ein großes Haus auf dem Land.

Bei dieser Gelegenheit hobelt mein Sohn, inzwischen achtzehnjährig und beinahe erwachsen, mit viel Begeisterung und wenig Geschick die Schreibtischtür ab. Jetzt geht sie immer von allein auf – und bleibt auch offen.

Da fallen mir meine Notizen ein.

Mit den alten Aufzeichnungen hocke ich mich in einen Sessel, ziehe die Beine an und schwelge in Erinnerungen.

Was waren die Blagen doch damals süß!

Über die Rückenlehne hängend, liest Christoph mit.

»Na«, sagt er in meine Gedanken hinein, »willst du immer noch über uns schreiben?«

Eingedenk der Auseinandersetzung von vor vier Jahren sehe ich ihn zweifelnd an.

»Mach mal, kleine Mami«, klopft er mir zu meiner Überraschung gönnerhaft auf die Schulter. »Ist ja bekannt, dass alte Leute mehr in der Vergangenheit leben als in der Gegenwart.«

Giftig fauche ich ihn an, dass das mit meinem Alter überhaupt nichts zu tun habe. »Ihr wart eben besonders goldig, und ich werde doch darüber schreiben.« Und vorsichtig lege ich die Notizen zuoberst in die schon gepackte Schachtel mit der Aufschrift »Schreibtisch«.

Bei Durchsicht meiner Bücher …

Aufräumen wollte ich, nichts anderes als schlicht ein wenig Ordnung schaffen im Bücherüberfluss, der sich im Laufe der Jahre angesammelt hat. Aber beim ersten Griff ins überquellende Bücherregal halte ich eines der diplom-psychologischen Werke über den richtigen Umgang mit Kindern in der Hand, die ich mir voll guten Willens und Glaubens angeschafft hatte, um psychotherapeutisch geschult an meinen dreifachen Nachwuchs heranzugehen. Und schon ist es passiert: Der harmlose Griff ins Regal hat natürlich eine ganze Sturzflut von Erinnerungen zur Folge. Zwanzig, achtzehn und fünfzehn Jahre alt sind Christoph, Corinna und Viola jetzt – und damit wohl immun gegen erzieherisches Bemühen, das sich aus Büchern herauslesen ließe. Aber damals …

Ja, damals … und ich erinnere mich an eine fünfjährige Corinna, die zerschnitt, was ihr so vor die Schere kam, und die mit bunten Filzstiften sämtliche Wände in unserem Haus verschönte. Weder lautstarke Ermahnungen noch empfindliche Strafen zeitigten irgendeinen sichtbaren Erfolg. Eine Freundin riet mir, meine Tochter tiefenpsychologisch testen zu lassen. Irgendwo musste da bei der Erziehung doch was schief gegangen sein! Das Ergebnis des Tests war niederschmetternd. Corinna sah in mir den bösen Wolf und sich selbst als armes kleines Häschen.

Die Kinderpsychologin machte mich nachdrücklich auf weitere Schäden, die sich auch »anderswo« noch bei dem Häschen verbergen könnten, aufmerksam und forderte mich unmissverständlich auf, meine Erziehungsmethoden zu überdenken. Ich sollte es doch einmal antiautoritär versuchen.

Und so legte ich mir das erste erziehungspsychologische Buch zu, geschrieben von Alexander Sutherland Neill, dem Begründer der berühmten antiautoritären Summerhill-Schule in England; denn wer ist schon gerne Wolf in den Augen seiner Kinder?

Erklärend und nur indirekt verweisend ging man in Summerhills Hallen mit missetäterischen Kindern um, solcherart weder Aggressionen noch Schäden an der zarten, empfindsamen Seele hervorrufend. Als Corinna dann den neuen weißen Kleiderschrank im elterlichen Schlafzimmer bemalte, probierte ich die Summerhill’sche Erziehungsmethode umgehend an ihr aus. Den Wolf unterdrückend, reagierte ich lammfromm und sanft und sagte trauerumflort: »Jetzt bin ich aber traurig. Sehr, sehr traurig.«

Corinna sah mich verdutzt an, ging ins Kinderzimmer, ergriff eine Schere und begann, ihre Bettdecke zu zerschneiden.

Christoph schrie: »Mami, die Corinna macht alles kaputt!«

Aber seine Schwester sagte nur mit Grabesstimme: »Lass die Mami in Ruhe, die ist sehr, sehr traurig.«

Da diese Methode auch noch den weiteren Haken hatte, dass meine empfindsame Seele Schäden »anderswo« davontrug, weil ich ständig meinen gerechten Zorn unter Verschluss halten musste, legte ich den Versuch Summerhill bald wieder ad acta und kaufte weiteres diplom-psychologisches Material. Da die Kinder inzwischen schon etwas älter waren, sollte die viel gepriesene »Familienkonferenz« uns lehren, anhand eines zusammengerufenen Familienrates Probleme und ständige Zänkereien in Ruhe gemeinsam zu besprechen. Jedem einzelnen Familienmitglied wurde ein Wochentag zugeteilt, um Wünsche, Bedürfnisse und Klagen vorzutragen. Der Rest musste bis zur anschließenden allgemeinen Diskussion den Mund halten. Bei uns fand diese »Familienkonferenz« meistens am Abendbrottisch statt, wenn ich total abgeschlafft von der Arbeit heimgekommen war, und hörte sich folgendermaßen an:

Christoph: »Heute bin ich dran, mein Problem vorzutragen.«

Viola: »Kann ich den Rest Pudding haben?«

Ich: »Von mir aus.«

Corinna: »Wieso die schon wieder? Die durfte doch erst neulich das Apfelmus auskratzen!«

Viola brüllend: »Du lüügst!«

Christoph wütend: »Könnt ihr nicht mal endlich die Klappe halten!? Ich habe was Wichtiges zu besprechen!«

Corinna unbeirrt: »Und außerdem kriegt der Christoph immer das größte Stück Fleisch! Und nie wird er eingeteilt fürs Spülen.«

Unterstützung von Viola: »Das stimmt haargenau!«

Christoph klagend: »Ist überhaupt nicht wahr! Wenn hier einer benachteiligt wird, dann bin ich das, Mami! Die Corinna hat zum Geburtstag die Rollerskates bekommen und Vio im letzten Winter die Skier. Und mit dem Hund muss immer ich gehen!«

Ich: »Was ist denn das für eine Logik? Hier geht es ja zu wie in einem Irrenhaus!«

Und zur Oma, die damals unseren ganzen Haushalt zusammenhielt: »Wie hältst du das bloß den ganzen Tag aus?«

Oma gelassen: »Nun ja. Ich trinke jeden Morgen mein Essigwasser gegen nervöse Magenbeschwerden, nehme täglich zwei Esslöffel Lecithin, damit mich nicht aus heiterem Himmel der Schlag trifft, und bekomme so langsam Übung im Umgang mit Verrückten.«

Und wieder zu Christoph: »Was war denn nun eigentlich dein Problem, das wir heute besprechen sollten?«

Christoph verbittert: »Ach, vergiss es.«

Und er verschwindet mit seinem Teller in seinem Zimmer.

Auch die »Familienkonferenz« konnten wir als besonders gelungen abhaken, und nach weiteren ähnlich erfolglosen Versuchen stopfte ich all die schlauen Bücher in die hinterste Reihe meines Bücherregals.

Und dann waren meine drei eines Tages ganz von selber aus den Flegeljahren heraus, und siehe da, zu unserem großen Erstaunen erinnerten sie sich an alle Ermahnungen und Belehrungen, die Oma und ich ihnen hatten angedeihen lassen. Sie hatten sich an unserer langen Leine ausgetobt und sogar zugehört, wenn wir uns den Mund fusselig redeten. Und tatsächlich fast alles mitbekommen, aber halt nicht so schnell einsehen wollen.

Die schlauen Bücher hebe ich vorsichtshalber mal für die Enkel auf. Meine Gedanken aber gehen zurück in die schwierige Zeit, als uns nach der unvermeidbar gewordenen Scheidung der Umzug vom Einfamilienhaus im Grünen in die Hochhauswohnung bevorstand, als ich mein Hausfrauendasein mit einem Fulltime-Job (plus Hausfrauenpflichten) vertauschte und wir vier das Leben als »Teilfamilie« erprobten.

Umzug

Es ist vier Uhr früh, und ich schlafe noch immer nicht. Meine Gedanken halten mich ebenso wach wie die unbequeme Lage auf der Matratze, die auf dem Boden liegt. Die Betten stehen bereits abgebaut unten in der Diele. Als ich endlich doch eindämmere, werde ich durch unterdrücktes Weinen wieder aufgeschreckt. Die neunjährige Viola, die neben mir auf zwei zusammengeschobenen Sesseln liegt, schluchzt heftig in ihre Kissen. Sie will nicht umziehen. Sie will hier bleiben. Hier hat sie alle ihre Freundinnen und ihre Schildkröte, Lieschen die Dritte.

»Wenn du nicht mitziehst«, sage ich, »dann musst du morgen in die Schule gehen. Nur wer umzieht, hat schulfrei.«

»Na gut«, schluckt sie, »aber nur, wenn Lieschen mitdarf.«

»Das haben wir doch lang und breit besprochen«, beschwöre ich sie. »Da, wo wir hinziehen, haben wir nur einen Balkon, und auf dem wächst kein Gras. Das gefällt deinem Lieschen bestimmt nicht.«

»Nein«, schluchzt meine jüngste Tochter nun wieder laut auf, »wenn sie hier bleibt, dann erkennt sie mich nachher nicht mehr.«

Seufzend erhebe ich mich. Und weil ich die anderen nicht auch noch wecken will, nehme ich eine Taschenlampe und taste mich in deren dürftigem Schein die Treppe hinunter. Luci, unsere Dackelhündin, erkennt mich nicht sofort und fährt mir wütend an die Waden.

»Bist du noch zu retten, du dummer Köter«, zische ich aufgebracht. Und während Luci mir, ob ihres Irrtums völlig gebrochen, die nackten Füße leckt, suche ich in den bereits gepackten Kisten nach Stofflieschen mit Knopf im Ohr. Als ich den Seelentröster endlich gefunden habe, schleiche ich leise wieder nach oben, klettere zu Viola auf die Sessel und krieche unter ihre Bettdecke. Ich will mich gerade ausstrecken und ihr den Lieschen-Ersatz in die Arme drücken, da stößt sich meine geschädigte Bandscheibe unsanft an einem raschelnden Riesenstein.

»Himmelarmundzwirn!« Ich ziehe den Stein unter mir hervor und wundere mich überhaupt nicht mehr: Es ist echtes Lieschen in Tragetasche. Geschlagen und sprachlos über so viel Hartnäckigkeit und Einfallsreichtum überlasse ich den beiden die Sessel, verkrümele mich wieder auf meine Matratze und schlafe mit dem Stofftier im Arm endlich ein.

Um sieben reißt mich der Wecker aus unruhigen Träumen und veranlasst Luci, wie eine Irre kläffend, über unsere sämtlichen Bäuche zu springen. Nun sind wir alle wach.

Um acht Uhr fährt der Möbelwagen vor.

»Mann«, sagt die zwölfjährige Corinna enttäuscht, »bloß so ’n kleiner. Und die ganze Siedlung guckt zu!«

»Wir nehmen doch gar nicht viel mit«, gebe ich zu bedenken. »Die großen Möbel werden ja vom Möbelhaus direkt in die neue Wohnung geliefert.«

Das könne ich nicht verstehen, mault Corinna. Ihre Freundin, die Ursula, die hätte einen schicken Riesenwagen mit Anhänger gehabt. Wie stände sie denn jetzt da!

Unsere Sachen sind schnell eingeladen, und die Kinder überstehen den Abschied vom Vater mit tapferem Lächeln. Nächstes Wochenende werden sie ihn bestimmt besuchen. Nächstes Wochenende ist ja bald.

Als wir in unserer neuen Wohnung ankommen, sind die Möbelleute schon da und frühstücken flüssig. Der Kasten Bier, den Christoph und ich gestern noch in die neue Küche geschleppt haben, zeigt bereits große Lücken. Dann werden auch die gekauften Möbel geliefert. Als alle großen Teile stehen, verabschieden sich die Möbelträger nach einem Riesentrinkgeld (die Wohnung liegt im 14. Stock eines Hochhauses!) mit Handschlag, und wir fangen an, die Kisten auszupacken. Zum Abendbrot sind wir beinahe fertig. Sogar ein paar Bilder strahlen schon Wohnlichkeit von den Wänden. Und wir kommen gerade noch zurzeit, um den Anfang des Werbefernsehens nicht zu verpassen.

Anschließend lege ich meine armen Füße auf den Couchtisch. Luci springt zu mir aufs Sofa, rollt sich zusammen und schläft auf der Stelle ein. Sie ist nervlich völlig auf dem Hund und stockheiser. Schließlich musste sie den ganzen Tag unsere Möbel gegen fremde Leute verteidigen.

Als die Kinder dann endlich in ihren frisch bezogenen Betten liegen, schaue ich noch einmal in ihre Zimmer. Die Mädchen haben die Liegen aneinander geschoben. Auf der Besucherritze schläft Lieschen die Dritte. Und in Christophs Zimmer finde ich Luci schnarchend am Fußende der blütenweißen Bettdecke. Na, ab morgen wird das alles wieder anders. Ich habe ja noch acht Tage Urlaub, um uns alle einzugewöhnen.

Ein Hundeleben

Von meinem Schreibtisch aus kann ich durch die geöffnete Balkontür nach draußen sehen. Was ich sehe, gefällt mir überhaupt nicht. Seit Tagen liegt Luci auf dem kalten Beton und nimmt übel, die Schnauze durch den Spalt zwischen Geländer und Boden geschoben, den Blick sehnsüchtig auf die Straße gerichtet. Sie hat gewaltige Schwierigkeiten mit der neuen Umgebung und empfindet den Umzug von Garten auf Balkon ganz eindeutig als sozialen Abstieg. Da unten gibt es so viele neue Gerüche und Fährten – und das alles unerreichbar. Beim täglichen Gassi gehen in den Wald um die Ecke muss sie wegen Tollwutgefahr an die Leine. Rennen, dass die Ohren fliegen, Löcher buddeln, dass es Schimpfe hagelt, Leute ankläffen, die es wagen, am Gartenzaun vorbeizugehen, all das gehört leider herrlicher Vergangenheit an. Außerdem vermisst sie ihre Schwester Gesi, die zu Tante Eva übersiedeln musste, weil zwei Hunde in der Mietwohnung nicht erlaubt sind.