Das Buch

Sina Teufel, die ebenso mutige wie charmante Münchner Anwältin, steht vor ihrer bisher gefährlichsten Herausforderung: Ein junger Pole stirbt, ein verbrecherisches Paar feiert blutige Orgien, ein Mädchen scheint spurlos verschwunden. Wird es Sina Teufel gelingen, das Mädchen, das vermutlich den Schlüssel zu den Ermittlungen darstellt, ausfindig zu machen?

Where everything is bad
it must be good
to know the worst

F. H. Brandley

Eins

Raschelndes Laub, gelb und rot verfärbt. Eine aufsässige Septembersonne. Ein Wagen, der im Schrittempo fährt. Und das Keuchen.

Das Mädchen trägt nichts als ein zerrissenes Hemdhöschen, champagnerfarben, nicht mehr ganz sauber. Ihre Nägel sind abgebrochen, die hellen Augen angstgeweitet. Sie rennt, so schnell sie kann.

Der Fahrer des schweren Geländewagens hinter ihr gibt Gas. Und stoppt. Gibt wieder Gas. Bremst abermals scharf, nur ein paar Zentimeter hinter ihren Fersen. Hält einen Moment inne, wird schneller, dann langsamer, und wieder schneller. Die beiden großen Hunde auf dem Rücksitz knurren.

»Na, kleine Nutte, jetzt bist du endgültig fällig! Verlaß dich drauf!«

Er hat das Fenster runtergekurbelt. Seine Stimme klingt rauh.

Ihre Beine tun weh, die nackten Füße sind zerschunden. Im Laufen dreht sie sich halb um und wird sofort langsamer. Verzweifelt versucht sie, die verlorene Geschwindigkeit wieder aufzuholen. Eine verspiegelte Sonnenbrille verbirgt seine Augen. Sie weiß trotzdem, wie er sie ansieht. Sie hat ausreichend Gelegenheit gehabt, sich an diesen Ausdruck zu gewöhnen. Wie eine Beute. Reif zum Fressen. Zur endgültigen Vernichtung.

Einen winzigen Augenblick zu spät schaut sie wieder nach vorn. Ein dorniger Busch rankt in den Weg. Sie strauchelt, reißt sich dabei die dünne Haut über dem rechten Schienbein auf, fängt sich aber noch im letzten Moment.

Jetzt kann es nicht mehr weit bis zum See sein. Immer wieder schaut sie gehetzt nach rechts und links. Später Nachmittag. Und trotzdem weit und breit kein Mensch unterwegs.

Ob er die Hunde auf sie losläßt?

Das Licht scheint plötzlich blasser, schwächer. Ob nun er oder die beiden Köter – für sie gibt es kein Entrinnen. Auf einmal ist sie sich ganz sicher.

»Pālīga!« schreit sie voller Todesangst. »Hilfe! Pālīga!«

Der Motor jault auf.

Sie ist gestürzt, liegt mitten auf dem Weg, ein helles Bündel Fleisch. Wehrlos. Schwitzend. So gut wie nackt.

Er gibt erneut Gas, endgültig Gas. Fährt vorwärts. Rückwärts. Dann zum letztenmal vorwärts.

Ohne Zögern begräbt er sie unter den Reifen.

Am U-Bahnhof Krumme Lanke stellt er den frischgewaschenen Wagen ab. Inzwischen ist es beinahe dunkel, und der kleine Kiosk hat schon geschlossen. Er nimmt einen Schluck aus seiner Coladose und spuckt das lauwarme Zeug angeekelt sofort wieder aus.

»Max!« sagt er scharf. »Bubi! Platz!«

Die beiden Doggen gehorchen sofort. Speichel tropft aus ihrem Maul. Ohren und Schwanz sind kupiert.

Die alte Dame mit dem weißen Spitz neben ihm auf dem Bahnsteig schüttelt den Kopf und macht ein paar indignierte Schrittchen zur Seite.

Seine Hände sind ganz ruhig. Das Dröhnen in seinem Schädel ist endlich leiser geworden. Langsam nimmt er die Brille ab. Es ist noch geiler gewesen, es wieder zu tun, und es wird vermutlich jedesmal besser werden. Ein drittes Mal, immer wieder, sooft es ihn überkommt Plötzlich hat er Lust, brüllend loszulachen.

Er ist King, Herr über Lust und Tod. Beinahe so gut wie Gott. Oder Satan höchstpersönlich.

Niemand kann ihm etwas anhaben, niemand!

Die kleine Hure wird ohnehin keiner so schnell vermissen. Kein Hahn kräht nach solchen Schlampen von nirgendwoher, das hat er inzwischen gemerkt. Und er hat dazugelernt, ist ganz besonders umsichtig vorgegangen. Ein bombenfestes Alibi, keine Zeugen, alle Spuren am Wagen beseitigt. Außerdem hat er den beigen Range Rover vorsichtshalber erst heute mittag in Reinickendorf geklaut.

Zwei

Der Sommer war nur noch eine blasse Erinnerung, die letzten verschwenderisch warmen Tage endgültig vorüber. Biergärten hatten zu, und nirgendwo waren die Gehsteige mehr von einladenden Tischchen und Stühlen blockiert. Selbst die weißen Zeltlinge, im Frühjahr allerorts wie Pilze aus dem Boden geschossen, waren winterfest eingemottet. Maroniverkäufer bauten ihre Stände in der Fußgängerzone auf; in den Gärten, Parks und Anlagen leuchteten bunte Baumkronen. Der Hauch herbstlicher Vergänglichkeit stand München gut, fast besser als sein protziges sommerliches Gepränge, das beinahe italienisch anmutete – aber eben doch nur beinahe.

Die Morgen begannen nun dunkel und feucht, und die Stadt erwachte fröstelnd. Im ersten Zwielicht waren nur wenige Autos unterwegs; noch gehörten die Grünstreifen Scharen frech tschilpender Spatzen. Anhaltendes Nieseln, das seit dem letzten Wochenende allen gründlich die Laune verdarb, hatte die Blätterhaufen am Straßenrand unansehnlich gemacht; die Fahrbahnen verschmierte ein fieser Belag aus Schmutz und Nässe, der viele ins Rutschen brachte.

Der schwerbeladene Kleinlastwagen, der von der Autobahn Nürnberg kam und sich vor der Tivolibrücke zum Linksabbiegen in Richtung Herkomerplatz anschickte, war eine Spur zu schnell. Ein ausländisches Modell, undefinierbar graugrün, das seine besten Tage schon eine ganze Weile hinter sich hatte. Mehr Rost als Lack. Polnisches Kennzeichen. Hinten ragte ein Satz Holztüren aus der provisorisch festgezurrten Plane hervor.

In der Kurve bremste der Fahrer ab. Die alten Stoßdämpfer ächzten. In diesem Augenblick schoß von gegenüber ein weißer Alfa über die Kreuzung, trotz roter Ampel in seiner Richtung. Er zog scharf nach links, wollte noch vor dem Lastwagen abbiegen und schlingerte.

Schwerfällig suchte der Lkw auszuweichen. Dennoch schrammte er den hinteren Kotflügel des Alfa.

Der Laster brach aus.

Kam ins Schleudern.

Knallte gegen ein halbhohes Geländer am Straßenrand. Kippte seitlich in den Graben.

Ein paar dumpfe Schläge, das Krachen von Holz. Splitterndes Glas. Ein dünner Schmerzensschrei.

Stille.

Nur kurz leuchteten die Bremslichter des Alfa auf, dann brauste er mit quietschenden Reifen in Richtung Innenstadt weiter.

Der grauhaarige Mann, der gerade aus dem frischrenovierten Eckhaus kam, warf den Schlüsselbund in seinen halbleeren Zeitungswagen und rannte kurzatmig los. Der Lkw lag auf der Fahrertür, und die Beifahrertür ließ sich, obwohl der Mann heftig zerrte, nicht öffnen. Sebastian Bauer, seit mehr als dreißig Jahren jeden Morgen mit rund zweihundert druckfrischen Exemplaren der »Süddeutschen Zeitung« unterwegs, keuchte und rang nach Luft. Er schwitzte dunkle Halbmonde unter den Achseln der zu engen Jacke und wünschte sich wieder einmal, alles wäre noch wie früher. Aber seit seinem Schlaganfall vor zwei Jahren waren schnelles Laufen, hastiges Treppensteigen und jede Art körperlicher Anstrengung reines Gift für ihn.

»Himmelherrgottsakra! Geh doch auf, du damisches Mistding, du!« Es klang, als hätte er Kieselsteine im Mund. »Ganz ruhig, keine Aufregung! Ich hab’ Sie sicher da gleich rausgeholt!«

Schließlich mußte er aufgeben. Sein Herz klopfte wie verrückt, seine Hände zitterten. Er machte ein paar tiefe Atemzüge und bückte sich abermals. Die Windschutzscheibe war zerbrochen und voller Blutspritzer. Unmöglich, drinnen etwas zu erkennen!

»Hören Sie mich?« Schwerfällig richtete er sich wieder auf. »Sind Sie verletzt? Um Gottes willen, sagen Sie etwas! Sie müssen mich doch hören!«

Alles blieb ruhig.

Bauer wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er mußte dringend Hilfe holen. Aber konnte er den Unfallwagen überhaupt allein lassen? Er kannte das Revier wie seine Hosentasche. Eine Telefonzelle, nur ein paar Schritte entfernt, war seit längerem wegen Vandalismus geschlossen; die nächste stand erst am Eingang zum Englischen Garten.

Ein roter Porsche wurde langsamer und hielt schließlich neben ihm an.

»Was ist passiert?« rief ihm eine junge Frau zu, auffällig zurechtgemacht mit viel Rouge auf den Wangenknochen, falschen Wimpern und toupierter, weißblonder Mähne. Sie war die einzige, die sich um den umgestürzten Laster kümmerte. Kein anderer Fahrer hatte Anstalten gemacht, auch nur zu bremsen. »Sieht ja böse aus! Gibt es Verletzte?«

»Keine Ahnung, wie viele. Ich krieg’ nämlich die blöde Tür nicht auf. Und die da drinnen verbluten uns womöglich!«

»Ich alarmiere mit meinem Handy den Notarzt. Ist von hier aus ja nur ein Katzensprung zum Bogenhausener Krankenhaus.«

»Der weiße Alfa ist einfach abgehauen, dabei war er einwandfrei schuld, der Sauhund! Ich hab’s genau gesehen, wie er bei Rot rübergebrettert ist, ohne zu schauen. So eine feige Unfallflucht!«

»Haben Sie das Kennzeichen notiert?« fragte die Frau, nachdem sie telefoniert hatte, und stieg aus, ohne sich um den feinen Sprühregen zu kümmern. Ihr heller Swinger blähte sich im Wind und enthüllte einen knappen Tigermini. Sie trug keine Strümpfe, obwohl es empfindlich kühl war, dafür aber schenkelhohe Schaftstiefel aus schwarzem Lackleder. Mit ihren Highheels überragte sie den stämmigen Mann um gute fünfzehn Zentimeter.

Er starrte sie von oben bis unten an wie eine Erscheinung. Nicht schwierig zu erraten, was in seinem Kopf vor sich ging.

»Dann haben die Bullen ihn ziemlich schnell am Wickel«, fuhr sie fort. »Schätze, die sind ohnehin gleich hier.«

In der Ferne hörte man das Martinshorn.

»Na, wer sagt’s denn – dein Freund und Helfer!« Ihre Stimme klang rauh, wie von exzessivem Reden und zu vielen Zigaretten. Sie ignorierte sein Starren, zog ein Päckchen Zigaretten aus der Manteltasche und zündete sich eine an.

»Sie auch?«

»Um Gottes willen, nein! Schon seit zwanzig Jahren nicht mehr!« Zumindest die Sprache schien er wiedergefunden zu haben. Er warf sich leicht in Positur. »Das Kennzeichen? Notiert nicht in der Hektik, aber natürlich gemerkt! M – ML 34 …« Er hielt inne, schlug sich gegen die Stirn. »Warten Sie, nur ein Momentchen! Gerade war es noch da.« Fassungsloses Kopfschütteln. »Eine Schnapszahl. Etwas, das man auf Anhieb behält. Aber jetzt ist alles wie weggeblasen! Das gibt’s doch nicht!«

»Fällt Ihnen schon wieder ein, keine Bange!«

Die Frau warf die Zigarette weg und öffnete ihre Wagentür. Als sie saß, rutschte der Rock noch weiter nach oben. Ihre Schenkel waren schlank und sanft gebräunt.

Sein Blick bekam erneut etwas Stieres.

Sie lächelte leicht. Auf einmal sah sie sehr müde aus.

»Ich mach’ mich jetzt lieber mal ganz schnell auf die Socken. Dann können Sie sich schlagartig besser konzentrieren. Wetten?«

Der Krankenwagen war schon auf der Tivolibrücke. Aus dem abgestellten Streifenwagen gegenüber stiegen zwei jüngere Beamte.

»Aber das geht doch nicht!« protestierte er matt. »Wollen Sie denn nicht wenigstens warten, bis die Polizei mit uns beiden gesprochen …«

»Will ich nicht«, sagte sie nachdrücklich, »schließlich sind Sie der Zeuge. Und ich hab’ ja nichts gesehen.« Sie ließ den Motor an und gab Gas. »Nicht ganz mein Fall, Sie verstehen?«

Drei

Es war albern, schlicht und einfach lächerlich. Und natürlich verlor sie tunlichst kein Wort darüber. Niemandem gegenüber. Aber die Sache mit der Lesebrille ging ihr ganz unerwartet an die Substanz. Verdrießlich starrte Dr. Sina V. Teufel in den Spiegel. Lust überkam sie, sich selbst die Zunge rauszustrecken oder, besser noch, aufzuspringen und auf der Stelle rauszulaufen. Blaß, überarbeitet und wieder mal viel zu schmal sah sie aus, obwohl sie längst nicht mehr die strenge Bananenrolle trug, sondern sich inzwischen die dunklen Locken auf schmeichelhafte Kinnlänge hatte kürzen lassen. Aber was nützte das angesichts eines affig geschwungenen, zitronengelben Gestells, das ihre Augen verkleinerte, die Nase dagegen unverhältnismäßig lang erscheinen ließ?

»Zauberhaft,« flötete die Verkäuferin, »ein individueller, ganz und gar außergewöhnlicher Stil!«

»Ich weiß nicht so recht«, murmelte Sina unwillig, »vielleicht ist es einfach doch noch zu früh.« Links und rechts von ihr lagen bereits ausgemusterte Modelle – reihenweise! Beinahe eine Stunde saß sie hier schon ergebnislos herum. Wären da nicht die lästigen Kopfschmerzen gewesen, die sie seit ein paar Wochen bei jeder längeren Lektüre unweigerlich malträtierten, sie hätte diesen krampfhaft auf cool getrimmten Optikertempel längst verlassen. Allein die Vorstellung, im nächsten Geschäft noch einmal ganz von vorn anfangen zu müssen, hielt sie schließlich doch bei der Stange. Selbst wenn es anderswo vermutlich entschieden preiswerter war. »Ich bin eben der geborene Anti-Brillentyp!«

»Unsinn!« Ungerührt schleppte die rothaarige Verkäuferin schon die nächste Partie an. »Es gibt für jedes Gesicht das ideale Modell, man muß nur ein bißchen Geduld mitbringen. Ich denke, ja, warten Sie, das ist es vermutlich! Bei Ihnen könnte die klassische Linie wahre Wunder bewirken.«

Das Resultat war niederschmetternd, wie Sina fand.

»Jetzt noch Faltenrock, Perlenkette und Pferdetuch, und ich kann auf der Stelle am Juristischen Lehrstuhl unterkommen!« Sie zog eine Grimasse.

»Und was sagen Sie hierzu?« Inzwischen leicht gereizt, rückte die Verkäuferin ein rötliches, dezent getigertes Gestell auf Sinas Nasenrücken zurecht.

»Wow!« Das kam von ihrem glatzköpfigen Jungkollegen, der gekonnt vergoldete Herbstblätter in die Auslage rieseln ließ. »Wie für Sie gemacht!«

Er lag nicht ganz daneben. Eine raffinierte Mischung aus Suffragette, steilem Zahn und leicht verruchtem Fräulein vom Amt, dachte Sina und lächelte.

»Und der Preis?«

»Siebenhundertzwanzig«, kam es wie aus der Pistole geschossen, »geradezu geschenkt für so ein Top-Designermodell!« Ein klingender italienischer Name folgte, den Sina noch nie gehört hatte. »Dazu noch die ultraleichten, entspiegelten Kunststoffgläser, unsichtbar, aber garantiert augenfreundlich getönt, zu denen ich Ihnen nur raten kann, dann liegen Sie bei …« Die Rechenmaschine ratterte. Sollte sie wirklich doch noch im letzten Augenblick die Flucht wagen? » … elfhundertdreißig. Gar nicht so schlimm, oder? Und als Extraservice alles schon am Dienstag nachmittag abholbereit, verehrte, gnädige Frau.«

Das saß, tiefer noch als die beginnende Altersweitsichtigkeit, die ihr langjähriger Freund Carlo van Rees so herzlos kommentiert hatte, und nagelte sie endgültig fest.

»Du nun auch? Na, wurde aber langsam Zeit! Willkommen im Club der Nahblinden, meine Schöne! Wirst sehen, jetzt geht es erst richtig los!«

Leicht benommen verließ Sina den Laden. Sie brauchte nicht auf die Uhr zu schauen, um zu wissen, daß sie wieder einmal zu spät dran war. Das war ebenfalls eine Neuerung in ihrem Leben, die sie trotz aller Bemühungen nicht mehr loswurde. Hart gearbeitet hatte sie immer, seitdem sie vor acht Jahren mit ihrer Sozia, der Steuerfachanwältin Hanne Bromberger, eine eigene Kanzlei am Maximiliansplatz eröffnet hatte, aber trotzdem war sie bis auf wenige Ausnahmen stets Meisterin ihrer Zeit geblieben.

Und jetzt hatte die Zeit sie am Wickel.

Es begann schon morgens, fast unmerklich, setzte sich über den Vormittag fort, und wenn der Tag sich neigte, hinkte sie in der Regel ihrer Planung etliche Stunden hinterher, fühlte sich abgekämpft und unzufrieden. Sie wußte, daß es wenig sinnvoll war, in diesem Zustand weiterzumachen, und dennoch tat sie es meistens, alsbald frustriert über Ergebnisse, die ihren Ansprüchen nicht genügten und natürlich eine neuerliche Beschäftigung mit dem jeweiligen Fall erforderlich machten. Was den leidigen Kreislauf prima am Laufen hielt …

Unerwartet schwierig, mit Bekannten oder Freunden darüber zu sprechen. Die meisten verstanden offenbar nicht einmal, was sie überhaupt meinte, und andere, die das Phänomen aus eigener Erfahrung eigentlich kennen mußten, schienen nicht bereit, sich ernsthaft damit auseinanderzusetzen. Wovor lief sie eigentlich seit Jahren mit allen möglichen Tricks und Ausreden davon? Das hatte Willem sie beim Abschied auch gefragt. Ungewohnt ernst übrigens.

Sina war wirklich nicht in der Stimmung, um ausgerechnet jetzt darüber nachzudenken. In einem jähen Anflug von Trotz ließ sie ihren perfekt vorschriftswidrig geparkten Wagen links liegen und betrat statt dessen das »Roxy«. Erst kurz vor elf, aber alles schon ordentlich verraucht und so gut wie jeder Platz besetzt – es mußte in dieser Stadt massenweise Menschen geben, die Zeit in verschwenderischem Ausmaß zur Verfügung hatten. Wann hatte sie eigentlich zum letztenmal vormittags entspannt in einem Café gesessen?

Im Frühsommer, als Willem sie für ein paar herrlich verrückte Tage und Nächte besucht hatte.

Schon wieder Willem! Leise Wehmut überkam sie, während sie einen Platz an der Bar ergatterte und wie immer latte macchiato, ihr Lieblingsgetränk, bestellte. Seit Monaten schon war der flämische Engel, wie sie Carlos ebenso charmanten wie flatterhaften Neffen bei ihrer ersten Begegnung insgeheim getauft hatte, wieder mit seinen Kameras unterwegs. Ein paar launige Kartengrüße von Fidschi-Archipelen, auf denen er bei seinem Welttrip inzwischen angekommen war, zwei kurze Telefonate, das war seitdem alles. Sein Lachen fehlte ihr, seine unbeschwerten Zärtlichkeiten, der Humor, mit dem er auch die heikelsten Situationen entschärfte. Natürlich war er nicht der Mann fürs Leben, aber gab es den für sie überhaupt, wo es nicht einmal mit Redford, ihrer großen Liebe, auf Dauer geklappt hatte?

Es hatte ihr jedenfalls gut getan, ab und an mit diesem Willem van Rees zusammen zu sein, hatte sie gelöster, unbeschwert, manchmal fast schon übermütig gemacht. Klar, daß geflügelte Kerle wie er immer auf Achse waren und selbst bei größter Verliebtheit nur Zwischenstops einlegten! Aber wieso hatte sie ihn zusätzlich auch noch fortschicken müssen?

Ihr Handy begann durchdringend zu piepen. Eine Pest, aber inzwischen unentbehrlich.

»Na, endlich wieder Durchblick?« Hanne Bromberger ließ keine Gelegenheit aus, auf Sinas neuentdeckte Sehschwäche anzuspielen. Die beste Chance seit langem, die fünf Jahre zu kompensieren, die sie ihrer Sozia voraushatte. »Sag mal, es ist so höllisch laut bei dir im Hintergrund! Wo steckst du denn um Himmels willen?«

»Ich trinke gerade genüßlich Kaffee. Und weißt du, was? Ich habe allergrößte Lust, die Kanzlei heute einfach Kanzlei sein zu lassen.«

»Tja, scheint mir nicht gerade der ideale Tag zum Schwänzen! Frau Leuthaus hat gerade angerufen. Vollkommen aufgelöst. Sieht aus, als hätten deine Megaron-Mädels das, was man ein Problem nennt.«

Eine Empfangshalle mit Pflanzen, Cafeteria und geräumigem Shop, helle Flure, die Türen in frischem Lindgrün gestrichen – der bitterscharfe Krankenhausgeruch jedoch, der über allem lag, machte all die Anstrengungen, so etwas wie entspannte Atmosphäre zu verbreiten, schon im Ansatz wieder zunichte. Sina schob die Schulterblätter zurück, hob das Kinn und beschleunigte ihren Schritt. Als sie vor einer Tür der chirurgischen Station einem Bündel zerschnittener, blutverkrusteter Männerkleidung ausweichen mußte, beschleunigte sich ihr Puls unwillkürlich.

»Da sind Sie ja!« Rita Leuthaus, klein, blond und drahtig, wie immer von Kopf bis Fuß modisch tipptopp, lief ihr ein paar Schritte entgegen. »Toll, daß Sie so schnell gekommen sind! Obwohl ich … eigentlich …«

»Wie geht es dem Patienten? Ist er inzwischen über den Berg?«

»Jerzy hat noch einmal Riesenglück im Unglück gehabt. Wenngleich auch seine ganze Ladung total im Eimer ist – Türen, Fenster, einfach alles, was er bei sich zu Hause in Legnica für uns hat anfertigen lassen.« Zusammen mit zwei Kolleginnen betrieb Rita Leuthaus das Architekturbüro Megaron, das sich vor allem im Bereich kreativ-anspruchsvoller Altbausanierung über München hinaus einen Namen gemacht hatte. »Er hat Rippenbrüche, aufgeschürfte Knie, Schnittwunden im Gesicht und eine saftige Gehirnerschütterung – schlimm, aber nichts wirklich Dramatisches, wie der nette Chirurg mir eben versichert hat. Gute Güte, er hätte ebensogut tot sein können!«

»Dann können wir alle notwendigen Details ja gleich von ihm selber erfahren. Liegt er hier?«

Sina ging zielstrebig auf die nächste Tür zu, aber die Architektin hielt sie gerade noch zurück.

»Jetzt? Keine Chance! Er steht noch total unter Schock. Wir müssen abwarten, bis er sich einigermaßen erholt hat. Stellen Sie sich vor, der andere hat Fahrerflucht begangen und ihn einfach mit all seinen Verletzungen liegenlassen! Aber es gibt einen Augenzeugen, einen netten älteren Herr, der sich zumindest einen Teil des Kennzeichens gemerkt hat. Und der wird sicherlich auch bezeugen, daß Jerzy Kròl vollkommen unschuldig ist.« Sie wichen dem Medikamentenwagen aus, den eine Schwester energisch vor sich herschob. »Es ist mir ausgesprochen peinlich, Sie jetzt ganz umsonst hergescheucht zu haben«, sprudelte sie weiter. »Und das bei Ihrem Zeitdruck. Tut mir ehrlich leid! Ich muß wohl am Telefon fürchterlich aufgeregt gewesen sein. Aber die Polizei hatte auch etwas von schweren Kopfverletzungen gesagt. Und die Feuerwehr mußte ihn aus dem Laster herausschweißen. Da hat mich Frau Malorny gleich zu Frau Bromberger durchgestellt … die dann so freundlich war …«

»Halb so schlimm.« Sina unterdrückte ihren Unmut.

»Kann schon mal passieren.« Daß ihre tüchtige, wenngleich launische Bürovorsteherin einen ausgeprägten Sinn für Dramen aller Art kultivierte, war allgemein bekannt. Sauer war sie nur auf Hanne, die sie ganz unnötigerweise aus ihrer Träumerei aufgeschreckt hatte. Eigentlich sonst nicht ihre Art. Aber irgend etwas stimmte nicht mit ihr, eine ganze Weile schon, und Sina ahnte leider nur zu gut, was es war.

»Ich fahre gleich in die Kanzlei zurück. Kommen Sie mit und erzählen Sie mir unterwegs alles, was Sie über Jerzy Kròl und seinen Unfall wissen?«

Der Kinderwagen in der Diele weckte bereits ihren Argwohn. Ein kurzer Blick in die Teeküche, und das verwaiste Babygläschen im blubbernden Wasserbad bestätigte ihre Vermutungen. Daß sie beim Weitergehen keine Menschenseele im Sekretariat vorfand, erschien dann schon beinahe zwangsläufig. Das empörte Brüllen allerdings, das aus Hannes Büro schallte, war an der Grenze zur Unerträglichkeit. Aber Sina war nicht nach Streiten zumute, nicht schon wieder, nachdem sie erst vor zwei Tagen wegen sinnloser Schusseleien in der Aktenablage förmlich explodiert war.

Sie zwang sich zur Konzentration, was ihr heute schwerer als sonst fiel. Verkehrsdelikte gehörten wahrlich nicht zu ihren bevorzugten Rechtsgebieten, aber bei speziellen Mandanten waren Ausnahmen schon mal drin. Logischerweise mußte, um die Frage der Schadenshaftung zu klären, der Halter des Alfa erst einmal ermittelt sein. Das hatten die Beamten der Verkehrspolizeiinspektion, kurz VPI, in der Zwischenzeit dank der Zeugenaussage bestimmt erledigt.

Sie suchte in ihrem Rolodex nach der entsprechenden Nummer und wählte. Zum Glück mußte sie nicht einmal nachdrücklich werden, wie sie es bei anderen Fällen schon erlebt hatte. Der zuständige Sachbearbeiter gab bereitwillig Auskunft. Sie hatte richtig vermutet, Name und Adresse waren bereits amtlich bekannt.

»Siegfried Tauber«, notierte Sina, »Kaiserstraße 11. Herzlichen Dank!«

Falls der Wagen inzwischen gefunden worden war, hatte die Polizei ihn auch sichergestellt. Etwaige Äußerungen Taubers zum Unfall würde sie später dem Vernehmungsprotokoll entnehmen können. Zu diesem Zweck diktierte sie den Antrag auf Akteneinsicht bei der Staatsanwaltschaft. Nun fehlte nur noch Kròls Prozeßvollmacht, die sie sich baldigst beschaffen und dann nachreichen mußte. Nach diesem Routinekram ließ sie das Band ein Stück zurücklaufen, um in ihr Gespräch mit der Architektin hineinzuhören. Rita Leuthaus hatte sich ausgiebig über die Form ihrer Zusammenarbeit mit Kròl geäußert.

»… klar gibt es immer wieder mal Ärger mit den hiesigen Behörden, Papiere, Aufenthaltsgenehmigungen, der ganze Quatsch eben. Aber diese Polen sind prima Arbeiter, in der Regel Gelernte, fleißig, zuverlässig, die sich alle Hacken ablaufen, um es hier im Westen zu schaffen. Drei Monate Arbeit hier bedeuten für sie ungefähr soviel Geld wie ein ganzes Jahr jenseits der Grenze. Außerdem hat Jerzy, unser Kapo, einen deutschen Paß und ein Gewerbe angemeldet. Er macht das also ganz hochoffiziell …«

»Und erfreulicherweise sehr viel billiger als eine deutsche Kraft.« Es gab eine Menge Dinge, die Sina einleuchteten, die sie aber trotzdem weder für moralisch noch für richtig hielt.

»Machen wir vielleicht die Preise? Ein deutscher Bauarbeiter kostet mit Lohnnebenkosten im Schnitt über sechzig Mark in der Stunde. Das heißt im Klartext, für jeden Deutschen müssen zwei Ausländer eingestellt werden, um den Mittellohn ungefähr zu halten. Das weiß jedes Kind in der Branche …«

»Und was ist mit den geplanten gesetzlichen Verordnungen, die sich gegen Billiglöhne am Bau richten sollen?«

»Sicherung des Standorts Deutschland – daß ich nicht lache! Wissen Sie, was dann passiert, Frau Teufel? Dafür braucht man wahrlich kein Hellseher zu sein. Weitere Preissteigerungen. Und noch mehr Firmenpleiten.«

Das Geschrei nebenan erreichte Schiffsirenenqualität. Genervt riß Sina die Verbindungstür zwischen den beiden Büros auf.

»Geht es wirklich nicht noch ein bißchen lauter?«

Die unförmige Skulptur menschlicher Gliedmaßen zerfiel in ihre Einzelteile. Im Zentrum blieb Tilly Malorny zurück, die das Baby wie eine Trophäe wiegte. Links von ihr hörte Marina König damit auf, beruhigende Schnalzlaute von sich zu geben, rechts streichelte der zaundürre Azubi Thilo Grimm, der seine blonde Rastamähne zu einem noch sehr kindlichen Pickelgesicht trug, unverdrossen die wild strampelnden Beinchen weiter. Hanne hatte sich bereits in Sicherheit gebracht. Aber ihre helle Seidenbluse war fleckig, das schmale Gesicht gerötet wie nach einem Kampf.

»Anke ist nur ganz kurz runtergegangen«, flöteten Tilly und Marina unisono. »Windeln holen. Sie war kaum aus der Tür, da ging das Gekreische schon los.«

»Und da habt ihr den gesamten Kanzleibetrieb gleich mal eingestellt?«

Emma brüllte, was das Zeug hielt.

»Du hast gut reden!« schnappte Hanne. Ihre Fuchsaugen glühten gefährlich. »Wer soll denn bei dieser Lautstärke noch einen klaren Gedanken fassen?«

»Und wenn sie uns erstickt wäre? Kann nämlich ganz schnell gehen!« Tillys Stimme und Miene hätten vorwurfsvoller kaum sein können. Sie streckte Sina das mittlerweile wimmernde, rotgesichtige Bündel entgegen.

»Wenn Sie in der Zwischenzeit lieber selbst Hand anlegen wollen …«

Glücklicherweise tauchte in diesem Moment Anke auf und enthob Sina einer Antwort. Die junge Frau legte sich beherzt das Kind über die Schulter und verzog sich zum Stillen und Wickeln nach nebenan, in das kleine Referendarzimmer, das zur Zeit leerstand. Prompt erstarb Emmas Weinen, und der Rest der Belegschaft kehrte endlich wieder an die Schreibtische zurück.

Sina vertiefte sich stirnrunzelnd in ihren Terminkalender. Niemals war das zu schaffen, was sie sich für heute vorgenommen hatte, selbst, wenn sie bis zum späten Abend dranblieb. Was nur machte sie verkehrt? Konnte sie diesen Freitag schon wieder abhaken und das Wochenende notgedrungen zur Sonderschicht umfunktionieren?

»Tut mir unheimlich leid wegen eben!« Wie eine Indiofrau, die schlafende Kleine im Tragetuch, stand Anke auf einmal vor Sinas Schreibtisch. »Echt! Ich weiß, daß du Hunde und Babygeschrei in der Kanzlei auf den Tod nicht abkannst. Aber ich bin unterwegs aufgehalten worden.«

Die Stimme paßte nicht ganz zur selbstbewußten Haltung, klang kratzig und klein. Seitdem ihre Mutter im letzten Jahr gestorben war, hatte Anke Frey beinahe über Nacht erwachsen werden müssen. Nicht nur sie litt noch immer unter dem Verlust. Auch Sina hatte den Freitod ihrer besten Freundin bis heute nicht verarbeitet.

Seitdem Friederike sich umgebracht hatte, schien auch ein Stück von Sina selbst zu fehlen. Es gab keine Sackgasse, zu der die Freundin nichts Tröstliches zu sagen gewußt, kein Tief, in dem sie Sina nicht an ihr eigentliches Potential erinnert hätte. Dies alles offen, ohne den Hauch von Boshaftigkeit. Bei aller Andersartigkeit, all ihren Launen, Kapriolen und nachtschwarzen Abgründen, in die der Alkohol Friederike immer wieder getrieben hatte, war sie Sina sehr nah gewesen, viel näher, als es die verläßliche, vernünftige Hanne je sein könnte: ihre Frieda eben, wie sie sie manchmal scherzhaft genannt hatte, warmherzig und intelligent, mit trockenem Humor begabt und einer lebendigen, vibrierenden Ausstrahlung an guten Tagen, der sich so leicht niemand entziehen konnte.

Manchmal war Sina beinahe neidisch gewesen auf diesen Mut, sich ohne Vorbehalte dem Leben ganz und gar auszuliefern. Bei oft nicht gerade idealen Bedingungen. Als alleinerziehende Mutter mit einer schwierigen kleinen Tochter, die auf einmal ständig krank war, stotterte und wieder ins Bett machte, weil sie partout nicht wahrhaben wollte, daß Papa scheinbar für immer aus ihrer beider Leben verschwunden war, hatte sie oft zu kämpfen gehabt – und irgendwann, als es aussah, als sei das Schlimmste nun endlich geschafft, scheinbar plötzlich aufgegeben.

Warum? Wieder eine dieser Fragen, auf die es trotz allem Grübeln keine schlüssige Antwort gab. Noch heute träumte Sina manchmal so lebhaft von Friederike, sah ihr rundes Gesicht mit dem dichten, schwarzen Haar und den unglaublich gewitterblauen Augen vor sich, in denen sich Lachen und Schmerz auf verblüffende Weise mischten, daß sie sich am nächsten Morgen fast zwingen mußte, nicht ganz automatisch zum Hörer zu greifen, wie tausendmal zuvor, und die Freundin anzurufen.

Sie wußte, daß es sinnlos war, nicht ungefährlich für ihr eigenes Seelenheil und womöglich gar nicht stimmte. Aber es gab noch immer eine Stimme in ihr, die aufbegehrte und sich schuldig fühlte, weil sie nicht genügend auf Friederike aufgepaßt hatte. War also ihr Engagement für Anke reine Kompensation des eigenen schlechten Gewissens? Sina war zu selbstkritisch, um diese Möglichkeit ganz auszuschließen.

»Schon gut. Kommt ihr drei denn wenigstens einigermaßen miteinander klar?«

Ankes spitzes, angestrengtes Gesicht sprach Bände. Ihr Lebensgefährte Niko schien keine übertriebenen Anstrengungen zu unternehmen, einen neuen Job in einer Schreinerei zu finden. Mindestens ein Jahr Erziehungsurlaub war eigentlich für sie geplant gewesen, aber schon jetzt reichte das Geld hinten und vorne nicht. Deshalb erledigte die junge Anwaltsgehilfin seit ein paar Wochen zu Hause auf einem PC diverse Schreibarbeiten für die Kanzlei, während Emma schlief. Selbst an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag, letzten Freitag, hatte sie, anstatt zu feiern, ein stattliches Diktatband getippt.

»Niko paßt auf Emma auf. Hundezwangsdienst, nennt er das. Ist doch schon auch was, oder?« Sie grinste schief. »Ich hab’ Tilly alles Geschriebene übrigens brav auf den Schreibtisch gelegt und die neuen Kassetten gleich wieder eingesteckt. Ganz ordentliche Menge! Dir gehen die Mandate wohl niemals aus, was, Sina? Ist Dienstag nachmittag okay?« Über ihrer Nasenwurzel erschien eine scharfe Falte. Sie trug Jeans, die viel zu weit waren, und einen fleckigen Pulli, als habe sie keine fünf Minuten Zeit gehabt, um sich um ihr Outfit zu kümmern.

»Du weißt ganz genau, was ich meine.« Wie so oft, wenn sie sich Sorgen um das Mädchen machte, fiel Sinas Tonfall eine Spur zu ruppig aus. »Du siehst schrecklich müde aus, Kleines! Kann dir Niko nicht ein bißchen mehr helfen, solange er arbeitslos ist? Oder, besser noch, euch dein Vater eine Zeitlang finanziell unter die Arme greifen?« Immerhin hatte Anke seit Friederikes Tod den seit Jahren abgebrochenen Kontakt zu Robert Frey wieder aufgenommen. Und überraschenderweise schien er über seine neue Rolle als Großvater ziemlich begeistert zu sein. »Außerdem weißt du ja, daß du auch zu mir kommen kannst. Immer!«

»Robert?« Anke lachte los, und die Kleine bewegte sich im Schlaf unwillkürlich mit. Schon jetzt bedeckte dunkler Flaum ihren runden Babykopf. Sie schlug ganz in die mütterliche Familie und würde ebenso dichtes, schwarzes Haar bekommen wie ihre Großmutter. »Prima Witz – Papa und Geld!« Sie wurde wieder ernst. »Und von dir lassen wir uns erst recht nicht aushalten! Ist schon mehr als genug, daß ich die Arbeit ganz auf unsere Bedürfnisse abstimmen kann.«

»Aber wenn es wirklich eng bei euch wird, dann mußt du mir fest versprechen …«

»Weißt du, Sina, wenn man auf einmal ein Kind hat, muß es jeden Tag weitergehen.« Es war fast schon rührend, wie sehr sie sich mühte, die Erwachsene zu spielen. »Und irgendwie geht es auch. Schwierig zu erklären, aber trotzdem wahr. Sie wachen auf, sehen dich an und lächeln. Oder beginnen zu weinen, weil sie hungrig oder naß sind und schlecht geträumt haben. Und du bist da, um alles gefälligst wieder in Ordnung zu bringen. Und zwar auf der Stelle! Hätte ich mir vorher nicht so richtig vorstellen können.« Ihre Brauen zogen sich zusammen, rauchgrau wie auch die dichten Wimpern und so ziemlich der reizvollste Kontrast, den man sich zu großen, veilchenblauen Augen vorstellen konnte. Mit ein bißchen Anstrengung hätte Friedas Tochter eine Schönheit sein können. Zumindest im Augenblick schien ihr das jedoch herzlich gleichgültig zu sein. »Kein Mensch verrät dir ja zuvor, wie es wirklich ist, wenn sie erst einmal da sind: Daß du dir kaum noch die Haare kämmen kannst oder in Ruhe aufs Klo gehen, daß dir nicht ein Fitzelchen eigene Zeit mehr gehört – sonst würden vermutlich überhaupt keine Babys mehr geboren. Jedenfalls hast du auf einmal so gottverdammt viel Verantwortung. Du bist dran. Was auch immer du machst.«

Sie erinnerte plötzlich so sehr an Friederike, daß Sina scharf die Luft zwischen die Zähne sog. Anke schien geradezu sensorisch ihre Anspannung zu spüren. Das hatte sie im Zusammenleben mit ihrer suchtkranken Mutter gelernt, kaum, daß sie laufen konnte.

»Keine Angst, Emma und ich schaffen es schon! Wäre halt nur schön, wenn Niko auch mit an Bord bliebe. Eine Weile zumindest. Bis sie ein bißchen größer geworden ist und ihren Papa richtig kennt. Ist doch nicht zuviel verlangt, oder?«

Jetzt sah sie doch aus wie ein ganz kleines Mädchen. Ein kleines Mädchen, das ein noch viel kleineres geboren hatte.

Stolz wie Friederike und mindestens ebenso stur, dachte Sina gerührt, als die beiden draußen waren. Dieses Mal würde sie Argusaugen machen. Und alles tun, was in ihrer Macht stand, damit Anke keinesfalls so verzweifelt wie ihre Mutter endete. Gegen ihren Willen war Sina beim Thema Kinder natürlich wieder Redford eingefallen, alias Pit Klein, wie der Journalist, in den sie unsterblich verliebt gewesen war, mit bürgerlichem Namen hieß. Sie mußte wirklich neurotisch sein! Nach all diesen langen Monaten! Und trotz der prickelnden Intermezzi mit Willem!

Redfords zweite Tochter Josephine, deren Geburt das endgültige Aus für ihre Liebesbeziehung bedeutet hatte, lief inzwischen sicherlich längst. Und noch immer reichte allein der Gedanke an ihn aus, um dieses widerlich ziehende Gefühl in ihrer Brust erneut wach werden zu lassen, das sie sich inzwischen zu hassen angewöhnt hatte.

Lernte sie denn niemals, niemals, niemals etwas dazu?

Mit einem abschließenden Seufzer vertiefte Sina sich in die aufgeschlagene Akte.

Vier

Blanche hatte ihre geheimnisvollen Ankündigungen tatsächlich wahr gemacht und war bis jetzt nicht zur Arbeit erschienen. Instinktiv wußte Rosalie, daß ihre Partnerin nicht mehr kommen würde. Heute abend nicht. Und wenn alles nach Plan lief, mit großer Wahrscheinlichkeit überhaupt nicht mehr. Behutsam rückte sie die Aschenbecher auf dem spiegelblank polierten Tresen zurecht, jeden halben Meter mindestens einen, wie die interne Vorschrift lautete, beseitigte einen imaginären Schmutzfleck durch Hauchen und Reiben und unterdrückte gerade noch rechtzeitig ein Gähnen.

Null Bock, sich von diesem Sascha wieder zur Sau machen zu lassen!

»Du wach, ja?« brüllte er jedes Mädchen an, das ihm unliebsam auffiel, mit seiner blechernen, unsympathischen Stimme. »Du ruhen zu Hause – nicht hier! Sonst kein Geld, verstehen? Fliegst raus auf Stelle!« Der baumlange Kerl, der sie immer so komisch ansah, hatte seine Augen überall. Nichts entging ihm, kein Fehler, kein Versehen, nicht einmal die kleinste Unaufmerksamkeit. Niemand wußte, ob er tatsächlich Russe war, wie manche behaupteten; über seinen Jähzorn aber und die Treffsicherheit seiner Linken gingen die wildesten Gerüchte um. Probleme im Club ging er direkt an, egal, welcher Art. Ganz offenbar arbeitete er hier nicht nur als Barmann und Rausschmeißer, sondern war als eine Art Faktotum dem schweigsamen Boß Oleg in vielerlei Hinsicht unentbehrlich.

Sie hatte schlecht geschlafen, seit Tagen schon, fühlte sich müde und ausgelaugt. Dabei hatte die Schicht gerade erst begonnen, und lange, anstrengende Stunden lagen noch vor ihr. Freitag abend, kurz vor einundzwanzig Uhr, war der Laden noch beinahe leer. Nur an einem der hinteren Tischchen vor der Spiegelwand saßen zwei Männer, tranken Cognac, rauchten und schienen trotz erheblicher Bemühungen von Yvette und Nicole kein großes Bedürfnis nach weiblicher Gesellschaft zu haben. Binnen kurzem würde es hier anders aussehen. Der lokale Wetterbericht Berlin-Brandenburg hatte Wind, Nieselregen und für die Jahreszeit zu niedrige Temperaturen vorausgesagt. Was erfahrungsgemäß spätestens um Mitternacht ein rappelvolles Haus bedeutete.

Langsam ging sie nach hinten, in den Ruheraum, wo ein paar der Mädchen noch mit ihrem Make-up beschäftigt waren. Das Erfolgsrezept des Clubs beruhte auf eingespielten Duos, zwei möglichst unterschiedlichen Frauen, die auf Wunsch auch gemeinsam einen Kunden betreuten und ihm damit die Erfüllung seiner geheimsten Phantasien garantierten. Deshalb hatte der Boß als Ergänzung zu Juliette, einer künstlichen Wasserstoffblondine aus Armenien, die als silbrige Schlangenfrau auftrat, eine neue Stripperin engagiert. Die junge, gertenschlanke Mulattin, die angeblich aus Tobago stammte, tupfte sich gerade konzentriert Goldpuder auf die Lider. Rosalie hatte schon ein paar Sätze mit ihr gewechselt. Talent schien sie zu besitzen, wie ihre Tanzprobe vorhin gezeigt hatte, und einen makellosen Körper dazu. Der winzige Bikini, den sie unter einer offenen Baumwollbluse trug, über und über mit goldenen Pailletten besetzt, verhüllte kaum die Scham und preßte ihre vollen Brüste provozierend zusammen.

Allerdings stammte die Kleine nicht aus den Tropen, sondern aus Dessau, war die Tochter eines nigerianischen Ingenieurs, der sich längst wieder in seine Heimat abgeseilt hatte, und einer sächsischen Mutter. Sie hieß ebensowenig Desirée wie sie Rosalie. Alles nur Schein. Wie der ganze Club. Oder die frivole Ausgelassenheit, der raffinierte Sex, der hier sündhaft teuer verkauft wurde. Hurenbiographien – wen interessierte das schon?

Rosalie war sich nicht einmal sicher, ob sich die Kunden für Details wie diese affigen französischen Namen, die alle hier bei ihrem Eintritt verpaßt bekamen, überhaupt interessierten. Irgendwann hatten sie spaßeshalber damit begonnen, sich auch untereinander damit anzureden, wenn keine Freier da waren. Besonders Blanche hatte ihre Freude daran gehabt, weil sie sich ärgerte, daß man ihr zu Hause in Polen über dem Taufbecken einen so stockkatholischen Namen verpaßt hatte.

Vor ein paar Monaten allerdings waren es noch russische Namen gewesen; da hatte sich das Etablissement noch nicht »Chez Mimi«, sondern »Club Natascha« genannt. Aber seitdem sich die Berichte und Artikel über kriminelle Aktivitäten der Russenmafia in Berliner und anderen deutschen Zeitungen häuften, war man zum Bewährten zurückgekehrt. Paßte auch besser zu diesem vornehmen Villenviertel im Südwesten der Hauptstadt, wo man um keinen Preis zu sehr auffallen durfte, wollte man den exquisiten Standort auf Dauer halten.

Dennoch waren die meisten Mädchen nach wie vor Russinnen oder Polinnen wie ihre Freundin Blanche; andere kamen aus Tschechien, Ungarn oder Lettland wie Rosalie selbst. Der Osten war auf einmal nah, und der Vorrat an willigem Frischfleisch schien unerschöpflich. Oleg hatte mehr als einmal beste Kontakte durchblicken lassen, die den reibungslosen Nachschub garantierten. Wurde ein Mädchen zu gegebener Zeit ausgetauscht, rückte die nächste nach. Allerdings stellte der Boß hohe Ansprüche, nicht nur, was Aussehen, Aufmachung und Umgangsformen betraf. Auch Intelligenz war gefragt. Ein paar Abende Spezialtraining, darauf legte er Wert, dann wußten die Mädchen, wie der Laden lief; was verlangt, was gefordert, vor allem jedoch, was streng verboten war.

Beispielsweise, sich privat mit Kunden zu treffen.

Ob Blanche es wirklich so gut erraten hatte?

Ein Kerl mit seltsamen Vorlieben, hatte sie gesagt, ein bißchen wild, sehr eigen, aber eigentlich ganz lieb. Klang nicht besonders beruhigend. Sie wußten beide ganz genau, was Blanche damit meinte. Und wie gefährlich das sein konnte. Eine Art Dauerjob, du verstehst? Zwei Monate, vielleicht drei, mal sehen, wie es läuft, dann hab’ ich zusammen, was ich brauche. Dann kann ich endlich das machen, was ich mir schon immer gewünscht habe!

Mit Kost und Logis?

Niemand konnte so lachen wie Blanche!

Ja, könnte man beinahe sagen. Weißt du, soviel Glück hat man einfach nur einmal im Leben. Ich bekomme eine Menge Geld.

Und muß keinen Pfennig an jemanden abgeben.

Einmal?

Wieder dieses ansteckende Lachen, das einzige, was dunkel an Blanche war. Ein Mädchen wie aus Milch und Honig. Helle Haare, helle Haut, ein sonniges Gemüt. Sogar ihre Wimpern waren wie feine Goldfäden.

Pro Monat natürlich, du Schäfchen! Und für alle Sonderleistungen gibt es extra! Das ist fest vereinbart.

Hast du keine Angst?

Angst? Ich habe niemals Angst!