Cover

Weihnachtsgeschichten
am Kamin 27

Barbara Mürmann (Hg.)

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Über dieses Buch

Am schönsten ist eine Weihnachtsgeschichte, wenn sie vorgelesen wird!

 

Wenn die Christbaumkugeln im Kerzenlicht funkeln und der Blick aus dem Fenster auf die weiße Winterlandschaft fällt, dann ist der Moment gekommen, sich im Kreise der Lieben zusammenzufinden. Nichts ist dabei herrlicher, als gemeinsam einer Weihnachtsgeschichte zu lauschen!

Diese heiteren, kurzweiligen, besinnlichen oder auch nachdenklich machenden Weihnachtsgeschichten bieten die perfekte Einstimmung auf das Fest der Liebe.

Impressum

Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, November 2012

Copyright © 2012 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung any.way, Cathrin Günther

(Foto: mauritius images)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Buchausgabe 978-3-499-25795-7 (1. Auflage 2012)

ISBN Digitalbuch 978-3-644-47801-5

www.rowohlt-digitalbuch.de

 

ISBN 978-3-644-47801-5

Vorwort

In unserer Diele steht ein Schrank, auf dem wir in der Adventszeit die in Weihnachtspapier eingewickelten Geschenke sammeln. Die bunten Päckchen schmücken, machen neugierig und heben die Vorfreude auf das Weihnachtsfest.

Beim etwas verspäteten Frühjahrsputz entdeckte ich ganz hinten auf diesem Schrank ein offenbar vergessenes Weihnachtspäckchen. Nichts wies auf den zu Beschenkenden hin. Vorsichtig wickelte ich das Päckchen aus und hielt zwölf Christbaumkugeln in der Hand. Es waren genau die Kugeln, die ich als Ersatz gekauft und beim Schmücken des Weihnachtsbaumes so verzweifelt gesucht hatte. Ich selbst musste sie im allgemeinen Rausch des Geschenkeverpackens eingewickelt haben. Während ich auf die glänzenden Kugeln schaute, freute ich mich auf das Lesen der Weihnachtsgeschichten, die bereits für den neuen Band der «Weihnachtsgeschichten am Kamin» auf meinem Schreibtisch warteten. So in vorweihnachtliche Stimmung versetzt, kochte ich mir einen Tee, zündete eine Kerze an, drapierte die Christbaumkugeln um die Kerze und begann die netten Briefe und Ihre so ideenreichen wie bezaubernden Geschichten zu lesen, für die ich mich an dieser Stelle ganz herzlich bei Ihnen bedanken möchte.

 

Barbara Mürmann

Weihnachten im Bus

Sabine Rheinhold

Der Zug hatte Paris um sechs Uhr verlassen. Die Dämmerung sank, das Licht ging an, und noch schmucker erschien darin meine Privatbehausung. Der Schaffner, schon höher an Jahren, erbat sich die Erlaubnis zum Eintreten durch sachtes Klopfen, legte salutierend die Hand an die Mütze und wiederholte die Ehrenbezeigung, als er mir meine Fahrkarte zurückgab.

Der junge Mann lässt sein Buch sinken und sieht auf. Mit Eintritt der Dämmerung sind die kleinen Lichter im Inneren des Reisebusses aufgeflammt und erhellen nun schwach, aber unbarmherzig den Innenraum. Es sieht wenig schmuck aus um ihn her, befindet der junge Mann. Er sinnt darüber nach, dass so eine Dämmerung auf alles herabsinkt, ganz gleich, ob es sich um ein feines, kleines Eisenbahncoupé auf der Strecke Paris–Madrid in Thomas Manns Roman «Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull» handelt oder um einen betagten Bus zwischen Bederkesa und Hamburg.

«Ob die Buse punktlich kömmt?» Der amerikanische Rucksacktourist in der Reihe vor ihm, den Finger über dem Übersetzungsprogramm seines Smartphones, dreht sich fragend um.

«Das hoffe ich doch!» Der junge Mann lächelt. In zwei Stunden würde er seine Freundin von der Arbeit abholen, mit ihr einen Bummel durch die weihnachtlich geschmückte Innenstadt machen und – vielleicht, vielleicht – einen Ring dabei erstehen.

 

Es ist der 23. Dezember, und noch immer fehlt ihm das einzigartige Geschenk. In anderthalb Stunden sind wir dort, versichert er sich selbst und dem Mitreisenden und schaut wieder in die bläuliche Welt hinter den Fenstern. Flaches, verschneites Land zu seiner Linken, mittendrin ein dunkler Haufen – dort schläft eine große Fabrik, wahrscheinlich sind Werksferien über die Weihnachtstage. Auf der rechten Seite leuchtet im Dunkeln ein Stahlband: ein Fluss, Baumschatten am Ufer, eine Brücke, über die der Reisebus in Richtung Großstadt rollt. Nicht sehr schnell, denn die Schneedecke auf der Landstraße ist zwar gestreut, doch der Fahrer hält nichts von waghalsiger Raserei. Er runzelt die Stirn, späht mit vorgebeugtem Kopf besorgt nach oben aus dem riesigen Fenster – es geht wieder los mit dem Schnee. Da, wo der Mann herkommt, aus den anatolischen Bergen, ist so was normal, doch hier, in der norddeutschen Ebene, sind sie das offensichtlich nicht so gewohnt, die Leute. Schneepflüge sind unterwegs sowie Fräsen und Streuwagen, aber die Schlacht scheint schon verloren.

 

«Hier muss der Ort gewesen sein, wo wir die Schwesternausbildung hatten, ich erinnere mich noch genau an die Brücke …»

Ein paar Reihen vor dem jungen Mann mit dem Buch recken zwei Frauen die Hälse und versuchen, trotz Dunkelheit etwas zu erkennen da draußen. Ihre Köpfe wippen im Takt der Straße auf und ab, weiße gestärkte Hauben über den Gesichtern, einem jungen und einem alten – zwei Diakonissen auf dem Weg zur Weihnachtsfeier in einem ländlichen Kloster, noch jenseits der norddeutschen Großstadt, die der Bus in anderthalb Stunden erreichen soll.

«Wissen Sie, wie der Ort heißt, durch den wir gerade fahren?», traut sich die jüngere der Schwestern zu fragen und beugt sich zum Nachbarn auf der anderen Seite des Ganges. Irgendwie kommt er ihr bekannt vor, der dicke Herr, der jetzt verneinend den Kopf schüttelt. Sie schaut sich suchend um im Bus: elf Reihen, je zwei Sitze links und rechts des Ganges, eine Symphonie in Senfgelb, Braun und Lindgrün, nur zehn Sitze sind besetzt. Ganz hinten eine Dame, elegant, mit hauchzarten Strümpfen, teuren Schuhen und einem langen schwarzen Kasten, den sie hütet wie eine Kostbarkeit. Zwei Reihen vor ihr eine müde Frau, den Kopf schräg ans Fenster gelehnt, die Augen geschlossen, einen Schal mehrfach um den Hals gewickelt, als suche sie Schutz. Dann der junge Mann, der seine Lektüre wieder aufgenommen hat, vor ihm der Ausländer mit dem Smartphone. Die Diakonisse wendet sich wieder nach vorne. Auf gleicher Höhe mit ihr der dicke Mann, der so aussieht, als müsse man ihn kennen, und schließlich zwei Kinder vorne im Bus. Sie knien auf den Sitzen – ein Mädchen von zwölf, ein Junge von zehn oder elf Jahren. Der Junge presst das Gesicht ans Fenster, zählt die Waggons eines vorbeifahrenden Güterzuges, das Mädchen drückt nachlässig auf die Knöpfe seines schnarrenden Computer-Konsölchens. Vorne beim Fahrer sitzt eine Frau mit Taschen und Tüten um sich herum. Ganz knapp hat sie noch den Bus erreicht – der Fahrer hatte die Gestalt im Rückspiegel gesehen, wie sie über den zugefrorenen Platz an der Haltestelle gerannt war, über Schneehaufen stolperte, keuchend innehielt und versuchte zu winken. Er hatte noch einmal angehalten, die schwere Tür aufschwingen und die Frau, eher noch ein junges Mädchen, einsteigen lassen samt Taschen, Tüten und einem Paket.

 

Es ist der letzte Werktag vor Weihnachten, und die zusammengewürfelte Reisegesellschaft rollt durch die Dunkelheit in Richtung Hamburg.

Die mutigere der beiden Diakonissen ist aufgestanden, um den Fahrer nach dem Namen des Ortes zu fragen, bekommt jedoch nur ein Brummen zur Antwort. Die Fahrerei wird immer mühsamer, wirbelnde Flocken, die Lichter des Gegenverkehrs, da will er keine Gespräche. Die ältere Mitschwester hat inzwischen ihr Strickzeug ausgepackt und zählt Maschen, lautlos, geübt, mit Vergnügen an der Schnelligkeit der eigenen Hände. Den Kindern ist die Fahrt mittlerweile langweilig geworden, der Güterzug ist längst nicht mehr zu sehen und das Computerspiel an die Seite gelegt. Stattdessen haben sie die Sitzreihe vor dem ausländischen Reisenden erobert und schauen sehnsüchtig nach seinem Smartphone. «Over and out», sagt der, «no netz.» Als er die Enttäuschung der Kinder bemerkt, beginnt er zu erzählen. «Jim», er zeigt auf sich, «from Texas. Und Sie?» Die Kinder, geschmeichelt, weil er sie siezt, stützen sich auf die Rücklehnen ihrer Sitze und legen los. «Wir sind allein auf der Welt», sagt das Mädchen, «ohne Eltern», ergänzt der Junge, «ausgesetzt im Wald, weil unser Vater in der weiten Welt rumreist und unsere Mutter …»

Der junge Mann zwei Reihen dahinter glaubt seinen Ohren nicht zu trauen und lässt wieder einmal sein Buch sinken. Was diese beiden Kinder da von sich geben – da müsste man doch …! Jim aus Texas allerdings versteht kaum etwas und lacht. Das spornt die Kleine an, sie fällt dem Bruder ins Wort. «… Und unsere Mutter singt auf der Bühne. She is a star, you know?», versucht sie sich in Englisch.

Wie der junge Mann ist auch die jüngere der Diakonissen inzwischen aufmerksam geworden und kurz davor, sich in das Gespräch einzumischen. Weihnachten vor der Tür und zwei Kinder womöglich allein – das geht ihr gegen den Strich, mehr noch, sie fühlt sich gefordert. Ihre ältere Mitschwester schaut kurz über den Brillenrand zu den armen Kleinen rüber, strickt aber ungerührt weiter. Die jüngere fragt behutsam: «Wo wollt ihr denn hin?» Die Kinder schauen sich an. «Zu unserer Oma», antwortet das Mädchen, und der Junge behauptet fast gleichzeitig: «Aufs Schiff!»

«Hört sofort auf mit dem Quatsch», tönt es aus dem hinteren Teil des Busses. Die Kinder ziehen die Köpfe ein und kichern. Es ist offenbar die Mutter der beiden, die jetzt eingreift – die müde Reisende mit dem Schal um den Hals. Die ältere Diakonisse lächelt, sie hat Erfahrung mit phantasievollen Kindern.

Der junge Mann dagegen wird ein wenig rot im Dunkeln des Busses, als er merkt, dass er fast auf die Räuberpistole der kleinen Mitreisenden hereingefallen wäre. Geschäftig zieht er sein Handy hervor, um der Freundin die bevorstehende glückliche Ankunft mitzuteilen. Er tippt und schüttelt – kein Netz. «Nohow», bestätigt der Texaner schulterzuckend, als er die Bemühungen bemerkt, und das heißt so viel wie «Geht gar nicht».

 

Draußen schneit und schneit es, erst dicke Flocken, dann Graupelkörner, die in eisigen Schwaden vor den Fenstern umherfegen, auf dem flachen Land liegen bleiben, in den Dörfern und kleinen Städten zwischen die Häuser getrieben werden. Längst hat der Schnee den Streusand wieder bedeckt und auch das Salz, das sie hier noch immer an den Kreuzungen benutzen, weil sonst alles zusammenbrechen würde auf dem Land.

Plötzlich rumpelt der Bus, schlingert ein wenig, Hupen dröhnen und quäken, der Fahrer flucht laut und hält an – abrupt, sodass die Kinder rücklings von den Sitzen purzeln, das Buch des jungen Mannes herunterfällt, ebenso drei Maschen vom Strickzeug. Die elegante Dame presst ihren schwarzen Kasten an sich und ruft: «Ach, du lieber Himmel!» Die Diakonissen zucken bei dieser unbedachten Anrufung heiliger Güter zwar zusammen, erheben sich aber gleichzeitig aufgeregt von den Sitzen. Der dicke Mann schimpft lauthals: «Können Sie nicht aufpassen, Sie … Sie …» Er hustet, spuckt, hustet und wischt. Er hatte sich gerade Tee eingegossen aus einer Thermoskanne, als der Busfahrer unversehens in die Bremsen getreten war. Der Fahrer schimpft zornig auf Türkisch und Deutsch und verweist auf irgendetwas vor seinem Bus.

 

Alle drängen nach vorn – auch die elegante Dame, die Mutter der beiden erfinderischen Kinder und der Texaner. Vor der großen Frontscheibe liegt, quer über der Fahrbahn, ein riesiger Baum.

«Zurück!», ruft der Dicke im Ton eines Mannes, der gerne befiehlt, und unversehens weiß die Diakonisse, wen sie da vor sich sieht, auch der junge Mann erkennt ihn und natürlich die Kinder – es ist ein Koch aus dem Fernsehen, sogar ein berühmter. Wirbt für Gewürze, versteht viel von seinem Geschäft und sagt gern allen, wo’s langgeht. «Zurückfahren! Wir müssen wenden!», ruft er noch einmal und geht so weit, dem Fahrer auf die Schulter zu tippen und nach hinten zu zeigen.

«Der Herr hat wohl recht», schaltet sich die elegante Dame ein, «hier kommen wir nicht weiter, und bis das geräumt ist …»

Der Fahrer schüttelt den Kopf. «Geht nix», sagt er und zuckt mehrmals hintereinander die Schultern. Er zeigt auf den großen Außenspiegel und dann nach hinten. Die Reisenden drängen zum Rückfenster und sehen eine lange Schlange, die sich gebildet hat. Ein Auto steht quer auf der Straße, ein anderes ist die Böschung auf der anderen Seite hinuntergerutscht.

«Der hat wohl versucht, zu wenden», meint der Dicke aus dem Fernsehen kleinlaut.

«Was ist? Was ist denn los?» Die Diakonissen, zu klein und zu schüchtern zum Drängeln, stehen hinter der Mauer der Mitreisenden, die versuchen, aus dem Rückfenster etwas zu erkennen. Die Kinder haben sich durchgeschoben, um besser zu sehen. Der dicke Mann schaut auf die Uhr.

«Ich muss in einer Stunde in der Stadt sein … Der Notar … Die Unterschrift …» Er ist nicht allein mit seinem Ärger, auch die elegante Dame sucht mit fahrigen Griffen nach ihrem Handy. Dabei redet sie aufgeregt vor sich hin: «Entsetzlich … Sie werden mich aus der Aufführung schmeißen, wenn ich zur Probe nicht da bin.» Dann hat sie das Handy gefunden, tippt jedoch ebenso vergeblich darauf herum wie zuvor der junge Mann und der Texaner. Ein Funkloch.

 

Es wird kälter im Bus – der Fahrer will Sprit sparen, weil er nicht weiß, was dieser Abend noch bringt. Seine Kutsche ist betagt und weit zurück hinter denen der neuen Generation mit energiesparender Heizung; einziger Luxus sind ein winziges Klo unter der Treppe und eine Box mit Getränken. Erschöpfte Stille breitet sich aus. Wer rechnet damit, dass im 21. Jahrhundert etwas so Altes wie der Winter sämtliche Pläne durcheinanderbringen kann. Der Mann aus Texas hat eine verknitterte Landkarte hervorgezogen und versucht herauszufinden, wo man gerade feststeckt. Die zwei Diakonissen schieben sich behutsam näher, mit dem Wunsch, auf diese Weise doch noch das Städtchen mit der Brücke wiederzufinden. «Die Schwesternschule war doch mitten im Ort», grübelt die Ältere. Ihre Mitschwester nickt und ergänzt: «Deshalb war es ja so schwierig, spätabends wieder reinzukommen, ohne dass es jemand gemerkt hat!» Die Ältere beißt sich auf die Unterlippe, lächelt und murmelt: «War schwierig, ging aber!» Verblüfftes Schweigen der Mitschwester und die Erkenntnis, dass fünfzehn Jahre Altersunterschied vielleicht doch nicht die Welt sind.

 

Ein Polizist klopft an das Fenster des Fahrers, Aufatmen der Reisegesellschaft. Der Fahrer öffnet einen Spalt, Schnee fegt herein, im Bärtchen des Beamten hängen Eisfäden. «Wir versuchen es mit Fräse und Kran von der anderen Seite», erklärt er, «eine Stunde braucht das sicher.» Doch auf die Frage nach Tee oder Decken schüttelt er den Kopf. «Alle sind auf der Autobahn, da ist es noch schlimmer, das Rote Kreuz und die Feuerwehr – alle unter Dampf.»

«Dampf wäre nicht schlecht», murmelt der Fahrer und schließt eilends das Fenster. Die Kinder quengeln. Dunkelheit und Kälte kriechen heran. In die inzwischen mutlose Stille ertönt eine Frage: «Könnte vielleicht jemand einen Pullover gebrauchen?»

Die fast zu spät gekommene Reisende mit dem vielen Gepäck zerrt aus der größeren ihrer beiden Taschen etwas Wolliges. Einzeln in Seidenpapier verpackt, kommen Pullover zum Vorschein, grüne, blaue, einer in Dunkelrot, einer in Braun. Fragende Blicke. «Ich war auf dem Weihnachtsmarkt mit meinen Sachen», sagt die Besitzerin all dieser Schätze, «aber ich habe kaum was verkauft, dabei war das sonst immer mein bestes Geschäft.»

Die Kinder stürzen sich auf den weichen Berg, ihre Mutter folgt ihnen. Die elegante Dame späht zwischen Mutter und Kindern hindurch. «Haben Sie auch Wollsocken?» Hauchzarte Seidenstrümpfe sind schön, aber dünn. Die Strickerin hat welche, und kurz darauf steht die Dame mitten im Gang, dicke geringelte Wollsocken reichen ihr bis zur Wade, die eleganten Schuhe hat sie achtlos unter ihren Sitz geschoben. «Wundervoll», schnurrt sie und fragt nach dem Preis. Ein regelrechter Handel kommt in Gang, denn Taschen und Tüten bergen noch viele weitere wärmende Schätze. Selbst der Busfahrer verlässt seinen Sitz, prüft erst einen grüngrau melierten, dann einen rot-weiß gestreiften Schal, kann sich aber nicht entscheiden.

«Rot-Weiß ist doch Türkei!» Das weiß der kleine Junge vom Fußball. «Nehmen Sie doch den!»

Der Fahrer kratzt sich am Kopf und sieht aus, als überlege er, ob er das wohl bezahlen kann. Die Strickerin drückt ihm den Schal in die Hand und sagt: «Hier – ohne Sie säße ich ja jetzt noch in diesem Kaff.» Der Fahrer nimmt das Gestrickte, lacht, bedankt sich gestenreich und sagt: «Ist für Fest.»

Die ältere Diakonisse prüft und probiert eine Weste, begeistert von Muster und Material, und fragt beeindruckt: «Wie haben Sie das denn hinbekommen?»

Auf dem spärlichen, gleichwohl blondierten Haarkranz des dicken Mannes prangt eine Mütze. «Passt!», befindet er und zahlt mit Grandezza. Dann greift er über sich ins Gepäcknetz, klemmt die Zunge zwischen die Zähne und nimmt vorsichtig, als wären es rohe Eier, ein kleines Paket heraus. Spannung allerseits. Ein Karton. Doppelt so breit wie hoch. Der Deckel wird abgehoben, und ein köstlicher Duft breitet sich aus. «Kekse …!» Die Kinder sind begeistert, die Mutter lacht erleichtert, weil ja hungrige Kinder auf der Reise schnell zu Plagegeistern werden, und auch der junge Mann spürt mit einem Male, wie hungrig er ist.

«Frisch aus der Backstube», verkündet der Fernsehkoch – denn um den handelt es sich, das wissen mittlerweile alle. «Ich hab sie heute früh gemacht für meine Mutter, zu der will ich nämlich zu Weihnachten. Aber für hier sind sie gerade richtig, und ich kann sie bei ihr ebenso gut noch mal backen.»

Der Texaner ist sprachlos, nicht nur weil das Deutsche jetzt viel und schnell durcheinandergeredet wird, sondern auch weil er so viel spontanes Miteinander nicht erwartet hat in diesem kühlen Norddeutschland. Radebrechend schwärmt er von Brownies in seiner Heimat, und der Fernsehkoch, der natürlich überall schon war und jedes Rezept der Welt kennt, lädt ihn ein zum Besuch in sein berühmtes Restaurant: «Da kommst halt vorbei, und ich back dir Braunies, dass du dich selbst nimma kennst!»

Der Fahrer hat mittlerweile den Beifahrersitz vorgeklappt und wühlt in der Kiste darunter. «Ist Cola da und Apfelschorle», verkündet er und schwenkt eine Handvoll Flaschen.

«Bier?», fragt hoffnungsvoll der Texaner. Der Fahrer drückt ihm eine Flasche in die Hand. «Alkoholfreies Weizen.»

Niemand übersetzt das, und der Mann aus Texas setzt zufrieden die Flasche an mit einem «Cheers!». «Das heißt Prosit», weiß eines der Kinder und prostet mit Apfelschorle zurück. Ihre Mutter hat sich zu den Diakonissen gesetzt, gemeinsam überlegen die drei, wie der Ort am Fluss mit der Brücke heißen könnte. Der Busfahrer hat aus seiner Kiste noch zwei Büchsen Wiener Würstchen sowie drei Packungen Cracker gefischt und ein Brett über vier Sitze gelegt, sodass ein kleiner Tisch entstanden ist. Nüchtern kommentiert er: «Weihnachtsparty.»

An dieser Stelle fällt dem jungen Mann das Weihnachtsgeschenk seines Chefs ein. Sein Chef, eigentlich ein Gegner von Sentimentalitäten, hat ihm und den anderen drei Angestellten je ein Präsent mitgegeben, das hat beim Einpacken leise gegluckert. Das könnte doch … es ist … nicht Sekt, sondern echter Champagner! Beschwingtheit kommt auf, und weil so ein edles Getränk ja schlecht aus der Flasche zu trinken ist, fördert der Busfahrer eine Stange Pappbecher zutage. Man knabbert, trinkt und träumt zufrieden vor sich hin oder unterhält sich leise miteinander.

 

«Hört doch mal!» Das kleine Mädchen zeigt nach hinten in den Bus. Aus einer der letzten Reihen klingen zarte, flüchtige, spielerische Töne. Die elegante Dame hat ihren kostbaren schwarzen Kasten geöffnet, etwas Silbernes herausgenommen und zusammengesteckt: eine Querflöte. «Leise rieselt der Schnee» spielt sie, und die Reisenden lauschen mit offenem Mund. Das kleine Mädchen rutscht auf seinem Platz herum, und als die Flötenspielerin aufmunternd mit dem Kopf winkt, singt es leise mit. Die Diakonissen – erst die junge, dann die alte – stimmen ein. «Am Weihnachtsbaume die Lichter brennen» findet schon mehr Mitsinger, und die Aufforderung an die Kinderlein, zu kommen, schmettert schließlich der ganze Bus. Allerdings ohne den Fahrer, aber der klatscht immerhin rhythmisch. Der Mann aus Texas hat eine Mundharmonika ausgepackt und muss – die Kinder wünschen es sich – «Jingle Bells» blasen und das Lied von Rudolf, dem rotnasigen Rentier. Die Diakonissen kennen das amerikanische Weihnachtslied noch nicht, versprechen aber, es in ihr Repertoire aufzunehmen.

Sonderbar, so ein Konzert einen Tag vor Weihnachten – festgefahren auf der Landstraße, eingeschneit im Bus. Niemand in dieser zufälligen Gemeinschaft schimpft mehr, niemand redet von Terminen, die doch so wichtig waren und nun verstreichen, oder von Geschenken, die noch dringend gekauft werden müssen.

Mit einem Male dringen durch die Musik und das Klatschen hindurch Geräusche von außen, erst schnarrend, dann krachend, schließlich dröhnt Motorenlärm. «Kommt sich die Fräse!», jubelt der Busfahrer. «Sauber gemacht», befindet mit fachmännischer Anerkennung der Dicke, der gleich bei Beginn dieses Lärms nach vorne ans Fenster gelaufen ist. Der Texaner spielt auf der Mundharmonika ein Lied, das seit Elvis Presleys Militärzeit in Deutschland alle Amerikaner kennen, «Muss i denn zum Städtele hinaus», und das kann selbst der Busfahrer mitsingen. Ein tiefer Brummton, ein Ruck, sanftes Anrollen – der Bus zuckelt los, nimmt Fahrt auf und verschwindet im Dunkel der Nacht.

Rituale haben ihren Wert

Anni Wollrath

Rituale sind etwas sehr Wichtiges im Leben eines Menschen. Wenn wir uns an ihnen orientieren, bringen sie Sicherheit und Ordnung in unseren Alltag. Besonders wichtig sind Rituale während der Weihnachtszeit. Meine Mutter backte das erste Weihnachtsgebäck pünktlich am Montag vorm ersten Advent. Wenn mir heute der Geruch von frisch gebackenen Plätzchen in die Nase steigt, ist für mich welcher Tag? Genau, der letzte Montag vorm ersten Advent. In dieser Woche kümmerte sich meine Mutter um die letzten Geschenke und brachte sie, zusammen mit den Plätzchen, in der kleinen Kammer unter der Bodentreppe in Sicherheit. Danach wurde die Kammertür verschlossen, und wir Kinder wussten, dass jetzt der Weihnachtsmann dort wohnte.

Inzwischen habe ich selbst eine liebe Frau und drei reizende Kinder. Wir sind eine tolle Familie, und auch wir haben unsere Rituale. Bei uns hält sich nur keiner daran. Meine Mutter findet unsere Familie deswegen ein wenig chaotisch, wir finden uns völlig okay. Bei uns werden die Plätzchen zwischendurch gebacken und gleich gegessen, und die Christstollen sind einem Diätplan zum Opfer gefallen. Unsere Kinder kennen keine kleine Kammer, in der Geschenke und Plätzchen hinter einer verschlossenen Tür auf ihren großen Auftritt am Heiligen Abend warten. Von einem Engel, der den Wunschzettel in der Nacht aus dem Stiefel vorm Fenster holt, konnten wir unseren Nachwuchs auch nicht überzeugen. Ihr Engel heißt Internet, das Christkind kommt täglich und heißt Hermes. Wir verpacken nicht mehr liebevoll selbst und schließen keine kleine Kammer mehr ab.

Nur eine Sache lasse ich mir nicht nehmen. Egal ob es stürmt oder schneit, ein Eisregen das Land bedeckt oder die Schwiegermutter zu Besuch kommt: Am 24. Dezember kümmere ich mich persönlich um unseren Weihnachtsbaum. Da fahre ich zu Onkel Martin und Tante Else nach Waldhausen, wo die beiden auf ihrem Bauernhof leben und seit Jahren Tannen und Fichten verkaufen. Weil sie wissen, dass ich immer auf den letzten Drücker komme, heben sie einen Baum für mich auf. An einen solchen Service kann man sich leicht gewöhnen. Zumal der Besuch bei Onkel und Tante, beide Anfang achtzig und einigermaßen rüstig, auch mit anderen Annehmlichkeiten verbunden ist. Erstens stehe ich während dieser Zeit meiner Frau zu Hause nicht im Weg. Zweitens genieße ich die Fahrt durch die schöne Landschaft. Und drittens habe ich als Kind in Waldhausen meine Ferien verbracht und bin bis heute der liebste Gast von Onkel und Tante.

«Möchte jemand mit nach Waldhausen?»

«Nö», antworten die Kinder und schütteln den Kopf.

«Ich würde ja gern, aber ich habe noch so viel zu tun», sagt meine Frau. «Onkel und Tante doch auch. Vielleicht nächstes Jahr.»

«Schade», sage ich, gebe meiner Frau einen Kuss, winke den Kindern zu und freue mich, dass ich, der häuslichen Hektik entflohen, drei Stunden ganz für mich allein habe.

Etwa eine Dreiviertelstunde fahre ich bis nach Waldhausen. Ich werde herzlich begrüßt. «Junge, wie schön, dass ich dich mal wiedersehe.»

Tante Else riecht nach Tannen und frischem Kuchen und drückt mich herzlich an sich. «Warum kommst du denn wieder so spät? Guck mal auf die Uhr, es ist schon fast zwölf!»

Zur Belohnung für mein spätes Kommen serviert sie extra für mich Kaffee und die nach alten Rezepten und bestimmt am Montag vor dem ersten Advent gebackenen Plätzchen. Onkel Martin besteht darauf, dass ich einen Obstler mit ihm trinke. Als seine Frau aus der Küche verschwindet, schenkt er noch mal nach.

«Ich muss noch fahren.»

«Ach was, auf einem Bein steht man nicht. Prost.»

Ich nippe am Glas. Mein Onkel muss nicht fahren, er trinkt, schüttelt sich und stellt gestärkt fest: «So, nun können wir uns um den Baum kümmern.»

Onkel Martin hat mir das schönste Stück aus seiner Kollektion aufgehoben. Eine Nordmanntanne, edel, jeder einzelne ihrer 180 cm ist eine Augenweide. Er weiß, was in unser Wohnzimmer passt. Mein Geld lehnt er energisch ab. «Den schenke ich euch.»

«Aber Onkel Martin, das ist doch nicht nötig.»

«Steck’s weg, ’s ist gut so.»

Er freut sich und klopft mir auf die Schulter. «Habt ihr denn noch die Krippe, die ich euch geschenkt habe?»

«Aber Onkel Martin!» Ich bin entrüstet. «Was denkst du denn von uns? Klar haben wir die noch!»

Zu unserem ersten Weihnachtsfest als Ehepaar hatte Onkel Martin mir und meiner Frau eine Weihnachtskrippe geschnitzt, das Dach hatte er liebevoll mit klitzekleinen Schindeln gedeckt. In der Krippe lag das Kind, eingekleidet von Tante Else, bewacht von Maria und Josef und handgeschnitzten Königen. Unter dem Jesuskind lag reichlich Heu, weitere Vorräte fanden wir im ausgebauten Dachboden, der mit einer schön bemalten Luke verschlossen werden konnte. Ein wahres Highlight von Onkel Martins Schnitzkunst und ein Beweis seiner Liebe zu mir.

 

Am 6