Cover

Anna Ringberg

Kalte Pfoten

Roman

Aus dem Schwedischen von Max Stadler

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Über Anna Ringberg

Anna Ringberg, geboren 1980, hat unter anderem als Verlagslektorin gearbeitet und Schwedisch als Fremdsprache unterrichtet. Sie wohnt zusammen mit ihrem Hund Sonja in Stockholm. Mit dem Roman «Kalte Pfoten» hat sie ein wunderbares, von der schwedischen Presse hoch gelobtes Debüt vorgelegt.

Über dieses Buch

Von Menschen und von Hunden, von der Liebe und vom Scheitern

 

Lasse hat seinen Sohn Matti seit Jahren nicht gesehen. Sein Praktikumsplatz wird auch nicht verlängert: Zu alt, sagt die Sozialarbeiterin. Wenigstens weiß er, dass Alkohol schlecht für ihn ist. Und er hat Boys, seinen besten Kumpel und heißgeliebten Whippetrüden, der treu zu ihm hält.

 

Jetzt wird Lasse 65. Das muss gefeiert werden. Dafür hat er extra Porzellan ausgeliehen und das Haus aufgeräumt. Sogar Matti hat zugesagt. Soll der Junge verdammt noch mal sehen, wie gut Lasse zurechtkommt.

 

Doch dann geschieht etwas Furchtbares: Boys ist plötzlich verschwunden. Obwohl Lasse gar nicht mehr in der Stimmung ist, trudeln die ersten Gäste ein. Schließlich kommt auch Matti, mit einem Hundebiss an der Hand, den der Vater nicht sehen darf …

 

«Anna Ringberg erzeugt so große Sympathie für ihre Figuren, dass man den Roman nicht aus der Hand legen kann.» (Svenska Dagbladet)

 

«Ein glänzender Roman.» (Göteborgs-Posten)

 

«Beim Lesen wird einem ganz warm ums Herz.» (Värmlands Folkblad)

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel «Boys» bei Ordfront förlag, Stockholm.

 

Die Übersetzung dieses Buches wurde gefördert vom Schwedischen Kulturrat, Stockholm.

 

Die Arbeit des Übersetzers am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

 

Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Oktober 2012

Copyright © 2012 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«Boys» Copyright © 2010 by Anna Ringberg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Redaktion Stefanie Kruschandl

Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt

(Abbildung: Image Source; neuebildanstalt/Golz; thinkstockphotos.de)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Buchausgabe 978-3-499-25861-9 (1. Auflage 2012)

ISBN Digitalbuch 978-3-644-47561-8

www.rowohlt-digitalbuch.de

ISBN 978-3-644-47561-8

Eins

Es hat inzwischen aufgehört zu schneien, daher schalte ich die Scheibenwischer aus und genieße die Stille. Nur das Geräusch der Reifen auf der Straße ist zu hören, keine anderen Autos, auch keine Menschen. Nicht einmal an der Tankstelle waren Leute, aber es ist ja auch bald Weihnachten, da bleibt man lieber drinnen.

Hier hat sich nichts verändert, dieselben Häuser, dieselben Bäume.

Noch ist nichts zu sehen von dem Sturm, vor dem im Wetterbericht gewarnt wurde, der Schnee wird nicht aufgewirbelt, und die Bäume unterhalb der Reihenhaussiedlung recken sich kerzengerade in die Luft. Ich fahre vorbei an den Eingängen A, B, C und D, den Containern und den an die Fahrräderständer gelehnten Schlitten. In den Fenstern leuchten Adventskränze und Weihnachtssterne.

Ein Kreisverkehr, und dann folgt ein kurviger Weg, über den man nach etwa zwei Kilometern zu einem Hang kommt. Dort fängt das Viertel an. Als ich am Abhang angelangt bin, nehme ich den Fuß vom Gas und lasse den Wagen rollen. Die Tannen mit ihren schneebedeckten Wipfeln sausen vorbei, und ein Stück entfernt sehe ich kurz den Zaun, an dem früher immer ein Hund stand und bellte, ein Schäferhund war es, glaube ich, und manchmal zeigte ich ihm den Mittelfinger, fuck you. Dann war es Zeit, an der Halteschnur zu ziehen, die Handschuhe und Bücher oder was auch immer einzusammeln, nachzuschauen, ob man nicht den Fahrschein oder den Geldbeutel fallen gelassen hatte, ob jemand anderes da war, der auch aussteigen musste. Dann hielt der Bus. Es zischte leise, wenn die Tür sich öffnete, und roch nach verbranntem Gummi. Manchmal hob der Busfahrer die Hand und winkte.

Aber jetzt sehe ich weder den Schäferhund noch den Bus, nur Wald zu beiden Seiten des Weges, schmutzigen, verwehten Schnee, einen alten Autoreifen auf dem Bürgersteig, einen blauen Plastikfetzen, der an einem Ast flattert. Und über allem ist der Himmel weiterhin weiß. Die haben hier draußen alles verbaut, meint Vater, aber bisher merkt man davon nichts. Das Viertel wirkt noch immer öde.

Unten am Abhang angekommen, drücke ich aufs Gas und fahre bis zur Bushaltestelle. Ich schüttle die Füße ein wenig, um die Durchblutung anzuregen, sowohl meine Finger als auch die Zehen sind steif. Aber es sind ja nur ein paar Stunden, dann heißt es wieder ab ins Auto, nach Hause, eine warme Dusche. Zurück in Annikas Arme. Ein paar Stunden in einer eiskalten Hütte werde ich schon aushalten.

Jetzt fahre ich vorbei an dem alten Bushäuschen mit dem kaputten Dach, dort liegt eine vergessene Tüte auf der Bank. Hier hielt immer der Bus, und ich stieg aus. Balancierte entlang der Kante des Bürgersteigs, dachte zurück an das, was in der Schule geschehen war, fragte mich, was passieren würde, wenn ich nach Hause kam, griff nach dem Riemen, an dem der Fahrschein befestigt war, knabberte an der Plastikhülle, sodass Spucke hineingeriet und die Karte an den Ecken aufgeweicht wurde. Ich habe den Geschmack noch jetzt im Mund.

Bald liegt die Haltestelle hinter mir, und ich bin an unserem Weg angelangt; dem Weg, der bis zur Hütte führt. Noch immer ist hier kein Schild angebracht – wie die Straße heißt, steht auf der Karte, aber wer hier wohnt, sagt dazu nur «die Allee» oder «der Weg zum Bus». In die Allee muss ich abbiegen, ich setze den Blinker. Es fühlt sich nicht so an, aber es ist zwanzig Jahre her, seit ich das letzte Mal hier war. Zwanzig Jahre. Damals fuhr Großmutter ein ähnliches Auto wie ich, wir waren unterwegs in die andere Richtung, und sie sagte: «Wenn der Käse gegessen ist, dann ist die Mahlzeit vorbei», und damit war die Sache tatsächlich gegessen, das begriff ich schon damals. Auf der Rückbank drückte Vater meine Hand zu fest, aber ich jammerte nicht, sondern beugte mich näher zu ihm. Komisch, wie die Zeit vergeht, kann ich mir nicht verkneifen zu denken, obwohl ich merke, wie ausgelutscht dieser Satz klingt.

Ich werfe einen Blick in den Rückspiegel, niemand da. Es quietscht ein wenig an den Fenstern, als ich abbiege. Hier draußen auf den kleinen Wegen wird nie gestreut, deshalb bremse ich ab, und die Reifen drehen im Schneematsch durch, aber ich mache mir keine Sorgen, denn ich habe die alten, abgenutzten Spikereifen vor kurzem gegen neue ausgewechselt. Ich brauche eine Minute für das kurze Stück auf der Allee und biege dann in die Auffahrt, die am Grundstück des Nachbarn entlang hoch zur Hütte führt. Jetzt bin ich gleich da. Vater wird sich wundern. «Zum Henker, bist du schon da», wird er vermutlich sagen und mich dann im Flur umarmen. Ich sehe die Szene vor mir.

Aber gleichzeitig sehe ich etwas anderes. Ein Stück abseits des Weges, beim Hühnerstall des Nachbarn, stehen zwei Männer. Der eine hat eine rote Jacke an, das ist wahrscheinlich der Grund, warum ich die beiden überhaupt bemerkt habe. Der andere hält eine Stange oder einen Besen, den er nach unten zu drücken scheint. Und auf dem Boden liegt etwas, das sich bewegt  – zunächst kann ich nicht erkennen, was es ist.

Normalerweise würde ich einfach weiterfahren, doch jetzt tue ich es nicht. Keine Ahnung, warum – und später werde ich das Ganze auch bereuen –, aber ich bremse und parke am Wegrand. Ich beobachte sie einen Augenblick lang, bevor sie mich bemerken.

Es ist ein Hund. Der Mann mit der Stange zwingt ihn zu Boden, so wie die Leute im Fernsehen, wenn sie Straßenhunde einfangen, wobei der andere Mann etwas brüllt, es klingt wie «Halt ihn», und als er sich umdreht, sehe ich, dass es der Nachbar ist, Leif. Obwohl er ein Stück weg und meine Scheibe beschlagen ist, erkenne ich den Schnurrbart und die Brille. Vielleicht sieht er nicht, wer ich bin, aber ich nicke trotzdem.

Und nach dem Nicken kann ich ja nicht einfach weiterfahren, finde ich irgendwie. Also stelle ich den Motor ab und lasse das Lenkrad los, ziehe den Reißverschluss meiner Jacke hoch, stülpe die Mütze über den Kopf, wickle mir das Halstuch um, stopfe die Handschuhe in die Tasche und steige aus dem Auto, schlage die Tür zu.

Sie schauen zu mir rüber, Leif und der andere. Obwohl mir die Kälte ins Gesicht beißt, lächle ich, während ich auf sie zugehe; in komischen Situationen lächle ich, wie viele andere, ganz automatisch. Es dürften jetzt minus zehn Grad sein. Vor etwa zwei Stunden, als ich an einem Kiosk stehen blieb, um Kaffee und ein Sandwich zu kaufen, waren es wohl nur fünf Grad unter null und der Wind blies nicht, ich brauchte nicht einmal die Mütze. Aber hier draußen ist es immer kälter, als man denkt, und am allerkältesten ist es auf diesem Abschnitt des Weges. Hier hat man sich schon früher immer einen abgefroren.

Auch Leif lächelt, zupft an seiner Jacke. Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, war ich zwölf. In der Regel erkennen mich die Leute nicht einmal wieder, wenn sie mich ein paar Tage vorher gesehen haben – man könnte sagen, dass ich ein neutrales Aussehen besitze: kurz und kräftig mit hellbraunen Haaren und blaugrauen Augen. Aber er nickt und reibt die Hände aneinander, bevor er mir die Rechte hinstreckt.

«Du bist Matti, nicht wahr?»

«Ja, stimmt. Hallo, Leif.»

Seine Hand ist kälter als meine, und er hat keine Handschuhe. Überhaupt sieht er zu dünn bekleidet aus – seine Jacke ist so ein gefüttertes Flanellhemd, das er auch im Sommer immer anhatte, und es ist nicht zugeknöpft, man sieht das T-Shirt darunter, und der Hals ist flammend rot, nur seine Narbe unterhalb des Adamsapfels ist weiß.

Er tritt von einem Fuß auf den anderen. Wir lächeln weiter, schauen vorerst nicht auf den Hund. Leif macht Anstalten, etwas zu sagen, vielleicht will er fragen, was ich hier mache und noch dazu in diesen feinen Klamotten, aber es wird nur ein Brummen daraus. Ich antworte nicht auf die ungestellte Frage; habe irgendwie das Gefühl, dass es nicht der geeignete Moment dafür ist, und ich weiß auch gar nicht, ob er überhaupt eingeladen ist.

«Hallo.»

Das kommt von dem Typen mit der Stange. Aber er streckt die Hand nicht aus, sondern umklammert weiterhin den Griff.

«Hallo.»

Wir nicken einander zu. Er sieht aus, als wäre er in meinem Alter, hat von Akne vernarbte Wangen und trägt eine Kappe mit dem Logo des Schützenvereins BBK, wie wir sie in der Schule hatten. Ho und ha, BBK! Aber damals war er nicht dabei, sonst hätte ich ihn wiedererkannt.

Leif lacht. Es klingt, als wolle er sich entschuldigen. Wir stehen ganz nah beieinander, er, ich und der andere, und zwischen uns liegt der Hund, der noch keinen Laut von sich gegeben hat. Jetzt schaut Leif auf ihn herab.

«Na du.»

Da liegt er, regungslos, mit ausgestreckten Beinen und die an der Stange befestigte Eisenschlinge um den Hals. Wie ein gefährlicher Hund sieht er nicht gerade aus, jedenfalls nicht wie ein Kampfhund. Er ist klein und ziemlich schmal, er knurrt nicht und wirkt auch nicht besonders kräftig. Sein Fell ist beige, mit weißen Flecken an der Schwanzspitze und auf der Stirn. Aus dem einen Ohr rinnt Blut.

«Jetzt ist er ruhig.»

Das sagt der andere zu Leif, und Leif antwortet mit einem «Jupp», wirkt aber nervös, verzieht die Lippen, als jucke seine Zunge. Diese Geste kenne ich. Einer meiner Klienten macht genau dasselbe, wenn er mir bedeuten will, dass ich still sein soll, wenn er beispielsweise etwas erzählen will und ich eine Frage einstreue, dann macht er das. In so einem Fall bin ich in der Regel still, aber jetzt sollte ich zeigen, dass die Situation nicht seltsam ist, mit einer Bemerkung klarmachen, dass dies hier nichts ist, was mich aus der Fassung bringt. Mir fällt aber nichts ein, und ich schweige.

Der Wind weht leicht. Drüben auf der Straße ist alles ruhig, kein Verkehr zu hören. Der Himmel hat sich ein wenig verdunkelt. Der andere Typ schiebt seine Kappe zurecht, bevor er die Stange zur Seite reißt, sodass der Hund zusammenzuckt.

«Sollen wir ihn ins Auto bringen?»

Leif nimmt die Hände aus den Hosentaschen. «Tu das.»

Und ich sage: «Okay», als er mich anblickt, nur um etwas zu sagen. Der Kerl arbeitet sicher irgendwie mit Tieren, vielleicht als Tierarzt, in dem Fall hat sicher alles seine Ordnung, denke ich kurz. Aber als er weggeht, kommt mir der Gedanke, dass ein Tierarzt ein Haustier vermutlich nicht auf solch eine Art und Weise einfangen würde, dass ich schon dort beim Hühnerstall etwas hätte ahnen sollen, hätte fragen sollen, warum sie ihn eingefangen haben.

Der andere zieht jetzt an der Stange. Das Winseln des Hundes klingt, als würde er weinen. Unsicher wie ein neugeborenes Kalb erhebt er sich, den Kopf in der Schlinge, und stolpert vorwärts. Sie gehen auf ein großes weißes Auto zu, das Leif auch schon früher fuhr, er hatte immer eine Menge Baumaterial und Futter drin.

Leif und ich bleiben stehen und sehen ihnen nach. Zu unseren Füßen befindet sich ein Blutfleck, der einer Blume ähnelt, Klatschmohn vielleicht, aber Leif schiebt mit den Füßen Schnee darüber und trampelt ihn fest. Es ist jetzt kalt, der Wind weht stärker. Unten beim Pferdegatter wird Schnee aufgewirbelt, man hört den Wind in den Baumkronen um uns herum heulen, und die weiße Bacholde am Grabenrand wiegt sich hin und her.

Der Winter hat erst begonnen, aber es ist ungewöhnlich kalt. Ich blase warme Luft in die Hände, bevor ich meine Handschuhe anziehe, und will gerade etwas über das Wetter sagen, als Leif ein wenig nervös auflacht. Zumindest wirkt es so, aber sein Gesichtsausdruck ist schwer zu deuten, er steht halb abgewandt da, schaut zu seinem Auto rüber, kramt in der Hosentasche und holt die Schlüssel hervor.

Aber der andere hat bereits den Kofferraum geöffnet und den Hund hineingehievt, jetzt schlägt er die Kofferraumtür wieder zu, geht um den Wagen herum und setzt sich auf den Beifahrersitz.

Leif schaut auf die Schlüssel in seiner Hand. Er will losfahren, aber vielleicht denkt er, dass ich mich unterhalten will.

Sollte ich mich verabschieden? Er rasselt mit den Schlüsseln, nimmt sie in die eine, dann in die andere Hand, schließlich blickt er mich an.

«Äh, komm mit, dann erkläre ich dir alles.»

Es ist erst vier Uhr, ich bin zu früh dran. Heutzutage bin ich oft zu früh dran, ist mir aufgefallen. Ständig stehe ich herum und warte, habe oft Zeit, die alten Aufzeichnungen durchzulesen, bevor der Patient hereinkommt, oder vor einem Treffen Kaffee zu kochen und ihn auf den Tisch zu stellen. Vielleicht heißt das ja, dass ich erwachsen geworden bin. Wäre auf jeden Fall an der Zeit.

Eine Weile lang blicke auch ich stumm den Wagen an, aber eigentlich stellt sich für mich gar nicht die Frage, ob ich mitkommen soll oder nicht. Ich will wissen, wie die Geschichte weitergeht, das ist klar, und außerdem wäre es unhöflich, einfach so zu verschwinden, wenn er mich fragt, ob ich mitkommen will.

Ich nicke. «Ja, gut.»

Sobald ich mich auf dem Rücksitz niedergelassen habe, fährt Leif denselben Weg zurück, den ich gerade gekommen bin, vorbei an der Bushaltestelle, wo die Tüte noch immer auf der Bank liegt, vorbei an dem Autoreifen, dem Plastikfetzen im Baum, denselben Hang hoch, an denselben Nadelbäumen vorbei, denselben Schneewehen, aber nicht am Kreisverkehr und der Reihenhaussiedlung. Kurz davor biegt er in einen Waldweg ein, einen Weg, in den ich früher viele Male eingebogen bin.

Der Typ mit der Kappe summt eine mir unbekannte Melodie, während Leif und ich schweigend dasitzen. Hinter meinem Rücken befindet sich ein Gitter und dahinter der Hund. Wahrscheinlich ist es ein Streuner, denn er ist so mager, dass man die Rippen sieht, und er wirkt erschöpft, hat Mühe zu atmen. Obwohl ich nichts über Hunde weiß, sehe ich, dass er nicht gesund ist. Jetzt liegt er auf dem Bauch und leckt eine Pfote, dreht die Ballen nach oben und nagt ein bisschen daran herum, sodass sich die Schnauze runzelt.

Als ich mich dem Gitter nähere, sieht er mich, öffnet das Maul, und Sabber läuft seinen Hals entlang. Ich wende mich ab. Fange Leifs Blick im Rückspiegel auf. Er fährt sich mit der Zunge über die Oberlippe, unter dem Schnurrbart. Dann lächelt er.

«Die ganze Sache ist ja schon ein bisschen verrückt.»

Ich brumme statt einer Antwort. Was soll ich schon sagen? Er hebt den Hintern und schiebt eine Snusdose in die Gesäßtasche, blickt wieder in den Rückspiegel. Wir fahren weiter auf dem Waldweg, der inzwischen ziemlich holperig ist.

«Aber es ist halt so … dass der Hund uns hier verdammt viele Probleme bereitet hat, kann man sagen. Er hat mehrere Leute aus der Gegend angegriffen, und vor einer Weile ist er im Zentrum auf einen Jungen losgegangen, dem ist zum Glück nichts passiert, und die Bullen haben nur eine Warnung ausgesprochen. Aber so geht es einfach nicht. So kann es nicht weitergehen.»

Nachdem er «So kann es nicht weitergehen» gesagt hat, packt er den anderen Typen an der Schulter, schaut mich aber weiterhin an.

«Für die Leute mit Kindern ist das untragbar, nicht wahr. Jocke hier hat zwei kleine Mädchen, und die können kaum raus ins Freie und spielen und so. Dieser Hund ist verdammt aggressiv, weißt du.»

Ich nicke. Jocke sagt nichts. Leif schiebt seine Brille zurecht und hört auf, mich durch den Rückspiegel anzustarren. Ich schaue hinaus. Jetzt weiß ich genau, wo wir sind. Hier kommt der Weg, der früher mit einer Schranke abgesperrt war. Genau. Diese Schranke umkurvten wir jedes Mal, wenn wir auf unseren BMX-Rädern angefahren kamen, auf dem Weg zur Sandgrube. Dorthin sind wir bestimmt auch jetzt unterwegs, zur Sandgrube, denn so viel anderes gibt es in diese Richtung nicht, sofern man nicht durch den ganzen Wald fährt, um bis zur Autobahn zu gelangen, aber dorthin und wieder zurück würde zwei Stunden dauern, und das ist kein kleiner Abstecher, selbst wenn man hier wohnt.

Als Leif das Fernlicht einschaltet, merkt man, dass es bereits angefangen hat zu dämmern, und es schneit auch. Dünne Flocken schweben im Licht der Scheinwerfer herab, während wir über den schmalen Weg fahren.

Jetzt sind wir auf dem geraden Stück, wo wir immer Rennen veranstaltet haben. Damals war der Weg nicht ganz so holperig wie jetzt, es ging ab wie die Post, und Vater war immer schneller, wenn es nicht kurvig war, irgendwann verschwand er einfach in der Ferne, obwohl ich mit aller Kraft in die Pedale trat. Das war in dem Sommer, als es passierte, im letzten Sommer, mit dem Penis-an-Penis und dem Gewehr im Bootshaus. Der Verlierer des Rennens war Schiedsrichter. Mit diesem Trick gaben wir uns gegenseitig Punkte. Jetzt fahren wir an dem Graben vorbei, über den wir immer gesprungen sind. Es kitzelt im Bauch. Ich erinnere mich, wie wir den Abhang hinabrasten und wie das Rad unter einem so durchgerüttelt wurde, dass man einen Steifen bekam, wie man über den Graben flog, den Wind in den Haaren, das Ziehen im Magen und den salzigen Geschmack im Mund.

Hinter mir hat sich der Hund aufgerappelt und steht schwankend am Gitter, die Augen halb geschlossen, den Kopf gesenkt und einen Blutstreifen quer über dem Gesicht, wie eine Indianerbemalung. Ich beuge mich etwas vor.

«Was habt ihr mit ihm vor … wollt ihr ihn umbringen oder was?»

«Wir müssen

«Hm, ich kann mir vorstellen, dass …»

«Es gibt wirklich keine andere Lösung. Wir wollen das nicht, aber ich meine, was sollen wir machen, die Polizei zu rufen ist ja auch nicht besser, und warten wir, dann kommt letzten Endes noch eines unserer Kinder zu Schaden.»

«Wie wollt ihr es anstellen?»

«Man schießt ihn in den Schädel, ein Schuss reicht, und das Tier spürt dabei nichts. Und besser so, als dass die Polizei kommen und es machen muss, nicht wahr?»

Hinter mir jault der Hund. Der Lärm ist furchtbar, ich würde mir gern die Ohren zuhalten, aber stattdessen versuche ich, an etwas anderes zu denken. Kannst du nicht still sein? Nein, er macht weiter. Wir fahren an einem gelben Haus vorbei, dem einzigen Gebäude entlang dieses Weges, dort hat man nie eine Menschenseele gesehen, jemand hat es wohl auf einer Reise unterwegs hier verloren, so wirkt es jedenfalls. Hinter den Fenstern ist kein Licht, wahrscheinlich wohnt dort niemand und hat auch nie jemand gewohnt, nicht einmal damals, als Vater und ich die Äpfel klauten.

Der Hund jault noch immer, lauter jetzt, da helfen auch keine ablenkenden Gedanken.

Aber wir sind da, man kann die Sandgrube erkennen, und Leif hält an. Er löst seinen Gurt und dreht sich um, er hat eine Furche zwischen den Augenbrauen und Tabakreste im Schnurrbart.

«So.»

Draußen schweben die Schneeflocken herab. Es ist dunkler geworden, und in ein paar Stunden zeigen sich vielleicht die ersten Sterne.

«So. Hier holen wir ihn raus. Wir haben ja so eine Stange, mit der wir ihn auf Abstand halten können. Jocke hält ihn, und ich gehe ein paar Schritte zurück und gebe dann einen Schuss ab. Das geht schnell.»

«Gut.»

Sage ich. Und da beugt sich Leif zwischen den Sitzen nach hinten und legt eine Hand auf mein Knie, packt es fest. Seine Finger sind noch immer rot von der Kälte, die Nägel eine Spur zu lang.

«Danke, Matti. Danke, dass du es verstehst. Weißt du, der Hund würde früher oder später sowieso eingeschläfert, aber bis dahin würde er noch mehr Leute anfallen, und das könnte schlimm ausgehen, ja, du weißt schon.»

Nein, ich weiß gar nichts, aber ich habe auch keinen Einwand vorzubringen.

Nachdem sie aus dem Wagen gestiegen sind, bleibe ich kurz sitzen, denke, dass ich am besten warte, dass ich die Fensterscheibe runterkurbeln und eine Zigarette rauchen kann, während sie ihre Sache erledigen, aber als ich höre, dass sie sich direkt hinter den Wagen stellen, setze ich die Mütze auf und steige auch aus.

Schnee fällt mir in den Kragen, ich ziehe die Mütze über die Ohren. Da stehen sie hinter dem Wagen, Jocke mit der Stange und Leif, dessen Hemd im Wind flattert, das Gewehr unter dem Arm, aber noch haben sie den Kofferraum nicht geöffnet. Leif fragt, ob ich das übernehmen kann.

«Machst du auf?»

Er kontrolliert die Munition, während sich der Schnee auf seinem Kopf und seinen Schultern sammelt und Leifs Brille wieder beschlägt.

Der Hund hat sich hingelegt, aber als die Kofferraumtür aufgeht, erhebt er sich zitternd. Steht so ruhig wie möglich und schaut mich an, wirkt ein bisschen froh, als käme ich mit Leckereien. Nein, mein Lieber, du kriegst eine Kugel in den Kopf, wir erschießen dich jetzt. Der Hund kapiert das offenbar nicht, denn er versucht nicht abzuhauen, als Jocke hinter mir vorkommt und die Stahlschlinge an ihn heranführt. Er lässt sie langsam über den Kopf des Hundes gleiten, dann zieht er sie zu, wirft einen Blick über die Schulter.

«Fertig?»

«Fertig.»

Fünf Schritte entfernt steht Leif, zielt jetzt und bedeutet mir mit einem Kopfnicken, dass ich zur Seite gehen soll, aber ich bleibe kurz stehen, sehe dem Hund in die Augen. Das Tier blinzelt. Ein Blutfaden hängt ihm von der Zunge. Außer dem Wind ist nichts zu hören. Der Verkehrslärm der Landstraße reicht nicht bis hierher, und der Hund winselt nicht mehr.

Sollte ich etwas sagen?

«Geh zur Seite, Matti!»

Ich gehe zur Seite. Stelle mich neben das Auto und sehe zu, wie Jocke an der Stange zieht. Er zieht einmal, noch einmal, aber der Hund kommt nicht heraus, sondern setzt sich auf sein Hinterteil, versucht, den Kopf zurückzuziehen, und sträubt sich mit aller Macht, als ahne er etwas, jetzt, wo es viel zu spät ist, als wäre ihm klar, was ein Gewehr ist. Du kriegst eine Kugel in den Kopf, ja, so ist es.

Leif schickt eine Spucksalve in den Schnee. «Nun mach schon.»

Jocke stellt sich etwas breitbeiniger hin und zieht die Stange mit voller Kraft nach unten, aber es hilft nichts, ganz im Gegenteil: Der Hund reißt den Kopf zur Seite, macht einen Buckel und wirft sich hin und her.

«Verdammte Scheiße!»

Beim ersten Mal, als der Hund sich hin und her schmeißt, hält Jocke dagegen, aber beim zweiten Mal entgleitet ihm die Stange und fällt auf die Erde. Da duckt sich der Hund und schlüpft aus der Schlinge. Eine Sekunde lang steht er reglos da, sieht aus, als setze er zum Sprung an.

«Pack ihn!»

Leif zeigt auf den Hund, und jetzt sollte ich die Kofferraumtür zuhauen, doch stattdessen mache ich einen Schritt nach vorn, bis ich direkt vor dem Tier stehe, die Hände vor mir ausgestreckt, ohne Handschuhe. Dann geht alles so schnell, dass ich nicht sehe, was passiert, aber ich spüre, dass der Hund zuschnappt, es fühlt sich an wie ein Wespenstich, und ich falle um.

Ja, ich falle tatsächlich um.

Einige Sekunden darauf ertönt ein Schuss. Ein gellendes Bellen. Und gleich darauf noch einen Schuss. Als ich mich aufrapple, sehe ich, dass Blut von den Fingern meiner rechten Hand rinnt, und ich presse sie an mich, es pocht in meinem Arm und hoch bis zur Schulter.

Der Hund ist nicht zu sehen, aber ein paar Schritte weiter steht Leif mit dem Gewehr im Anschlag. Er schaut nicht zurück, als er spricht.

«Bist du verletzt?»

Ich schüttle den Kopf. «Nee.»

«Gut. Warte hier. Warte einfach hier.»

In der Dunkelheit und dem Schneegestöber läuft Jocke den Weg entlang, den wir hergefahren sind, und man kann ihn fluchen hören, aber man sieht ihn kaum. Bevor Leif in dieselbe Richtung rennt, macht er eine Geste mit der Hand, vielleicht winkt er mir zu, und bald ist auch er verschwunden. Nur noch ich stehe an der Sandgrube, gegen den Wagen gelehnt, und es klingelt in meinen Ohren. Ich umklammere meine verletzte Hand, lausche eine Weile, ob ein Schrei ertönt oder ein Schuss fällt, höre aber nichts, nur den Wind und mein Schniefen.

Der Schnee wirbelt herum. Zu meinen Füßen sehe ich mehrere kleine Blutflecken, ich weiß nicht, ob sie von mir oder dem Hund stammen, aber ich schiebe etwas Schnee darüber und trample ihn fest. Dann ziehe ich den Jackenärmel über meine Hand. Es sticht heftig, als die Haut den Stoff berührt. Vorsichtig massiere ich mit der Linken meine Schulter und den Arm, versuche, die Finger leicht zu bewegen.

Ich stehe eine Weile da und lehne den Kopf gegen das Auto. Schneeflocken fallen auf mein Gesicht. Tja nun, Annika. So ist man hier mit zwei Nachbarn an der Sandgrube gelandet, wurde von einem Hund gebissen. Hätte man nicht gedacht, aber trotzdem typisch, nicht wahr? Ich kann nicht umhin zu grinsen, obwohl es weh tut. Du solltest mich jetzt sehen.

Als ich von zu Hause losfuhr, stand Annika im Flur, eingewickelt in eine Decke, und legte die Hand auf meinen Arm. «Bist du sicher, dass ich nicht mitkommen soll?» Und: «Aber versprich mir, dass du dich meldest, wenn etwas sein sollte, versprich mir das, ja?»

Ich werde trotzdem noch etwas warten, bevor ich sie anrufe, am besten erledige ich das, sobald ich bei Vater bin, da kann ich mich zurückziehen.

Die Hand schmerzt, und es ist kalt. Vielleicht bleiben sie länger weg. Ich habe keine Lust, hier draußen zu warten. Ich schlage die Kofferraumtür zu und setze mich wieder in den Wagen. Auf dem Boden finde ich eine Zeitung, aus der ich einige Seiten herausreiße, um die Wunde abzuwischen. Erst da sehe ich die Bissspuren genauer an – drei auf dem Handrücken und eine in der Haut zwischen Daumen und Zeigefinger, ganz schön tiefe Wunden, die noch immer stark bluten. Das ist ein richtiger Biss, ganz klar.

Ich wische alles sauber, so gut es geht, und dann wickle ich mein Halstuch darum, lasse die Hand still auf dem Knie ruhen. Der Wind heult. Ich lehne mich zurück und warte, bin schließlich neuerdings daran gewöhnt zu warten. Ich habe es ja auch nicht eilig. Es gibt nichts für mich zu tun, außer hier im Auto zu sitzen, sonst gar nichts. Es ist warm und riecht süßlich, wie billiges Parfüm. Ich schließe kurz die Augen, sehe, wie der Hund zur Seite springt, den Kopf hin und her wirft, aus der Schlinge schlüpft, und ich spüre fast noch einmal den Biss in der Hand.

Erst als sie vor den Wagen treten, sehe ich Leif und Jocke, aber ihre Stimmen habe ich schon eine Weile vorher gehört. Sie streiten sich. Nur vereinzelte Worte dringen zu mir. «Deine Schuld, der Hund, kapierst du nicht.» Sie waren bestimmt über eine halbe Stunde weg. Ich war eingenickt.

Leif setzt sich auf den Fahrersitz, klemmt das Gewehr zwischen die Beine, und Jocke, der seine Kappe nicht mehr auf dem Kopf trägt, steigt auf der anderen Seite ein. Es ist kalt geworden im Auto. Ich beuge mich vor.

«Was ist passiert?»

Aber Leif antwortet nicht. Er lässt nur den Motor an und stößt rückwärts auf den Weg, denselben, den wir schon beim Herfahren genommen haben, logisch, und dann fahren wir wieder zurück, aber es geht jetzt schneller – schneller, als ich im Dunklen auf einem glatten Waldweg hätte fahren wollen. Bloß keine weiteren Fragen, das ist mir klar, und ich kann mir ja selbst ausrechnen, was passiert ist, sie haben ja keinen Hund dabei. Jocke fummelt an seinem Handy herum, und ich sitze nach vorn gebeugt da und schaue zwischen den Vordersitzen hindurch auf den Weg. In der Tasche krampft sich meine linke Hand um die Zigarettenschachtel, in der anderen pocht es. Kleine Blutflecken tauchen auf dem Halstuch auf.

Nach einer Weile schlägt sich Leif mit der Hand auf den Oberschenkel.

«Na ja, ich hab ihm ins Hinterbein geschossen, also lebt er leider noch eine Weile, aber die Nacht übersteht er auf keinen Fall. Der Blutverlust wird ihn umbringen.»

«Ah. Hm.»

«So ist es.»

Er schiebt die Brille zurecht. Wir fahren an dem Graben vorbei, der Öffnung im Zaun, das gerade Stück entlang, wo wir unsere Rennen veranstalteten, vorbei an diesem einsamen gelben Haus. Es hat inzwischen aufgehört zu schneien. Leif fährt etwas langsamer, und als wir die Straße erreichen, nimmt er den Fuß vom Gas, kurbelt die Fensterscheibe herab und schmeißt seinen Snusbatzen hinaus. Kalte Luft strömt herein, bevor er die Scheibe wieder hochkurbelt. Ich fange seinen Blick im Rückspiegel auf.

«Du hast dir doch nicht weh getan, als du hingefallen bist, oder?»

«Nein … aber ich hab einen Biss in die Hand abgekriegt. Keine Sorge, nichts Gefährliches.»

«Er hat dich gebissen?»

«Hm …»

«Er beißt also tatsächlich, das macht er. Lass mal sehen!»

Sofort hält er an, dreht sich um und bedeutet mir mit einer Handbewegung so etwas wie «Los, nun komm schon». Auch Jocke dreht sich um und blickt auf das Halstuch, also wickle ich es vorsichtig auf. Die Hand ist ziemlich geschwollen, so sehr, dass kein Raum mehr zwischen den Fingern ist, und als ich die Hand auf das Knie lege, fühlt sie sich wie etwas an, das nicht mehr zu meinem Körper gehört. Jocke saugt Luft zwischen den Zähnen ein und wendet sich ab, aber Leif packt mein Handgelenk und drückt auf der Wunde herum.

«O verflixt. Das sieht nicht gut aus, weißt du. Damit solltest du eigentlich zum Arzt. Diese Kacke müssen wir mit Alkohol desinfizieren und verbinden. Du fährst heute Abend nicht mehr nach Hause, oder?»

Er lässt mein Handgelenk nicht los, während er mich über den Rand seiner Brille hinweg ansieht, aber ich ziehe die Hand zurück und schüttle den Kopf.

«Nein, aber ich …»

«Marianne soll sich das ansehen, sie kann so was, solche Wunden muss man ordentlich desinfizieren, weißt du.»

Es blutet nicht mehr, aber Stoffflusen sind im geronnenen Blut kleben geblieben, und ich kann die Finger nicht ganz durchbiegen.

Das ist nicht gut.

Ich wickle das Halstuch wieder vorsichtig herum, stecke die Hand in die Jackentasche und lächle.

«Ich hab einen Verbandskasten im Auto, das krieg ich schon hin.»

«Das darfst du nicht selbst machen.»

«Aber das geht schon.»

«Nichts da.» Er schiebt die Brille hoch und zeigt auf meine Jackentasche. «Du lässt Marianne mal einen Blick darauf werfen.»

Marianne dürfte seine Frau sein, aber soweit ich mich erinnere, hieß die früher anders, vielleicht Eva, doch das spielt keine Rolle, er kann ja noch einmal geheiratet haben. Viele Leute heiraten ein zweites Mal, und es sind zwanzig Jahre vergangen. Zwanzig Jahre.

Ich verbanne diesen Gedanken aus meinem Kopf, bevor mir schwindlig dabei wird – denk nur, wie alt ich bin, denk nur, wie viel vom Leben …

«Das krieg ich schon hin.»

Ich sage das so entschlossen, als sei es mein letztes Angebot, aber er lässt den Motor nicht wieder an, und man sieht es ihm an, dass er stur ist, ein Mensch mit streng geschnittenem Schnurrbart und einer weißen Narbe am Hals. Einer, der immer das letzte Wort haben muss.

«Kommt nicht in Frage.»

«Aber Leif, ich verspreche dir …»

«Du kommst mit.»

«Na gut. Okay, dann komme ich also mit.»

Als ich das gesagt habe, gibt er mir einen Klaps auf die Schulter, sodass mir der Schmerz bis in die Finger fährt. Es ist bald vollkommen finster draußen, und mir wird klar, dass ich heute Abend nicht mehr zu Vater gehen werde, es wird zu spät.

Dann fahren wir weiter.

 

Nachdem wir beim Hühnerstall geparkt haben, steigt Jocke mit einem «Bis dann» aus, knallt die Tür hinter sich zu und verschwindet in die andere Richtung, rauf zu den neueren Villen auf dem Hügel, die, über die Vater so geflucht hat. Er scheint es eilig zu haben.

Ich bleibe auf der Rückbank sitzen. Für einen Moment herrscht Schweigen. Leif kramt in seiner Tasche nach der Snusdose. Ich ziehe das Halstuch fester um die Hand, blicke auf seinen breiten Nacken. Er formt aus dem Tabak eine Kugel.

Als er sich umdreht, den Sitzrücken umfasst und seinen Kopf vorneigt, wirkt es, als seien wir zwei Klassenkameraden, die sich von einer Schulbank zur nächsten unterhalten. Er hat auch so einen Ton.

«Jo, Matti, nur um’s klarzumachen, die Sache bleibt unter uns, okay? Du sagst nichts zu meiner Frau, ja?»

«Äh, ja. Okay.»

Da stopft er den Batzen Tabak unter die Oberlippe, schiebt ihn mit der Zunge zurecht.

«Gut. Weißt du, die anderen kapieren es nicht. Das hat ja nichts mit Lasse zu tun. Ich mag deinen Vater, aber er kann mit einem Hund einfach nicht umgehen.»

Habe ich mich verhört? Eine Sekunde lang glaube ich es, aber das ist nicht der Fall. «Dein Vater», das hat er gesagt. Er sitzt ja direkt vor mir und spricht deutlich. Ich beuge mich vor.

«Moment mal. Was sagst du da?»

Zwei

Kaum öffnet Lasse die Augen und sieht, dass er unter dem Küchentisch liegt, will er nur noch wieder einschlafen, den ganzen Tag verpennen, aber obwohl er die Augen schließt und sich zusammenrollt, klappt es nicht. Müde ist er schon, aber trotzdem vollkommen wach, als habe ihm jemand eine Flasche Spiritus direkt unter die Nase gehalten.

So ist es manchmal, ungerecht – wenn man munter sein will, ist man müde und umgekehrt. Nichts ist, wie es sein soll, gottverdammt noch mal, und es wird nicht besser, wenn man älter wird. Im Gegenteil, erst da fängt man an, darüber nachzudenken, und ist trotzdem ziemlich dankbar, wenn alles einigermaßen funktioniert: Wenn man müde einschläft und munter aufwacht. Aber das geschieht ja immer seltener, je älter man wird.

Und jetzt kann er nicht mehr einschlafen, das steht fest. Er friert noch mehr als sonst, rutscht etwas näher zur Wand, wie eine Kröte ans Teichufer, lässt einen feuchten Furz fahren und spürt, wie der zwischen den Arschbacken hochkriecht.

Vielleicht ist er empfindlicher geworden, nachdem er es eine Weile ruhiger hat angehen lassen, ist sozusagen verweichlicht, denn solche Kopfschmerzen kriegt er sonst nicht, das ist kein Standardding, nein, damit ist nicht zu scherzen. Es tut weh wie Sau, und das sind Schmerzen, gegen die selbst ein Mittel wie Alvedon nichts ausrichten kann. Da braucht es stärkeres Zeug, aber er hat nichts mehr, denn wenn man was einschmeißt, dann richtig, sonst hilft es nichts, und deshalb reicht so eine Verschreibung nicht lange, und jetzt kriegt er vielleicht nicht mal was Neues, jedenfalls nicht von diesem knickrigen polnischen Arzt, zu dem er bisher gegangen ist.

Warum darf er nicht einfach wieder einschlafen und alles für eine kurze Weile vergessen? Nein, der Gestank beißt in der Nase, die kann man nicht täuschen. Außerdem pappt ihm das Hemd auf der Haut, im Haar hat sich was verklebt, und tief unten in der Kehle spürt er den Geschmack, der an Tomatensoße, gemischt mit Lakritze, erinnert – diesen Geschmack, mit dem er eine Zeitlang jeden Tag aufgewacht war und an den er sich gewöhnt hatte. Obwohl er es allerdings normalerweise bis zum Waschbecken zu schaffen pflegte, jedenfalls solange Mutter noch lebte.

Zu der Zeit traute man sich auch gar nichts anderes, denn das war kein Spaß, die Klamotten oder den Teppich vollzusauen, wo es keine Waschmaschine gab. Und im Nachhinein versteht man das nur zu gut, wenn man selbst mit dem Kübel ranmuss.

Das Licht, das durchs Fenster fällt, landet direkt in seinem Gesicht. Es muss eine dieser wenigen Sonnenstunden im Dezember sein, die ausgerechnet jetzt kommt, und noch dazu platziert sich die Sonne so, dass sie reingucken kann. Langsam dreht er den Nacken und lässt den Blick durch den Raum wandern: Boys’ Sessel ist umgeworfen, ach genau, ja, die Flasche steht auf dem Wohnzimmertisch, Rosinen und Nüsse sind über den Boden verstreut, und einen Meter vor ihm liegt diese Tüte. Die Tüte, ja.

Noch bevor er sie zu sich heranzieht und nachsieht, weiß er, was sich darin befindet: ein türkisfarbener Slip, zwei Bierdosen und ein Röhrchen mit Pulver, so einem Pulver. Heutzutage sieht man das ganz oft.

Ja, irgendwas ist in den letzten fünf Jahren passiert. Die Leute haben mit härterem Zeug angefangen, zumindest die jüngeren, aber verfluchte Scheiße, das ist nichts für einen alten Knacker wie Lasse, nichts für seine Generation ganz allgemein. Nur Idioten nehmen so ein Zeug, das das Leben total zerstört, das Familien auseinanderreißt und dafür sorgt, dass man einen normalen Job nicht mehr schafft.

Man kapiert das, wenn man eine Weile dabei war, aber nicht, wenn man neu im Spiel ist. Man muss gewissermaßen A gesagt haben, um B sagen zu können. Genau deswegen erzählt er den Jungs im Heim auch, wie es im richtigen Leben zugeht, wie es den Typen, die wirklich solches Zeug nehmen, eigentlich ergeht, denn er weiß das und hat Geschichten parat, die wahrer sind als based on a true story. Und die Jungs hören ihm zu, ja tatsächlich, vielleicht hat er also dem einen oder anderen das verklickern können, zumindest sieht es so aus.

Er holt das Röhrchen aus der Tüte, wiegt es in der Hand. Es ist ungefähr so schwer wie drei Zuckerstückchen. Das ist ja nicht viel, mag manch einer meinen, aber Lasse weiß, dass es ziemlich viel ist, auf dem Markt, sozusagen. So viel, dass Stefan zurückkommen wird, um es zu holen. Ach verdammt. Den Slip fischt er auch heraus – er ist benutzt, riecht so muffig wie manchmal seine eigenen Unterhosen, wenn er sie einen Tag zu lang getragen hat, nur schlimmer, säuerlich. Wie Weiber da unten halt so riechen. Als Lasse ihn gegen die Nase drückt, sieht er noch einmal, wie sie ihn ausgezogen hat, wie sie kicherte, und all das andere.

 

«Hey, willste sie jetzt ficken oder nicht, das willste schon, hä … Lasse … sie ficken?»

Lasse wusste, dass es keinen Sinn ergab zu antworten, also strich er stattdessen mit der Hand über Boys’ warmen Rücken, blickte zum Fernseher, versuchte so zu tun, als wären sie nicht da, als tue er das, was er vorgehabt hatte zu tun: ausspannen, Tee trinken, ein paar Rosinen und Nüsse mampfen, den Film anschauen und dann ab in die Heia, bloß keinen Unsinn.

Aber Stefan war zugedröhnt, das merkte man sofort. Schon allein die Tatsache, dass er nicht anklopfte, sondern einfach in Schuhen hereinspazierte. Man konnte über diesen Kerl sagen, was man wollte, aber so verhielt er sich normalerweise nicht. Entweder hatte er darauf gepfiffen, nach seinem Ausgang wieder zurückzugehen, oder er hatte sich mit jemandem gestritten, oder das Gesuch, seinen Sohn sehen zu dürfen, war abgewiesen worden – in solchen Situationen war Stefan auf hundertachtzig. Und dann konnte man nur abwarten wie bei einem Kind oder wie bei Mutter, wenn sie schimpfte. Nicht wütend werden, sondern lächeln und schweigen oder kurz angebunden antworten. So machte Lasse es in der Regel, und das klappte meistens. Nach einer Weile beruhigte sich Stefan dann. Aber zuletzt war bei ihm viel schiefgelaufen, noch mehr als sonst, vielleicht weigerte er sich deshalb nachzugeben.

Lasse hatte ihnen nichts zu trinken angeboten, als sie gekommen waren, hatte nicht einmal den Fernseher ausgeschaltet oder höflich geplaudert, aber sie hatten sich trotzdem gesetzt und eigene Getränke hervorgeholt.

Stefan öffnete sein Bier mit den Zähnen, spuckte den Deckel auf den Boden.

«Würdst schon gern ran, hä? Willste sie ficken?»

Im Fernseher fingen die Nachrichten an, eine Reportage über Entlassungen bei Saab, und Lasse streichelte Boys am Hals, dann weiter unten zwischen den Vorderbeinen, über den Rücken, während der Hund schmatzte und die Schnauze gegen Lasses Armlehne drückte. Im Hintergrund nölte Stefan weiter.

«Haste schon mal mit so einem alten Opa geschlafen? Ach, sei nicht so schüchtern. Sieh es als ’ne gute Tat. Der hat seit mindestens zehn Jahren nicht mehr gefickt, hat nur bei seiner Alten gewohnt, verstehste? Ich hab doch recht, du hast seit zehn Jahren nicht mehr gefickt, Lasse, oder? Los, antworte!»

Stefan brüllte fast, aber Lasse starrte auf den Fernseher und streichelte weiter, dabei dachte er: Ruhig Blut, lass ihn reden, dann ist es bald vorbei. Er nahm sich eine Handvoll Nüsse, kaute, streichelte. Boys war es, der schließlich reagierte. Herrchens Hand glitt ab, als der Hund plötzlich im Sessel hochfuhr. Noch knurrte er nicht, aber er duckte sich leicht und ließ Stefan nicht aus den Augen, und es war klar, dass er sich sammelte, dass er mit einem Satz zubeißen konnte. Der Schwanz stand waagrecht von seinem Körper ab.

Lasse wollte keine Streitereien, nicht jetzt. Daher musste er sein kleines Alphamännchen sofort besänftigen, ihm begreiflich machen, dass es der falsche Moment war. Vorsichtig legte Herrchen die Hand auf Boys’ Flanke und senkte die Stimme.

«Ruhig, schön ruhig. Papi regelt das schon.»

In den meisten Fällen klappte das, aber nicht immer. Manchmal war Boys einfach zu wütend, irgendwie blockiert. Dann konnte man ihm Wasser drüberschütten oder schreien, so viel man wollte, das half alles nichts.

«Schau den Alten an, schau ihn an, sag ich!»

Jetzt war ein leises Knurren zu vernehmen, Boys’ Nackenhaare stellten sich auf. Alle, die etwas von Whippets verstehen, wissen, dass sie keine Wachhunde sind und schon gar keine Kampfhunde, dass sie solche Instinkte nicht haben sollten – aber dieser Racker hatte sie. Kein Zweifel an der Sache.

Boys war Boys, ganz einfach. Und wollte jemand wissen, was für ein Hund das war, dann antwortete Lasse, dass das kein gewöhnlicher Köter sei, auch kein gewöhnlicher Whippet.

Nun war der Hund bereit zur Attacke. Aber Lasse ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, klang auch ruhig.

«Jetzt reg dich mal ab, hörst du.»

Er streichelte seinem Racker über den Rücken, vom Hals bis runter zum Schwanz, in einem Zug, fuhr fort, beruhigende Dinge zu sagen, langsam und bestimmt zu streicheln, und schließlich setzte Boys sich wieder hin, hörte auf zu knurren.

«Gut so, das ist gut, braver Junge.»

Manchmal wurde es anstrengend, wenn Boys ausrastete, zum Beispiel, als er einmal diese Jungs angegriffen hatte, die eigentlich selbst schuld waren, aber trotzdem: Die Sache endete im Chaos. Eltern, Sozialamt, Nachbarn, alle brüllten sie wild durcheinander, diese Schwachmaten. Ja, das war anstrengend. Aber sonst hatte es auch Vorteile. Wenn er beispielsweise Laut gab, sobald einer der Nachbarn in Richtung Grundstück ging, und zeigte, dass es nicht in Ordnung war, wenn jemand der Hütte zu nahe kam.

Nun schloss der Hund die Augen, legte den Schwanz in einem Kringel um die Hinterbeine, lehnte sich gegen Lasses Oberschenkel. Lasse kraulte ihn hinter den Ohren.

«Du kleiner Scheißer, hm, du bist ein Braver, mein kleiner Boysiboy.»

Stefan verpasste dem Mädchen einen solchen Stoß, dass es um ein Haar zu Boden gestürzt wäre.

«Geh jetzt zu ihm rüber, geh, sag ich!»

Und kichernd rappelte sie sich auf, kam auf Lasse zu. Nachdem sie ihn eine Weile angeglotzt hatte, während er den Blick nicht von Boys abwandte, ließ sie sich auf der Armlehne des Sessels nieder, die Lehne, die dem Hund am nächsten war. Und gerade als Lasse aufseufzte und ihr sagen wollte, dass sie sich nicht dorthin setzen solle, da streckte sie die Hand aus und streichelte Boys am Kopf, und Boys ließ sie einfach machen, ja, er machte nicht einmal die Augen auf.

Da wischte sich Stefan mit der Hand über den Mund. «Nimm dich vor diesem Köter in Acht.»

Aber das Mädchen sah nicht zu ihm hin, sondern nur zu Boys, dann zu Lasse. Ihr langes braunes Haar hing vor ihrem Gesicht herab, das kindlich wirkte, vielleicht weil die Wangen so rund waren. Die Augen hatte sie schwarz geschminkt, die Lippen lila. Als sie mit der Hand über Boys’ Rücken fuhr, streifte sie Lasses Arm.

Die Nachrichten waren zu Ende.

«Wie heißt er?»

Sie fragte Lasse, sah aber aus, als würde sie auf etwas hinter ihm starren, vielleicht auf den Hundekalender oder die Fotos von Matti.

«Boys.»

«Wie dieser Film?»

«Ja, genau.»

«So ein Hübscher.»

Ihre Stimme war piepsig. Wie alt sie wohl war? Sechzehn vielleicht, ein paar Jahre älter als Matti, als er auszog.

Eine Weile saßen sie schweigend da. Der Wetterbericht fing an, während das Mädchen Boys weiterstreichelte und Lasse sich eine Handvoll Nüsse in den Mund stopfte; er roch den Duft ihres Haars, wie Vanilleeis, man bekam geradezu Lust, daran zu lutschen.

Als sie Boys am Bauch kraulte, fing er an zu schmatzen, und nach einer Weile rollte er sich auf den Rücken und lag mit geschlossenen Augen und in die Luft gestreckten Beinen da. Wie ein Krebs. Börje hatte oft gesagt, dass dieser Hund verdammt noch mal wie ein Krebs aussah, ein zaundürrer Scheißkrebs.

«Dieser Köter ist komplett gestört, ich schwör’s dir.»

Das kam von Stefan. Weder Lasse noch das Mädchen erwiderten etwas.

Jetzt war das Wetter vorbei, und die Ansagerin kündigte an, dass nun ein Spielfilm kam.

Das wusste Lasse. Schon vor mehreren Tagen, als die Fernsehbeilage mit der Zeitung gekommen war, hatte er ihn im Programm eingekringelt, und wegen dieses Films hatte er es sich vor dem Fernseher bequem gemacht. Aber Stefan pflanzte sich vor den Sessel, sodass man nur noch den Rand des Bildes sah, und sobald der Film begonnen hatte, wurde Lasse klar, dass er ihn verpassen würde. Stattdessen durfte er den Junkie anschauen, der sein Freund war, den Typen, der ein wenig zu nah vor ihm stand und dessen Hände zitterten.