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Manfred Baumann

Zauberflötenrache

Meranas dritter Fall

 

 

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

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Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung der Bilder von: © E. Spek - Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-3924-7

 

 

 

 

für meine tochter doris, der ich schon immer eine zauberflötengeschichte schreiben wollte. jetzt ist es halt diese geworden.

Prolog

 

»Mord?« fragte eine Frau in der ersten Reihe erstaunt. »Aber der wird doch gar nicht ausgeführt!«

»Das ist richtig«, erwiderte der Mann am Podium. »Aber es gibt immerhin einen eindeutigen Auftrag dazu.« Auf der großen Leinwand hinter dem Vortragenden erschien ein Kollier mit wertvollen Preziosen. Über den Freiraum in der Mitte der Halskette blendete sich ein alter vergilbter Theaterzettel mit der Ankündigung der Uraufführung.

»Die Zauberflöte, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist ein Schmuckstück aus vielen unterschiedlichen Perlen. Sie ist ein Sammelsurium, ein Mosaik, und zugleich ein genialer Wurf der Operngeschichte. Und zudem zeigt sie auch Facetten einer Kriminalstory, nämlich Entführung, Nötigung, versuchte Vergewaltigung und Anleitung zum Mord. Ich habe diesen Aspekt auch nur deshalb angesprochen, weil ich eben unter uns einen Herrn ausgemacht habe, den ich persönlich sehr schätze, und den man in einem Vortrag über die kulturgeschichtlichen Wesenszüge der Zauberflöte nicht unbedingt vermuten würde. Ich freue mich aber, dass er hier im Saal sitzt. Es ist der Leiter der Abteilung Mord/Gewaltverbrechen der Bundespolizeidirektion Salzburg, Kommissar Martin Merana.« Der Mann auf dem Podium hob die Hand zum Gruß. Nahezu alle Köpfe der Zuhörenden in der gut gefüllten Großen Aula der Salzburger Universität drehten sich nach hinten. Merana saß in der vorletzten Reihe und fühlte sich ein wenig unbehaglich. Er kannte Professor Ulrich Peterfels, Dozent für Kunstgeschichte und Semiotik, aus einem seiner Fälle. Er war beeindruckt vom Fachwissen des Mannes. Aber er hätte auf diese wohl nett gemeinte Geste der Aufmerksamkeit gerne verzichtet. Zum Glück erschien auf der Leinwand ein neues Bild, welches das Interesse der Zuschauer wieder nach vorne lenkte. Man sah den Ausschnitt einer Theaterbühne. Ein junger Mann in reich besticktem Kostüm stand etwas unbeholfen neben einem hingestreckten drachenähnlichen Riesenwurm. An der Seite des Jünglings zeigten sich drei Frauen in langen bunten Gewändern und ein Kerl mit Federn am ganzen Leib. Die fünf Personen hatten ihren Blick nach oben gerichtet. Über der Gruppe schwebte eine weitere Frau mit einem sternenbesetzten Diadem auf dem Kopf. Sie hielt den Fuß majestätisch auf eine Mondsichel gestützt.

»Auf den ersten Blick haben wir ein Märchen vor uns.« Ulrich Peterfels deutete zur Leinwand. »Tamino, ein Prinz aus fernen Landen, gelangt unversehens ins Reich der sternflammenden Königin der Nacht. Diese bittet ihn, ihre Tochter zu retten, die von einem bösen Dämon namens Sarastro entführt wurde. Tamino macht sich auf die Reise, begleitet von Papageno, einem kauzigen Naturburschen und Vogelfänger.« Ein neues Bild ersetzte das vorige. Der junge Mann, Prinz Tamino, hielt nun eine Flöte in der Hand. Der Vogelmensch schlug mit einem Stab auf ein silberfarbenes Glockenspiel. Im Hintergrund war eine große gläserne Pyramide zu erkennen, hinter der die Sonne aufging. Vor der Pyramide, bestrahlt vom hellen Licht des Gestirns, stand eine Gruppe von Männern. An der Spitze war der große graubärtige Oberpriester auszumachen, der in seiner weißen Toga fürstliches Gehabe zur Schau stellte. »Schon bald nach dem Anfang kippt die Zauberflöten-Geschichte,« fuhr der Vortragende in seinen Erklärungen fort. »Die Dinge verkehren sich ins Gegenteil. Sarastro, so stellt sich heraus, ist kein Bösewicht sondern der Erste einer Gruppe priesterähnlicher Männer, die im Tempel der Weisheit wohnen. Er hat Pamina nur entführen lassen, um sie vor ihrer Mutter zu schützen, die sich in der zweiten Hälfte der Oper als die Böse entpuppt. Tamino und Pamina bestehen die ihnen abverlangten Prüfungen und werden ein Paar. Der Waldmensch Papageno findet seine gleichgesinnte Papagena. Tamino wird als zukünftiger Herrscher in die Runde der Weisen aufgenommen. Die rachsüchtige Königin der Nacht wird am Schluss vernichtet.«

Die Leinwand zeigte nun eine riesige Sonne, die über einem kleinen verblassenden Mond dominierte.

»Schon in der Anlage der Zauberflötengeschichte als Märchen steckt das Prinzip der uralten mythologischen Auseinandersetzung von Gut und Böse, von Tag und Nacht, von Licht und Dunkelheit. Sarastro ist der Vertreter des Lichtes, symbolisiert durch die Sonne. Die Königin der Nacht steht für das Dunkle, ihr Zeichen ist der sich wandelnde Mond. Es ist nicht weit hergeholt, wenn wir am Bruch innerhalb der Zauberflötenhandlung eine Schnittstelle vom Matriarchat zum Patriarchat festmachen. Spuren dieser gewaltsamen Umkehrung finden wir heute noch in vielen Märchen und Legenden.«

»Könnte man die Auseinandersetzung Männlich-Weiblich in der Zauberflöte nicht auch genderpsychologisch betrachten, wie es manche Regisseure immer wieder andeuten?« Die Frage kam von einem Mann mit randloser Brille, der sich unentwegt Notizen machte.

»Auch diese Sichtweise ist angebracht. Ich lege Ihnen allen den außergewöhnlich stimmigen Zauberflöten-Film von Ingmar Bergmann ans Herz. Bergmann sieht darin die tödliche Feindschaft zwischen Sarastro und der nächtlichen Königin als Folge einer gescheiterten Ehe.«

»Dann sollte man sie allesamt zu einer Familienaufstellung schicken!« rief ein bulliger Mann aus der letzten Reihe laut nach vor. Heiterkeit machte sich im Saal breit. Auch der Professor zeigte sich amüsiert.

»Damit haben Sie gar nicht so unrecht. Die Konstellation zwischen Sarastro, Pamina, Tamino und der Königin wäre garantiert auch ein interessantes Betätigungsfeld für einen Therapeuten. Aber lassen Sie mich fortfahren, Ihnen zumindest in Ansätzen näher zu bringen, welche Aspekte noch in der Zauberflöte zu finden sind. Emanuel Schikaneder, der Textautor, war wie Mozart Mitglied der Freimaurer. Die Prüfungen, die Tamino in der Oper bestehen muss, erinnern an Aufnahmerituale, die in den Logen der Freimaurer üblich sind. Manche Regisseure bauen diese Verbindung auch in ihre Bühneninterpretationen ein durch das Verwenden von Freimaurersymbolen: Dreiecke, Pyramiden, Winkel, Zirkel.« Er beschäftigte sich kurz mit seinem Laptop, suchte die passende Datei. Gleich darauf zeigte die Leinwand Beispiele der angesprochenen Freimaurersymbole. Am Schluss der Serie erschien wieder eine Sonnenscheibe. Vor diese Scheibe schob sich jetzt ein Bild, das vielen Leuten im Saal vertraut war. Eine junge Frau mit entblößten Brüsten schwenkte eine Standarte auf einem Schlachtfeld. Der Vortragende lieferte die Erklärung zur Darstellung.

»Die Zauberflöte entstand 1791, während der Zeit der französischen Revolution, zwei Jahre nach dem Sturm auf die Bastille. Spuren des radikalen Denkens über eine neue politische Weltordnung, basierend auf den Ideen der Aufklärung, stecken auch in der Oper.«

»Also mir kommen diese Eingeweihten mit ihrem selbstgefälligen Getue wie ein großer Haufen Sprüche klopfender Machos vor.«

Schallendes Gelächter brach aus, in das sich bald Pfiffe aus dem hinteren Teil des Saales mischten. Eine Frau mit auffallendem grünem Halstuch drehte sich um. Von ihr war die Bemerkung gekommen. Sie zeigte den pfeifenden Männern in den letzten Reihen den Stinkefinger.

»Ich stehe nicht an, Ihnen in diesem Punkt beizupflichten, Gnädigste.« Der Universitätsgelehrte versuchte die Aufmerksamkeit wieder auf seinen Vortrag zu lenken. »Selbst der Naturbursche Papageno ist nicht ganz frei von machoiden Zügen. Wobei wir schon beim nächsten Mosaikstein der Zauberflöte sind, dem Wiener Vorstadttheater. Der Vogelfänger ist die lustige Figur im Geschehen, ein Federn tragender Verwandter des Hanswurst aus der Tradition des Volksschauspieles.«

Ein überdimensionaler Papageno erschien auf der Leinwand, der mit offenem Mund und leicht heraushängender Zunge auf eine kokette Papagena blickte, die ihm neckisch das gefiederte Hinterteil entgegenstreckte. Wieder zog leises Lachen durch den Raum.

»Und was ist jetzt mit dem Krimi?« rief ein dunkelhaariges Mädchen aus der Mitte des Saales. Erneut drehten viele ihre Köpfe in Richtung Merana. Der bereute allmählich, hergekommen zu sein. Ihm war das Ganze peinlich.

»Ja, darob wollen wir natürlich nicht vergessen.« Professor Peterfels trat an den vorderen Rand des Podiums. »Beginnen wir mit Straftat Nummer Eins: Entführung. Sarastro lässt Pamina in seinen Palast bringen. Auch wenn diese Verschleppung im Nachhinein als gute Tat umgedeutet wird, so geschah es doch gegen ihren Willen. Zweitens: Nötigung und versuchte Vergewaltigung. Monostatos, der Anführer der Mohrensklaven in Sarastros Diensten, will Pamina zur Liebe zwingen. Die Szene, in der er sich über die schlafende Prinzessin beugt, um ihr einen Kuss zu rauben, dürfen Sie ruhig etwas drastischer sehen. Damals konnte man das nicht realitätsnahe auf die Bühne bringen. Und schließlich haben wir noch einen klaren Auftrag zum Mord. Die Königin der Nacht versorgt ihre Tochter Pamina mit einem Dolch und stiftet sie unmissverständlich an, Sarastro zu töten. Sie sehen also, meine Damen und Herren, unser geschätzter Kommissar Merana hätte in der Geschichte der Zauberflöte eine ganze Menge zu ermitteln.«

Wie schnell sich diese scherzhaft gemeinte Bemerkung des Zauberflöten-Experten bald in Wirklichkeit verwandelte, hätte Merana zu diesem Zeitpunkt nicht erahnen können. Er war nicht als Kriminalist hier. Er war wie alle anderen gekommen, um sich die vielen interessanten Details erklären zu lassen, die in der Zauberflöte steckten. Immerhin war diese Oper das Highlight der diesjährigen Salzburger Festspiele. Die Premiere würde in drei Tagen über die Bühne gehen.

»Und all diese unterschiedlichen, manchmal sogar widersprüchlichen Teile werden zusammengehalten durch ein einziges vielstimmiges Band, durch die unvergleichliche Musik des Genies Wolfgang Amadeus Mozart. Sie macht aus dem Bühnenspiel das, was wir an dieser Oper so schätzen: Ein berührendes Kunstwerk.«

Der Professor drückte auf eine Taste an seinem Laptop. Der Beamer des großen Vortragssaales schickte ein neues Bild auf die riesige Leinwand. Sterne flammten auf. Eine Aufnahme des Weltalls war zu sehen. Mitten in der Ansammlung der Sterne erschienen durch Überblendung die Konturen eines seltsamen Metallgebildes, mit großer Antennenschüssel und teleskopartigen Spinnenbeinen.

»Das, meine Damen und Herren, ist die Raumsonde Voyager Eins, die zusammen mit Voyager Zwei im September 1977 von der NASA ins Weltall geschickt wurde.

Mit an Bord hat jede der Voyager-Sonden eine goldene Schallplatte.«

Das Bild der Raumsonde verschwand, dafür blendete sich eine golden glänzende Scheibe über den Sternenhimmel.

»Diese Datenplatte enthält auch eine interstellare Gebrauchsanweisung, mit deren Hilfe etwaige exterrestrische Wesen den Inhalt entschlüsseln könnten.«

Eine weitere Scheibe wurde sichtbar. Auf ihr waren Kreise, Linien, gezackte Wellen und andere Symbole zu erkennen. Nach ein paar Sekunden erschien wieder das Foto der ersten goldenen Scheibe.

»Auf der Platte finden sich nicht nur Bilder vom Leben auf dem Planeten Erde und Grußbotschaften in 55 Sprachen. Hier sind auch 27 Musikstücke verewigt. Unter diesen Stücken ist auch die Arie der sternflammenden Königin der Nacht.«

»Eine Arie der Rache als Botschaft der Erde für das gesamte Weltall?« Die Frage kam von der Frau mit dem Halstuch. »Da werden sich die Marsmännchen schön bedanken.« Der Vortragende lachte. »Ja, ich kann Ihre Verwunderung verstehen, gnädige Frau. Der Inhalt der Arie ist für einen Gruß an interstellare Freunde tatsächlich etwas erklärungsbedürftig. Aber die Musik gehört zum Wunderbarsten, das wir Menschen dem Kosmos zu bieten haben.«

»Von wem ist die Aufnahme? Wer singt die Arie?« Es war wieder das schwarzhaarige Mädchen, das sich meldete.

Der Vortragende zögerte kurz mit der Antwort. Dann sagte er bedeutungsvoll:

»Sie ist die vielleicht bedeutendste Königin der Nacht aller Zeiten, zusammen mit Anabella Todorova, die heuer bei den Salzburger Festspielen in dieser Rolle zu sehen ist.«

Die goldene Schallplatte verschwand auf der Leinwand. Aus der Tiefe des Weltraumes tauchte ein Punkt auf, der sich schnell vergrößerte und schließlich zum Leinwand füllenden Gesicht einer Frau wurde.«Edda Moser«, riefen mehrere Personen gleichzeitig im Saal.

»Sehr richtig. Und jetzt stellen Sie sich vor, meine Damen und Herren, Sie wären Milliarden Kilometer von der Erde entfernt, tief im Weltall, und fänden die Voyagersonde. Sie würden den Abspielcode entschlüsseln und dann diese wunderbare Musik hören.«

Das Licht ging langsam aus. In die Dunkelheit hinein sang die Königin der Nacht.

 

Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen,

Tod und Verzweiflung flammet um mich her!

Fühlt nicht durch dich Sarastro Todesschmerzen,

So bist du meine Tochter nimmermehr.

Verstoßen sei auf ewig,

Verlassen sei auf ewig,

Zertrümmert sei’n auf ewig

Alle Bande der Natur

Wenn nicht durch dich Sarastro wird erblassen!

Hört, Rachegötter, hört der Mutter Schwur!

 

Em Ende der Arie leuchteten nur mehr die Sterne auf der Leinwand. Applaus setzte ein, die Zuhörer in der großen Aula klatschten. An diese und viele andere Momente des eben Gehörten würde Martin Merana in den kommenden Tagen noch oft denken.

Samstag, 25. Juli, 8.40 Uhr

 

facebook / florababy 08:40

 

der hölle rache kocht in meinem herzen …

he, leute, seid ihr schon unter den lebenden? oder döst ihr immer noch auf der matratze? ich bin schon seit halb acht uhr voll am beat und zieh mir aus dem internet die zauberflötenfacts rein. aber ehrlich, mädels, so ganz behirne ich die story immer noch nicht: warum macht die doofe königin zuerst auf supermummy und dann auf voll krasse zicke? wahrscheinlich habt ihr blinddüsen keinen blassen schimmer, wovon ich da quatsche? heute abend ist der mega event angesagt: zauberflöten-premieeeere!!! und eure coole flora ist voll dabei. directly at the show! yeahh!

aber jetzt ganz ehrlich: so richtig geilen bock hab ich auch wieder nicht auf zweieinhalb stunden herumgekreische nach noten. doch ich freue mich irre auf die vielen schicken leute! hey, ich sag’s euch: was ich da schon gestern abend auf der metatollen party für hippe klamotten gesehen habe!!! mamma mia, glitzerfummeln zum niederbrechen. bin echt happy, dass mummy mit mir noch das geile lila kleid bei der fashion week in berlin gekauft hat. und heute abend mache ich ganz auf hollywood: da werfe ich mich in das brickfarbene, mit dem schmetterling am ausschnitt. yeah mädels, da sieht die kleine flora dann aus wie sexy christina aguilera.

und jetzt reibt euch gefälligst den sand aus den sehdeckeln: denn ich poste euch hier bilder von der fete gestern abend, – sponsorenparty von moda sabarella. megacool!

tschüssischmatz!

eure flora

noch was:

ich bin sowas von urhappy, dass ich diesen wettbewerb gewonnen habe. diese schnuckelige stadt hat das totale italo-flair. und so kann florababy hier jede menge spass haben und muss nicht mit euch im freibad rumhängen und sich von den pusteligen knallköpfen anwanzen lassen!

hehehe …

 

nochnochwas:

der hölle rache kocht in meinem herzen! aber brutalo! wenn ihr nicht sofort aus der kiste krabbelt, und mir antworten postet! ich schmeiß mich jetzt ins getümmel. hoffentlich hat emina heute mehr trillerlaune als in den vergangenen tagen!

 

Wenn das ein Märchen war, dann war sie Rapunzel. Und die Stadt, die sich am anderen Ufer des Flusses im magisch hellen Licht der Morgensonne rekelte, war die Residenzstadt, in der ihr Prinz lebte. Eine schönere Stadt konnte es gar nicht geben.

Einer majestätischen Krone gleich prangten die weißen Mauern der Burg auf dem Haupt des Festungsberges. Darunter, als funkelnder Kontrast zum satten Grün der Festungshöhe, blitzten die Kuppeln und Türme der Kirchen, leuchteten die Dächer und Fassaden der hohen Bürgerhäuser von Salzburg. Fabienne Navarra machte behutsam einen Schritt nach vorn und legte ihre schmalen Hände auf die Querverstrebung des Eisengeländers. Das Metall fühlte sich heimelig an, erwärmt vom Sonnenlicht.Sie beugte sich vorsichtig über die Brüstung und blickte nach unten. Am Salzachufer herrschte schon rege Betriebsamkeit, Spaziergänger und Radfahrer waren in beiden Richtungen unterwegs. Doch keine Spur von einem Prinzen war auszumachen, weder hoch zu Ross noch zu Fuß. Auch kein Prinz auf Inlineskates. Ein Mopedfahrer rauschte eben vorbei. Selbst der hatte nichts Prinzenähnliches an sich. Sah von hier oben eher aus wie eine Qualle mit Helm. Was würde sie machen, wenn plötzlich tatsächlich da unten am Eingang des Hauses ein Prinz erschiene? Ihre kastanienbraunen Haare reichten ihr zwar bis an die Hüften, aber für Rapunzels Zopf, an dem man hochklettern konnte, fehlte doch einiges. Mindestens zehn bis zwölf Meter schätzte sie. Immerhin stand sie auf der Dachterrasse eines Hauses, das vier Stockwerke hoch war. Ein helles Lachen drang zu ihr herauf. Auf dem Gehweg an der Salzach lief eine junge Frau hinter zwei kreischenden Kindern her. Ein Mädchen und ein Junge. Beide trugen grellgelbe T-Shirts, verziert mit bunten Federn. Fabienne stimmte in das Lachen mit ein, winkte den herumtollenden Kindern zu. Aber die hatten keinen Blick für sie. Die Stadt lag im Zauberflötenfieber. Die Kleinen waren gewiss unterwegs zum nahe gelegenen Zauberflötenspielplatz im Park von Schloss Mirabell. Dort lud einer der Festspielsponsoren, eine internationale Handelskette, zum Papageno-Schminken. Zu Mittag, so hatte Fabienne gelesen, würde sich sogar noch Maximilian Glocker, der Papageno der Festspiel-Zauberflöte, zum gemeinsamen Fotoshooting einfinden. Vielleicht sollte sie sich diesen Spaß auch gönnen, überlegte sie und schaute den beiden ausgelassenen Kindern noch eine Weile nach. Dann richtete sie ihren Blick wieder nach oben, auf das Ensemble der Stadt ihr gegenüber. Seit sie vor drei Tagen hier angekommen war, saugte Fabienne Navarra das prächtige Stadtbild jeden Morgen in sich auf. Sie hatte Salzburg bisher nur von Fotos gekannt. Aber dieser Blick übertraf jede Abbildung. Jedes Mal war sie von diesem Anblick aufs Neue überrascht. Heute schien das alte Frauenkloster Nonnberg, auf der linken Seite des Festungsberges, über den Dächern zu schweben. Die weit entfernten Berge hinter dem Kloster flimmerten fast überirdisch. Die geschwungene Kuppel des barocken Klosterturmes zeigte sich durch das seitlich einfallende Sonnenlicht gläsern. Sie musste lächeln.

Sie ließ ihre Augen wie bei einem Kameraschwenk über die barocke Stadtlandschaft gleiten. Bei einer großen dunklen Kuppel, die sich vom Blau des Himmels abhob, machten ihre Augen Halt. Wie hieß diese Kirche doch gleich? Der Name fiel ihr nicht ein. Aber unmittelbar dahinter, das wusste sie, lag der Festspielbezirk. Ihr Herz begann mit einem Mal schneller zu schlagen. In drei Tagen würde sie dort, im Haus für Mozart, auf der Konzertbühne stehen. Sie, Fabienne Navarra aus dem kleinen Altstätten in der Schweiz gab ihr Debüt bei den weltberühmten Salzburger Festspielen! Und das drei Tage vor ihrem 16. Geburtstag. Sie nahm die Hände vom Geländer, griff nach einer unsichtbaren Geige, spielte ein paar schnelle Läufe, hielt inne und stellte sich vor, wie nach dem Schlussakkord der Applaus aufbrandete. Schon im September folgte das Konzert in der New Yorker Carnegie Hall, das auch die Todorova-Stiftung eingefädelt hatte. Und zu Weihnachten dann auch noch der Auftritt in London. Das Gespräch, das sie vor einem Monat in einem Münchener Caféhaus geführt hatte, fiel ihr ein. Wenn das Projekt mit der Fernseh-Serie auch noch klappte, dann würde sie bald nicht mehr auf die Stiftung angewiesen sein. Dann würde sie ihre eigenen Pläne verwirklichen können. Sie lachte auf und warf noch einen schnellen Blick auf die Straße unter ihr. Immer noch kein Prinz. Auch wenn die Vorstellung wunderbar war, und sie halt nun einmal eine romantische Natur hatte, so brauchte sie in Wahrheit keinen blondgelockten Reiter hoch zu Ross. Sie schaffte es auch so. Ihre langen braunen Haare flogen wie ein Schleier, als sie sich entschlossen umdrehte und ans Ende der Terrasse lief. In schnellen Trippelschritten eilte sie die steile Treppe nach unten in die kleine Wohnung. Dort griff sie nach der Geige, die auf dem Klavier lag. Das war nicht mehr ein Instrument aus zweifellos guter chinesischer Werkstatt um 3.000 Euro. Das war eine Geige von Guadagnini, dessen Vater bei Antonio Stradivari gelernt hatte. Sie küsste ehrfurchtsvoll den Resonanzkörper, dann schlug sie die Noten auf. »Wolfgang Amadeus Mozart. Konzert für Violine und Orchester Nr.2 in D-Dur KV 211« stand auf dem Titelblatt. Sie brauchte die Noten nicht. Jede Phrase, jeder Melodiebogen, jeder Orchestereinsatz waren ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Es war mehr aus Gewohnheit, dass sie die Noten offen liegen hatte, während sie mit geschlossenen Augen spielte. Sie setzte den Bogen an und ließ ihrer Geige die ersten Töne entströmen, die sich bald zur verspielt tänzerischen Melodie des 3. Satzes formten. Rondo. Allegro. Die zierlichen aber kraftvollen Klänge sprudelten durch das geöffnete Fenster und erreichten das nahe Salzachufer. Einige Leute auf dem Spazierweg blieben stehen, versuchten wahrzunehmen, woher plötzlich diese feine Musik kam.

Ist das Mozart?, fragte ein dunkelhaariger Herr mit leicht italienischem Akzent und richtete seinen Blick nach oben zu den geöffneten Fenstern des ockerfarbenen Hauses mit der Dachterrasse. Ja, das ist Mozart, antwortete eine ältere Dame.

Der kleine Junge an ihrer Seite im Papagenokostüm zerrte heftig an ihrer Hand. Ob Mozart oder nicht, das war dem Jungen völlig wurscht. Er wollte zum Kinderschminken. Und zwar gleich. Molto presto.

 

»Zwei Eier im Glas und eine Melange, wie immer, Herr Kammersänger?«

Der Kellner balancierte ein Tablett mit Getränken über den Köpfen der Gäste, die im Freien saßen. Ferdinand Hebenbronn brummte eine Bestätigung und nahm Platz.

Die Tische auf der Terrasse des Café Bazar waren bis auf zwei alle besetzt. Zwei Männer und eine Frau mit Reiseführern, offenbar asiatische Touristen, steuerten auf einen der unbesetzten Tische zu. Augenblicklich war der Ober zur Stelle und deutete auf das ›Reserviert‹-Schild. »Only inside«, sagte er achselzuckend und deutete in das Innere des Lokales. Doch wer wollte an einem derart prächtigen Sommermorgen schon im Inneren des Caféhauses Platz nehmen? Auch den drei Touristen war ein Platz auf der Terrasse lieber. Hier hatte man die heute tief blaue, mit silbrigen Schaumspitzen gleißende Salzach vor sich und gleich dahinter das leuchtende Panorama der Stadt. Ein Postkartenanblick. Die Asiaten steckten kurz die Köpfe zusammen, schauten noch einmal mit leicht verzweifelter Miene in die Runde. Dann zogen sie ab. Unwürdiger Abgang, bemerkte Ferdinand Hebenbronn. Sonst sind die Japaner zäher im Verhandeln. Aber vielleicht waren es auch Chinesen. Wer konnte das schon unterscheiden. Er wühlte in den Zeitschriften, die ihm der Kellner hingelegt hatte. Auf allen Titelseiten prangten dicke Schlagzeilen und Ankündigungsbilder von der heutigen Premiere. Das lang erwartete Opernereignis der Saison! las er. Salzburg mit Jahrhundert-Zauberflöte! Anabella Todorova als Königin der Nacht und Ferdinand Hebenbronn als Sarastro. Das Opern-Traumpaar auf der Festspiel-Bühne! Traumpaar? Hebenbronn schnaubte. Diese sensationsgeilen selbstgefälligen Schmierfinken hatten wie immer keine Ahnung. Er spürte plötzlich ein leichtes Stechen in den Schläfen. Setzte seine Migräne wieder ein? Hoffentlich nicht. Er durfte nicht vergessen, zur Sicherheit seine Migränetabletten zur Vorstellung mitzunehmen. Zwei ältere Damen näherten sich vorsichtig dem Tisch des Sängers, mit Zauberflöten-Programmheften in den Händen. Hebenbronn legte die Zeitungen beiseite und zog seine Mundwinkel nach außen. Dann ließ er seine Zähne aufblitzen. Seine Fans liebten dieses Lächeln, davon war er überzeugt. Nur die wenigsten bemerkten, dass es nicht mehr seine eigenen Zähne waren, die hier blitzten, sondern die sogenannten »dritten«. Er zog einen silbernen Füller aus seiner Jackentasche, griff wortlos nach den ihm hingestreckten Heften und setzte mit barockem Schwung sein Autogramm auf die erste Seite.

»Vielen Dank, Herr Kammersänger! Und toitoitoi für heute Abend! Wir haben leider keine Premierenkarten. Aber wir sehen Sie dann in der vierten Vorstellung!«

Die Stimmen der beiden Damen überschlugen sich. Hebenbronns Lächeln wurde noch eine Spur breiter. Dann beglückte er die Damen noch mit einem graziösen Kopfnicken. Doch gleich darauf verfinsterte sich seine Miene. Ein Kamera-Team steuerte auf ihn zu. Das Stechen in seinen Schläfen wurde stärker.

»Also Kinder, heute nicht!«, rief er und fuchtelte mit den Händen, als verscheuche er lästige Stadttauben. »Ich will jetzt in Ruhe frühstücken. Von mir aus morgen. Da könnt ihr mich aufnehmen, wo ihr wollt. Vor der Mozartstatue. Im Mirabellgarten. Am Würstelstand. Wo auch immer. Aber jetzt nicht.«

Der sommersprossenübersäte Redakteur im hellen Sakko stoppte und gab den Kameraleuten ein Zeichen. Enttäuscht zog das Team ab. Zum Glück musste er sich nicht mehr von jedem Speichelleckerjournalisten belästigen lassen. Hebenbronn biss genüsslich in das Buttercroissant. Er hatte das lange genug gemacht. War ja auch der steilen Karriere nützlich gewesen. Aber inzwischen war er dort angekommen, wo in griechischen Sagen die Götter hausen. Auf dem Olymp. Wie lange würde er sich dort noch halten können? Eine leichte Unruhe beschlich ihn. Die Kraft seiner mächtigen Bassstimme neigte sich dem Ende zu. Das war ihm schmerzlich klar. Den Falstaff oder den Boris Godunov, zwei seiner Glanzrollen, würde er nicht mehr verlustfrei schaffen. Doch wenn alles gut ging, standen ihm ja noch ganz andere Möglichkeiten offen. Die aufgekommene Unruhe legte sich. Er hob die Tasse und nahm einen kräftigen Schluck Kaffee. Er überlegte kurz, ob er noch in sein Haus am Fuschlsee fahren oder lieber in der Stadtwohnung bleiben sollte. Er entschied sich für die Wohnung. Ein Spaziergang quer durch die Stadt vor der Premiere würde ihm gut tun. Er liebte den Weg von Aigen in die Innenstadt. Meist ging er die Salzach entlang, überquerte den Mozartsteg, und schlenderte dann über Mozartplatz und Residenzplatz bis zum Festspielhaus. Wenn er in der Stadt bliebe, dann könnte der Gärtner heute mit der Arbeit auf dem Fuschler Anwesen beginnen. Er hasste es, sich um solchen Kram kümmern zu müssen. Er nahm sein Handy und wählte die Nummer. Der Gärtner, ein pensionierter Türke, bedauerte, aber heute habe er keine Zeit. Verwandtenbesuch. Da werden sie wieder Hammel braten und die Augen essen, dachte Hebenbronn und merkte, wie sich ihm der Magen verkrampfte. »Na, dann kommen Sie halt morgen«, schnauzte er ins Telefon und trug dem Mann noch auf, er solle sich auch um den Swimmingpool kümmern und um das verbogene Gestänge an der Hollywoodschaukel. Dann vertiefte er sich wieder in der Zeitung. Er hatte nicht einmal die Hälfte des Porträts über sich im Feuilletonteil gelesen, als sein Handy vibrierte. Vielleicht hat es sich der Türke doch anders überlegt und kommt heute schon, hoffte Hebenbronn. Doch das Display zeigte den Namen »Loretto«.

So früh hatte er mit dem Anruf gar nicht gerechnet.

»Hallo, Stuart. Guten Morgen. Ich hoffe, du hast gute Nachrichten für mich. Alles andere will ich nicht hören.«

»Ich bin dran, alter Freund. Alle habe ich sie noch nicht im Sack, aber die meisten.«

»Wann kommst du nach Salzburg?«

»Morgen Abend. Ich besuche dich in deinem Haus. Und ich bringe dir ein Geschenk mit.«

Loretto hörte sein Gegenüber am Telefon lachen. Es klang schmutzig.

»Wie alt?«

»Den Führerschein darf sie noch nicht machen.«

Hebenbronn spürte, wie sein Mund plötzlich trocken wurde. Er nahm einen Schluck Wasser.

»Sei vorsichtig, Stuart.«

»Bin ich doch immer.«

Er beendete das Gespräch. Eine junge Kellnerin stand vor ihm, das dunkle Haar hochgesteckt. Ihre Augen erinnerten ihn an Kirschen. Sie beugte sich über den Tisch und reichte ihm das Glas mit den weich gekochten Eiern. Die makellos weiße Bluse straffte sich über ihrem festen Busen. Die Knospen der Brüste wölbten sich schwach unter dem Stoff. Hebenbronn merkte, wie ihm heiß wurde. Er stellte sich vor, wie die Knospen der Brüste sich aufstellten, wenn er ihr die Bluse auszöge. Die Kellnerin spürte offenbar seine Unruhe, wurde rot im Gesicht. Sie drehte sich rasch um und eilte davon. Hebenbronn starrte ihr nach. Das Gefühl der Trockenheit im Mund nahm zu. Er griff schnell nach dem Wasserglas und leerte es gierig in einem Zug.

»Herr Kammersänger, dürfen wir Sie kurz stören?«

Die Chefin des Hauses stand vor ihm, zusammen mit einem Kellner.

»Wir möchten Ihnen gerne für Ihre Treue als prominenter Stammkunde danken und ein kleines Präsent überreichen. Zugleich soll es ein Talisman für die heutige Zauberflöten-Premiere sein.« Der Kellner trat vor und überreichte ihm einen länglichen Gegenstand. Das Ding war schwer. Er hätte das Präsent beinahe fallen lassen.

»Wir haben auch einen Spruch aus der Zauberflöte eingravieren lassen. Wir hoffen, unsere kleine Aufmerksamkeit gefällt Ihnen, und Sie beehren uns auch weiterhin.« Er bedankte sich herzlich. Dann stellte er das Geschenk vor sich auf den Tisch. Es war ein steinerner Zylinder, etwa 30 Zentimeter hoch. Eine kleine glatte Säule aus rotem Marmor, die auf einem Sockel stand. In der Mitte war ein Spruch eingraviert.

 

Für unseren hochverehrten Stammgast

Herrn Kammersänger Ferdinand Hebenbronn

In Verbundenheit. Das Team des Café Bazar.

 

Darunter entdeckte er die angesprochene Stelle aus der Zauberflöte.

 

In diesen heil’gen Hallen

kennt man die Rache nicht.

Und ist ein Mensch gefallen,

führt Liebe hin zur Pflicht

 

Er war gerührt. Ja, so sind sie, die Salzburger. Immer charmant und aufmerksam.

 

Das Orchester setzte ein, zum ersten kräftigen Ruf. Posaunen, Hörner, Klarinetten, Streicher, vereint zu einem vielstimmigen Stoß. Als gälte es, eine Tür aufzumachen.

Und in Meranas Kopf öffnete sich auch ein Tor. Auf seiner inneren Bühne hob sich ein Vorhang. DA-DAMMM. Der zweite Ruf. Ein Doppelschlag. Kurz. Lang. Scheinwerferlicht flammte auf in Meranas Vorstellung. Eine Märchenlandschaft schälte sich aus der Dunkelheit. Bizarre Felsen. Wundersam ineinander verschlungene Bäume. Diamantener Sternenhimmel. So hatte er sich als Kind immer die Zauberflötenwelt vorgestellt. Seine Bilder waren völlig anders als die Darstellungen, die er auf der Leinwand während des Vortrages von Ulrich Peterfels gesehen hatte. DA-DAMMM. Der dritte Ruf. Noch strahlender, noch eindringlicher als die beiden vorausgegangenen. Merana war, geleitet vom Klangzauber der Musik, so in seiner inneren Theaterwelt gefangen, dass er das Handyläuten nicht gleich wahrnahm. Auf seiner inneren Bühne tummelten sich zum Klang der Ouvertüre die Gestalten der Oper: die würdevoll durch den Tempel schreitenden Priester mit Sarastro an der Spitze, dahinter Tamino und Pamina, der Prinz und die Prinzessin, Hand in Hand. In der Ferne, vor der bleichen Sichel des Mondes, die sternflammende Königin der Nacht, die verzweifelt versuchte, Blitze auf die Priester zu schleudern. Auf dem Ast eines Wunderbaumes hockten Papageno und Papagena, die kicherten und einander Blätter zuwarfen. Die Geigen und Kontrabässe hatten schon längst zu ihren rasanten Achtel- und Sechzehntelläufen angesetzt, als sich langsam der störende Ton in Meranas Bewusstsein grub. Das Geräusch passte so ganz und gar nicht zur Musik. Merana öffnete die Augen, hob missmutig die dicke Bärenreiter Zauberflöten-Taschenpartitur von seinen Knien und legte sie neben sich auf die Couch. Er stand auf. Das Mobiltelefon lag auf der Anrichte. Es war die Großmutter, wie Merana am Display erkannte.

»Hallo, Oma. Ich fahre in einer Stunde weg, um dich zu holen.«

Die Stimme der alten Frau war leicht zittrig.

»Tut mir leid, Martin, aber ich fürchte, es wird nichts aus unserem gemeinsamen Opernbesuch.« Sie fühle sich heute etwas schwach, schon seit dem frühen Morgen, erklärte sie. Sie wolle lieber nichts riskieren. Augenblicklich griff die Sorge nach Meranas Herz.

»Hast du schon den Arzt verständigt?«

»Nein, Martin. So schlimm ist es nicht. Mach dir bitte keine Gedanken. Ich kenne meinen alten Körper. Du weißt, dass ich mich auf die Zauberflöte mit dir gefreut habe. Aber ich muss darauf hören, was mir mein Körper sagt. Bleib heute lieber zu Hause, meint er. Es ist mir zu anstrengend.«

Erst als die Großmutter versichert hatte, dass die Nachbarin daheim sei und immer wieder nach ihr sehe, legte Merana auf. Beruhigt war er dennoch nicht. Die Großmutter hatte vor einigen Monaten einen Herzanfall gehabt, war im Krankenhaus gelegen. Sie hatte sich danach allerdings erstaunlich rasch erholt. Hoffentlich kündigte sich hier kein Rückfall an. In Gedanken versunken setzte er sich wieder auf die Couch. Wen sollte er heute Abend anstelle der Großmutter mitnehmen? Birgit? Ihr Verhältnis war seit einiger Zeit ziemlich angespannt. Umso mehr, als Merana in der Vorwoche ihren gemeinsamen ›Darf-ich-mich-vorstellen?-Tag‹ vergessen hatte. Zum ersten Mal seit er vor sechs Jahren die aufgebrachte Demonstrantin mit der großen Trommel bei einem Einsatz auf dem Salzburger Flughafen getroffen hatte und sie bald darauf eine Beziehung eingegangen waren. Er holte tief Luft und stieß den Atem durch die Nase aus. Er wollte es dennoch versuchen. Er tippte die Nummer. Birgits Reaktion war kühl, reserviert. Er hatte nichts anderes erwartet. Erst erzählte er ihr kurz von der Schwäche der Großmutter, dann stellte er seine Frage. Eine Zeit lang herrschte Schweigen am anderen Ende der Verbindung.

»Ich weiß nicht, Martin, ob es so eine gute Idee ist, mit dir heute in die Oper zu gehen.«

Das wusste er auch nicht, aber jetzt hatte er schon damit angefangen. »Wir könnten danach bei Sandro essen«, fügte er hinzu. »Wir waren schon lange nicht mehr dort.«

Sie fauchte.

»Martin, wir sollten nicht gemeinsam Makkaroni essen, sondern miteinander reden.«

Er schwieg. Aus den Lautsprechern im Raum kam immer noch Musik. Eine Flöte setze zu einer Tongirlande an, unterstützt von Streichern. Das muss jetzt Takt 183 sein, fuhr es Merana unwillkürlich durch den Kopf. Er hatte sich in den vergangenen Tagen gründlich mit der Partitur der Zauberflöte beschäftigt, hatte sogar auf seiner Klarinette die eine oder andere Passage mitgespielt.

»Martin, bist du noch da?« Merana schreckte auf. Birgits Stimme klang scharf. »Hast du überhaupt zugehört?«

»Natürlich habe ich zugehört. Wir sollten keine Nudeln essen, sondern reden.«

Merana ließ die Flöte weiterspielen und fügte mit fester Stimme hinzu:

»Was willst du von mir hören, Birgit?«

Einen Augenblick lang war Stille.

»Die Wahrheit.«

Die Wahrheit? Birgits Stimme hallte in Merana nach wie ein Posaunenruf. Die Wahrheit. Welch großes Wort. Mit einem Mal hatte er das Gefühl, er säße im Präsidium bei einem Verhör. Nur sah er sich auf der anderen Seite des Tisches.

»Welche Wahrheit, Birgit?«

Er konnte ihre Verblüffung spüren, als sie loslegte.

»Welche Wahrheit? Das fragt allen Ernstes der große Ermittler Martin Merana? Der Superbulle, der sich sonst in jeden seiner Fälle verbeißt, bis er sie endlich herausgefunden hat, die alles erklärende Wahrheit.«

Mit einem Mal änderte sich ihr Tonfall. Ihre Stimme klang sanft.

»Welche Wahrheit schon, Martin Merana. Die Wahrheit über dich und mich.

Ich will wissen, was du denkst, was du fühlst. Über uns. Über den derzeitigen Stand unserer Beziehung.«

Er schluckte.

»Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar, Martin.«

Merana konnte Phrasen nicht ausstehen. Selbst wenn sie von einer großen Dichterin wie Ingeborg Bachmann stammten. Er kannte die Textstelle. Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar. Denn wir wollen alle sehend werden, hieß es dort. Der Satz war stimmig. Aber er wird zu Tode strapaziert, fand Merana. Er wollte zu einer Erwiderung ansetzen, aber Birgit sagte nur: »Denk bitte darüber nach, Martin.« Dann legte sie auf. Grußlos. Er saß noch eine Weile auf der Couch und starrte in die Luft.

Der Schlussakkord der Ouvertüre verklang. Gleich setzte ein bedrohlicher Ton ein. Unruhige, zerrissene, fahrige Geigenkaskaden kündeten von nahender Gefahr. Ein dumpfer Knall schreckte Merana hoch. Das Handy war ihm aus der Hand gefallen und auf den Teppich geplumpst. Zu Hilfe, zu Hilfe, sonst bin ich verloren, tönte es aus den Lautsprecherboxen der Stereoanlage. Tamino, der Prinz aus der Zauberflöte, war auf der Flucht, verfolgt von einer riesigen Schlange. Merana versuchte wieder zu seiner inneren Opernbühne zurückzukehren. Aber es wollte ihm nicht mehr so recht gelingen.

 

»Nein! Das muss in einer einzigen fließenden Linie geschehen!«

Johannes Stiegler versuchte die Musik zu überschreien. Er gab dem Korrepetitor am Bühnenrand ein Zeichen. Der unterbrach augenblicklich das Klavierspiel. Mit dem Aussetzen der Musik blieb der vordere Teil der Schlange mit dem großen Kopf ruckartig stehen. Der Halt kam offenbar unerwartet, denn der hintere Teil der Schlange stauchte sich zusammen wie eine plötzlich gequetschte Ziehharmonika. Es rumpelte auf dem Bühnenboden. Durch den mit Fransen und Glöckchen behängten Stoff drangen Überraschungsrufe von hellen Kinderstimmen. Der völlig aus dem Gleichgewicht geratene Schwanz der Schlange kippte zur Seite wie ein betrunkener Regenwurm. Das Kreischen in der bunten Schlangenhaut schwoll an. Nur nicht die Nerven verlieren! Johannes Stiegler atmete tief durch. Was ein guter Regisseur in erster Linie brauchte, waren gute Nerven. Er hatte es zwar erst zum Regieassistenten gebracht, aber man konnte nie früh genug damit anfangen, die für eine steile Theaterkarriere brauchbaren Talente zu trainieren. Das Problem mit Geduld lösen, war jetzt angesagt.

»He, spinnt ihr total?«, tönte es zornig aus dem rotgoldenen Kopf der Schlange. Die großen Augen des Ungeheuers wackelten. Dann fuhr der Schlangenschädel ruckartig in die Höhe. Die aufgeklebte Zunge flatterte. Der mächtige Schlangenkopf wurde zur Seite gestülpt. Darunter kam ein anderer Kopf zum Vorschein. Der eines Mädchens mit schwarzen Locken und ebenso dunklen Augen. »Ihr Spinner da hinten müsst anhalten, wenn ich stehen bleibe!« Aus dem völlig zerwühlten Stoffkörper der Theaterschlange zappelten einige Kinderbeine. Zwei verdutzte Gesichter tauchten am Schwanzende auf.

»Schon gut, Tamara«, beruhigte der Regieassistent und hob beschwichtigend die Hände. »Macht ja nichts. Wir fangen noch einmal von vorne an. Alle zurück auf die Ausgangsposition«. Er klatschte in die Hände. Die Schlange, bewegt von Kinderbeinen und Kinderhänden, rappelte sich hoch und torkelte mit zur Seite gekipptem Kopf zurück in den Hintergrund der riesigen Bühne des Großen Festspielhauses. Warum musste der verdammte Darmvirus ausgerechnet jetzt fünf Kinder aus der Zauberflötenschlangengruppe flach legen? Hätte er nicht bis nach der Premiere warten können? Johannes Stiegler verfluchte kurz alle Schicksalsgöttinnen, die er aus seinem umfassenden mythologischen Wissen kannte. Dann griff er zum Funkgerät und gab dem Techniker in der Lichtregie die Anweisung, mit der Lichtstimmung noch einmal vom Einsatz der Arie zu beginnen.

»Keine Panik, Leute, wir kriegen das schon hin.«

Aber sicher nicht gleich beim nächsten Versuch. Das war ihm klar. Dem jungen Korrepetitor und dem erfahrenen Lichttechniker auch. Das würde noch dauern. Zwei der Ersatzkinder stellten sich dermaßen tollpatschig an, dass man sich am liebsten alle Haare ausreißen würde. Johannes hätte ja gerne talentiertere Kinder genommen. Aber der Wink aus dem Direktorium war eindeutig gewesen. Diese Kinder und keine anderen. Immerhin waren das die erlauchten Sprösslinge von zwei angesehenen Salzburger Familien, beide potente Förderer der Festspiele. Johannes holte tief Luft. »Also noch einmal von vorne!«, kommandierte er. »Und denkt daran. Ihr seid eine elegant dahingleitende Riesenschlange, und keine Raupe mit Brechanfall.« Bei Brechanfall fiel ihm der Darmvirus wieder ein. Hoffentlich gab es keine weiteren Ausfälle. Er sah auf die Uhr. 11.30. Noch siebeneinhalb Stunden bis zur Premiere. Nur Geduld, sprach er sich selbst Mut zu. Er hob die Hand. Der Korrepetitor griff in die Klaviertasten. Tamara zog sich den großen drachenähnlichen Plastikkopf mit der grünen Zunge über ihren schmalen Mädchenkörper. Die Schlange setzte sich in Bewegung.

»Zu Hilfe, zu Hilfe, sonst bin ich verloren«, brüllte Johannes Stiegler und lief vor der Schlange her. Heute Abend würde dies natürlich Mogens Sigurdson machen, der Sänger des Tamino. Aber jetzt war er der Prinz. Immerhin kamen sie dieses Mal bis Takt 29, ehe der hintere Teil der Schlange ausscherte und den großen Baum neben dem Kulissenfelsen niedermähte.

 

 

facebook / florababy 11:45

 

he, leute, megageilo!!!!!

ihr glaubt nicht, wen ich eben mitten in salzburg gesehen habe!!!

BRAD PITT!!!

schlapfte mal eben so mirnichtsdirnichts aus mozarts geburtshaus!!

BRAD PITT, mädels, echt BRAD PITT!!!

mann, das ist ein anderes kaliber als die gähnaffen, mit denen wir immer rummachen.

und das total krasse: er wird heute abend auch in der zauberflötenpremiere sein!

waoo, da werde ich heute etwas länger brauchen vor meinem picassokasten!

ja, sisters, ihr dürft ruhig vor neid platzen: eure allerbeste und megatollste freundin flora ist heute abend in derselben konzerthütte wie BRAD PITT!

tschüssischmatz.

eure flora

 

nochwas:

BRAD PITT hat sogar emina kurz aus der kreiselbahn getschippert. das erste smiley, seit ich sie kenne!! ich meine, sie ist halt nun mal eine uncoole socke. sie hat zwar schon einiges in der lampe, ne echte gripstante, aber megalangweilig. läuft immer rum mit einer visage, als hätte ihr der hamster die cornflakes weggeputzt. ich weiß nicht, warum mir moda sabarella ausgerechnet diese trauergummipalme als betreuerin umgehängt hat. kerstin, die mit chiara rumzieht, ist voll super!

naja, florababy wird das kind schon schütteln!

also mädels. macht einen auf mellow und haltet den ball flach!

Samstag, 25. Juli, 12.15 Uhr

 

»Der sieht ja auch aus wie ein Vogelfänger!«, rief Alois Kendelbacher überrascht und deutete mit der Hand zu der Figur auf dem Brunnen. Aus der Mitte der rechteckigen Brunneneinfassung ragte eine Säule in die Höhe. Darauf stand die Statue eines Fabelwesens, ein beschuppter Mann mit einem Wappenschild und einem mächtigen baumartigen Knüppel. Brunnen und Skulptur befanden sich am Eingang zum Furtwängler Park, gegenüber dem Großen Festspielhaus. Maximilian Glocker stellte lachend sein Weißbierglas auf den tischtuchbehängten Stehtisch.

»Nein, Lois. Das ist kein Vogelfänger. Das ist der sogenannte Wilde Mann, eine Salzburger Sagenfigur.« Er nahm seinen Begleiter am Arm und dirigierte ihn näher an den Brunnen heran. »Schau genau hin. Das sind keine Federn an seinem Körper, sondern Blätter. Er hat eine Laubkrone auf dem Kopf. Wenn er auch kein Vogelfänger ist, ein Naturbursche bleibt er trotzdem. Ein Waldmensch. So wie Papageno.«

Alois Kendelbacher betrachtete interessiert die Skulptur. Ihm war dieser Wilde Mann noch gar nie aufgefallen. Gut, so oft war er auch nicht in Salzburg. Vielleicht drei- oder viermal im Jahr. Geschäftlich. Dann hatte er vorwiegend mit dem Salzburger Heimatwerk zu tun, das in der Nähe des Domes lag. Aber heute hatte er sich hier gegenüber dem Festspielhaus mit Maximilian Glocker getroffen, dem Papageno der Festspielzauberflöte. Heute war Alois Kendelbacher nicht in seiner Eigenschaft als Trachtenschneider in der Stadt Salzburg, sondern als Obmann der ›Vogelfänger Vereinigung Salzkammergut‹. Die beiden Männer kehrten zurück zu ihrem Stehtisch, der zu der eleganten Bar gehörte, die während der Festspielzeit auf dem großen Platz vor den Festspielhäusern zum Verweilen einlud.

»Es bleibt also dabei, Max. Wir treffen einander morgen um elf Uhr am Papageno-Brunnen. Du kommst in deinem Kostüm. Von uns sind fünf Leute dabei mit umgeschnallten Käfigen. Wir zelebrieren die feierliche Übergabe der Urkunde. Vier Fernseh-Teams haben sich angesagt und jede Menge Fotografen. Und dann ist der Festspielpapageno Maximilian Glocker offizielles Ehrenmitglied der Vogelfänger aus dem Salzkammergut. Alles klar?« Er hielt dem Sänger die Hand hin. Der schlug ein. Das Lachen von Glockers dröhnendem Bass füllte fast den gesamten Platz.

»Natürlich Lois, wie ausgemacht. Noch dazu, wo ihr als Salzkammergut-Vogelfänger jetzt sogar UNESCO Kulturerbe seid.«

Kendelbacher deutete auf das leere Bierglas Glockers.

»Noch eines?«

Glocker winkte ab. »Nein, danke. Erstens habe ich in knapp sieben Stunden Premiere. Und zweitens muss ich jetzt gleich hinüber zum Fotoshooting mit mindestens hundert aufgeregten Nachwuchspapagenos.«

Er gab Kendelbacher die Hand. »Also, wir sehen uns heute bei der Premiere und dann bei der Feier.« Der Trachtenschneider hielt im Händeschütteln inne, wirkte leicht verlegen. »Leider nein, Max. Ich habe keine Karten für die Premiere bekommen. Die war schon fünfmal ausgebucht, bevor der offizielle Kartenverkauf losging. Ich habe gerade noch zwei Karten für die letzte Vorstellung Mitte August ergattert. Ganz oben am Rang, vorletzte Reihe. Aber immerhin bin ich dabei.«

Der Sänger klopfte dem Trachtenschneider und Hobbyvogelfänger auf die Schulter.

»Hättest ja was sagen können, als du mich wegen der Ehrenmitgliedschaft angerufen hast«. Kendelbacher schüttelte den Kopf. Nein, das war nicht seine Art. Das hätte er nicht ausnützen wollen. Der Sänger beugte sich nach vor und raunte ihm ins Ohr. »Kennst du die Zauberflöte?«