cover

Buch

Als Sir Colin Lambert erfährt, dass das kleine Mädchen, das auf den Stufen vor seinem Club gefunden wurde, die Tochter eines der Mitglieder sein soll, keimt Hoffnung in ihm auf. Ist Melody die Tochter der schönen, impulsiven Schauspielerin, die einst sein Herz brach? Colin setzt alles daran herauszufinden, was passiert ist. Unterstützt wird er von der ehemaligen Schneiderin seiner verlorenen Liebe – Miss Prudence Filby. Doch schon bald lösen Prus entwaffnende Art und ihre verführerische Stimme heiße Fantasien in ihm aus. Dabei sucht er doch eine ganz andere …

Prus einzige Motivation, Colin zu helfen, ist, dass die flüchtige Dame ihr noch einige Löhne schuldet, die sie persönlich von ihr zurückfordern will. Zumindest war das ihr ursprüngliches Ziel gewesen – bis die Tage und Nächte mit Colin immer spannungsgeladener werden und sie den attraktiven Mann nicht länger ignorieren kann. Doch dann erfährt sie, dass Colin von Adel ist, und für einen Mann seines Standes kann sie ja nicht mehr als eine Spielerei sein, oder doch nicht?

Autorin

Celeste Bradley, 1964 in Virginia geboren, lebt am Fuße der Sierra Nevada in Nordkalifornien. Sie ist mit einem Journalisten verheiratet und hat zwei Töchter. Bevor sie 1999 ihren ersten Roman veröffentlichte, arbeitete sie auch als Schauspielerin, doch ihre wahre Leidenschaft ist das Schreiben. Preisgekrönt, u. a. mit dem RITA Award für besonders herausragende Liebesromane, gehört die New-York-Times-Bestsellerautorin inzwischen zu den heiß geliebten Stars des Genres.

Weitere Informationen unter: www.celestebradley.com

Von Celeste Bradley bei Blanvalet lieferbar:

Der Liar’s Club: Die schöne Schwindlerin (36335) · Die schöne Rächerin (36614)

Die Royal Four – Spione im Dienste Ihrer Majestät: Der verruchte Spion (01; 36660) · Der geheimnisvolle Gentleman (02; 36661) · Verruchte Nächte (03; 36905) · Gefährliches Begehren (04; 36906)

Die Heiress Brides: Brennende Sehnsucht (01; 37415) · Flammende Versuchung (02; 37496) · Lodernde Begierde (03; 37497)

Die Runaway Brides: Mein teuflischer Verführer (01; 37931) · Ein sinnlicher Schuft (02; 38012)

Celeste Bradley

Ein sinnlicher Schuft

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Cora Munroe

Blanvalet-Logo.eps

Die Originalausgabe erschien 2010

unter dem Titel »Rogue in my Arms«

bei St. Martin’s Press, New York

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe Dezember 2012 bei Blanvalet Verlag,

einem Unternehmen der

Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Copyright © 2010 by Celeste Bradley

Copyright © 2012 für die deutsche Ausgabe

by Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House, München

Dieses Werk wurde im Auftrag von St. Martin’s Press LLC durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen, vermittelt.

Umschlaggestalung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com und von Vittorio Dangelico via Agentur Schlück GmbH

Redaktion: Ulrike Nikel

LH ∙ Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-08060-0

www.blanvalet.de

Dieses Buch ist all jenen in Amerika gewidmet, die im Zuge der Finanzkrise ihr Heim verloren haben, mit den besten Wünschen für eine hoffnungsvolle und glückliche Zukunft. Lasst euch nicht unterkriegen!

Prolog

Die Mutter hat kein Geld mehr geschickt. Kann sie deshalb nich länger behalten. Soll der Vater sie jetzt nehmen. Weiß nich, wie er heißt. Ist Mitglied von Brown’s

Es war einmal vor langer Zeit ein kleines Mädchen von kaum mehr als drei Jahren, das wurde auf der Treppe eines angesehenen, wenn auch nicht besonders modernen Herrenclubs in der St.James Street in London ausgesetzt. An ihren winzigen Mantel war ein Notizzettel geheftet für ihren Vater, der angeblich Mitglied des ehrwürdigen Etablissements war. Da die meisten der Herren dort ebenso wie der Club selbst einer anderen Zeit angehörten, also bereits sehr alt waren, kamen sie als Erzeuger eines so kleinen Kindes kaum infrage. Weshalb der Finder, einer der drei einzigen jungen Männer, die aus familiärer Tradition ebenfalls diesem Großvaterverein angehörten, sofort an sich selbst oder einen seiner beiden Freunde dachte.

Deshalb zögerte Aidan de Quincy, Earl of Blankenship, ein ernster und nachdenklicher Mann, auch keinen Moment, die Verantwortung für die kleine Melody zu übernehmen, bis der Vater des Kindes feststand. Um dies herauszufinden, musste er sich auch seiner eigenen Vergangenheit stellen und die Frau aufsuchen, die er als einzige je geliebt und die ihn zurückgewiesen hatte.

Die junge Witwe Madeleine Chandler umgaben tatsächlich einige Geheimnisse, aber in aller Heimlichkeit sein Kind geboren zu haben, das gehörte nicht dazu. Allerdings war das, was sie zu verbergen suchte, dermaßen gefährlich, dass sie schließlich bei Aidan Schutz suchte, obwohl sie ihm weiterhin die Wahrheit über ihre Vergangenheit verschwieg. Mit dramatischen Folgen, denn um ein Haar wäre sie dabei ums Leben gekommen.

Zwischenzeitlich lebten sie und Melody bei Aidan im Club, in dem er über eine kleine Wohnung verfügte. Heimlich, versteht sich, denn niemand durfte sie sehen, weil Männerbastionen wie Brown’s den Besuch von Damen nicht gestatteten. Doch nach anhaltenden Protesten seitens der Altherrenriege, als der Regelverstoß aufgedeckt wurde, bewies Wilberforce, der gestrenge Majordomus, sein gutes Herz und nutzte eine Lücke in den Statuten, um Madeleine und Melody den weiteren Aufenthalt im Club bei Aidan zu gestatten.

Die drei waren zwischenzeitlich zu einer richtigen kleinen Familie zusammengewachsen, und alle bedauerten zutiefst, dass sie das nicht wirklich waren. Trotzdem sollte die Kleine bei Aidan und Madeleine bleiben, die heirateten. Alle warteten auf die Rückkehr des zweiten Freundes, Jack, der noch in Übersee weilte und den man jetzt für den Vater hielt, da Sir Colin Lambert, der Dritte im Bunde, diese Möglichkeit kategorisch ausgeschlossen hatte. Zunächst, denn mit einem Mal begann er zu vermuten, Melody könnte doch sein Kind sein. Er hoffte es sogar, denn er war völlig vernarrt in das entzückende Mädchen.

Zwanzig Jahre später

Warten Sie, das ist nicht das Ende der Geschichte, oder? Es kann nicht alles sein. Hören Sie nicht an dieser Stelle auf!«

Die junge Frau richtete sich auf dem Sofa auf und löste sich aus dem Arm des Geschichtenerzählers, um ihm ins Gesicht sehen zu können. »Button, erzählen Sie mir den Rest! Was geschah dann?«

Der Mann lächelte ihr zu und gluckste koboldhaft. »Sie hören sich an, als wären Sie drei Jahre alt und nicht zweiundzwanzig.«

Melody schaute ein wenig furchtsam zu dem Brautkleid hinüber, das sie bald würde anziehen müssen, wandte schnell den Blick ab und zog ihre kalten, nackten Füße unter ihren Hausmantel, um sie zu wärmen. »Ich fühle mich wie ein Kind.« Sie schlug die Hände vors Gesicht, als wollte sie sich vor dem bedeutsamen Tag, der vor ihr lag, verstecken. »Wie kann ich heiraten? Wie kann ich überhaupt wissen, ob ich ihn für immer lieben werde?«

Button neigte den Kopf zur Seite und betrachtete sie liebevoll. »Hm. Vielleicht ist eine weitere Geschichte in Ordnung. Wir haben noch Zeit. Kommen Sie, Liebes.« Er nahm sie erneut in den Arm wie ein Großvater, der er für sie war beziehungsweise den er ihr ersetzte. Das hätte sich der berühmte Modeschöpfer auch nicht träumen lassen, bevor das kleine Mädchen in sein Leben trat.

Sie schmiegte sich erwartungsvoll an ihn, froh darüber, den Gang zum Altar noch ein Weilchen aufschieben zu können. An seine Schulter gekuschelt schloss sie die Augen und seufzte. »Erzählen Sie mir eine Geschichte, Button.«

Sie spürte das Glucksen in seiner Brust, als er auf seine eigenartige Weise in sich hineinlachte.

»Na schön, meine kleine Mellie, die wieder ein Kind sein möchte. Komm her, mein Mäuschen«, sagte er und fiel in das vertraute Du und den Kosenamen der Kinderzeit zurück. Dann drückte er einen Kuss auf ihre Stirn und setzte seine Erzählung fort.

»Es war einmal ein gelehrter Mann, der alles zu wissen glaubte …«

Die Frau auf der Bühne war nicht nur schön, sondern strahlend schön. Sie glühte von innen her und verkörperte genau das, was sie spielte: eine reine Seele. Atemlos ließ sich das Publikum von ihr in den Bann schlagen, wenn sie über die Bühne schwebte. Jede Geste war ein Tanz, jedes Wort ein Lied.

Colin Lambert, Sohn eines renommierten Sozialwissenschaftlers, war von der blassen schwarzhaarigen Göttin noch derart verzaubert, dass er seinem Freund Jack auf die Zehen trat, während die beiden Männer sich nach Ende der Vorstellung durch die Menge schoben.

»Runter da, du Trampel.« Jack versetzte ihm einen freundschaftlichen Klaps, bevor er bemerkte, was die Aufmerksamkeit seines Freundes erregte. »Gütiger Gott, was für ein hübsches Vögelchen«, sagte er nachdenklich.

Sein Tonfall machte Colin stutzig. »Ich habe sie zuerst entdeckt«, sagte er mit finsterem Blick.

Jack hob abwehrend beide Hände. »Sie gehört dir – natürlich nur, falls du sie in diesem Aufzug für dich gewinnen kannst. Du siehst aus wie ein Buchhalter.«

»Lieber ein Buchhalter als ein Pfau.« Colin schaute an seinem zugegebenermaßen schmucklosen Anzug hinab. »Man würde mich in dem Fetzen, den du trägst, als Wissenschaftler niemals ernst nehmen.«

Jack grinste. »Mag sein, aber Pfaue haben einen imposanteren … Schwanz.« Er zupfte seine modischen Manschetten zurecht. »Ich bin ohnehin verlobt, das weißt du doch.«

Colin verdrehte die Augen. Wenn er noch ein einziges Mal zuhören musste, wie Jack die Vorzüge von Miss Amaryllis Clarke nach allen Regeln der Kunst herausstrich, würde er sich übergeben. Bevorzugt auf die Stiefel seines Erzrivalen und absoluten Gegenparts, des hochwohlgeborenen Aidan de Quincy, Earl of Blankenship, der allerdings zur Abwechslung mal nicht mit von der Partie war.

Zum Glück, denn sonst hing er mit grüblerischer Miene wie eine Klette an Jack und vermieste ihnen jeglichen Spaß. Nein, heute Abend würden sie endlich richtig einen draufmachen können, wenn es nach Colin ging.

Zumindest nachdem er sich Zugang zum Garderobenbereich verschafft hatte und dieser strahlenden Schönen vorgestellt worden war. Dieser Miss Chantal Marchant, wie er von dem Theaterplakat draußen wusste: Miss Chantal Marchant.

Chantal.

»Glaubst du an Liebe auf den ersten Blick?«

Der Freund antwortete nicht, und Colin sah, dass Jacks übliches Grinsen verschwunden war. Gleichgültig schweifte sein Blick über die festlich gekleideten Theaterbesucher.

»Morgen gehe ich fort«, sagte er so leise, dass es fast nicht zu hören war.

Colin schien, als würde eine eiskalte Hand nach seinem Herzen fassen. »Du musst doch gar nicht in diesen Krieg ziehen. Du stehst schließlich an zweiter Stelle der Erbfolge und wirst vielleicht einmal den Titel deines Onkels erben.«

Für einen flüchtigen Moment schaute Jack ihn an, als ob er etwas sagen wollte, aber der Augenblick war rasch vorüber, und der Freund wechselte das Thema. »Komm, lass uns für dich einen Weg hinter die Bühne finden. Die schöne Chantal wartet!«

Und dann ging Jack freiwillig zur Armee, um gegen Napoleon zu kämpfen.

Als er zurückkehrte, erschrak Colin über seinen Anblick. Das war nicht mehr der Jack von früher. Vor ihm stand ein in sich gekehrter Mann mit einem halb verlorenen, halb angeekelten Gesichtsausdruck. Doch nicht nur der Krieg war schuld daran. Das Mädchen, das er liebte und verehrte, mit dessen Bild vor Augen und im Herzen er die Schrecken der Schlachtfelder überlebt hatte, wollte ihn nicht mehr, als er nach Hause kam. Colin zerriss es jedes Mal das Herz, wenn er den einst lebensprühenden Freund so sah.

Und jetzt saß er auch noch auf dem Dach von Brown’s Gentlemen Club, direkt an der Kante und fünf Stockwerke über dem Kopfsteinpflaster der Straße.

»Pst. Erschrick ihn nicht.«

Colin verdrehte die Augen. Immer dieser unsägliche Aidan de Quincy, der ständig aussprechen musste, was doch offensichtlich war. Zumindest, und dafür war er dankbar, hatte dieser Vertreter der Hocharistokratie ihn benachrichtigt.

»Vor einer Stunde habe ich ihn so vorgefunden«, flüsterte Aidan, »und dann gleich einen Boten nach dir geschickt.«

Und ihn aus Chantals zärtlichen und ausgesprochen verführerischen Armen gerissen. Wieder einmal. Nicht dass Colin nicht alles für Jack tun würde, im Gegenteil. Für ihn wirklich alles Erdenkliche, aber nicht für Aidan.

Er warf einen Blick über die Schulter. »Wie konntest du zulassen, dass er sich wieder betrinkt?« Seine leise Stimme klang wütend und anklagend. »Du weißt doch genau, dass es schlimmer mit ihm wird, sobald er zur Flasche greift.«

»Das Problem ist nicht der Whisky, sondern sein Kummer.« Aidan kniff zornig die Augen zusammen. »Außerdem habe ich ihn bloß für eine Viertelstunde aus den Augen gelassen. Und überhaupt wärst du heute Nacht dran gewesen.«

»Das tut nichts zur Sache.« Fünfzehn Minuten waren genug Zeit, um eine ganze Menge Whisky in sich hineinzuschütten – vor allem wenn man nur vergessen wollte und es einem gleichgültig war, was im Zustand der Volltrunkenheit passierte. Und Jack war es egal. Fast konnte man noch von Glück sagen, dass er nur aufs Dach gestiegen war, anstatt sich wie sonst in Kneipen zu prügeln. Der Freund wurde nicht fertig mit seinen Schuldgefühlen, weil nicht er, sondern sein geliebter Cousin – der warmherzige, draufgängerische, aber zugleich so törichte Blakely – im Krieg gefallen war. Bei Jack schien das selbstzerstörerische Impulse zu wecken.

Und dass er auch noch von Blakelys Tod profitierte, das machte ihm am allermeisten zu schaffen, denn jetzt war er der Nachfolger seines Onkels, des Marquis of Strickland. Die meisten Männer, die im Begriff standen, einen so hohen Titel und ausgedehnte Ländereien zu erben, würden wahrscheinlich aus dem Feiern nicht mehr herauskommen. Doch Jack hatte Blakely, den Sohn des Marquis, geliebt und ihm nie das Erbe missgönnt, und jetzt musste er miterleben, wie der Tod des Sohnes dem alten Vater das Herz brach und ihn vermutlich bald ins Grab bringen würde. Deshalb war Jack ständig betrunken und dem Selbstmord nahe.

Gerüchten zufolge war Blakely bei dem Versuch, Jack aus einer brenzligen Situation zu retten, ums Leben gekommen. Colin, der die Zuneigung des Freundes für seinen bewunderten Cousin nicht teilte, sondern diesen wegen seiner verrückten Einfälle seit jeher für einen Narren hielt, fand, dass es das einzig Sinnvolle war, das Blakely jemals getan hatte. Außerdem war er es gewesen, der Jack dazu überredet hatte, sich mit ihm gemeinsam freiwillig zu melden.

Und jetzt saß Jack also hier oben, nicht weit von Colin und Aidan entfernt, ihnen jedoch so fern wie nie zuvor. Schließlich erhob er sich langsam, seine Zehen berührten bereits das niedrige Gitter an der Kante des Daches, und nur noch ein Schritt trennte ihn vom ewigen Vergessen, von der Befreiung von seinen Schuldgefühlen. Er schaute hinaus in die nebelige Londoner Nacht, als könne er dort eine Antwort auf seine quälenden Fragen finden.

»Ich glaube, dieses Mal hat er es wirklich vor«, flüsterte Aidan voller Entsetzen.

Colin rieb sich mit der Hand übers Gesicht und drehte sich um. »Genau. Du packst ihn oben, ich unten.«

Es war bereits später Nachmittag, als Colin sich auf den Rückweg zu Chantal machen konnte. Obwohl es erst wenige Stunden her war, dass er aus ihren parfümierten Laken gestiegen war, kam es ihm vor, als sei es Tage her. Gottlob war es ihnen gelungen, Jack vom Dach fortzuschaffen, und Aidan passte jetzt auf ihn auf, flößte ihm Kaffee ein und redete ihm gut zu. Ob Jack das nun wollte oder nicht.

Bereits auf dem Dach hatten sie ihm zugesetzt und ihn beschworen, dass ein Selbstmord egoistisch sei – dass zu viele Menschen von ihm abhingen, dass er seine Verpflichtungen ihnen gegenüber als künftiger Grundherr erfüllen müsse. Ihre beschwörenden Worte schienen die Dunkelheit, die Jack gefangen hielt, für eine Weile zu bannen, doch schon bald versank er wieder in sein dumpfes Grübeln. Colin, der sich schrecklich fühlte, seinen Freund wegen Chantal im Stich gelassen zu haben, blieb im Club, bis Jack endlich in einen tiefen, ruhigen Schlaf gefallen war, bevor er sich losriss und zu seiner Geliebten zurückkehrte.

Nur um an Chantals Tür abgewiesen zu werden. Völlig verdutzt und verständnislos starrte Colin den Diener an, der ihm den Zutritt verwehrte. »Was soll das heißen, sie ist nicht zu Hause? Wenn sie abends eine Vorstellung hat, schläft sie immer lange.«

Der Mann schaute ihn sauertöpfisch an. »Ich meine damit, dass meine Herrin für Sie nicht zu Hause ist.«

So ein Mist! Chantal wollte sich offenbar auf ihre Art an ihm rächen, weil er sie in der vergangenen Nacht allein gelassen hatte. Colin rieb sich den Nacken. »Na schön. Wann wird Ihre Herrin für mich wieder zu sprechen sein?«

Der Mann grinste höhnisch. »Ich würde nicht damit rechnen, dass es sehr bald ist, Mister. Sie stecken ganz schön in der Patsche, würde ich sagen.«

Colin weigerte sich zu registrieren, dass sein Magen sich verkrampfte – bei ihm ein untrügliches Indiz für drohendes Ungemach. Er wollte es nicht wahrhaben, hielt sich an dem Gedanken fest, dass er sie nur zum Lächeln bringen musste. Mit einem Geschenk, einer Perlenkette vielleicht oder einem Saphiranhänger, der zu ihren wundervollen blauen Augen passte! Oder mit hübsch verpackten Pralinen, was seinem Kontostand eher entsprechen würde. Außerdem wäre es eine passende Anspielung: etwas Süßes, um das Süße in Chantal zum Vorschein zu bringen.

Als er sich später mit seinem Geschenk zum Theater begab, ließ der Direktor ihn missmutig ein. Er traf Chantal in ihrer Garderobe an, eingehüllt in eine Parfumwolke auf ihrer elfenbeinfarbenen, mit Seide bezogenen Recamiere liegend. Die verführerischen Kurven ihres perfekten Körpers waren bedeckt von einem Seidenschal, der sich äußerst anmutig an ihren Körper schmiegte und die Fülle ihrer üppigen Rundungen aufs Vorteilhafteste zur Geltung brachte.

Bei seinem Auftauchen gab sie einen überraschten Laut von sich. Ihr feines Gesicht hob sich blass von den schwarzen Haaren ab, während sie mit ihren riesigen blauen Augen, die leicht ins Violette spielten, zu ihm aufschaute. Sie wirkte unendlich traurig.

Colins Zuversicht sank. »Chantal …«

Eine einzelne Träne perlte ihre perfekt geschwungene Wange hinab. »Du hast mich verlassen.«

O nein! Colin schluckte. »Es war nur für ein paar Stunden …« Verzweifelt streckte er eine Hand aus, hielt ihr sein Präsent entgegen, das schäbig wirkte im Vergleich zu den kostspieligen Geschenken, die wohlhabendere Verehrer ihr gemacht hatten.

Eine weitere Träne rollte aus einem Augenwinkel. »Mein Liebster, mein Einziger, bitte versteh mich. Ich brauche jemanden, auf den ich mich verlassen kann. Der nicht so mir nichts, dir nichts in der Nacht verschwindet …«

Zum zweiten Mal an diesem Tag wurde ihm eiskalt ums Herz. »Nein. Nein, Chantal, ich verspreche dir, das wird nie wieder passieren! Ich schwöre, ich werde niemals mehr von deiner Seite weichen …«

Sie hob eine ihrer zierlichen Hände, um seinem Protest Einhalt zu gebieten. »Aber mein Liebster, das ist nicht das Einzige, was uns trennt.«

Er wich zurück. »Was meinst du?« Eifersucht packte ihn, brachte sein Blut in Wallung. »Gibt es einen anderen?«

Ihre Unterlippe bebte, während sie ihre elegant geschwungenen Augenbrauen zusammenzog. »Wirfst du mir etwa vor … Also, du weißt doch, dass ich niemals … Mein Liebster, du bringst mich um.«

Er eilte an ihre Seite, als sie in Tränen ausbrach, den langen, verletzlichen Nacken gebeugt. »Nein! Natürlich nicht! Vergib mir, Chantal, ich bin ein Narr.«

Mit einem langen, zitternden Seufzer hob sie den Blick und schaute ihm in die Augen, während ihre eigenen verschwommen und absolut hoffnungslos blickten. »Du musst mich verlassen, mein Liebster, mein Beschützer, mein Leben – du musst dich sofort von mir losreißen.«

Der Schlag traf ihn völlig unerwartet. »Was?«

Sie setzte sich sehr gerade hin. Ihre Pose wirkte fast sittsam, wäre da nicht die verführerische Wölbung ihres Busens unter dem Schal gewesen. »Ich muss dich gehen lassen, zu deinem eigenen Schutz. Ich weiß, dass deine Mittel erschöpft sind. Deshalb kann ich nicht zulassen, dass du dich weiter verschuldest, und würde es mir niemals verzeihen, wenn du es tätest. Nein, du musst gehen. Du und ich – das war ein schöner Traum, von Engeln geschaffen, der jedoch nicht für die Wirklichkeit taugt.«

Sie erschauerte und zog den schweren Seidenschal, ein Geschenk von Colin, ein wenig fester um ihre zarten weißen Schultern. »Ich ertrage es nicht, mich von dir zu trennen, mein Liebster, aber wir müssen von nun an unsere eigenen Wege in dieser Welt gehen, jeder für sich.«

Sie machte eine Geste, eine kaum wahrnehmbare Bewegung ihrer Finger, und plötzlich tauchte wie aus dem Nichts ein dunkler Schatten hinter Colin auf. Er blinzelte verwundert, als der Mann, einer der Platzanweiser und ein Riese von Gestalt, ihn am Arm packte.

»Das reicht jetzt, Sir.«

Colin wandte sich verwirrt an Chantal. »Du lässt mich rauswerfen?«

Sie tupfte sich mit einem hauchdünnen Spitzentaschentuch, ebenfalls ein Geschenk von ihm, die Augenwinkel – er erkannte das Monogramm, das er eigens hatte einsticken lassen. »Es ist nur zu deinem Besten, mein Liebster. Ich hasse lange Abschiede, das weißt du. Ich könnte es nicht ertragen, wenn du meinen Schmerz mit ansehen müsstest.«

Sie reckte das Kinn. »Ich beherrsche mich dir zuliebe, bis du weg bist. Du musst gehen, bevor deine Erinnerungen an mich durch den Anblick meines verweinten Gesichts getrübt werden.«

Der Hüne begann Colin aus der Garderobe zu ziehen, wehrte dabei mühelos alle Versuche ab, sich ihm zu widersetzen. Keine Minute später fand er sich in der Gasse hinter dem Theater wieder – mit einer schmerzenden Schulter und einem wild pochenden Herzen.

Chantal!

Dieser Blick in ihren schönen, seelenvollen Augen, als sie ihn daran erinnert hatte, dass seine Konten leer waren. Verdammt! Woher wusste sie das? Er pflegte sorgsam darauf zu achten, dass seine Geschenke trotzdem kostbar aussahen – nur die Häufigkeit der Präsente hatte abgenommen.

Wie sollte er ohne sie leben? Wie konnte er weiterbestehen ohne den Duft ihres Haares, die Berührung ihrer weichen Haut und ihre Angewohnheit, ihm höchst unanständige Dinge ins Ohr zu flüstern, wenn er in ihr war?

Bis ins Mark erschüttert stand er in der schmutzigen, stinkenden Gasse und drückte die Handflächen auf seine schmerzende Brust.

Er würde nie eine andere lieben.

Chantal.

Erstes Kapitel

Dreieinhalb Jahre später

Sir Colin Lambert hatte geglaubt, es sei einfach, auf ein Kleinkind aufzupassen. Schließlich zogen sogar absolute Idioten ihre Kinder groß. Nun ja, sein Vater, der Wissenschaftler, allerdings hatte kläglich versagt und ihn einfach nach dem Tod seiner Mutter bei seiner Tante abgeliefert, die immerhin einen ordentlichen Burschen aus ihm machte.

Es konnte also nicht so schwierig sein. Er war ein intelligenter Kerl, einige hielten ihn sogar für einen brillanten Gelehrten. Immerhin war er aufgrund seiner Forschungen bereits in jungen Jahren in den Adelsstand erhoben worden und verfügte überdies durchaus über Erfahrung im Umgang mit Kindern, denn er war aufgewachsen mit einer ganzen Horde jüngerer Cousins und Cousinen.

Weshalb also schaffte er es nicht, auf ein einziges winziges Mädchen aufzupassen?

Wie einfach war das Leben doch gewesen, bevor er und Aidan beschlossen hatten, sich um Melody zu kümmern, die einsam auf den Stufen der Eingangstreppe des Brown’s Gentlemen Club gesessen hatte. Aber bald würde Jack ja nach London zurückkehren, trösteten sie sich, den sie in seltener Übereinstimmung für den Vater des Kindes hielten. Dann war auch noch Madeleine, Aidans ehemalige Geliebte, in den Club geschleust worden, weil sie beide der Meinung waren, Melody brauche eine weibliche Bezugsperson, und von da an hatten sich die Dinge recht harmonisch entwickelt, wenn man einmal von dem verrückten Mörder, Madeleines Exmann, absah, der sie entführte und auf dem Dachboden gefangen hielt. Was jedoch nicht das Geringste mit Melody zu tun hatte.

Als Aidan und Madeleine nach ihrer Heirat sich nicht mehr ständig im Club aufhielten, vermisste Colin die kapriziöse Kleine schon nach wenigen Tagen dermaßen, dass er sich anbot, während der Flitterwochen der Jungvermählten auf das Kind aufzupassen und für eine Weile Vater zu spielen.

Und das hatte er nun davon.

Doch er wollte es ja nicht anders, denn inzwischen liebte er Melody wirklich, als sei er ihr Vater. Und vielleicht war er es ja sogar. Was er anfangs nicht in Betracht gezogen hatte, rückte nach längerem Hin-und-Her-Rechnen immer mehr in den Bereich des Möglichen. Colin hielt es nicht mehr für ausgeschlossen, dass Melody seine Tochter war. Und die von Chantal. Ihr Alter passte ziemlich genau zu seiner Affäre mit der schönen Schauspielerin. Sogar die Tatsache, dass Melody in die Obhut einer Pflegemutter gegeben wurde, machte Sinn, denn Chantal hätte ihrem Publikum nicht gut ein uneheliches Kind präsentieren können. Auch eine gewisse Ähnlichkeit glaubte er zwischen den beiden zu entdecken, zumindest was Haar- und Augenfarbe betraf, während die frappierende Intelligenz des kleinen Mädchens möglicherweise auf sein Erbe verwies.

Deshalb hatte er sich nach Chantals Verbleib erkundigt und erfahren, dass sie wenige Wochen, nachdem sich ihre Wege getrennt hatten, eine mehrmonatige Bühnenpause eingelegt hatte. Wegen eines »rheumatischen Fiebers«, wie man ihm erklärte.

Eine beliebte Ausrede, denn diese Krankheit musste oft herhalten, wenn ein Mädchen aus guter Familie für eine Zeit – meist neun Monate – aus der Öffentlichkeit verschwand, und wurde deshalb auch als »romantisches Fieber« bezeichnet.

Für Colin gab diese Information den Ausschlag, und er war sich daraufhin völlig sicher, dass es sich bei Melody um seine Tochter handelte. Woraus sich wiederum die verzweifelte Hoffnung ergab, auf diesem Weg Chantal zurückzugewinnen.

Er malte sich bereits sein künftiges Leben aus mit Chantal als seiner Frau und Melody als ihrem gemeinsamen Kind. Sie würden genauso glücklich sein wie Aidan und Madeleine und von einer Zukunft mit vielen weiteren Mädchen und Jungen träumen, jedenfalls genug, um das große leere Haus, seinen Besitz Tamsinwood Hall, mit Leben zu füllen.

Er könnte jeden Morgen neben einer strahlenden und glücklichen Chantal aufwachen, das Gesicht in ihrem duftenden Haar vergraben, und abends in ihren Armen einschlafen, ihren Körper an seinen gepresst … Und er würde sie verwöhnen, denn inzwischen waren seine Konten gut gefüllt.

Normalerweise war er ein Mann der Logik und der Planung, doch jetzt hatte er alle Vorsicht fahren lassen und sich mit dem kleinen Mädchen nach Brighton aufgemacht, weil er dort die Frau wiederzusehen hoffte, die er für Melodys lang vermisste Mutter hielt. Das Seebad war ihm im Theater als Chantals derzeitiger Aufenthaltsort genannt worden.

Zunächst aber musste er Melody finden.

»Mellie! Mellie, ich weiß, dass du dich hier irgendwo versteckst. Komm sofort raus!«

Natürlich kam sie nicht. Warum sollte sie auch? Er selbst hatte das als Kind immer völlig dumm gefunden, wenn verärgerte Erwachsene ein Kind zu sich riefen. Das war ja genauso, als würde man eine Katze mithilfe eines Hundes von einem Baum locken wollen.

Na schön. Colin holte tief Luft und setzte sich in den Schatten eines Baumes und lauschte einen Moment, bis er das leise Scharren kleiner Stiefel vernahm. Kurz darauf regnete zerkrümelte Rinde durch die feuchte Frühlingsluft auf seinen edlen dunkelgrünen Wollmantel herab. Resigniert wischte er sie weg, legte dann den Kopf in den Nacken und schloss die Augen gegen das durch die Blätter fallende Sonnenlicht.

Wenn man schon am Straßenrand warten musste, weil man nicht in der Lage war, ein Kind zurück in die Kutsche zu bugsieren, nachdem ein dringendes Bedürfnis es in die freie Natur getrieben hatte, dann war das hier definitiv der ideale Ort dafür.

Seit zwei Tagen waren sie bereits unterwegs. Er öffnete die Augen und betrachtete voller Stolz seinen schnittigen zweirädrigen Einspänner, das neueste Modell, das zu haben war. Ein Traum aus glänzendem Lack, das perfekte Gefährt für einen smarten Großstädter wie ihn. Das Design erinnerte ihn an die rassigen Rundungen einer Frau, und die lackierte Oberfläche glühte rot im Sonnenlicht wie die Verführung selbst. Das edle Bild wurde ergänzt durch den eleganten Wallach Hector mit seinem schimmernden schwarzen Fell und den ebenholzfarbenen Leinen. Nur das glänzende Messinggeschirr bildete einen Kontrast.

So sah Schönheit aus. Aidan würde es vermutlich lächerlich und unpraktisch nennen. Colin grinste in sich hinein. Gar nicht komisch fand er hingegen den Gedanken, dass er den Rest des Tages hierbleiben musste, sofern es ihm nicht gelang, Melody vom Baum herunterzulocken.

»Ich dachte gerade ans Mittagessen, Mellie …« Er ließ den Satz erwartungsvoll in der Luft hängen, bevor er weitersprach. »Na, davon willst du wahrscheinlich nichts hören.« Er zupfte ein wenig am Gras herum. »Oder doch?«

Stille. Sie war zweifellos hungrig, aber zu dickköpfig, um es zuzugeben.

Vermutlich half nur eines. Colin Lambert seufzte. Seit sie unterwegs waren, hatte er mehr haarsträubende Piratengeschichten erzählt, als es überhaupt je Piraten gegeben hatte. Wenn er noch einmal all die grausigen Details schildern musste, würde er definitiv das letzte bisschen Verstand verlieren, das ihm noch geblieben war.

Wie auch immer. »Weißt du, ich frage mich, was Piraten wohl zu Mittag essen …«

»Fisch.«

Sie schien den Köder geschluckt zu haben, und er lächelte. »Natürlich, wie dumm von mir. Ich kann mir vorstellen, dass sie jede Menge Fisch essen.« Er summte ein Weilchen vor sich hin. »Und zum Frühstück? Eier hatten sie ja wohl keine.«

»Fischeier.«

Er unterdrückte ein Lachen. »Aha, möglich. Warum eigentlich nicht.«

Noch mehr Rinde rieselte auf seinen Paletot. Das Scharren der kleinen Stiefel schien näher zu kommen. Er war versucht aufzuspringen und nach ihr zu greifen, doch er hatte in den letzten anderthalb Stunden viel gelernt. Trotz ihrer gerade mal drei Jahre zeigte Melody bereits eine erstaunliche Vorliebe für große Höhen.

Mit einem erneuten Seufzen gab er nach und begann seine Litanei, die er bestimmt an die vierzigmal während der letzten beiden Tage angestimmt hatte. »Es war einmal vor langer Zeit auf den Weltmeeren« Verflucht seien die Weltmeere! –, »da segelte ein mächtiges Piratenschiff gegen den Wind. Am Bug prangte sein Name, geschrieben mit dem Blut ehrenwerter Männer, und er lautete …« Er wartete.

»Dishonor’s Plunder.«

»Dishonor’s Plunder«, bestätigte Colin erschöpft, denn jetzt ging die Geschichte erst wirklich los. Blut wurde vergossen, und eine schrecklich hohe Zahl an Opfern war zu beklagen, aber es zahlte sich aus, denn mit einem Mal saß Melody im Schneidersitz neben ihm im Gras.

Sie hatte Gordy Anne auf dem Schoß, ein schmuddeliges Bündel, das aus einer zusammengeknoteten Halsbinde mit aufgemalten Tintenaugen bestand und von Melody als ihre Puppe bezeichnet wurde. Gordy Anne sah ein bisschen misstrauisch aus, als könnte man ihm nicht trauen.

»Hallo«, sagte er vorsichtig.

Melody blinzelte ihn aus ihren großen blauen Babyaugen an. Ihre dunklen Locken waren voller Laub und Rindenstückchen. »Ich hab Hunger.«

»Ich nicht.« Tatsächlich war ihm von seiner eigenen Fantasie ein wenig übel geworden. Falls irgendjemand von den Bathgate Scholars, einer Gelehrtengesellschaft, hören würde, welchen Schund er manchmal von sich gab

Nun, das würde keine Menschenseele je erfahren.

Er stand auf und klopfte sich die Kleidung ab. »Also gut. Bis Brighton sind es nur noch ein paar Meilen die Straße hinunter. Auf geht’s, Käpt’n Mellie.« Mit diesen Worten warf er sich das kichernde Mädchen über die Schulter und marschierte zu Hector zurück, der trotz der Trense im Maul heroisch versuchte, den Straßenrand kahl zu fressen. Colin setzte Melody ab und schwang sich auf den Kutschbock.

Es war so praktisch, dachte Colin, dass sie beide diese Reise allein unternahmen. Keine Dienstboten, keine schwatzhaften Begleiter. Niemand, der ihnen vorschrieb, wann sie weiterfahren und wann sie anhalten mussten

»Onkel Coliiiin! Ich muss mal!«

Prudence Filby warf ihren Nähbeutel auf den Boden der Garderobe. Diese verdammte Chantal! Sie barg das Gesicht in den Händen und versuchte die Panik niederzukämpfen, die eiskalt in ihr hochkroch.

»Sie kommt nich zurück?«, fragte sie den Direktor des Theaters in Brighton, obwohl sie die Antwort bereits kannte. »Sicher?«

Der stämmige Mann hinter ihr stieß ein bedauerndes Schnauben aus. »Sie ist weg. Ist mit diesem Dandy abgehauen. Sagte, sie würde ihn lieben. Ich nehme sie nicht wieder, selbst wenn sie zurückkäme. Chantal Marchant mag ja die schönste Schauspielerin in ganz England sein, aber sie ist auch eine verdammte Schlam…« Er räusperte sich. »Sie geht mir gewaltig auf die Nerven. Von den letzten zehn Vorstellungen hat sie nur zwei durchgehalten. Hat ständig gesagt, dass sie zu gut ist für so ein langweiliges Stück.«

Was er sagte, stimmte. Desgleichen seine Charakterisierung von Chantal. Nur dass sie auch gehässig war, das fehlte. Pru hob den Blick und musterte das Durcheinander in der Garderobe. Es sah aus, als habe hier ein Wirbelsturm gewütet. Alles war zerstört.

Verflucht sollst du sein, Chantal.

Das Theater war für die letzten zwei Jahre fast Prus Zuhause gewesen, die Garderobe und das Zimmer, in dem die Kostüme genäht wurden. Dunkel, düster und eng. Die meisten Theaterbesucher sahen die große Bühne, die violetten Samtvorhänge und die grellen Scheinwerfer, die die einzelnen Szenen ausleuchteten, doch die wahre Theaterwelt war hinter der Bühne in den kleinen, kalten Räumen, in denen ihr die Finger manchmal so klamm wurden, dass sie kaum nähen konnte. Das hier war die Wirklichkeit: die langen Stunden, die man sich über schwierige Näharbeiten beugte, die nicht enden wollenden Ansprüche des verwöhnten Stars.

Pru hatte mehr Zeit in der Garderobe mit der ewig unzufriedenen Chantal verbracht als in dem winzigen gemieteten Zimmerchen, das sie sich mit ihrem jüngeren Bruder Evan teilte. Dass es damit vorbei sein sollte, empfand sie als direkten Angriff auf sich selbst.

Sie schaute über die Schulter zu dem Direktor hinüber und versuchte zu lächeln. Der Mann hatte Chantals nörgelnden Tonfall geradezu perfekt imitiert. »Sie sollten selbst auf die Bühne gehn, Sir. Sind richtig gut im Darstellen von ’ner verdammten Schlampe.«

Er grinste sie an, schüttelte jedoch bedauernd den Kopf. »Wird dir nichts helfen, mir Honig um den Bart zu schmieren, Pru. Ich kann dir keine neue Arbeit besorgen. Du kriegst keine gerade Naht hin, und das weiß das ganze Ensemble. Du hast den Job nur so lange behalten, weil du die Einzige warst, die mit Chantals Wutanfällen zurechtgekommen ist.«

Pru nickte resigniert. »Sie können nix dafür, Sir. Und außerdem haben Sie recht.« Es machte keinen Sinn, es abzustreiten. Sie hatte das alles nur über sich ergehen lassen, Chantals Wutanfälle und Schimpftiraden, damit sie für sich und den zwölfjährigen Evan genug zu essen auf den Tisch bringen konnte. Die anderen Näherinnen hatten ihr bei den schwierigeren Sachen geholfen – aus Dankbarkeit, dass sie selbst nicht für die Teufelin arbeiten mussten.

Jetzt war es vorbei und Chantal auf und davon, ohne ihr den letzten Monatslohn auszuzahlen, und in ihren Taschen steckte nichts mehr außer ein bisschen Nähseide und Ersatzknöpfen. Sie konnte nicht einmal die Kostüme verkaufen, denn die hatte Chantal in einem letzten Anfall von Boshaftigkeit zerfetzt.

Der Theaterdirektor ging und überließ sie ihren trüben Gedanken. Bilder einer elenden Zukunft tauchten vor ihrem geistigen Auge auf. Ihr blieb nur die Fabrik, denn eine andere Tätigkeit würde sie kaum finden, denn niemand wollte ein Mädchen, das nichts gelernt hatte und keine Referenzen vorweisen konnte.

Ihr Herz wurde schwer, wenn sie daran dachte. Sie hoffte bloß, dass sie zu den wenigen Glücklichen gehören würde, die eines Tages wieder aus der Fabrik herauskamen. Viele hier im Theater wussten schreckliche Geschichten zu erzählen. Die Arbeit sei äußerst anstrengend und ruiniere die Gesundheit, hieß es. Im Winter froren die Mädchen an ihren Maschinen, und im Sommer war es in den Hallen so heiß, dass manche in Ohnmacht fielen.

Brutale Vorarbeiter machten sich überdies an die Mädchen ran und akzeptierten kein Nein. Schwere Verletzungen waren an der Tagesordnung, denn man geriet mit den Händen leicht in die Maschinen, und es gab kein Gesetz, das den Fabrikbesitzern Einhalt gebot. Doch obwohl die Ausbeutung grenzenlos war, standen die Mädchen Schlange, sobald eine Stelle frei wurde. Die Fabrik war die letzte Zuflucht, und viele wählten sie aus purer Verzweiflung. Besser sie als Evan. Die jüngeren Kinder erlebten dort normalerweise nicht einmal ihren nächsten Geburtstag. Prudence schluckte schwer bei diesem Gedanken.

Du könntest zurückgehen, dann müsste Evan wenigstens nicht verhungern.

Nein! Eher ging sie in die Fabrik! Sie war stärker, als die Leute angesichts ihrer zierlichen Gestalt dachten. Und sie war schlau und vorsichtig. Außerdem, redete sie sich ein und ignorierte dabei den Stein, der zentnerschwer in ihrem Magen zu liegen schien, würde sie nach den Erfahrungen mit Chantal mit allem fertig!

Nur zurückgehen durfte sie auf keinen Fall.