Inhalt

Titel

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Danksagung

Über die Autorin

Impressum

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Aus dem Englischen von Stefanie Lemke

In Erinnerung an meine Großmutter, Helen Emanuel,

die mir immer das Gefühl gegeben hat, dass alle meine

Geschichten großartig sind.

Kapitel 1

Unsere Mutter ist auch eine Hexe gewesen, aber sie wusste es besser zu verstecken.

Sie fehlt mir.

Es vergeht nicht ein einziger Tag, an dem ich mir nicht wünsche, sie könnte mir helfen. Besonders, was meine Schwestern angeht.

Tess läuft vor mir her auf den Rosengarten zu unseren Zufluchtsort. Nur dort fühlen wir uns wirklich sicher. Ihre Schuhe gleiten über die Pflastersteine, die Kapuze des grauen Mantels rutscht ihr vom Kopf, und ihre blonden Locken kommen zum Vorschein. Ich blicke zurück zum Haus. Es ist gegen die Vorschriften der Bruderschaft, dass Mädchen draußen ohne Kopfbedeckung herumlaufen. Und Laufen an sich wird als nicht damenhaft angesehen. Doch hinter den hohen Hecken sind wir vor dem Haus verborgen. Tess ist sicher. Noch.

Sie bleibt stehen und wartet auf mich. Sie tritt nach dem heruntergefallenen Laub unter einem Ahornbaum. »Ich mag den Herbst nicht«, klagt sie und beißt sich mit ihren ebenmäßigen Zähnen auf die Unterlippe. »Alles ist so deprimierend.«

»Ich mag den Herbst.« Ich fühle mich belebt durch die Frische der klaren Septemberluft, den strahlend blauen Himmel und das Zusammenspiel von Orange-, Rot- und Goldtönen. Die Bruderschaft würde den Herbst wahrscheinlich verbieten, wenn sie es könnte. Der Herbst ist einfach zu schön. Zu sinnlich.

Tess zeigt auf die Clematis am Rankgitter, deren Blüten braun und verwelkt sind und müde nach unten hängen.

»Sieh nur, alles ist tot«, sagt sie mit Grabesstimme.

Da begreife ich erst, was sie vorhat. »Tess!«, rufe ich.

Doch zu spät. Sie blinzelt mit ihren grauen Augen, und eine Sekunde später ist es Sommer.

Tess ist für ihre zwölf Jahre schon sehr weit, viel weiter als ich in ihrem Alter war. Die verwelkten Blüten richten sich auf. Plötzlich sind sie wieder ganz weiß und üppig. Die Eichen sind voller frischer grüner Blätter. Prachtvolle Pfingstrosen und Lilien neigen sich der Sonne entgegen und scheinen über ihr Wiedererwachen zu jubilieren.

»Teresa Elizabeth Cahill«, zische ich. »Mach das sofort rückgängig!«

Sie lächelt gefällig, als sie sich vorbeugt, um den Duft der gelbroten Taglilien einzuatmen. »Nur für ein paar Minuten. Es ist viel schöner so.«

»Tess.« Der Ton meiner Stimme verrät, dass ich keinen Widerspruch dulde.

»Wozu soll dies alles denn gut sein, wenn wir es nicht nutzen können, um die Welt schöner zu machen?«

Soweit ich es beurteilen kann, ist »dies alles« zu ziemlich wenig gut. Ich ignoriere Tess’ Frage. »Tess, du machst das jetzt sofort wieder rückgängig! Bevor Mrs O’Hare oder John rauskommen!«

Tess murmelt lautlos einen Reverto-Zauberspruch vor sich hin. Was wahrscheinlich unser Glück ist. Im Gegensatz zu mir braucht sie einen Zauberspruch nicht laut auszusprechen.

Die Clematis verwelkt wieder in ihren Reben, das Springkraut zerfällt, die Blätter rascheln unter unseren Füßen. Tess sieht nicht besonders glücklich aus, aber wenigstens hört sie auf mich. Was ich von Maura nicht gerade behaupten kann.

Auf den Pflastersteinen hinter uns sind Schritte zu hören. Der schnelle, schwere Gang eines Mannes. Blitzartig drehe ich mich zu dem Eindringling um. Tess rückt näher an mich heran, und ich widerstehe dem Drang, den Arm um sie zu legen. Sie ist klein für ihr Alter, aber ich würde sie für immer so behalten wollen, wenn ich könnte. Ein seltsames, hübsches Kind ist weniger gefährdet als eine seltsame, hübsche Frau.

John O’Hare, unser Kutscher und Mädchen für alles, kommt um die Ecke getrampelt. »Ihr Vater erwartet Sie, Miss Cate«, schnaubt er. Seine bärtigen Wangen sind gerötet. »Im Arbeitszimmer.«

Ich lächele höflich und stecke eine widerspenstige Haarsträhne zurück unter die Kapuze. »Danke.«

Ich warte, bis er wieder verschwunden ist. Dann drehe ich mich zu Tess um, ziehe ihr die Kapuze über die widerspenstigen Locken und beuge mich hinunter, um den Staub von ihrem zerlumpten Spitzensaum zu klopfen. Mein Herz schlägt wie verrückt. Wenn er zwei Minuten eher gekommen wäre oder wenn es Vater gewesen wäre oder die Bruderschaft uns einen unerwarteten Besuch abgestattet hätte, wie hätten wir erklären sollen, dass dieser Teil des Gartens in voller Blüte stand?

Wir hätten es nicht gekonnt. Es war Magie, schlicht und ergreifend.

»Dann gehe ich mal besser. Ich bin gespannt, was Vater zu besprechen hat.« Ich bemühe mich um einen freudigen Tonfall, aber so unerwartet von ihm gerufen zu werden, beunruhigt mich doch. Er ist gerade erst seit ein paar Tagen aus New London zurück. Wird er uns bald schon wieder verlassen? Die Zeit, die er zu Hause verbringt, wird von Jahr zu Jahr kürzer.

Tess schaut sehnsüchtig zum Rosengarten am Ende des Weges. »Dann gibt es heute keine Übungsstunde?«

»Nach der Vorstellung gerade? Nein.« Ich schüttele den Kopf. »Das weißt du doch genau.«

»Es konnte uns niemand vom Haus aus sehen, Cate. Wir waren hinter der Hecke. Wir hätten es gehört, wenn jemand gekommen wäre, genauso wie wir John gehört haben.«

Ich ziehe die Stirn in Falten. »Keine Zauberei außerhalb des Rosengartens. Mutter hat die Regeln aufgestellt, um uns zu schützen«, gebe ich zurück.

»Ja, wahrscheinlich«, seufzt Tess. Sie lässt die schmalen Schultern hängen, und es tut mir unendlich leid, ihr diese kleine Freude genommen zu haben. Als ich so alt war wie sie, liebte ich es, durch die Gärten zu laufen, und ich war bestimmt genauso unvorsichtig beim Zaubern gewesen. Aber ich hatte Mutter gehabt, die auf mich aufpasste. Jetzt muss ich für Tess und Maura die Mutter spielen und das wilde Mädchen, das immer noch in mir steckt und herauswill, ignorieren.

Den Weg zurück zum Haus gehe ich voran. In der Küche angekommen, hängen wir unsere Mäntel an die hölzernen Haken an der Innenseite der Tür. Mrs O’Hare steht über einen brodelnden Topf mit ihrer furchtbaren Fischsuppe gebeugt. Dabei summt sie Bruchstücke eines alten Kirchenliedes und nickt mit ihrem grauen Lockenkopf im Takt. Sie lächelt uns an und zeigt auf einen Haufen Möhren auf dem Küchentisch. Tess macht sich sogleich an die Arbeit und fängt an, die gewaschenen Möhren zu schneiden. Sie hilft gern in der Küche. Sie liebt es, Zutaten abzumessen, miteinander zu vermengen und zu würzen. Es geziemt sich eigentlich nicht für Mädchen unseres Ranges, aber Mrs O’Hare hat es schon lange aufgegeben, uns beizubringen, was sich geziemt und was nicht.

Die schwere Eichenholztür zu Vaters Arbeitszimmer steht einen Spaltbreit offen. Ich kann ihn am Schreibtisch sitzen sehen, sein Rücken ist ganz krumm vor Erschöpfung, so als würde er am liebsten ein Nickerchen machen. Aber vor ihm liegt ein Stapel in Leder gebundener Bücher, und ich habe keinen Zweifel daran, dass er sich nach unserem Gespräch weiter mit ihnen beschäftigen wird. Und wenn er mit diesen Büchern fertig ist, warten noch Dutzende andere im Regal darauf, ihren Platz einzunehmen. Er ist zwar Geschäftsmann, aber in allererster Linie ist er doch ein Gelehrter.

Ich klopfe an und warte darauf, dass er mich hereinbittet. »John sagt, du wolltest mich sprechen?«

»Komm herein, Cate. Mrs Corbett und ich dachten, wir sollten dich mit einbeziehen, was unser neues Vorhaben angeht, denn es betrifft euch Mädchen.« Vater zeigt in die Zimmerecke, wo Mrs Corbett wie eine dicke Spinne auf dem vornehmen roten Sofa sitzt und ihre hilfreichen Pläne spinnt.

»Ein neues Vorhaben?«, wiederhole ich und trete näher an den Schreibtisch heran. Zu Mutters Lebzeiten hatte Mrs Corbett denkbar wenig Interesse an uns gezeigt, aber seit Mutter gestorben ist, hat sie immer die besten Ratschläge für ihre Nachbarn. Zuletzt hat sie vorgeschlagen, mich auf die Klosterschule der Schwestern zu schicken. Es blieb mir nichts anderes übrig, als Vaters Entscheidung dagegen zu erzwingen und seine Erinnerung daran auszulöschen. Er weiß jetzt nur noch, dass er zu dem Schluss gekommen ist, dass es nicht gut gewesen wäre, mich so schnell nach Mutters Tod fortzuschicken.

In seine Gedanken einzudringen ist das Schlimmste, was ich jemals getan habe. Aber es war einfach notwendig. Wie hätte ich sonst mein Versprechen halten können, mich um meine Schwestern zu kümmern? New London liegt zwei Tagesreisen entfernt.

»Ich denke beziehungsweise Mrs Corbett hat angeregt« Vater druckst herum, bis er endlich auf den Punkt kommt. »Eine Gouvernante! Eine Gouvernante wäre genau das Richtige!«

Oh nein.

Ich recke mein Kinn vor. »Das Richtige wofür?«

Vaters schmales Gesicht errötet. »Für eure Ausbildung. Ich gehe nächste Woche zurück nach New London, und ich werde den größten Teil des Herbstes fort sein. Das ist eine viel zu lange Zeit ohne Unterricht für euch Mädchen.«

Das Herz wird mir schwer. Ein paar Stunden hier und da, um unsere französische Aussprache und unsere Lateinübersetzungen zu korrigieren, das ist die einzige Zeit, die wir noch mit Vater gemeinsam verbringen. Jetzt werden wir auch darauf verzichten müssen. Ich habe schon vor Jahren gelernt, dass ich nicht auf Vater zählen kann, aber Tess? Es wird ihr das Herz brechen.

Ich wische den Staub von der Schreibtischlampe. »Maura und ich können Tess unterrichten, wenn du weg bist. Es macht mir nichts aus.«

Vater geht taktvoll darüber hinweg, dass Tess’ Latein um Längen besser ist als meins. »Wenn das das Einzige wäre ich meine du bist jetzt sechzehn, Cate, und« Hilfe suchend blickt er zu Mrs Corbett, die ihm nur allzu bereitwillig zur Seite springt.

»Eine junge Dame hat noch mehr zu lernen als Fremdsprachen. Eine Gouvernante würde euch Mädchen etwas Schliff beibringen«, bemerkt sie und mustert mich von oben bis unten.

Ich balle meine Hände zu Fäusten. Ich weiß, wie ich aussehe: Ich trage ein hochgeschlossenes, marineblaues Kleid ohne Rüschen oder irgendeinen Firlefanz und dazu die abgewetzten Stiefel, die ich zur Gartenarbeit angezogen habe. Die Haare liegen mir in einem ordentlichen Zopf auf dem Rücken. Ich weiß, dass mir dieser Aufzug nicht besonders schmeichelt. Aber es ist besser, für nachlässig gehalten zu werden, als zu viel Aufmerksamkeit zu erregen.

»Wir haben jede Woche Klavierunterricht in der Stadt«, erinnere ich Vater.

Mrs Corbett fängt an zu grinsen, und dabei verschwinden ihre Augen fast in den Falten ihres dicken Gesichts. »Ich glaube, Ihr Vater hat dabei an etwas anderes als Klavierunterricht gedacht, Liebes.«

Ich sollte meinen Blick senken, wie es sich für ein braves Mädchen gehört, aber ich tue es nicht. Dieses süße, übertrieben vertraute »Liebes« geht mir gehörig auf die Nerven. Ich straffe meine Schultern, hebe mein Kinn und starre direkt in ihre braunen Knopfaugen. »Als da wären?«

»Darf ich offen mit Ihnen sein, Miss Cate?«

»Ich bitte darum.« Meine Stimme ist zuckersüß.

»Sie sind in einem Alter, in dem Sie langsam über Ihre Zukunft nachdenken sollten, über Ihre und Miss Mauras. Ihre Absichtsbekundung steht kurz bevor. Sie müssen sich schon sehr bald entscheiden, ob Sie heiraten und so Gott es will eine Familie gründen oder der Schwesternschaft beitreten.«

Ich spiele mit den Goldfäden des Lampenschirms und spüre, wie ich rot werde. »Ich bin mir meiner Möglichkeiten durchaus bewusst.« Als ob ich das vergessen könnte. Ich verbringe gefühlt den halben Tag damit, meine Angst niederzukämpfen, um von der aufsteigenden Panik nicht erdrückt zu werden.

»Nun, es ist Ihnen aber vielleicht nicht bewusst, dass Sie und Ihre Schwestern inzwischen einen gewissen Ruf haben. Als Sonderlinge. Blaustrümpfe. Miss Maura noch mehr als Sie Mauras Nase steckt ständig in einem Buch, nicht wahr? Sie geht im Buchladen ein und aus. Sie beide erhalten keinen Besuch, und Sie werden von niemandem eingeladen. Es ist ja verständlich, da Sie keine Mutter haben, die Ihnen hilft«, Mrs Corbett sieht meinen Vater mitleidig an, »aber bedauerlich. Als Ihre Nachbarin hielt ich es für meine Pflicht, Ihrem Vater mitzuteilen, was mir zu Ohren gekommen ist.«

Natürlich tut sie nur ihre Pflicht, diese aufdringliche Schnüfflerin.

Sonderlinge, hat sie gesagt. Haben die alten Kühe im Ort etwa über uns getratscht? Und wenn die Bruderschaft etwas davon erfahren hat? Vater genießt als ehemaliger Lateinlehrer bei den Brüdern großes Ansehen, denn bevor Mutter gestorben ist und ehe er das Reedereigeschäft seines Onkels in New London erbte, unterrichtete er an der hiesigen Jungenschule. Aber das reicht bei Weitem nicht aus, um seine Töchter von jeglichem Verdacht fernzuhalten. Heutzutage ist jeder verdächtig.

Ich dachte, wir wären sicherer, wenn wir zurückgezogen lebten. Vielleicht lag ich damit jedoch falsch.

Ich mache ein langes Gesicht, aber Vater nimmt mein Schweigen als Zustimmung. »Mrs Corbett kennt eine geeignete junge Dame. Sie ist sehr gut im Französischen Malen, Musizieren« Er brummt weiter vor sich hin, aber ich höre gar nicht mehr zu. Unsere Gouvernante wird sich in all den schönen, nutzlosen Dingen auskennen, die von jungen Damen unseres Standes erwartet werden.

Und sie wird hier bei uns wohnen. Hier bei uns im Haus.

Ich beiße die Zähne zusammen. »Dann hast du sie bereits eingestellt?«

»Schwester Elena wird Montag früh anfangen.« Mrs Corbett lächelt.

Schwester? Es ist noch schlimmer, als ich dachte. Die Schwestern sind der weibliche Teil der Bruderschaft, nur sind sie im Gegensatz zu den Brüdern absolut machtlos. Sie haben weder einen Vorsitz bei Rechtsstreitigkeiten noch schreiben sie Addenden zum Moralkodex oder urteilen über der Hexerei angeklagte Mädchen. Sie leben abgeschieden in Stadtklöstern und opfern ihr Leben im Dienste des Herrn, indem sie Mädchen an ihren Eliteinternaten unterrichten und manchmal auch als Gouvernante arbeiten. Ich habe noch nie ein Mitglied des Ordens getroffen, aber ich habe schon oft gesehen, wie sie ganz in Schwarz in ihren geschlossenen Kutschen durch den Ort fahren. Sie wirkten immer verhärmt und freudlos. Regina, die Tochter von Mrs Corbett, hatte eine Schwester zur Gouvernante, bevor sie heiratete.

Ist das Vaters Plan? Ist diese Gouvernante darauf spezialisiert, hoffnungslose Fälle wie Maura und mich unter die Haube zu bringen?

Ich wende mich Vater zu. Der Vorwurf liegt mir schon auf der Zunge. Er wollte doch meine Meinung hören, oder nicht? Dabei hat er seine Entscheidung schon längst getroffen! Oder hat sie vielmehr von jemand anderem treffen lassen.

Er sieht mir meine Verärgerung an und lässt den Kopf hängen wie die Clematis draußen im Garten ihre Blüten.

Verdammt. Ich kann nicht mit ihm streiten. Seit Mutter gestorben ist, ist nicht mehr genug von ihm übrig, um eine Auseinandersetzung mit ihm zu führen.

»Wenn es bereits entschieden ist, werden wir das Beste daraus machen. Sie ist bestimmt großartig. Danke, dass du dir solche Gedanken um uns machst, Vater.« Ich werfe ihm mein bezauberndstes Lächeln zu, ganz die hingebungsvolle Tochter. Nicht wahr? Wenn ich will, kann ich so süß sein wie Tess’ Erdbeerkuchen.

»Aber selbstverständlich will ich nur das Beste für euch Mädchen.« Vater lächelt unsicher zurück. »Möchtest du deinen Schwestern die Nachricht überbringen oder soll ich es ihnen beim Abendessen sagen?«

Ah, deswegen hat er mich also kommen lassen. Er hatte niemals vor, mich nach meiner Meinung zu fragen. Es war nur ein Vorwand, weil er nicht den Mut hat, es ihnen selbst zu erzählen! Und wenn Maura einen Wutanfall bekommt und Tess schmollt, kann er sich damit trösten, dass Cate zugestimmt hat, dass es das Beste wäre. Als wenn ich in der Angelegenheit irgendetwas mitzureden gehabt hätte.

»Nein, schon gut. Ich werde es ihnen sagen.« Besser sie werden mir gegenüber unverschämt als Vater gegenüber. »Ich werde es jetzt gleich tun. Noch einen guten Tag, Mrs Corbett.«

Mrs Corbett streicht unsichtbare Fusseln von ihrem schweren Wollrock. »Guten Tag, Miss Cate.«

Ich mache einen Knicks und ziehe die Tür hinter mir zu. Insgeheim verfluche ich ihre schwarze Seele. Sie hat ja keine Vorstellung davon, welcher Gefahr sie uns damit ausgesetzt hat.

Maura sitzt zusammengekauert mit einer Patchworkdecke um die Schultern auf ihrer Fensterbank und liest einen ihrer Schauerromane. Die sind zwar verboten, aber sie hat einen ganzen Stapel davon unter einem losen Brett in ihrem Schrankboden versteckt. Sie gehörten einmal Mutter.

Als ich, ohne anzuklopfen, in ihr Zimmer rausche, legt sie einen Finger als Lesezeichen in das Buch und funkelt mich mit ihren saphirblauen Augen an.

»Schon mal was von Anklopfen gehört?«, fragt sie. »Ist gerade sehr in Mode bei Leuten mit Manieren.«

»Oh, ja. Ich weiß, was für eine Verfechterin von guten Manieren du bist«, lache ich.

»Was gibt es?« Sie richtet sich auf, und ein nackter Fuß kommt unter ihrem blauen Rock zum Vorschein. »Sag schnell. Ich muss herausfinden, was mit diesem armen Mädchen passiert. Sie ist kurz davor, von diesem Herzog geschändet zu werden.«

Ich verdrehe die Augen. Ausgezeichnete Lektüre für eine junge Dame. Wenn Vater sie erwischen würde, hätte sogar er Einwände dagegen. Aber ich habe gerade andere Sorgen.

»Vater hat sich entschieden, eine Gouvernante einzustellen. Eine der Schwestern.«

Maura macht ein Eselsohr in die Seite und legt das Buch aus der Hand.

Eine Gouvernante bedeutet nicht unbedingt unseren Untergang. Aber sie wird die Dinge sehr viel schwieriger machen, besonders wenn sie von der frommen, redseligen Art ist. Es ist schon nicht leicht, unser Geheimnis vor Vater, den O’Hares und Lily, unserem Dienstmädchen, zu bewahren. Noch eine weitere Person dem Haushalt hinzuzufügen noch dazu eine Person, die all ihre Zeit damit verbringen wird, über unser Betragen zu urteilen –, wird alles nur noch komplizierter machen.

»Vater hat das entschieden? Als ob er den Mumm dazu hätte, sich so etwas auszudenken.« Maura tippt ans Fenster. Draußen steigt Mrs Corbett gerade in ihre Kutsche, ihr Mantel flattert im Wind. Sie sieht aus wie eine große, fette Krähe.

Ich hatte das Gleiche über Vater gedacht, aber es aus Mauras Mund zu hören, ist etwas anderes.

»Um Himmels willen, du guckst ja, als hättest du in eine Zitrone gebissen. Du weißt doch, wie es ist.« Sie schiebt die Kattunvorhänge beiseite, damit wir besser sehen können. »Meinst du, sie will ihn heiraten?«

»Ihn heiraten?« Vater würde niemals wieder heiraten.

»Witwer tun das, Cate. Vor allem Witwer, die drei Töchter haben. Das passiert in meinen Büchern ständig. Sie wäre eine Satansbraut, nicht wahr?«

Maura rückt zur Seite, um mir Platz zu machen. Zweifelnd schauen wir zu Mrs Corbett hinaus.

»Ich finde, Vater macht nicht den Eindruck, als wenn er auch nur das geringste Interesse an ihr hätte«, bemerke ich.

»Natürlich nicht. Vater interessiert sich für nichts anderes als für seine Bücher und das Geschäft. Er ist ja auch nie hier. Wir wären diejenigen, die sich mit ihr abgeben müssten. Wie mit dieser Gouvernante.« Maura zieht die Nase kraus.

Ich warte auf die bevorstehende Explosion. Tess und ich, wir sind beide Wasserfarben, verglichen mit dem satten Ölgemälde, das Maura mit ihren feuerroten Haaren und dem entsprechenden Temperament darstellt. Sie ist ungestüm. Eigensinnig. Und schnell verärgert.

»Vielleicht ist es gar nicht so schlecht. Eine Gouvernante könnte etwas Leben in die Bude bringen«, sagt sie schließlich.

Ich springe auf und starre sie an, als wäre ihr ein zweiter Kopf gewachsen. »Du willst eine Gouvernante? Die hier bei uns wohnt? Mir wäre es lieber, du würdest weiter Klavier üben und mit mir zanken, und du möchtest eine Fremde im Haus, deren einzige Aufgabe es ist, uns herumzukommandieren?«

»Jedenfalls habe ich es satt, von dir herumkommandiert zu werden«, brummt Maura. »Ich bin jetzt fünfzehn, Cate. Du musst nicht mehr auf mich aufpassen wie auf ein kleines Kind. Und Tess ist auch kein Kleinkind mehr.«

Ich hebe die blauen Samtschuhe auf, die sie neben ihrem Bett fallen gelassen hat. »Das weiß ich.«

»Wirklich? So verhältst du dich aber nicht.« Maura knurrt lautlos etwas vor sich hin, und auf einmal verwandelt sich der Pantoffel in meiner Hand in eine Spinne. Sie läuft mir über das Handgelenk und den Arm hoch. Für einen kurzen Moment versteife ich mich.

Ich bin kein zimperliches Mädchen, das sich vor Dingen fürchtet, die im Dunkeln vorbeihuschen.

Das hat Maura mir abgewöhnt. Meine magischen Kräfte kamen zum Vorschein, als ich elf war, ihre dagegen zeigten sich erst mit zwölf, doch dann explodierten sie regelrecht über Nacht. Maura war nicht gerade vorsichtig damit. Nachdem Mutter gestorben war, war sie unmöglich. Wir trauerten und gingen so gut wie nie hinaus außer zum Gottesdienst, aber Maura war auch zu Hause nicht nur halbwegs achtsam. Ich lebte in ständiger Angst, dass die Bediensteten oder, Gott bewahre, Vater sie ertappen würden. Wir lagen uns ständig wegen ihrer Gleichgültigkeit in den Haaren. Nach unseren Streitereien kamen dann immer abscheuliche Ungeheuer aus meinem Schrank, Spinnen krabbelten über mein Bett und webten ihre Netze in meinem Haar. Schlangen wanden sich um meine Knöchel und leckten mit ihren gespaltenen Zungen an meinen Füßen.

Ich lernte schnell, mich aus solchen Situationen hinauszudenken. Und niemals meine Angst zu zeigen. Mutter hatte uns gelehrt, dass die Kraft einer Hexe allein in ihrem Geist liegt. Wir können die Dinge nicht ändern. Wir können nur ändern, wie die Leute sie wahrnehmen. Und, in sehr seltenen Fällen, wie sie sich daran erinnern.

»Commuto«, sage ich, und die Spinne verwandelt sich wieder zurück in einen Schuh. Ich werfe ihn auf einen Haufen anderer vor Mauras Schrank.

»Ist dir nicht auch sterbenslangweilig, Cate? Mir schon. Wenn ich die Romane nicht hätte, würde ich mich direkt in den Fluss werfen.« Sie blitzt mich an, steht auf und streckt sich. Der Stoff über ihrem Mieder ist gespannt. Sie braucht dringend neue Kleidung für ihre neuen Kurven. »Was ist denn das schon für ein Leben, wie Geister im Haus umherzuwandeln? Hast du nie das Bedürfnis nach mehr?«

Habe ich das? Es ist Jahre her, seit ich das letzte Mal darüber nachgedacht habe, was ich will. Und es ist ja eigentlich auch ziemlich egal. Ich wollte jedenfalls nicht, dass Mutter stirbt. Ich wollte nicht, dass Vater nur noch ein Schatten seiner selbst ist. Ich wollte nicht die Verantwortung für meine Schwestern übernehmen. Und ganz sicher wollte ich nie eine Hexe sein.

Das Universum sollte langsam mal meine Wünsche in Betracht ziehen.

Maura dagegen denkt immer noch, dass sie die Welt nach ihrem Willen formen kann. Sie wird noch viel lernen müssen.

Da kommt auf einmal eine Erinnerung wieder hoch wie ich durch den Garten renne und von einem hellblonden Jungen mit schelmischen grünen Augen gejagt werde. Wie ich mich von ihm fangen und durchkitzeln lasse, bis ich keine Luft mehr bekomme. Wie er mich ansieht, seine sonnengebräunte Stirn beinahe meine berührt, während er mich ins Gras drückt. Wie er lacht und sich von mir rollt, mit Wangen so rot wie Mauras Haare, und es auf einmal klar war, dass wir zu alt für solche Spiele waren.

Ich beiße mir auf die Unterlippe eine nicht gerade damenhafte Angewohnheit, ich weiß, und eine, die Tess mir abgeguckt hat. »Was willst du denn machen? Wovon halte ich dich denn ab? Nachmittagstees bei Mrs Ishida? Einkaufsbummel mit Rose Collier und Cristina Winfield?«

»Nein. Ich weiß nicht. Vielleicht!« Maura fängt an, auf und ab zu gehen.

Ach du meine Güte. Wenn das verlockende Alternativen sein sollen, fühlt sie sich wirklich einsamer, als ich dachte. »Niemand hält dich davon ab, Freundschaften zu schließen. Du könntest, wann immer du willst, die Mädchen aus dem Ort zum Tee einladen.«

»Als ob sie hierherkommen würden! Die Mädchen aus dem Ort kennen uns doch kaum, und wir rennen rum wie Vogelscheuchen. Außerdem bist du die Älteste; du müsstest die Gastgeberin sein, doch du würdest ja lieber als Einsiedlerin leben.«

Ich lasse mich auf Mauras Bett sinken und streiche die gelbe Tagesdecke glatt, die Mutter während einer ihrer langen Genesungszeiten genäht hatte. Maura hat recht, ich würde keinen Gefallen daran finden, oberflächliche Konversation mit den Klatschweibern aus dem Ort zu betreiben. Aber ich würde es tun. Für sie. Um uns zu schützen. »Möchtest du das wirklich?«

Sie dreht den alten Globus, den Vater ihr zu ihrem letzten Geburtstag geschenkt hat. »Ich weiß nicht. Ich will jedenfalls mehr als das hier, und wir müssen langsam anfangen, an unsere Zukunft zu denken, oder nicht? Wie sollen wir jemals jemanden finden, der uns heiratet, wenn wir nie das Haus verlassen?«

»Du tust ja geradezu so, als wären wir ans Haus gefesselt«, wende ich ein. »Wir gehen doch aus.«

»Zum Gottesdienst und zum Klavierunterricht.« Maura dreht den Globus schneller, bis er eine blaugrüne verschwommene Masse von Orten ist, die wir niemals sehen werden. »Für dich ist ja alles schön und gut. Du wirst Paul heiraten und Kinder von ihm bekommen und für immer nebenan wohnen. Wie du dabei vor lauter Langeweile nicht umkommen wirst, ist mir schleierhaft, aber zumindest ist das schon mal abgemacht. Doch was ist mit mir?«

Ich ignoriere die Stichelei. »Es ist noch gar nichts abgemacht. Er hat es ja nicht einmal für nötig gehalten, auch nur ein einziges Mal nach Hause zu kommen, um mich zu besuchen.« Ich arrangiere ihre Kissen in einer ordentlichen Reihe und plustere sie dabei mit mehr Kraft als notwendig auf. »Wahrscheinlich hat er sich schon längst in ein Mädchen aus der Großstadt verliebt.«

»Hat er nicht.« Maura lächelt mich schief an. »Das hätten wir mitbekommen. Mrs McLeod hätte es jedem im Ort erzählt.«

Da Mr McLeod krank und bettlägerig ist, hat Paul als Einzelkind das Los gezogen, die einzige Freude seiner Mutter zu sein. Ihre Hätschelei macht ihn wahnsinnig. Es überraschte mich zunächst, dass er zur Universität ging, denn er war in der Schule nie besonders gut gewesen. Vater musste ihm sogar Förderunterricht geben. Doch inzwischen denke ich, dass er einfach seinem trostlosen Zuhause entkommen wollte. Trotzdem ist das keine Entschuldigung, nie zu Besuch zu kommen. Er ist seit vier Jahren nicht mehr hier gewesen, nicht einmal zu Weihnachten. Noch nicht einmal zu Mutters Beerdigung.

»Nun, du wirst es nächste Woche herausfinden, nicht wahr?« Maura steht vor dem Spiegel und fährt sich mit Mutters altem Schildpattkamm durch die Locken. »Bist du nervös?«

»Nein«, lüge ich. »Es ist doch bloß Paul. Außerdem bin ich sauer auf ihn.«

»Nun, das musst du wohl verwinden. Es ist ja nicht so, als ob die Männer Schlange stehen würden, um dich zu heiraten.« Maura betrachtet mich, wie ich ausgestreckt auf ihrem unordentlichen Bett liege. »Du solltest die Gouvernante überreden, dir ein neues Kleid zu bestellen. Etwas Modisches. So kannst du dich ihm jedenfalls nicht präsentieren.«

»Paul wäre das egal.« Wäre es das? Dem Jungen, mit dem ich aufgewachsen bin, schon.

Aber wahrscheinlich sollte ich meinen Stolz ablegen und mir Mühe geben, ihm zu gefallen. Wie es ein gutes, praktisch denkendes Mädchen tun würde.

»Sieh dich doch mal an.« Maura zieht mich hoch, sodass ich neben ihr vor dem Spiegel zum Stehen komme. Mein Haar löst sich aus dem Zopf, und ich habe einen Tintenfleck am Ärmel. Aber auch wenn ich mich noch so sehr bemühen würde, ich könnte mich nie mit Maura vergleichen. Maura war schon immer die Familienschönheit. Sie hat prachtvolle, leuchtende Locken, ich dagegen habe glattes blondes Haar mit einem winzigen Rotstich und langweilige graue Augen wie Vater. Doch am Schlimmsten ist mein spitzes Kinn, das meine Eigensinnigkeit verrät. Es ist ein schlecht gehütetes Geheimnis jeder, der auch nur fünf Minuten mit mir spricht, kommt gleich dahinter.

»Du siehst furchtbar aus«, sagt Maura rundheraus. »Aber du wärst hübsch, wenn du dir nur ein bisschen Mühe geben würdest. Du solltest etwas mehr auf dein Äußeres achten, Cate. Noch sechs Monate und dann musst du irgendjemanden heiraten. Du kannst nicht für immer hierbleiben und auf uns aufpassen.«

Noch sechs Monate, bis ich siebzehn werde. Aber nur noch drei, bis ich eine Verlobung verkünden muss. Der Gedanke macht mir langsam zu schaffen.

Maura hat recht. Sie sagt das Gleiche wie Mrs Corbett. Nicht auf die gleiche Art und nicht aus den gleichen Gründen. Aber wenn Mutter noch am Leben wäre, würden Maura und ich zum Tee eingeladen werden, selbst Gäste empfangen und uns als heiratswürdige junge Damen präsentieren. Ich habe es bisher hinausgezögert, aus Angst, es irgendwie zu vermasseln, aus Angst, die Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen. Doch jetzt habe ich zu lange gewartet und damit genau das bewirkt, was ich verhindern wollte.

Wir dürfen den Brüdern nicht den geringsten Anlass geben, uns zu verdächtigen.

»Ich denke, wir sollten der Gouvernante eine Chance geben. Wir werden vorsichtig sein«, verspricht Maura.

»Sie wird hier bei uns wohnen. Dann wirst du keine Romane mehr lesen können. Tess wird nicht mehr studieren dürfen und ich nicht mehr den ganzen Tag in der Erde graben.« Bei dem Gedanken wird mein Herz ganz schwer. Gärtnern ist die einzige Freiheit, die ich mir selbst zugestanden habe. Wenn die Gouvernante darauf besteht, dass ich den ganzen Tag im Haus bleibe und Stillleben mit Obst male, werde ich verrückt. »Wenn sie mitbekommt, was wir sind«

Maura grinst und dreht sich die Locken im Nacken zu einem Knoten zusammen. »Wenn sie Ärger macht, löschen wir ihre Erinnerung. Das ist es doch, was böse Hexen tun?«

Ich fahre herum und sehe sie an. »Das ist nicht lustig.« Meine Schwestern wissen nichts von meiner Fähigkeit. Gedankenmagie ist äußerst selten und wird als die dunkelste Art von Magie überhaupt angesehen. Mutter war die Einzige, die davon wusste, und sogar sie war entsetzt, als sie es erfuhr.

Maura steckt sich die Haare mit Nadeln fest. »War ja nur Spaß.«

»Darüber macht man keine Späße. Es ist nicht in Ordnung, in die Gedanken von Leuten einzudringen und sie zu verwirren! Es greift zu sehr in die Privatsphäre ein. Es ist« Ich unterbreche mich selbst, bevor ich eine Sünde sage.

Aber Maura schaut mich im Spiegel an, als ob sie wüsste, was ich denke. »Wir sind Hexen, Cate. Wir wurden so geboren. Magie ist nichts, wofür man sich schämen muss, was auch immer die Brüder uns glauben machen wollen. Es ist ein Geschenk. Ich wünschte, du könntest das akzeptieren.«