Paul Grote

Der Portwein-Erbe

Kriminalroman

Originalausgabe

Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

© 2008 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

eBook ISBN 978-3-423-40080-0 (epub)

www.dtv.de

Inhaltsübersicht

Der Brief

Ein Haus am Fluss

Abflug

Das Erbe

Morgenröte

Leere Fässer

Abgetaucht

Die Mine

Gepanschter Wein

Dona Madalena

Schwimmende Berge

10 000 Euro

Die Entscheidung

Lissabon

Der Auftrag

In der Falle

Der letzte Portwein

Epilog

Danksagung

Für Bernhard

 

 

 

 

Die einzige eines höheren Menschen würdige Einstellung ist das beharrliche Festhalten an einer Tätigkeit, die er als nutzlos erkennt, das Unterwerfen unter eine Disziplin, von der er weiß, dass sie fruchtlos ist, und das rigorose Anwenden philosophischer und metaphysischer Denknormen, deren Bedeutungslosigkeit er erkannt hat.

 

Fernando Pessoa

1.

Der Brief

Wenn Nicolas Hollmann an jenem ungewöhnlich heißen Apriltag gewusst hätte, dass es Menschen gab, die eine Treppe ansägen würden, um ihn davon abzuhalten, ein Weingut zu besichtigen – er hätte den Brief des Rechtsanwalts, der mit den beiden anderen zusammen im Kasten war, als er nach Hause kam, nicht geöffnet. Aber er hatte nicht die geringste Ahnung, welche Katastrophen noch auf ihn zukommen sollten.

Hätte er sich überhaupt anders verhalten können, hätte er den neutral wirkenden Brief ignorieren, ihn wegwerfen oder besser noch, vorher zerreißen, in den Abfalleimer werfen sollen mit den vergammelten Salatblättern obendrauf, damit er ja nicht in Versuchung geriet, doch irgendwann nachzusehen, was eigentlich drin gestanden hatte? Das fragte er sich später, als er in schlaflosen Nächten daran zweifelte, ob seine Entscheidung richtig gewesen war. Doch was entschied man schon im Leben? Alles wurde entschieden oder entschied sich, Freiheit war eine Fiktion, pure Einbildung. So einfach war das. Nein, er hätte den Brief öffnen müssen, besonders bei einem Absender wie diesem: Rechtsanwalt Hassellbrinck, Bleibtreustraße.

Theoretisch wäre es möglich gewesen, den Brief zu ignorieren. Aber bei Post von Anwälten oder Behörden stellte sich immer ein ungutes Gefühl ein, es könnte sich um eine Schuld, eine Verfehlung, ein bevorstehendes Gerichtsverfahren handeln, langwierig und mit Ausgaben verbunden. Vielleicht hatte jemand ein Mahnverfahren gegen ihn angestrengt, weil er eine Rechnung übersehen hatte – das schlechte Gewissen lauerte immer darauf, sich hervorzutun, genährt von Staat, Eltern, Chefs und Sylvia. Etwas Gutes konnte der Umschlag nicht enthalten.

Im Hausflur am Briefkasten hatte er den Brief stirnrunzelnd angestarrt, ein schlichter, weißer, länglicher Umschlag. Beim Hinaufgehen in seine Wohnung hatte er sich gefragt, was dieser Anwalt wohl von ihm wollte. Der Weg in den fünften Stock war lang, da ging einem eine Menge durch den Kopf, besonders an einem so heißen Tag wie diesem. Vielleicht die Kündigung der Wohnung? Die vorzeitige Kündigung seines ohnehin befristeten Arbeitsvertrages als technischer Zeichner? Eine Festanstellung war nicht drin gewesen – man hatte es als Gnade hingestellt, dass er für einen berühmten Architekten arbeiten durfte.

Oben angekommen wischte Nicolas sich den Schweiß von der Stirn; als er die Wohnungstür aufschloss, quoll ihm die stickige Wärme seiner Dachwohnung entgegen. So heiß war es in Berlin sonst nur im Hochsommer – aber in diesem Jahr war nichts wie sonst.

Die Tragetasche mit dem neuen Zeichenblock und den weichen Bleistiften ließ er an der Garderobe stehen, hängte die viel zu warme Jacke auf – dann folgte der Blick durch die Wohnung. Was hätte jetzt, am späten Nachmittag, anders sein können als am Morgen, als er gegangen war? Er betrat die Küche, warf die Post auf den Küchentisch. Der Brief vom Anwalt landete mit der Anschrift nach oben, was Nicolas als Aufforderung verstand, ihn sofort zu öffnen. Neugier und Skepsis wechselten sich ab, er schob die Entscheidung noch hinaus. Hoffentlich verdarb ihm die Nachricht nicht den Abend, nachdem der Tag schon nicht besonders gewesen war. Er füllte ein Glas zur Hälfte mit Leitungswasser, gab zwei Löffel Nescafé hinein, der etwas klumpte, und goss die Mischung mit kalter Milch auf. Zwei Stückchen Eis brachten die nötige Frische, und die Milch verlor das Schleimige.

Er sah sich nach seinem Brieföffner um; Couverts mit dem Finger aufzureißen, empfand er als stillos. Leider waren Brieföffner aus Elfenbein, aus Metall oder Holz, im jahrzehntelangen Gebrauch patiniert, längst aus der Mode, ein Finger tat es schließlich auch. Technisch gesehen hätte es die Zinke einer Gabel sein können, der Dorn zum Spicken des Bratens aus der Küchenschublade, aber Nicolas legte Wert auf Rituale, wie zum Beispiel das Öffnen seiner Post mit der Nachbildung eines Schwertes von Karl V., kaum länger als eine Handspanne. Er bewahrte es in der Schublade unter seinem Zeichentisch auf. Er hatte es als Schüler auf einer seiner Tramptouren auf einem Flohmarkt in Südfrankreich erstanden, der reine Plunder, aber er liebte es. Als er nach dem Abitur ein Jahr lang in Südamerika unterwegs gewesen war, hatte es allerdings in Frankfurt in einem Umzugskarton gewartet, war dann zum Studium mit nach Berlin gekommen und hatte nach dem Examen, das er als einer der Jüngsten bestanden hatte, auch den Umzug nach Holland mitgemacht. Jetzt wieder in Berlin wartete es auf Briefe, die hoffentlich wichtiger waren als Benachrichtigungen der Krankenkasse, Telefonrechnungen oder Angebote irgendeiner Bank mit 5 000 Euro Sofortkredit, die Nicolas allerdings gut hätte gebrauchen können.

Er wusste nicht, dass dieser Brief zu den wichtigsten gehörte, ja vielleicht war es sogar der wichtigste, den er jemals erhalten hatte, und doch ahnte er etwas. Dieser Brief war anders, und er schob das Öffnen vor sich her. Der Umschlag, wahrscheinlich mit nicht mehr als einem einzelnen Blatt darin, wog schwer. Nicolas schob das Schwert unter die Lasche, die scharfe Schneide fuhr mit einem  feinen Laut durchs Papier. Es befand sich tatsächlich nur ein Blatt im Umschlag, er zog es heraus, legte es auf den Küchentisch und strich es glatt.

Sehr geehrter Herr Hollmann,

wir möchten Sie bitten, sich möglichst bald mit uns in Verbindung zu setzen. Unser Korrespondenzanwalt in Porto/Portugal, Dr. Dr. Pereira, teilte uns mit, dass Sie im Testament Ihres Onkels, Herrn Friedrich Ernst Hollmann, der am 18. April leider verstorben ist, als Erbe genannt sind. Bitte rufen Sie uns an, damit wir bei einem persönlichen Gespräch das weitere Vorgehen klären.

 

Mit freundlichen Grüßen ...

Es folgte die unleserliche Unterschrift einer Mitarbeiterin der Kanzlei – und für Nicolas der Schock. Er ließ die Hand mit dem Brief auf die Tischplatte sinken und starrte aufs Papier.

Friedrich war tot? Dieser kräftige, lebenslustige und fast 1,90 Meter große Mann sollte nicht mehr leben? Unmöglich, so jemand starb nicht. Er war gar nicht alt, Jahrgang 1947. Unvorstellbar. Nicolas sah ihn vor sich, ganz deutlich, seinem Vater ein wenig ähnlich, aber feiner, ohne das eckige Durchsetzerkinn, aber doch entschieden und dabei auch ziemlich feinsinnig. Nicolas hatte ihn vier oder fünf Mal zu Gesicht bekommen hatte, trotzdem war er immer präsent gewesen. Die Familie hatte über ihn gesprochen, selten mit guten Worten. Er musste sie ziemlich geärgert oder geängstigt haben, und Nicolas huschte ein Lächeln übers Gesicht. Sprachen sie nicht auch von ihm längst in ähnlicher Weise im abfälligsten Ton, nannten ihn aus der Art geschlagen, einen Spinner und Weltverbesserer – als ob die Welt nicht dringend eine Verbesserung nötig hätte ...

Friedrich hatte nie getan, was man von ihm verlangt hatte, hatte sich nie konform verhalten. Er war ein Totalverweigerer. Bei Nicolas selbst zeichnete sich eine ähnliche Entwicklung ab, aber anders als bei Friedrich hatte die Familie bei ihm die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass er sein Erbe antreten würde, zumindest seine Mutter nicht, die sicher an einem dieser schwülheißen Frankfurter Frühlingstage an ihren unausgesprochenen Vorwürfen ersticken würde. Egal was er tat, sie empfand es als gegen sich gerichtet, als Schande oder Provokation. Sie hatte sich nie entscheiden können, für nichts richtig, hatte mit der Ehe gehadert, danach mit der Scheidung von seinem Vater, mit seiner herrischen Art, mit dem Vermögen, mit ihrem ehemaligen Schwager und dem neuen Ehemann.

Vor zehn Jahren hatte sie wieder geheiratet, diesen Fritzen vom Baudezernat – wo der seine Finger überall drin hatte –, und Nicolas hatte sich aus dem Staub gemacht, um Friedrich in Portugal zu besuchen. Knapp zwanzig war er damals gewesen und hatte drei Wochen bei ihm auf seinem Weingut am Rio Douro rumgelungert. Es war eine großartige Zeit gewesen. Bilder tauchten auf, ein Fluss, eingerahmt von hohen Bergen, grün-blaues Wasser, Ansammlungen von Häusern an den Berghängen. Er erinnerte sich an einen leicht moderigen Geruch, wie ein Teich mit Entengrütze ... dabei war es ein Fluss, ein aufgestauter ... das Geräusch von Booten und die große Hitze. Und jeden Tag hatten er und Friedrich Wein getrunken.

Tot? Friedrich tot? So eine Scheiße. Wieso erfahre ich das erst jetzt?, fragte er sich wütend, wieso sagt es mir keiner, auch wenn es der Bruder meines Vaters gewesen ist, mit dem ich seit Jahren zerstritten bin, genau wie Friedrich es war? Zumindest gehörte er zur Familie, mochte sie auch so zerrissen und kaputt sein wie die seine. Das Geld, gemeinsame Geschäfte und Teilhaberschaften hielten die Leute noch einigermaßen zusammen, das war der Klebstoff. Aber Friedrich war draußen gewesen, finanziell, soweit er wusste. Woran mochte er gestorben sein? Nie war die Rede von Krankheit oder einem Leiden gewesen, nichts, was Nicolas gewusst hätte, oder hatte man ihm etwas verheimlicht? Man hatte es damals sowieso für falsch gehalten, dass er ihn besucht hatte – wegen des schlechten Einflusses. Dabei fand er den Typ großartig, der einzige Erwachsene, mit dem er damals vernünftig hatte reden können. Ob der Anwalt wusste, woran er gestorben war?

Nicolas nahm den Brief erneut zur Hand: »am 18. April verstorben«. Kein Wort über die Umstände. Seinen Vater würde er niemals danach fragen, um sich das Lamento zu ersparen, dass er nicht in die Firma eintrat, die Frage, ob er sich endlich die Hörner abgestoßen habe, schließlich sei er der Erbe, man könne seiner Bestimmung nicht ausweichen und müsse wissen, was man wolle. Mit dreißig sei die Zeit der Spielerei vorbei, er hätte damals bereits ... – und der ganze Scheiß von wegen seiner primitiven Existenz. Arme Leute zu imitieren, rieche nur mutig. Nicolas wusste nicht, was sein Vater in Wirklichkeit von ihm wollte. Er nahm an, dass er produziert worden war, um einen Erben abzugeben oder die linke Hand des Konzernchefs zu werden, damit der anderswo mit seinem Sohn angeben konnte. »Du kommst hoffentlich nicht auf meinen Bruder.« Wenn er sich den Vater hätte aussuchen können, hätte er Friedrich genommen. Doch nun war er tot – und Kinder hatte er nicht ...

Nicolas überlegte, wen von seiner Mischpoke er anrufen und fragen könnte, wer mehr wusste. Er sollte sich gleich mit dem Anwalt in Verbindung setzen, der würde auf jeden Fall mehr wissen. Seine Telefonnummer stand auf dem Briefkopf. Am anderen Ende der Leitung meldete sich leider nur eine freundliche Telefonstimme, die Bürozeiten ansagte. Er würde sich bis zum nächsten Tag gedulden müssen.

Sein Vater würde bestimmt mehr über die näheren Todesumstände wissen, aber ihn anrufen? Sich dumme Sprüche anhören? »Hast du dich endlich entschieden, hier deinen Schreibtisch zu besetzen, oder besetzt du Häuser?« Es war das Schlimmste für den Vater, dass er es als Nachfolger eines der großen Bauunternehmer hatte hinnehmen müssen, dass sein Bruder in den Siebzigerjahren in Frankfurt Häuser besetzt und sich auf der Straße mit der Polizei geprügelt hatte. Wie auch Nicolas’ Großvater war er nie darüber hinweggekommen. Für sie war es Klassenverrat gewesen. »Hast du noch immer nicht kapiert, wo du hingehörst?«, war ein anderes Lieblingszitat seines Vaters. Nein, ich habe es noch immer nicht begriffen, dachte Nicolas, das Richtige hat sich nicht gezeigt – oder habe ich nicht hingeschaut? Aber wieder nach Frankfurt, um in den Konzern seines Vaters einzutreten? Weder tot noch lebendig. Sollte sein Vater sich gegen jede Erwartung diese Sprüche verkneifen, würde er sicher mit anderen Floskeln aufwarten, nach dem Motto: »Einmal sind wir alle dran, ich hoffe, dass es schnell geht.« Nach einem Unglück auf einer Baustelle hatte er Nicolas mit dem Ausspruch schockiert: »Opfer müssen eben gebracht werden.« Durchaus, solange es nicht eigene waren ...

Also kam ein Anruf bei seinem Vater nicht in Frage – Friedrich hatte das nicht verdient. Nicolas hatte ihn als Mann in Erinnerung, der gewusst hatte, was er wollte. Er selbst bestimmte seine Lebensumstände mehr danach, was er nicht wollte. Nicolas stutzte, als er merkte, wie schnell er akzeptierte, dass »Nelken-Friedrich«, wie sie ihn genannt hatten, tot war.

Wenn er sich recht erinnerte, war Friedrich 1974 nach Portugal gegangen. Wenig später hatten Nicolas’ Eltern sich kennengelernt und kurz darauf geheiratet. Als er geboren wurde, lebte Friedrich bereits seit drei Jahren in Portugal. Es gab ein Foto von seiner Taufe, da war er mit drauf. Wild  hatte er ausgesehen, Bart, langes Haar, Lederjacke, das Enfant terrible im Familienkreis und ein Schreckgespenst für die Frankfurter Society, erinnerte er sie doch an die Drohung mit sozialistischen Experimenten und die Enteignung derer, die wie sie im Überfluss lebten. Heute dachte Nicolas zum ersten Mal daran, dass Friedrich seine Geburt etwas bedeutet haben musste, wenn er eigens zur Taufe angereist war. Nein, seine Mutter konnte er nicht fragen. Friedrich war für sie ein Fremder, sowohl als Mann wie als Mensch unbegreiflich. Oh, war das zu böse gedacht? Menschen wie Friedrich waren in ihrer Welt nicht vorgesehen. Er selbst hatte bis heute nicht begriffen, wer oder was in ihrer Welt vorgesehen war.

Allerdings telefonierte sie häufig mit seinem Vater, rein geschäftlich natürlich. Clever, wie sie war, hatte sie sich einen guten Anwalt genommen und sich an der Scheidung gesundgestoßen, was in jenen Zeiten, als Gleichberechtigung noch kein Thema war, äußerst selten vorkam. Bis heute bezog sie Tantiemen oder Royalties, wie er es nannte. Und es ärgerte sie maßlos, dass Nicolas nicht beim Vater einstieg, nicht nur des Geldes wegen; sie hätte ihn auch zu gern als Spion benutzt. Immer im Bilde sein, lautete ihre Devise. Dabei war sie klug genug, niemals ein abfälliges Wort über ihren Exmann verlauten zu lassen, weder im Familienkreis noch Bekannten gegenüber, weshalb sich viele gefragt hatten, warum sie sich überhaupt hatte scheiden lassen.

Entnervt suchte Nicolas sein Telefonbuch in den Taschen des Sakkos, die Nummer seiner Mutter konnte er sich nie merken. Alle drei Monate wechselte sie wegen angeblich günstigerer Tarife den Telefonanbieter, es war eine Manie geworden. Er hatte den Hörer bereits in der Hand, als er ihn wieder sinken ließ. Er hatte ja gar keine Erklärung, wieso er von Friedrichs Tod wusste. Würde er von dem Brief erzählen, den er wieder und wieder glatt strich, als wolle er die Buchstaben vom Papier wischen, würde sich die Frage nach dem Erbe unweigerlich stellen. Es war ihm unklar, ob es ihr darum ging, den Sohn versorgt zu sehen oder selbst mehr Einfluss zu gewinnen. Sie hatte die Hoffnung nicht aufgegeben, dass die Verlockung des väterlichen Vermögens groß genug sein würde, ihn wieder nach Frankfurt zu führen und ihn zur Aufgabe seines gegenwärtigen Lebens mit »Les Misérables« zu bringen, wie sie seine Freunde bezeichnete.

Irgendwann würde er die Aufgabe finden, die er sich wünschte, in der er aufging, bei der er weder Sohn noch Erbe sein würde und auch keine Rattenkäfige für Büroangestellte oder Bausparkassendoppelhäuser entwerfen beziehungsweise zeichnen musste, auch keine Details wie Fensterrahmen, Rohrleitungsschächte, Türeinfassungen oder Einfahrten von Tiefgaragen. Er würde eine Arbeit finden, bei der er das anwenden konnte, was er gelernt hatte.

Alles Unsinn, er verlor sich in Fantastereien, in Luftschlössern, die keiner bauen wollte, statt ... Was würde er seiner Mutter sagen? Irgendetwas musste er ihr anbieten, sie brauchte was zum Beißen. Nicolas nahm sich vor, ihr lediglich zu sagen, was sie hören wollte, das Gespräch wie unbeabsichtigt auf den Onkel kommen zu lassen und sich nach ihm zu erkundigen. Nein, das war nicht besonders einfallsreich. Er könnte um Friedrichs Adresse bitten, sagen, er beabsichtige, in Portugal Ferien zu machen, und würde nach all den Jahren mal wieder bei ihm vorbeischauen wollen. Schon besser, das war eine passable Begründung. Sie würde die Adresse nicht haben und ihn an seinen Vater verweisen, doch wenn sie von Friedrichs Tod wusste, würde sie es ihm sagen. Könnte sie einen Grund haben, es zu verheimlichen? Vor Überraschungen war man bei ihr nie sicher.

Er empfand es als absurd, dass er sich verstellen musste, wo es nicht einmal um ihn selbst ging, sondern um Friedrich, ihren ehemaligen Schwager – den längst vergessenen. Nein, vergessen hatte ihn niemand, höchstens er selbst. Wieso fühlte er dann einen Verlust? Friedrich war ein Mensch gewesen, zu dem er Zutrauen gefasst hatte, jemand, der ihn weder mit Fragen nach der Schule genervt noch nach seiner Zukunft im väterlichen Imperium gelöchert hatte. Zehn Jahre waren seitdem vergangen – wie hieß Friedrichs Weingut? Quinta do Amanhecer.

Nicolas schaltete sein Laptop ein und suchte amanhecer in seinem elektronischen Wörterbuch. Morgendämmerung, Morgengrauen kam als Antwort, also Landgut der Morgendämmerung. Weiter unten klickte er unter »Tal der Morgendämmerung« zufällig einen Satz an, der ihm sein Dilemma zwischen Familie und seiner Wirklichkeit vor Augen führte: Der Reichtum eines Menschen liegt nicht in der Summe oder Verteilung seiner materiellen Güter, sondern in seiner Würde.

Die Familie wollte materielle Güter, er wollte seine Würde. Leicht gesagt. Sicher stammte der Satz von jemandem, der nichts besaß. Wieso hatte er das Gefühl, dass er seine Würde verlöre, wenn er ins väterliche Unternehmen einträte? Wieso glaubte er, dass alle nur darauf warteten, dass er überliefe, sich so verhielte wie alle? Weil »jeder Andersdenkende eine Bedrohung der Mehrheit« war? Er wusste nicht, wer das gesagt hatte. Der Satz mochte einst seine Richtigkeit gehabt haben, aber er war belanglos geworden, denn was jemand dachte, war absolut gleichgültig. Das machte die Meinungsfreiheit überflüssig, wie sein Freund Happe nicht müde wurde zu betonen. Über derartige Sätze hatte er auch mit Friedrich diskutiert. Auf seiner Terrasse hatten sie hoch über dem Fluss auf einer Mauer sitzend die Beine baumeln lassen und Wein getrunken. Was verband ihn mit seinem Onkel? Er hatte sich nie unterlegen gefühlt. Ach, Erinnerungen – und der Brief ...

Was hatte Friedrich ihm vermacht? Ein Bild? Eine Kiste Wein? Einige Bücher aus seiner großen Bibliothek – oder etwas Persönliches? Nein, so nahe hatten sie sich nicht gestanden, doch wenn sie sich gesehen hatten – wirklich nur viermal im Leben? –, dann war es intensiv gewesen. Friedrich war kein gewöhnlicher Mensch gewesen, und deshalb hatte sein Vater ihn – ja was – gehasst? Verachtet? Belächelt – oder insgeheim beneidet? Weil er sich genommen hatte, was er wollte?

Riesige Fässer, ein ganzer Keller voll, graue Wände aus Granit. Dann tauchten Gerüche in Nicolas’ Erinnerung auf, undefinierbar zuerst, süß und moderig, diese Erinnerung ruhte irgendwo tief in ihm wie auch die an bewachsene Steine, Palmen. Fragmente waren das, Teile von Bildern, die nach langer Zeit an die Oberfläche schwappten. Sogar die Stimme schien er noch im Ohr zu haben, nur Friedrichs Gesicht blieb verschwommen. Je mehr Nicolas sich zu erinnern versuchte, desto undeutlicher wurde die bildhafte Vorstellung. Die Erinnerung war zerbrochen wie ein Spiegel, und er hielt Scherben in der Hand, die nicht zusammenpassten. Wer hatte den Spiegel zerschlagen? Die Zeit? In seinem Kopf verschoben sich die Scherben wie ein Kaleidoskop, das man vor dem Auge dreht. Alles purzelte durcheinander. Da musste noch jemand gewesen sein, es gab andere Gesichter und Namen, unaussprechliche, er war auf einem Traktor gefahren und hatte gefürchtet, an dem steilen Hang abzustürzen. Es gab eine Steintreppe, lackiertes Holz, einen silbernen Leuchter auf einer polierten Tischplatte, sie hatten draußen gegessen. Sie hatten vor einem riesigen Stapel Flaschen gestanden, in einer Mauernische ... Hatte er auf jener Reise an den Rio Douro vor zehn Jahren nicht bereits gezeichnet? Irgendwo müsste der alte Skizzenblock zu finden sein.

Während die Bilder weiter durch seinen Kopf rasten, hatte er, ohne sich dessen bewusst zu sein, die Nummer seiner Mutter gewählt, und er erschrak, als sie sich meldete.

»Hollmann?«

Wieso setzte sie stets ein Fragezeichen ans Ende ihres Namens, wenn sie sich am Telefon meldete? Sie hätte ihren Mädchennamen wieder annehmen können, Sichel, oder den des neuen Ehemannes, Willbauer, wenn sie damit haderte, sich so zu nennen. Aber der Name Hollmann bedeutete viel in Frankfurt, wo man sich weder mit dem Müll, der Stadt noch dem Tod auseinandersetzen wollte, und schon gar nicht mit jemandem wie Rainer Werner Fassbinder. Dessen Theaterstück hatten sie wegen angeblichem Antisemitismus mit Spielverbot belegt, da war der spätere Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde noch einer der großen Spekulanten seiner Stadt gewesen. Aber in Israel und den USA war man nicht so borniert gewesen, da hatte man Fassbinders Stück aufgeführt.

»Hallo! Wer spricht da?«

». . . auch Hollmann«, sagte Nicolas nach einer Weile, »Tag . . .«

Die Mutter zögerte verwirrt. »Nicolas? Ist was mit dir? Du klingst so fremd.«

»Nein, es ist nichts, mit mir ist nichts, nur . . .«

»Was ist los? Ist was passiert? Du hast doch was.«

»Ja«, sagte er gedehnt und fügte hinzu: »Friedrich ist tot, Onkel Friedrich.«

»Wer ist tot? Onkel Friedrich? Welcher Friedrich . . .?«

»Friedrich Hollmann, dein ehemaliger Schwager, Papas Bruder, Nelken-Friedrich, wie ihr ihn genannt habt, euer Chaot«, sagte er böse.

»Ach der. Ja, davon habe ich gehört«, sagte sie, als hätte sie in den Nachrichten vom Ableben eines unbekannten Schauspielers erfahren. »Dein Vater hat davon gesprochen.«

»Wieso hast du mir nichts gesagt?«, fragte Nicolas empört.

»Seit wann interessierst du dich für die Familie?«, antwortete die Mutter spitz. »Ist ja ganz was Neues.« Dann wurde sie misstrauisch, Nicolas kannte ihre Stimme zu gut, um sich von ihr hinters Licht führen zu lassen. »Woher weißt du das? Hast du mit deinem Vater geredet?«

Also fürchtete sie, dass ihr etwas entgangen war. Nicolas zögerte. Sollte er sie auf die Folter spannen oder besser an der Nase herumführen? Nein, er würde sich nicht auf die üblichen Spielchen einlassen. »Friedrich ist am 18. April gestorben, und ich wollte wissen, woran.«

Seine Mutter wusste es nicht, es interessierte sie nicht, wie Nicolas ihrem gelangweilten Tonfall entnahm, ihr Exmann hatte von Herzstillstand berichtet, wie sie sagte. Mehr als ein desinteressiertes »Nein, weiß ich nicht, woher soll ich das wissen, du fragst aber Sachen« bekam er nicht zu hören.

»War er krank?« Nicolas drängte auf eine Antwort, mit der er etwas anfangen konnte. »Hatte er es mit dem Herzen?«

»Was weiß ich? Habe ihn nie gesehen . . .«

». . . das stimmt nicht. Bei meiner Taufe, und wir waren vor zehn Jahren zusammen dort, ich bin dageblieben, in den Sommerferien. Du bist dann mit Willbauer weitergereist und hast mich wieder abgeholt.«

»Meine Güte, du nimmst es aber wieder genau, ich kann mich nicht erinnern.«

»Das wundert mich ... und du weißt es von Vater?«

»Der hat weiter nichts gesagt.«

»Dich interessiert das Ganze nicht, oder?«, warf Nicolas ein.

»Ehrlich gesagt, nein. Dein Onkel hat uns verachtet. Wir waren für ihn das Establishment, er hat uns den Rücken gekehrt, der Stadt, dem ganzen Land. Sodom nannte er Frankfurt, und als sie die Hochhäuser bauten, dein Vater war mit dabei, meinte er, wir hätten nichts Besseres verdient.«

Nicolas grinste, seine Mutter ärgerte sich noch immer. In gewisser Weise gab er Friedrich recht, aber er hütete sich, es durchklingen zu lassen. Er selbst empfand Frankfurt als misslungen, konzeptlos, ohne Stil und Linie, da änderten weder der Römer noch die Museumslandschaften am Main etwas daran. Er selbst hatte der Stadt zwei Tage nach dem Abitur den Rücken gekehrt – die Entscheidung für Berlin war nach einer Silvesterparty am Brandenburger Tor gefallen. Happe und er hatten sich begeistert ins Gewühl geworfen. Es war nicht allzu viel von dem späten Vereinigungsgefühl übrig geblieben, zumindest war Berlin immer eine Stadt der Einwanderer gewesen, die es Neuankömmlingen nicht zu schwer machte.

». . . ein Chaot war er, hat sich mit der Polizei geprügelt, hier im Westend«, hörte er seine Mutter voller Abscheu sagen, »Häuserkampf. Lächerlich, mit diesem ehemaligen grünen Außenminister. Front hat er gemacht gegen die Interessen der eigenen Familie. Was uns wichtig war, hat er abgelehnt, was uns heilig war, hat er verachtet. Und da soll ich mich für ihn interessieren? Ich weine ihm keine Träne nach. Ein Wunder, dass er nicht bei den Terroristen gelandet ist . . .«

Heilig? Das Einzige, was dir heilig ist, dachte Nicolas voller Zorn, ist dein Depot bei der Deutschen Bank. Damit versuchten sie ihn seit einem Jahrzehnt vergeblich zu ködern. Irgendetwas musste bei ihm falsch gelaufen sein, Geld als Lockmittel kam nicht an. Aber mit zu wenig, so wie jetzt, mit dem lausigen Job als technischer Zeichner, war das Leben auch unerfreulich.

»Was ist für dich eigentlich ein Chaot?«, fragte er. »Ich dachte, du kanntest Friedrich gar nicht? Wie kann man so urteilen – oder verurteilen, wenn man jemanden nicht kennt?«

»Ich . . .«, sie zögerte mit der Antwort, von seiner Frage aus dem Konzept gebracht, »ich habe ihn einige Male erlebt.«

»Wo und wann?«

»Dein vorwurfsvoller Ton gefällt mir gar nicht, Nicolas. Du fragst wie der Inquisitor persönlich. Mit dir ist doch was. Du hast dich nie für ihn interessiert. Jetzt ist er tot, basta. Irgendwann ist immer Schluss. Wahrscheinlich sein Lebenswandel, der Alkohol, er hatte ja das Weingut da in Portugal. Bei labilen Menschen geht das auf Dauer nicht gut.«

»Ach, labil war er auch?« Um sich nicht weitere Tiraden anhören zu müssen, erzählte Nicolas von Reiseplänen und dass er auf seine Anfrage, ob Friedrich zu Hause sei, die Todesnachricht erhalten habe.

»Du kannst ja mal bei der Kellerei vorbeischauen und sehen, was aus seinem Besitz wird; ziemlich viel Land soll er besessen haben, soweit ich weiß, hat er keine Kinder, keinen Erben . . .«

Darauf lief es bei ihr hinaus, jedes Gespräch, alles drehte sich in ihrer Welt ums Geld. Mit dem Versprechen, sie auf dem Laufenden zu halten, konnte er sie abwimmeln und tiefer gehende Fragen vermeiden. Sie hatte also von Friedrichs Tod erfahren, sein Vater hatte es gewusst. Herzversagen als Todesursache. Hoffentlich wusste der Anwalt mehr.