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Jens Glüsing

Brasilien

Jens Glüsing

Brasilien

Ein Länderporträt

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Für meine Eltern

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage, Dezember 2013 (entspricht der 1. Druck-Auflage von September 2013)
© Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de
Umschlaggestaltung unter Verwendung eines Fotos von
Rio de Janeiro und seinen Buchten (Shutterstock / Dimitry V. Petrenko)
Lektorat: Günther Wessel, Berlin
Karte: Christopher Volle, Freiburg
Satz: Agentur Marina Siegemund, Berlin
Druck und Bindung: Druckerei F. Pustet, Regensburg

ISBN 978-3-86284-249-0

Inhalt

Einführung: In die Tropen geworfen

Brasiliens (erstaunliche) Geschichte: von der Sklaverei zur Massendemokratie

Kaffee, Kaiser und Diktatoren – das koloniale Erbe

Auf dem Weg in die Unabhängigkeit

»Politik des Milchkaffees«

Die lange Diktatur

Diretas já – direkte Wahlen sofort

Von Collor zu Cardoso – die Mühen der Demokratisierung

Der Triumph des Menschenfischers – Brasilien unter Lula

Dilma Rousseff und die Herrschaft der Frauen

Die Rebellion der Bürgerkinder – Brasilien in der Modernisierungskrise

Brasilianische Wirklichkeiten

Die Illusion von der Rassendemokratie

Zwischen Boom und Blues – das Auf und Ab der brasilianischen Wirtschaft

Brennende Wälder und streitbare Priester – das Drama am Amazonas

Zwischen Urwald und Konsumgesellschaft – die Crux der brasilianischen Indianer

Lebensraum Favela – wie Brasiliens Arme wohnen

Mörderisches Brasilien – der Krieg in den Favelas

Von Göttern, Entertainern und Wunderheilern – Brasiliens Supermarkt der Religionen

Fußball und Rodeo – Brasiliens Massensport

Bossa Nova, Country und MPB – Brasiliens Musikszene

Brasilianischer Alltag – Überleben in den Tropen

Die Republik des Benjamin

A Família – das Herz der brasilianischen Gesellschaft

Kulturschock Karneval – als Hamburger im Sambafieber

Trautes Heim und wilde Straße – warum das mit dem Gemeinwohl so schwierig ist

Anhang

Übersichtskarte

Basisdaten

Lesetipps und Internetseiten

Danksagung

Einführung: In die Tropen geworfen

Ich wollte nie nach Brasilien. Als mein Chef beim Spiegel mich Anfang 1991 fragte, ob ich Lateinamerikakorrespondent werden wolle, war meine Antwort: »Sofort – aber in Buenos Aires.« Dort saßen die meisten Korrespondenten deutscher Medien, dort kannte ich mich aus, dort beherrschte ich die Sprache. Alles Argumente, die der kluge Mann sofort gegen mich verwendete: »Na prima, dann müssen Sie nach Brasilien, das kennen Sie ja noch nicht, außerdem ist es das wichtigste Land Südamerikas. Gehen Sie für ein Jahr nach Rio, dann sehen wir weiter.«

Ich wollte unbedingt nach Lateinamerika, an der Standortfrage sollte mein Traum nicht scheitern, also willigte ich ein. Ein Jahr Rio war ja wohl auszuhalten, danach würde ich nach Argentinien übersiedeln, so stellte ich mir das vor.

Es stimmte übrigens nicht, dass ich Brasilien nicht kannte, ich war 1985 als Student sieben Monate mit dem Rucksack durch Südamerika gereist, davon vier Wochen durch Brasilien. Die ersten Tage hatte ich während des Karnevals in Rio verbracht.

Gleich am ersten Abend machte ich Erfahrungen mit der Kriminalität: Als ich an einem Imbiss meine Geldbörse zückte, rempelte mich ein junger Mann an, riss mir das Portemonnaie aus der Hand und lief davon. Drei Tage später zogen gewiefte Taschendiebe meinem Reisegefährten die Geldbörse aus der Hosentasche, als wir einem Karnevalsumzug in Copacabana hinterherliefen. Er war abgelenkt, weil eine hübsche Dame ihm beherzt zwischen die Beine gegriffen hatte, während ihre Kollegin an seiner Hosentasche nestelte.

Die Lage der Stadt fand ich traumhaft – solange man sie aus der luftigen Höhe der Christusstatue betrachtete. Aus der Nähe erschien sie dagegen dekadent: Die wenigen Gebäude der Kolonialzeit, die den Modernisierungswahn fortschrittsbesoffener Bürgermeister überlebt hatten, verfielen; die Apartmentburgen neueren Datums fand ich einfach nur hässlich. Das Schönste an Rio waren für mich die Natur, die sich dem Zerstörungsdrang der Menschen tapfer widersetzte, der Dschungel und natürlich die Strände. Ich genoss den Geruch der Tropen, die feuchte, duftende Luft nach einem Gewitter, die üppige Vegetation.

Am 13. Oktober 1991 stand ich wieder in Rio, diesmal als frischgebackener Korrespondent des Spiegel. Heloísa Leuzinger, meine Mitarbeiterin im Büro, hatte mir eine Wohnung besorgt, sie lag nur hundert Meter vom Büro entfernt in Urca, einem idyllischen Viertel am Fuß des Zuckerhuts. Die Lage allein war allerdings nicht ausschlaggebend, sondern ein anderes Detail: Die Wohnung hatte einen Telefonanschluss.

Ein Telefon zu besitzen war damals keine Selbstverständlichkeit, sondern ein teuer erkauftes Privileg: Es gab nur eine Telefonfirma, und die war staatlich. Sie war nicht in der Lage, alle Antragsteller mit Anschlüssen auszustatten, so dass Telefonleitungen ein rares und begehrtes Gut waren. Die Folge: Der Schwarzmarkt mit Telefonleitungen blühte. Am Wochenende waren die Zeitungen voll mit Anzeigen von Leuten, die Telefonleitungen vermieteten oder verkauften. Ein Anschluss in Urca kostete 3000 US-Dollar. Das Geschäft wurde unter konspirativen Bedingungen in schummrigen Bars oder Restaurants abgewickelt.

Man konnte eine Nummer auch mieten. Dieses System führte dazu, dass die Telefongesellschaft seit Jahren kein neues Telefonbuch herausgegeben hatte – die meisten Nummern waren untervermietet. Die Chance, dass man unter einer bestimmten Nummer tatsächlich den Menschen erreichte, unter dem sie registriert war, war gleich null.

Rätselhafter brasilianischer Alltag! Die nächste Überraschung erlebte ich, als ich meine erste Portugiesischstunde nahm. Die Sprachlehrerin, eine Dame der Mittelschicht, brachte mir als Erstes bei, wie man Zahlen ausschreibt – um einen Scheck auszufüllen.

Die Brasilianer bezahlten damals fast alles mit Schecks, selbst ein Eis am Strand. Schecks waren sicherer als Bargeld, das konnte ich ja noch verstehen. Aber warum stellte man Schecks über einen Gegenwert von zwei oder drei Euro aus? Meine Assistentin Heloisa klärte mich auf: Ein Scheckheft, ein Konto, ein cleverer Bankberater und ein gewiefter Cambista, wie die zumeist illegalen Geldwechsler genannt werden, waren unerlässlich, um sich gegen den Feind Nummer eins im brasilianischen Alltag zu behaupten: die galoppierende Inflation.

Anfang der 1990er Jahre stiegen die Preise praktisch täglich, ebenso wie der Wechselkurs für den Dollar. Das Gehalt, das am Monatsende überwiesen wurde, war zwei Wochen später nur noch die Hälfte wert. Schecks hatten den Vorteil, dass man sie vordatieren konnte, wenn der Verkäufer das akzeptierte: Wenn sie fällig wurden, war der Gegenwert in harter Währung geringer als am Tag des Kaufes. Wer es sich leisten konnte, wechselte also sein Gehalt am Monatsanfang in US-Dollar, die er dann im Laufe des Monats nach und nach wieder zurückwechselte, um die fälligen Rechnungen zu bezahlen. Kreditkarten in nationaler Währung wurden gestaffelt nach dem Fälligkeitsdatum eingesetzt, so ließ sich ebenfalls Geld sparen. Jeder Brasilianer war ein kleiner Finanzexperte, man investierte sein Geld in »Overnight«-Anlagen, weil die Zinsen täglich stiegen.

Erstmals konnte ich vor Ort beobachten, wie die Inflation Wirtschaft und Gesellschaft einer Nation zersetzt. Für Ausländer, die in Devisen verdienten, waren es goldene Zeiten: Ich gab bei dem Inhaber meiner Wechselstube Eurocheques ab, ein Officeboy brachte mir dafür zweimal die Woche Plastiktüten voller Cruzeiros oder Cruzados ins Haus, der Name der Währung änderte sich alle paar Monate. Die Brasilianer dagegen kämpften jeden Tag ums finanzielle Überleben. Voller Neid sahen sie auf die Ausländer mit ihren Dollars oder D-Mark. Die Legende, dass Gringos grundsätzlich reich sind, stammt aus dieser Zeit, sie hält sich bis heute. Dabei verdienen viele Mittelschichtsbrasilianer inzwischen weitaus mehr als vergleichbare Mitteleuropäer.

Brasilien litt Anfang der 1990er Jahre nicht nur unter Hyperinflation, es war auch eine weitgehend abgeschottete Volkswirtschaft. Das erklärte ein weiteres Rätsel des brasilianischen Alltags: Gebrauchte Autos waren teurer als Neuwagen. Die vier großen Autofirmen VW, Ford, General Motors und Fiat hatten den Markt unter sich aufgeteilt. Konkurrenz brauchten sie nicht zu fürchten: Der Import von Autos war entweder verboten oder mit absurd hohen Einfuhrzöllen belegt. Zugleich war die Nachfrage größer als das Angebot: Wegen der Hyperinflation flüchtete die Mittelschicht in Sachwerte, vor allem Immobilien und Autos waren gefragt. Auf einen Neuwagen musste man daher monatelang warten.

Meine Sprachlehrerin brauchte Geld, sie bot mir an, ihr Auto zu kaufen. Der zwei Jahre alte VW sollte fast doppelt so viel kosten wie ein neuer. Aus ihrer Sicht war das Angebot ein Schnäppchen.

Ich verzichtete dennoch und entschied mich für einen gebrauchten VW Passat bei einem Händler. Der hatte nämlich eine Klimaanlage, das war damals ein seltener Luxus. Außerdem war er mit vier Türen und weinroten Plüschpolstern ausgestattet, das war absolut ungewöhnlich für ein brasilianisches Automodell.

Das Auto war ein »Iraker-Passat«, so hieß das Modell im Volksmund. Volkswagen do Brasil hatte Mitte der 1980er Jahre einige zehntausend speziell ausgerüstete Passats für Saddam Husseins Irak gebaut, sie waren Teil eines Tauschgeschäfts der Militärregierung: Autos gegen Öl. Aus irgendeinem Grund konnten die Iraker die letzte Tranche nicht bezahlen, die Schiffe mit den Autos kehrten auf hoher See um, und die Passats wurden kurzerhand an die Einheimischen verkauft.

Das war eine meiner ersten Lektionen: In Brasilien regelt nicht der Markt Angebot und Nachfrage, sondern die Regierung. Der Bürger wurschtelt sich irgendwie durch. Man muss kreativ sein und improvisieren können, wenn man im Kampf gegen Inflation, Behördenwillkür und unsinnige Gesetze bestehen will.

Das Leben ließ sich nicht planen, wie ich es in Deutschland gelernt hatte, die Gegenwart zählte mehr als die Zukunft oder die Vergangenheit. Das war eine neue Erfahrung für einen Europäer, der über tausend Jahre Geschichte mit sich herumschleppt und es gewohnt war, schon in jungen Jahren für seine Rente zu sparen. Vielleicht strahlt Brasilien – seine Größe, seine Generosität, seine Lebensfreude – heute deshalb heller als andere Nationen. Es söhnt uns aus mit dem Chaos und der Unvorhersehbarkeit unserer Existenz.

Ich war nach einigen Wochen in Rio in ein schönes altes Haus in Urca umgezogen, hatte ein Telefon und ein Auto. Jetzt fehlte mir zur Vervollkommnung meiner brasilianischen Existenz nur noch eine Empregada, wie die Dienstmädchen heißen. Brasilianer der Mittel- und Oberschicht, aber auch manche meiner ausländischen Kollegen beschäftigten damals ganze Heerscharen von Hausangestellten. Die Löhne waren, vor allem wenn man in Devisen verdiente, so gering, dass sich ein normaler Mittelschichteuropäer wie ein Fürst fühlen konnte. Einer meiner Vorgänger hatte einen Chauffeur, ein Kindermädchen, eine Köchin, einen Gärtner und eine Putzfrau.

Ich war ledig, kinderlos, unabhängig und würde sowieso die meiste Zeit unterwegs sein. Autofahren tat ich selbst, bekochen lassen wollte ich mich auch nicht. Außerdem verspürte ich schon bei dem bloßen Gedanken an Diener im Haus Schuldgefühle. Andererseits konnte ich mein Haus nicht allein lassen, wenn ich auf Reisen ging, jemand musste nach dem Rechten sehen, und Saubermachen war auch nicht gerade meine Lieblingsbeschäftigung.

Wieder rettete mich Heloisa, meine Assistentin. Die Tochter der Köchin ihrer Eltern suche Arbeit, sie sei ehrlich und absolut zuverlässig. Sie habe zwei kleine Kinder und einen Mann, der könne sich bei mir als Hausmeister verdingen.

Wenige Tage später kam die junge Frau zu mir ins Büro, um sich vorzustellen. Neusa, so ihr Name, war scheu und schüchtern, den Blick hielt sie gesenkt. Lesen konnte sie, Schreiben fiel ihr schwer, bislang hatte sie für einen Hungerlohn als Wäscherin gearbeitet. Ohne abgeschlossene Schulbildung gab es für sie keinen anderen Job als den einer Hausangestellten. Schon ihre Mutter und Großmutter hatten als Empregada gearbeitet, sie kamen aus dem Landesinneren und stammten von Sklaven ab.

Mit ihrem Mann Edmilson, ihrer Tochter Marília und Sohn Maurício, beide aus einer früheren Ehe, zog sie in das Untergeschoss meines Hauses ein. Ihr Mann kümmerte sich um den Garten, wusch das Auto und nahm kleine Reparaturen am Haus vor. Ich war über Nacht zum Patrão geworden, zum Chef und Arbeitgeber. Aber wie immer in Brasilien, war das nicht einfach ein Arbeitsverhältnis. Die Familie meiner Hausangestellten war ständig präsent, ihre Probleme wurden auch zu meinen. Wenn Neusas Mann fremdging oder sie sich zu sehr verschuldete, war das automatisch auch mein Problem: Als Patrão war ich auch Anlaufstelle für private Sorgen aller Art.

Das war meine zweite brasilianische Erfahrung: Das Menschliche ist wichtiger als Hierarchien oder Geld. Brasilianer vermischen Privates und Öffentliches. Die Familie steht grundsätzlich über abstrakten gesellschaftlichen oder staatlichen Strukturen. Sie ist die einzige Institution, der man wirklich vertraut. Das macht den Umgang miteinander menschlicher, aber es führt auch zu Korruption und Nepotismus.

Nicht die großen Dinge erschweren den Einstieg in dieses große und widersprüchliche Land, sondern die Tücken des Alltags. Bierkaufen zum Beispiel: Wenige Tage nach meiner Ankunft ging ich in einen Supermarkt in meiner Nachbarschaft, stellte einige Bierflaschen in den Einkaufswagen und ging zur Kasse. Die Verkäuferin sah mich fragend an: »Wo ist das Leergut?« In gebrochenem Portugiesisch machte ich ihr klar, dass ich neu im Land war und noch nie Bier gekauft hatte, folglich besaß ich auch kein Leergut. Ich wäre aber gern bereit, Pfand zu zahlen. Sie war nicht zu erweichen: ohne Leergut keine neuen Flaschen, jedenfalls nicht im Supermarkt. Bierflaschen waren Mangelware, Einwegflaschen oder Dosenbier gab es noch nicht.

Der Geschäftsführer des Supermarkts hatte Mitleid mit dem durstigen Deutschen, er gab mir einen Tipp: Ich sollte die Flaschen direkt an der Quelle kaufen, sprich in der Brauerei. Dort musste ich eine halbe Stunde vor einem schwerbewachten Eisentor warten, bevor ein Angestellter mir in einem Hinterzimmer 24 neue Flaschen verkaufte – zu einem Wucherpreis, versteht sich. Die Kisten gab es dort nicht, die musste ich in einem anderen Geschäft irgendwo in einem Vorort erstehen.

Was war das für ein Land, wo man sich Dienstpersonal leisten konnte, aber leere Bierflaschen Mangelware waren? Wo sich jeder Durchschnittsbürger mit »Overnight«-Finanzanlagen auskannte, aber ein Telefonanschluss 3000 Dollar kostete? Brasilien kam mir vor wie eine Sowjetunion unter Palmen.

Heute habe ich Wifi und Kabelfernsehen im Haus, in der Küche läuft der Geschirrspüler, im Kühlschrank steht Bier in Einwegflaschen. Fünf oder sechs verschiedene Telefongesellschaften bombardieren mich täglich mit Werbeanrufen, sie wollen mir ein Handy oder einen Festnetzanschluss mit Breitbandnetz verkaufen. Brasilien hat mehr Mobiltelefone als Einwohner, viele haben nie einen Festnetzanschluss besessen.

Meine brasilianische Bank bucht Überweisungen schneller als mein behäbiges deutsches Finanzinstitut, Internetbanking gab es hier früher als in Deutschland. Draußen kurvt ein schwerer japanischer Geländewagen um den Block; er sucht seit einer halben Stunde einen Parkplatz. Zum Strand von Ipanema habe ich früher mit dem Auto nicht länger als 20 Minuten gebraucht, heute stehe ich oft eine Stunde im Stau.

Das Durchschnittsalter der Autos auf Brasiliens Straßen ist niedriger als in Deutschland, Alkohol- und Geschwindigkeitskontrollen sind strenger. Wer nach dem Genuss von einem Glas Bier am Steuer erwischt wird, muss zusehen, wie sein Auto abgeschleppt wird, und sich zum psychologischen Eignungstest bei der Führerscheinstelle begeben. Wehe, er versucht den Polizisten zu bestechen: Eine weitere Strafe und Anzeige ist ihm sicher.

Brasilien hat in den vergangenen 20 Jahren einen riesigen Sprung gemacht. Über 20 Millionen Menschen sind in die Mittelschicht aufgestiegen, der Abgrund zwischen Arm und Reich hat sich erstmals seit Jahrzehnten verringert. Früher sah man Schwarze in den Shoppingmalls allenfalls als Putzfrauen, Kindermädchen oder Handwerker, heute bummeln sie selbst durch die Einkaufszentren. Und sie schauen nicht nur, sondern kaufen. Brasilien ist auf dem Weg zu einer konsumgetriebenen Massendemokratie, den USA ist es ähnlicher als Europa.

Rio galt früher unter Korrespondenten als Urwald- und Abenteurerposten. Heute schreibe ich öfter über Wirtschaft und Politik als über Straßenkinder und Kriminalität. Früher stand die Metropole im Ruf einer der gefährlichsten Städte des Erdballs, jetzt wurde sie von der New York Times zum Reiseziel Nummer eins in der Welt erklärt. Zehn Jahre lang hat mich kein einziger Kollege besucht, heute kommen sie alle paar Wochen. Ich genieße das Privileg, eine der großen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Erfolgsgeschichten aus der Nähe zu verfolgen.

Oder war der Boom womöglich ein Strohfeuer? Haben wir uns blenden lassen vom schönen Schein? Hat uns unser Wunschdenken verführt?

Alle möchten ja, dass Brasilien Erfolg hat. Kaum ein anderes Land genießt einen so positiven Ruf in der Welt. Aber sind die Zeiten der Inflation wirklich vorbei? Oder folgt auf den Boom wieder ein Absturz? Gilt immer noch das böse alte Bonmot: Brasilien ist das Land der Zukunft – und wird es immer bleiben?

Als Journalist ist man versucht, Länder »rauf- oder runterzuschreiben«. Gestern war Brasilien der Liebling, heute ist es Mexiko, morgen Indonesien. Staaten werden gefeiert wie Popstars. Wenn sie die Erwartungen nicht erfüllen, werden sie schnell fallengelassen. Die angesehene Zeitschrift The Economist hat die Christusstatue von Rio vor einigen Jahren als Rakete auf dem Cover gezeigt. Die Botschaft: Brasilien hebt ab. Heute lamentiert dasselbe Blatt über die versäumten Reformen, die endemische Korruption, die verkommene politische Klasse. Die Wahrnehmung Brasiliens gleicht einer Achterbahnfahrt. Vielleicht liegt es daran, dass dieses Einwandererland mehr als jedes andere ein Projektionsraum für unsere Sehnsüchte ist.

China ist kalt und fern, wir bewundern es oder fürchten uns vor ihm, aber es bleibt uns fremd. Brasilien ist zwar auch fern, aber es gehört zu unserem Kulturkreis. Zugleich erscheint es menschlicher, bunter, wärmer und sinnlicher als die USA oder Europa. Deshalb nehmen wir es persönlich, wenn es seine Versprechen nicht erfüllt.

Wenn dieses Buch erscheint, wachsen wieder die Zweifel, ob der Riese wirklich seine Fesseln abgelegt hat. Anleger, die ihre Euros oder Dollars auf das Öl- und Rohstoffparadies Brasilien gewettet haben, ziehen ihr Geld ab, der Brazil-Blues geht um. Die Euphorie der Lula-Jahre ist verflogen.

Das Wachstum betrug im Jahr 2012 weniger als ein Prozent, Brasilien bildet damit das Schlusslicht unter den Schwellenländern. Die Inflation nimmt wieder an Fahrt auf, die politische Klasse erscheint um keinen Deut besser als vor 20 Jahren. Vor allem im Senat sitzen Gauner und Gangster, dank ihres Mandats erfreuen sie sich parlamentarischer Immunität, die Korruption ist gigantisch.

Als ich im Jahr 1992 über die Absetzung des korrupten Präsidenten Fernando Collor de Mello schrieb, warnte mich meine Assistentin Heloísa: »Warte nur ab, in ein paar Jahren ist er zurück.« Ich habe sie damals ausgelacht. Heute sitzt das Gruselkabinett der 1980er und 1990er Jahre wieder an den Pfründen der Macht: Collor wurde zum Senator gewählt, sein berüchtigter Helfershelfer Renan Calheiros ist als Senatspräsident einer der wichtigsten Verbündeten von Präsidentin Dilma Rousseff. Die überfällige Reform des politischen Systems hat die Präsidentin auf die lange Bank geschoben, so wie ihre Vorgänger.

Das alte Brasilien ist nicht einfach verschwunden, es hat sich nur angepasst. Unter der glänzenden Oberfläche des Wirtschaftswunderstaates lauern die alten Probleme: Gewalt, Ungleichheit, Korruption.

Ernst Blochs Begriff von der »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« gilt für Brasilien wie für kaum ein anderes Schwellenland: Feudalismus und Moderne, kapitalistische und sozialistische Strukturen existieren nebeneinander. Von einer freien Marktwirtschaft ist Brasilien weit entfernt, der Staat ist immer noch der wichtigste Akteur. Er hat sogar noch an Bedeutung gewonnen: Unter den Präsidenten Lula und Dilma Rousseff mischt sich die Regierung auf die eine oder andere Weise in fast alle Bereiche der Volkswirtschaft ein, nicht immer zu deren Vorteil.

Reformen kamen in Brasilien meistens von oben, die Zivilgesellschaft galt bislang als unterentwickelt. Brasilien sei kein Land für Revolutionen, hieß es.

Wirklich? Einige scheinbar eherne Wahrheiten sind ins Wanken gekommen. Während des Confederations-Cup im Juni 2013 gingen Millionen Menschen gegen die Korruption der politischen Klasse auf die Straße. Sie protestierten gegen die überteuerten Stadien für die WM 2014 und forderten eine umfassende Reform des politischen Systems. Die Herrschenden fürchten einen Volksaufstand, ausgerechnet das als Fußballland gefeierte Brasilien gilt bei der Fifa plötzlich als Problemfall.

Der Koloss ist in Bewegung, langsam, aber stetig. Zurückdrehen lässt sich der Wandel nicht mehr, allenfalls verzögern. Anders als vor 20 Jahren stehen die Brasilianer allerdings heute unter Beobachtung: Sie werden gehört in der Welt, sie müssen aber auch Rechenschaft ablegen und Verantwortung übernehmen. Die Augen der Welt sind auf Brasilien gerichtet, nicht nur wegen der Fußballweltmeisterschaft 2014 und der Olympischen Spielen zwei Jahre später. Das Modell Brasilien steht auf dem Prüfstand.

Ich lebe jetzt seit 1991 in diesem Land und bin mit einer Brasilianerin verheiratet, aber es bringt mich immer wieder zum Staunen. Das Leben unterm Zuckerhut gleicht einer ständigen Achterbahnfahrt zwischen Euphorie und Frustration. Nur eines ist es nie: langweilig.

Nach Buenos Aires fahre ich immer noch gern, nirgendwo auf diesem Kontinent gibt es so nette Cafés, Kinos und Buchhandlungen. Aber spätestens nach drei oder vier Tagen zieht es mich zurück in das quirlige Chaos Brasiliens. Meinem Chef, der mich damals gezwungen hat, nach Rio zu gehen, bin ich heute dankbar.

Brasiliens (erstaunliche) Geschichte: von der Sklaverei zur Massendemokratie

Kaffee, Kaiser und Diktatoren – das koloniale Erbe

Brasilien beliefert die Welt seit Jahrhunderten mit Rohstoffen. Dieses Schicksal prägt die Geschichte des größten südamerikanischen Landes, ihm verdankt es auch seinen Namen.

Als am 22. April 1500 der portugiesische Seefahrer Pedro Alvares Cabral im Süden des heutigen Bundesstaats Bahia an Land ging, wurden er und seine Mitstreiter von Indianern begrüßt; diese hatten ihre Haut mit einem rötlichen Farbstoff bemalt, den sie aus dem Holz des Brasilbaumes gewannen. Die Portugiesen benannten ihre neue Kolonie nach dem Rohstoff; sie entdeckten, dass er sich hervorragend als Färbemittel für Textilien eignete. Händler brachten das Holz nach Europa, wo die Textilindustrie blühte.

In den Jahrzehnten nach der Ankunft der Eroberer war Brasilholz das wichtigste Ausfuhrprodukt der neuen Kolonie, es eignete sich auch als Baumaterial. Die Portugiesen fällten praktisch den gesamten Küstenurwald, heute ist der Baum in der freien Natur nahezu ausgestorben. Seine Ausrottung ist ein historisches Vorspiel für die Verwüstung des Amazonasurwalds: Auch der tropische Regenwald wird abgeholzt, weil die Gier nach Rohstoffen mächtiger ist als Regierung, Umweltschützer und Justiz.

Schier unbegrenzt erschien Brasiliens Reichtum an Mineralien, Edelsteinen, Holz und landwirtschaftlichen Produkten. Ihre Ausbeutung prägt das Verhältnis vieler Brasilianer zu ihrem Land und sein Wirtschaftsmodell: Nicht die Produktion von Gütern und nicht Wissen ist die Triebfeder der Wirtschaft, sondern die möglichst lukrative Ausbeutung bestehender Ressourcen. Wirtschaftlicher Erfolg gilt nicht so sehr als Ergebnis individueller Anstrengung, wichtiger sind familiäre Beziehungen, Glück und Gewitztheit. Die portugiesischen Eroberer wollten die neue Welt nicht erschließen und besiedeln wie die Engländer im Norden des Kontinents. Sie wollten sich möglichst schnell bereichern.

Allerdings standen sie vor einem Dilemma: Ihnen fehlten Arbeitskräfte. Bei der Ankunft Cabrals lebten einige Millionen Indianer in Brasilien (die Schätzungen schwanken zwischen drei und acht Millionen), doch sie waren nicht in Hochkulturen organisiert wie die Inkas, Mayas oder Azteken in den spanischen Kolonien. Die meisten lebten verstreut als Jäger und Sammler, bauten Maniok an und fischten. Sie leisteten zwar keinen großen Widerstand gegen die Eroberer, aber sie eigneten sich nicht als Arbeitssklaven.

Die Ureinwohner dienten den weißen Invasoren auf andere Weise bei der Kolonialisierung: Unter den portugiesischen Eroberern herrschte Frauenmangel; sie zeugten daher Nachkommen mit den Töchtern indianischer Kaziken, um ihre Herrschaft abzusichern. Die Rassenmischung hat die Identität und das Selbstverständnis der Brasilianer stärker geprägt als jeder andere Faktor, sie sind stolz auf die bunte Palette an Hautfarben und Physiognomien in ihrem Land. Wenn es eine Regenbogengesellschaft gibt, dann ist es Brasilien.

Aus eigener Kraft war die Krone des kleinen Portugals nicht in der Lage, die Erschließung seiner riesigen Kolonie zu organisieren. Der König überließ die Ausbeutung der Rohstoffe deshalb weitgehend Privatleuten, er übertrug ihnen Ländereien zur Ausbeutung. Brasilien wurde in insgesamt zwölf Verwaltungsbezirke aufgeteilt, die der Krone unterstanden, sogenannte Capitanías. Diese Handelsposten waren militärisch befestigt, sie bildeten das Rückgrat der Kolonisierung. Zwei von ihnen erlangten herausragende Bedeutung bei der Besiedlung und Erschließung des Landes: Pernambuco im Nordosten und São Vicente im Südosten, das Kerngebiet des späteren Bundesstaats São Paulo.

Weil in Brasilien Arbeiter fehlten, knüpften die Kolonisatoren Kontakte nach Afrika. Ab Mitte des 16. Jahrhunderts gingen portugiesische Geschäftsleute vor allem in Westafrika auf Sklavenjagd. 1538 wurde die erste Schiffsladung afrikanischer Sklaven in Brasilien registriert. Der Menschenhandel entwickelte sich in den kommenden Jahrhunderten zu einem riesigen Geschäft: Über drei Millionen Afrikaner wurde nach Brasilien verschleppt, die meisten kamen aus Benin, Nigeria und Angola.

Das Trauma dieser gigantischen Völkerverschleppung durchwirkt alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens, es prägt Brasiliens Gesellschaft bis heute. Rassismus, Elend, Gewalt und soziale Diskriminierung wurzeln zu großen Teilen in der Sklavengesellschaft der Vergangenheit. Ohne die Sklaverei hätte die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung Brasiliens einen anderen Verlauf genommen. Zwangsarbeit trieb die Rohstoffzyklen an, die die Kolonialwirtschaft bis ins 20. Jahrhundert beherrschten.

Ende des 16. Jahrhunderts waren die Vorkommen an Brasilholz weitgehend erschöpft, ein neuer Rohstoff weckte jetzt das Interesse der Europäer: Zucker. Der Nordosten, vor allem Pernambuco, erwies sich als ideales Anbaugebiet für Zuckerrohr. Die portugiesischen Großgrundbesitzer ließen riesige Flächen Küstenurwalds abholzen und mit Zuckerrohr bepflanzen. Sklaven schufteten auf den Plantagen.

Fazendas, wie die Großfarmen heißen, prägen die Wirtschaftsund Sozialstruktur Brasiliens immer noch. Nur die Produktpalette der Großbauern hat sich im Laufe der Jahrhunderte vergrößert, sie variiert je nach Region und Klimazone. Anbau und Ernte wurden außerdem weitgehend industrialisiert. Neben Zuckerrohr baut Brasiliens Agroindustrie heute auch Soja, Zitrusfrüchte und Kaffee an, zudem ist das Land zu einem der größten Rindfleischproduzenten der Welt aufgestiegen.

An den sozialen Verhältnissen auf dem Land hat sich seit der Kolonialzeit indes wenig geändert. Großgrundbesitzer, sogenannte Coroneis, herrschen vor allem im Norden und Nordosten immer noch wie Feudalherren, viele haben beste Verbindungen in die Politik oder sind selbst Politiker. Zahlreiche Minister, Abgeordnete und Senatoren besitzen Farmen in ihren heimatlichen Bundesstaaten, sie legen ihr oftmals illegal erlangtes Vermögen zumeist in Land an. Der Streit um Landbesitz, soziale Ungleichheit und das Elitenbewusstsein vieler Herrschender wurzeln in der Feudalstruktur der Fazendawirtschaft.

Immer wieder entdecken Inspekteure des Arbeitsministeriums auf den Farmen bekannter Politiker Landarbeiter, die unter sklavenähnlichen Bedingungen schuften. Ihr Lohn reicht kaum fürs Existenzminimum, sie hausen in menschenunwürdigen Unterständen auf den Farmen.

Die Eigentümer werden meist mit eindrucksvollen Geldstrafen belegt. In den seltensten Fällen werden diese jedoch bezahlt: Die Farmer verfügen über eine starke Lobby im Kongress, viele Politiker genießen parlamentarische Immunität und sind somit praktisch unantastbar. Vor allem ärmere Bundesstaaten im Nordosten wie Maranhão oder Alagoas werden immer noch von Familienclans beherrscht, deren Macht zumeist auf Landbesitz beruht. Sie dominieren Justiz, Medien, lokale Parlamente und oft auch die Polizei. Diese Feudalstrukturen sind mitverantwortlich für die grassierende Straflosigkeit: Wer Geld und Einfluss hat, findet immer ein Schlupfloch im brasilianischen Gesetzesdschungel.

Brasiliens Gesetze sehen Erleichterungen für Häftlinge vor, die studiert haben; wer sich einen guten Anwalt leisten kann, hat eine gute Chance, seine Strafe zu reduzieren. Die Legislative hat ein unüberschaubares Instrumentarium an Einspruchsmöglichkeiten und Berufungen geschaffen, das vor allem die Reichen und Cleveren zu ihrem Vorteil nutzen.

Der Rohstoffreichtum der portugiesischen Kolonie weckte auch die Begehrlichkeit anderer europäischer Mächte. Vor allem Frankreich versuchte immer wieder, den Portugiesen ein Stück ihres Kolonialreiches zu entreißen. 1555 landeten zwei Schiffe mit 600 Soldaten und hugenottischen Siedlern an der Guanabara-Bucht im Südosten, die einen riesigen natürlichen Hafen bildete. Sie errichteten einen militärischen Stützpunkt; es dauerte zwölf Jahre, bis die Portugiesen sie vertrieben hatten. Das portugiesische Königshaus gründete an dieser Stelle die Stadt Rio de Janeiro; zugleich beschleunigte es die Errichtung neuer Städte entlang der Küste, um weiteren Invasionen vorzubeugen.

Bereits 1494 hatten Spanien und Portugal auf Betreiben des Papstes ihre Kolonialgrenzen in Südamerika festgelegt: Alle Ländereien östlich der Kapverdischen Inseln wurden Portugal zugeschlagen, das Territorium westlich davon den Spaniern. Doch die Portugiesen hielten sich nicht an den Vertrag von Tordesillas, sie stießen immer tiefer ins Landesinnere von Südamerika vor und dehnten ihren Herrschaftsbereich weit nach Westen aus.

Im Jahr 1580 wurde unter der Herrschaft der Habsburger der König von Spanien auch zum König von Portugal, bis 1640 stand Brasilien damit nominell unter spanischer Herrschaft. Jetzt war es das mit Spanien verfeindete Holland, das versuchte, am portugiesischen Kolonialreich zu knabbern. Holländer eroberten und besiedelten weite Teile des Nordostens, vor allem Pernambuco und Salvador, ihr Einfluss ist dort noch heute zu spüren.

Erst nach dem Ende des spanischen Interregnums erlangten die Portugiesen ihre Hoheit über die holländischen Herrschaftsgebiete zurück. Die Holländer pflanzten daraufhin Zuckerrohr in Surinam, das damals holländische Kolonie war, auch die Engländer bauten in ihren Kolonien in der Karibik Zuckerrohr an. Diese Konkurrenz machte den brasilianischen Pflanzern schwer zu schaffen, der gesamte Wirtschaftssektor rutschte in die Krise. Sein Niedergang bewirkte die Verschiebung des Machtzentrums vom Nordosten in den Südosten. 1763 wurde die Hauptstadt des Kolonialreichs von Salvador da Bahia nach Rio de Janeiro verlegt.

Denn im Hinterland von Rio, dem heutigen Bundesstaat Minas Gerais, hatte ein neuer Rohstoffboom eingesetzt: Abenteurer hatten auf dem hügeligen Hochplateau gewaltige Vorkommen an Edelsteinen und Gold entdeckt. Sklaven bauten auf Geheiß des Königs einen über 1000 Kilometer langen Weg von den Minen bis in die Hafenstadt Paraty 250 Kilometer westlich von Rio de Janeiro, und so schaffte man die Schätze außer Landes.

Der Reichtum aus den Minen ließ die Städte in Minas Gerais aufblühen. Das 17. Jahrhundert gilt als Blütezeit des brasilianischen Barocks. Sein bekanntester Vertreter war der Bildhauer Antonio Francisco Lisboa, genannt »Aleijadinho« (Der Verkrüppelte). Er litt an einer lepraähnlichen Krankheit, die nach und nach seinen gesamten Körper erfasste. Obwohl er unvorstellbare Qualen gelitten haben muss, arbeitete er unermüdlich. Seine religiösen Holzschnitzereien schmücken zahlreiche Kirchen in Minas Gerais. Die prachtvolle Kolonialarchitektur von Städten wie Ouro Preto, Tiradentes, Diamantina und São João del Rei zeugt von dieser Epoche.

Der Gold- und Diamantenrausch löste einen Bevölkerungsboom in den Minenstädten aus. 1710 lebten nur 30 000 Menschen in Minas Gerais, das etwa so groß wie Frankreich ist. Ende des Jahrhunderts hatte sich ihre Anzahl verzehnfacht. Die Region wurde zum wirtschaftlichen Motor des Kolonialreichs.

Es dauerte nicht lange, bis die Herrschaftselite von Minas Gerais auch politische Ansprüche anmeldete. Die Krone versuchte, den Schmuggel von Gold und Edelsteinen in die spanischen Kolonien zu unterbinden. Das traf vor allem die reichen »Mineiros«, denn sie profitierten am meisten von dem illegalen Handel.

1789 schlossen sich die einflussreichsten Männer von Minas Gerais in einem Komplott gegen die Kolonialmacht zusammen, sie waren von der französischen Revolution inspiriert. Gemeinsam mit Rio de Janeiro und São Paulo wollten sie einen unabhängigen Staat mit einem eigenen Parlament gründen. Sie wollten die Sklaven befreien, traten für die Unabhängigkeit der Minen und Fabriken ein und schlugen die Gründung einer unabhängigen Universität vor.

Die »Inconfidência Mineira«, wie die Verschwörung genannt wurde, war der erste Versuch, den Kolonialstatus Brasiliens in Frage zu stellen. Die Krone entdeckte das Komplott jedoch und ließ die Aufständischen brutal verfolgen und hinrichten.

Auf dem Weg in die Unabhängigkeit

Auch in den spanischen und französischen Kolonien des Subkontinents begehrten lokale Herrscher gegen die Krone auf. In Haiti entstand 1804 nach einem Sklavenaufstand die erste freie Republik auf amerikanischem Boden, bald darauf riefen eine Reihe spanischer Kolonien ihre Unabhängigkeit aus. General San Martín im Süden und Simón Bolívar im Norden des Subkontinents führten die Befreiungsbewegungen im spanischen Südamerika an.

Brasilien ging einen anderen Weg: Hier mündeten die Rebellionen regionaler Eliten nicht in einen Unabhängigkeitskrieg wie in den spanischen und französischen Kolonien. Schuld war Napoleon: Im Jahr 1808, kurz bevor der französische Feldherr Lissabon besetzte, war der portugiesische König mit seinem Hof nach Brasilien geflüchtet. Er ließ sich in Rio de Janeiro nieder. Unter anderem brachte er seine prachtvolle Bibliothek mit, eine der umfangreichsten und bestsortierten Büchersammlungen der Epoche. Sie bildete den Grundstock für die brasilianische Nationalbibliothek; man kann sie in Rio besichtigen.

Die lokalen Eliten waren von dem Umzug der königlichen Familie nicht besonders begeistert, sie mussten Privilegien und Liegenschaften an die Krone abtreten. Andererseits wurde Brasilien plötzlich zum Zentrum eines Kolonialreiches, das von Südamerika bis nach Ostasien reichte. Der König ließ die Häfen für den Welthandel öffnen, die Geschäfte blühten auf, die Krone investierte kräftig in die Kolonie.

Nach der Niederlage Napoleons kehrten König João VI. und seine Familie nach Portugal zurück. Doch der Sohn des Monarchen, Pedro, fällte eine folgenreiche Entscheidung: Er blieb in Rio de Janeiro. Im Jahr 1822 orderte das Parlament in Lissabon den Monarchen per Dekret zurück. Er reagierte mit einem Ausruf, der Brasilien zur Unabhängigkeit verhalf, zugleich aber die Monarchie verlängerte: »Ich bleibe!« Dieser Moment ging als Geburtsstunde der Nation in die Geschichte ein.

Pedro wurde zum Kaiser von Brasilien gekrönt. Er galt als aufgeklärter Monarch, war gegen die Sklaverei und ließ eine Verfassung und ein Parlament zu. Dennoch wurde die Sklaverei erst 1888 abgeschafft. Im Parlament hatten die Fazendabesitzer und Sklavenhalter das Sagen, die Demokratie war nur Fassade, die Verfassung ein Lippenbekenntnis der herrschenden Eliten.

Nach dem Tod des portugiesischen Königs Joao VI. im Jahr 1826 streuten die Gegner von Dom Pedro I. das Gerücht, dieser strebe eine Vereinigung Brasiliens mit Portugal an. Das schwächte die Stellung des brasilianischen Monarchen so sehr, dass er 1831 vorzeitig abdankte. Sein erst fünfjähriger gleichnamiger Sohn wurde zum neuen König ausgerufen.

Dom Pedro II. herrschte mehr als 50 Jahre. Er interessierte sich für Forschung und Technik, ließ Telegrafenleitungen und Eisenbahnen bauen, förderte Wissenschaft und Kultur. Wirtschaftlich lebte das Land auf: Die Nachfrage nach Kaffee hatte im Südosten einen neuen Rohstoffzyklus ausgelöst. Vor allem São Paulo blühte dank des Kaffeebooms auf.

Im Amazonasgebiet setzte ein anderer Rohstoffzyklus ein: der Kautschukboom. Die Nachfrage aus den USA und Europa ließ das verschlafene Urwaldstädtchen Manaus am Rio Negro aufblühen, es wurde zum wichtigsten Umschlagplatz für das Naturgummi. Die herrschenden Familien verdienten so viel Geld, dass sie sich leisten konnten, ihre Villen mit Möbeln, Geschirr und Tüchern aus Frankreich auszustatten. Sie errichteten mitten im Amazonasdschungel sogar ein Opernhaus. 1897 wurde der prachtvolle Kuppelbau mit der Premiere von »La Gioconda« von Amilcare Poncielli eingeweiht, er ist immer noch das Wahrzeichen von Manaus. Die Oper der Amazonasstadt inspirierte den deutschen Filmregisseur Werner Herzog zu seinem berühmten Urwald-Film »Fitzcarraldo« mit Klaus Kinski in der Hauptrolle.

Der Boom im Dschungel endete, als englische Händler Setzlinge des Kautschukbaums nach Südostasien schmuggelten und dort eigene Plantagen aufbauten. Die brasilianischen Pflanzer waren der Konkurrenz nicht gewachsen. Anfang des 20. Jahrhunderts produzierten die Industriestaaten erstmals in größeren Mengen synthetisches Gummi, damit beschleunigte sich der Niedergang der Plantagen.

Im Südosten bildeten Kaffeebarone die neue Oligarchie. Sie waren erzkonservativ, die feudalistischen Verhältnisse im Landesinneren blieben bestehen, auf den Plantagen schufteten Sklaven. Die mächtigen Landherren knüpften ein enges Netz an Kontakten zur Regierung. Bürokraten waren für die Erteilung wirtschaftlicher Privilegien zuständig, die Kungelei zwischen Regierungsfunktionären und Großbauern blühte.

Wer über einen Schutzpatron bei Hofe verfügte, konnte sich fast alles erlauben. Allerdings erwartete der Mächtige als Gegenleistung Gefallen und Geschenke. Dieses mafiöse Interessensgeflecht prägt Brasiliens Gesellschaft bis heute. »Tráfico de Influencia«, »Handel mit Einfluss« nennt sich das Geschacher mit Gefallen und Privilegien. Wer es schafft, einem Mächtigen einen Gefallen abzuringen, steht in seiner Schuld – und die wird abbezahlt, indem man dem anderen einen Gefallen erweist, wenn dieser darum bittet. Im Kongress ist dieses System der gegenseitigen Vorteilsannahme praktisch institutionalisiert. Das Dickicht aus Privilegien und persönlichen Beziehungen ist undurchschaubar, es bildet den Humus für die weit verbreitete Korruption.

Während die Kungelei mit dem brasilianischen Hofe blühte, erwies sich die Sklaverei im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend als Belastung. Die Engländer, die 1833 in ihren Kolonien die Sklaverei abgeschafft hatten, machten Druck auf Brasilien, ihrem Beispiel zu folgen. 1850 sah sich der Hof gezwungen, die Einfuhr von Sklaven aus Afrika praktisch zu verbieten.

Einzelne Landherren versuchten daraufhin, »Sklaven zu züchten«. In dem Städtchen Santa Rita im Hinterland von Rio habe ich vor einigen Jahren eine ehemalige Kaffeefazenda besucht, deren Eigentümer sich zur Kolonialzeit der »Sklavenzucht« widmete. Neben dem Folterkeller, wo aufsässige Sklaven angekettet und gemartert wurden, lagen Verliese, in denen die zur »Zucht« ausgewählten Frauen ihre Kinder zur Welt brachten. Heute dient das Anwesen als Hotel und Kulisse für Film und Fernsehen.

Doch diese bizarren Menschenversuche blieben eine Ausnahme. Das Einfuhrverbot bewirkte einen drastischen Preisanstieg für die in Brasilien geborenen Sklaven, gleichzeitig kurbelte der Kaffeeboom die Nachfrage nach Arbeitskräften an. Im Jahr 1888 verkündete Prinzessin Isabel, die Tochter des Königs, schließlich die Aufhebung der Sklaverei.

Das Ende der Leibeigenschaft hatte allerdings nicht automatisch auch bessere Lebensbedingungen für die ehemaligen Sklaven zur Folge. Es stärkte im Gegenteil die Oligarchien der Großgrundbesitzer. Die Sklaverei war vor der Aufhebung schon so teuer geworden, dass sie sich kaum noch lohnte. Jetzt stand eine neue Masse an billigen Arbeitskräften zur Verfügung: Zehntausende arme Immigranten aus Europa und Japan drängten nach Brasilien, sie flüchteten vor Hungersnot, Krieg und Elend. Der Zustrom führte dazu, dass die feudalen Herrschaftsstrukturen auf dem Land auch nach dem Ende der Sklaverei weiterbestanden. In Rio de Janeiro ließen sich viele ehemalige Sklaven auf den unbesiedelten Hügeln im Stadtgebiet nieder – so entstanden die ersten Favelas.

Unter den republikanisch gesinnten Kräften im Land wuchs der Unmut über das Beharrungsvermögen der Oligarchie und der Krone. Im Jahr 1889 lehnte sich eine Gruppe junger Offiziere gegen die Regierung auf, ihr Aufstand führte zur Absetzung des Kaisers. Pedro II. ging zusammen mit seiner Familie ins Exil.

»Politik des Milchkaffees«

Die Jahre von 1889 bis 1930 sind in Brasilien als Epoche der »Alten Republik« bekannt. Doch die Aufbruchstimmung schlug rasch in Frust um: Die Militärs waren sich nicht einig, welche Art von Regierung sie wollten, sie setzten auch keine Wahlen an. Von der politischen Instabilität profitierten die Oligarchien im Landesinneren: Überall im Land kam es zu Aufständen, die lokalen Herrschaftseliten kämpften erfolgreich für mehr Autonomie. São Paulo und Minas Gerais waren jetzt die heimlichen Machtzentren, die wichtigsten Familienclans der beiden Bundesstaaten wechselten sich an der Macht ab und setzten Präsidenten nach Belieben ein. Dieses Herrschaftsmodell wurde in Brasilien als »Politik des Milchkaffees« (Política do Café com Leite) bekannt: São Paulo stand für die Kaffeebarone, Minas Gerais war bekannt für seine Milchwirtschaft.

Die beiden Bundesstaaten bauten auch ihre Polizeieinheiten aus. Diese wurden fast so mächtig wie die nationalen Streitkräfte und untermauerten den Machtanspruch der Gouverneure. Bis heute ist Brasiliens Polizei militärisch organisiert, nur die Kriminalpolizei (Polícia Civil) und die Bundespolizei (Polícia Federal) unterstehen keiner militärischen Hierarchie. Die Militärpolizei von Minas Gerais und São Paulo ist dagegen für ihren Korpsgeist berüchtigt, sie gilt als besonders brutal.