Die ambitionierten Eltern und ihre Feinde

Renate Götz Verlag

Barbara Tolliner

Barbara Tolliner
Geboren: 10. September 1965 in Leoben, Österreich
Mann: Klaus
Tochter: Viktoria
Lebt in: Leoben

Berufliche Erfahrungen
Gründerin und Geschäftsführerin take off® – Lern- und Beratungsinstitut
Lebens- und Sozialberaterin mit den Schwerpunkten Familien- und Lernberatung
familylab-Seminarleiterin
18 Jahre Erfahrung in der Erwachsenen- und Jugendbildung als Trainerin und Coach

Spezielle Qualifikationen
Family Counseling, prozessorientierte Begleitung von Familien in der Praxis bei Jesper Juul und Helle Jensen
Berufs- und Sozialpädagogin


Barbara Tolliner
Die
ambitionierten Eltern
und ihre Feinde

 

Mit einem Vorwort von Jesper Juul
Renate Götz Verlag



August 2013
Copyright © by Renate Götz Verlag
A-2731 Dörfles, Römerweg 6
e-mail: info@rgverlag.com


Bildnachweis
Titelbild „Elternkalender“ copyright © by Eva Denk
Portrait Barbara Tolliner copyright © by Angelika Wilke, Fotostudio Wilke, Leoben
Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Fotografin

Layout, Cover- und Gesamtgestaltung
© by outLINE|grafik Eva Denk, A-2340 Mödling . www.outlinegrafik.at

Produktion: Druckerei Paul Gerin, Wolkersdorf www.gerin.co.at

Printed in Austria

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Kopie oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Gedruckte Ausgabe ISBN 978-3-902625-42-7

EBUB + MOBI Umsetzung C.E.Z.-Software HgmbH www.cezsoft.com

EPUB ISBN  9783958495593  

Gewidmet

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

im Sinne einer guten Lesbarkeit wurde auf die heute übliche Schreibweise LehrerInnen, PädagogInnen, SchülerInnen usw. verzichtet, gemeint sind aber jeweils weibliche und männliche Personen.

Vorwort von Jesper Juul

Schulen sind wie Familien, in dem Sinne, dass die traditionellen Machtstrukturen langsam aufbrechen. Innerhalb der nächsten zehn Jahre werden sogar die österreichischen Schulen eine neue Kultur annehmen, in der die Kinder ihre Lehrer nicht mehr beim Familiennamen und mit „Sie“ anreden, sondern ihre Vornamen und „Du“ verwenden. In Skandinavien wird das schon seit einer Generation praktiziert, ohne dass die Kinder und Eltern den Respekt vor den Lehrern verloren hätten. Das, was sie verloren haben, ist ihre Angst.

Dieses Buch gibt jenen Eltern und Kindern eine Stimme, die aus Tradition heraus von unserem Schulsystem nicht gehört oder ernst genommen werden. Nicht, weil sie alle „schlechte“ Lehrer haben oder „schlechte“ Eltern sind, sondern einfach deshalb, weil heutige Erkenntnisse, Wissen und Kompetenzen weder ein integrierter Teil der Erziehung noch in der professionellen Identität des Lehrers sind.

Was wir alle lernen müssen, ist der „gleichwürdige Dialog“. Nur wenn das geschieht, werden unsere Schulen verantwortungsvoll agieren in Bezug auf Kinder mit schulischen oder sozialen Schwierigkeiten. Das gilt auch für Eltern, die damit aufhören müssen, ihre Kinder zu „verteidigen“ oder sich mit dem Lehrer gegen ihre Kinder zu verbünden. Nichts davon war jemals Teil der offiziellen Schulpolitik. Jedoch können zehntausende Eltern und Schüler bestätigen, dass das ein vorherrschender Teil der Kultur sowohl in Familien als auch in Schulen war, wenn Erwachsene nicht wussten, was sie anderes oder mehr für die beteiligten Kinder tun könnten.

Der zentrale Punkt der Veränderung in dieser Kultur ist: zuhören, verstehen, erkennen und lernen, dass es keine einzig gültige „Wahrheit“ über irgendein Kind und seine Leistung in der Schule gibt. Was wir allerdings wissen, ist, dass viele Kinder ihr Möglichstes tun, um ihre Lehrer und Eltern davor zu schützen, verletzt zu werden oder sich große Sorgen zu machen. Diese Kinder und Erwachsenen brauchen oft eine neutrale Person, um die komplexe Wahrheit eines sogenannten „Lern- oder Schulproblems“ aufzudecken.

 

Also, Eltern: Zwingt eure Kinder nicht, sich anzupassen, nur der Anpassung willen.
Also, Lehrer: Befreit euch aus der Rolle des Pädagogen, Polizisten und Richters und entwickelt eure Beziehungskompetenz.
Also, Schuldirektoren und Politiker: Erlaubt euren Schulen, ein neues Paradigma zu integrieren.

Please!

Jesper Juul
family-lab.com

Wie es zu diesem Buch kam

In der Schule hatte ich in Deutsch keine guten Noten. Mit einem Genügend war ich sehr zufrieden. An eine Deutschschularbeit kann ich mich gut erinnern, bei der meine Freundin für sich eine Schularbeit schrieb und nebenbei noch eine für mich, nachdem mir – wie so oft – zum vorgegebenen Thema nichts einfiel. Ich habe sie bewundert. Meine Freundin bekam auf ihre Arbeit ein Gut und ich – meiner Freundin sei nochmals auf diesem Wege gedankt – ein Befriedigend. Ich war im Himmel und sehr dankbar. Der Halbjahresnote konnte ich in diesem Semester entspannt entgegensehen. Das war aber nicht immer so.

Noch heute muss ich mich zum Schreiben überwinden, denn der Satz „Ich kann nicht schreiben“ und auch die Erfahrungen, die ich in der Schule gemacht hatte, haben sich in meine Erinnerung eingebrannt. Das fühlt sich nicht gut an. Doch der Wunsch, meine Gedanken in geschriebene Worte zu fassen, wird stärker. Das Spiel mit Worten macht mir Freude.

Die Schule habe ich erfolgreich hinter mich gebracht. Ich habe sogar bis zur Matura 1 durchgehalten. Ein Studium kam für mich nicht in Frage. Ich hatte genug von der Schule und vom Lernen und stürzte mich sofort ins Arbeitsleben. Ein Praktikum beim Arbeitsmarktservice verschaffte mir die Stelle einer Buchhalterin bei einer Siedlungsgenossenschaft. Meine Eltern waren sehr zufrieden, handelte es sich doch um einen „sicheren“ Job. Drei Jahre hielt ich durch, bis ich kündigte, meine Zelte abbrach und für ein Jahr nach Amerika ging.

In Houston vermisste ich meine Familie, den Lauf der Jahreszeiten und die Berge. Der „American way of life“ sagte mir nicht sonderlich zu. Nach einem Jahr war ich glücklich, wieder zu Hause zu sein. Der Wiedereinstieg ins Berufsleben gestaltete sich schwierig. Für einen Job in einer Steuerberatungskanzlei nahm ich sogar einen Ortswechsel in Kauf.

Nach einem Jahr wurde ich schwanger und bekam meine Tochter Viktoria. Der schönste Moment in meinem Leben! Noch während der Karenzzeit erhielt ich die Möglichkeit, die Krankenstandsvertretung einer lieben Bekannten als Trainerin in einer Erwachsenenbildungsinstitution zu übernehmen. Sie trat eines Tages mit der Frage an mich heran: „Möchtest du mich in meinem Krankenstand vertreten? Ich kann zwei Wochen lang auf Grund einer Operation nicht arbeiten. Als Trainerin, finde ich, bist du gut geeignet. Ich schlage dich meiner Chefin vor, wenn du damit einverstanden bist.“ Ehrlich gesagt war ich überrascht, dass sie an mich dachte und mir diese Aufgabe zutraute. Ich wäre niemals auf die Idee gekommen, diese Art der Tätigkeit auszuüben. Meine Bekannte schon! Damit war mein beruflicher Richtungswechsel vollzogen.

Mein Weg als Trainerin in der Erwachsenenbildung begann. Die Arbeit mit Menschen bereitete mir große Freude. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, beruflich die richtige Richtung eingeschlagen zu haben. Mit Hilfe meines Mannes, der zu diesem Zeitpunkt an der Montanuniversität Leoben studierte, und unserer Eltern war es für mich möglich, Kind, Beruf und Haushalt unter einen Hut zu bringen. Glücklicherweise hatten wir als Eltern ein Heer an Helfern und Unterstützern an unserer Seite. Und ich bekam wieder Freude am Lernen. Es war die Zeit, in der ich eine Ausbildung nach der anderen absolvierte, neben meiner ganztägigen Beschäftigung und Kind. Die Zeit der beruflichen Irrwege war zum Glück endgültig vorbei.

Ich war sechs Jahre lang Trainerin in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen für Erwachsene, aber auch für Jugendliche. Dann wechselte ich hinter die Kulissen und organisierte Seminare in den Bereichen Gesundheit, Tourismus und Verkehr. Dazu kam noch die Mitarbeit an EU-Projekten, die mich in einige Länder Europas führte.

Meine Tätigkeit in der Erwachsenenbildungsinstitution war sehr abwechslungsreich. Dennoch war ich unzufrieden. Es war die Erkenntnis, dass ich mich hier nicht mehr wesentlich weiterentwickeln konnte. Ich suchte um Bildungskarenz an. Sie wurde genehmigt und ich absolvierte die Ausbildung zum ganzheitlichen Lerncoach. Das war eine wunderbare Zeit für mich, denn ich konnte die Ausbildung sozusagen hauptberuflich besuchen und musste nicht arbeiten. Nur Lernen. Ich hatte Zeit für mich und meine Familie. Eine mir sehr ungewohnte Lebensqualität. Ich hatte zuvor viele Jahre Vollgas gegeben.

In dieser Zeit tauchte zum ersten Mal der Wunsch auf, ein eigenes Lern- und Beratungsinstitut zu eröffnen. Während der Ausbildung wurde mir sehr deutlich bewusst, wie Kinder lernen – durch eigenes Erforschen und Entdecken! In der Schule meiner Tochter Viktoria war von Entdecken und Erforschen keine Spur. Kein Wunder, dass meine Tochter nicht begeistert war. Aber ich selbst war ja auch nichts anderes gewohnt. In meiner Schulzeit hatte ich mir angewöhnt, unter Zeitdruck Stoffgebiete auswendig zu lernen. Vor Tests und Schularbeiten büffelte ich dafür besonders oft in der Nacht und konnte das Gelernte bei den Tests und Schularbeiten wiedergeben. Der meiste gelernte Stoff verweilte äußerst kurzfristig in meinem Gedächtnis. Für eine positive Note reichte es allemal.

Kinder können mehr, wenn man sie lässt! Davon wurde ich damals überzeugt und bin es heute immer mehr. Zusätzlich drängte sich mir die Frage auf: „Warum nehmen wir Kindern die Freude am Lernen? Warum gelingt es uns selten, einen geeigneten Rahmen zur Verfügung zu stellen, in dem Kinder selbstständig und eigenverantwortlich lernen können?“ Dadurch wird es schwierig – für alle: Lehrer, Schüler und Eltern! Begriffe wie Motivation kommen ins Spiel. Denn jemanden zu motivieren, ist anstrengend, wenn sozusagen ständig von außen Impulse kommen müssen, um den Motor zu starten und am Laufen zu halten. Außerdem müssen die Impulse mit der Zeit verstärkt werden, um den Motor in Schwung zu halten.

Nach der Bildungskarenz kehrte ich zurück in meinen Beruf. Aus Sicherheitsdenken. Noch wagte ich den Schritt in die Selbstständigkeit nicht. Doch mein Wunsch, mich selbstständig zu machen, wurde immer stärker. Nach einigen Monaten löste ich, einerseits mit großer Freude auf das Neue, andererseits mit Wehmut und Ängsten, mein Dienstverhältnis bei der Erwachsenenbildungseinrichtung.

Heute bin ich Unternehmerin mit meinem Lern- und Beratungsinstitut take-off®. Mit einem gesamtheitlichen Ansatz startete ich mein Institut mit Lerntraining, Lernberatung und Workshops für Schüler. Nachhilfe gab es zu Beginn nicht in meinem Angebot.

Bald stellte ich zwei Dinge fest: Erstens benötigen manche Schüler tatsächlich Nachhilfe, um ihre Wissenslücken, die sie aus unterschiedlichen Gründen haben, zu schließen. Zweitens musste ich die Eltern beim Thema Schule und Lernen mit ins Boot holen. Ich konnte sozusagen ja nicht mit der halben Mannschaft arbeiten.

Die Qualifikation dafür holte ich mir in der Ausbildung Family Counseling, also Familienberatung, bei Jesper Juul und Helle Jensen. Ich wollte von den Besten lernen. Jesper Juul ist dänischer Familientherapeut, Konfliktberater, Autor von rund 25 Büchern und Gründer von familylab International, der Familienwerkstatt. Helle Jensen stammt ebenfalls aus Dänemark und ist Diplompsychologin und Familientherapeutin. Gemeinsam schrieben sie das Buch Vom Gehorsam zur Verantwortung. Für eine neue Erziehungskultur. Ich war glücklich, von zwei so großen Impulsgebern lernen zu dürfen. Und: Es war ein wunderbares Lernerlebnis für mich. Weil ich so viel wie möglich von Jesper Juul mit seiner fast 40-jährigen Erfahrung mit Familien erfahren wollte, startete ich parallel dazu noch die Ausbildung zur familylab-Seminarleiterin.

familylab ist eine internationale Organisation für Beratung und Kompetenzentwicklung. Seit 2004 ist familylab aktiv, mittlerweile in 14 Staaten der Welt, und unterstützt und begleitet Familien in ihrer Entwicklung. Die Basis ist nicht mehr das Prinzip „Gehorsam“, sondern es geht um Gleichwürdigkeit, elterliche Wertschätzung und Hinführung zu Eigenständigkeit. Diese Werte sprachen mich sofort an. Mir wurde klar, dass es kein fertiges Rezept, wie Familien ihren Alltag leben können, geben kann, auch wenn sich Eltern danach sehnen.

Heute berate ich Familien, wo sich das Zusammenleben schwierig gestaltet. Seitdem habe ich viele traurige Geschichten von Familien über Kinder und ihre Erlebnisse in der Schule gehört. Ich war immer wieder beeindruckt, was Eltern heute für ihre Kinder tun, damit es ihnen in der Schule gut bzw. besser geht. Und sie tun außergewöhnlich viel. Oft zu viel.

Eltern arbeiten täglich als Kontrolleure der Hausaufgaben. Sie radieren nicht schön geschriebene Worte und falsche Rechenergebnisse aus. Sie schreiben für ihre Kinder Aufsätze und Referate, wenn es nicht so recht klappen will. Sie machen es, damit die Aufgaben erledigt und korrekt gelöst von ihren Kindern abgegeben werden können, damit sie gute Noten und keine Schwierigkeiten bekommen. Sie sind außerdem sozusagen als Hilfslehrer tätig und erklären ihren Kindern, was sie in der Schule nicht verstanden haben. Das ist ein sehr mühsamer Job und auf lange Sicht gesehen selten erfolgreich. Kinder machen dabei zwar eine Zeit lang mit, denn sie kooperieren mit ihren Eltern. Früher oder später wollen sie mit ihren Eltern jedoch nicht mehr lernen und bringen das auch deutlich zum Ausdruck. „Von mir nimmt meine Tochter nichts an“ oder „Mit mir will mein Sohn nicht mehr lernen“ sind Aussagen von Eltern, die ich immer wieder in meinem Institut höre. Wird die Jause oder ein Heft zu Hause vergessen, springen sie als Servicekraft ein und bringen die vergessenen Dinge nach. Sie übernehmen Taxidienste von zu Hause zur Schule und zu vielen anderen Einrichtungen und zurück. Viele Eltern machen den Wahn mit, ihr Kind so früh wie möglich und am besten zu fördern. Sie unterstützen ihre Kinder, indem sie ihnen Nachhilfe finanzieren – mit rund 107 Millionen Euro im Jahr 2012. 2 Nicht gerade wenig!

Ich stelle mir die Frage: „Was wäre, wenn Eltern diese Serviceleistungen ab sofort nicht mehr erledigen würden? Bräche das Schulsystem zusammen?“ Ich behaupte, nein! Schule müsste endlich die Verantwortung für den Lernerfolg ihrer Schüler übernehmen. Denn noch immer gibt es diese Doppelmoral: Ist ein Schüler schlecht in der Schule, liegt es in seiner Verantwortung und der der Eltern. Ist ein Schüler gut, ist es der Verdienst der Schule.

Viele Eltern unterstützen ihre Kinder wie nie zuvor in der Geschichte. Trotzdem müssen sie sich den Vorwurf gefallen lassen, dass sie ihre Kinder nicht erziehen und sie in schulischen Angelegenheiten zu wenig unterstützen. Meine Erfahrungen sind andere. Sie beziehen sich auf meine Arbeit mit Eltern aus allen sozialen Schichten und unterschiedlichen Kulturen. Sie unterstützen ihre Kinder auf Grund ihrer eigenen Erfahrungen, Möglichkeiten, Fähigkeiten und Ressourcen. Alle tun ihr Bestes für ihr Kind. Ob es immer erfolgreich ist, ist eine andere Frage. Sie übernehmen Bereiche, für die sie nicht zuständig und auch nicht ausgebildet sind. Eltern tun das für ihre Kinder, damit sie es einmal besser haben im Leben!

Manchmal wünsche ich mir, dass Eltern das Hamsterrad, in dem sie sich befinden, stoppen, aussteigen, durchatmen und sich fragen: „Warum machen wir mit? Warum vertrauen wir das Wichtigste, das wir haben – unser Kind – diesem System an? Warum unterstützen wir ein System, das nicht erfolgreich ist und uns noch dazu an den Pranger stellt? Warum gesteht sich Politik nicht endlich ein, dass das Schulsystem nicht im 21. Jahrhundert angekommen ist?“

Ein Kind sozusagen bei seinem „Job“ zu unterstützen, durch die Schulzeit zu begleiten, da zu sein, wenn es Hilfe braucht, ist in den meisten Fällen notwendig. Es ist allerdings etwas anderes, als es täglich aufzufordern, seine Hausaufgaben zu machen, seine Arbeitsblätter auszufüllen und einzuheften. Genau das erwarten Lehrer von Eltern. Dadurch sehen viele Eltern es als ihre Aufgabe, mit ihrem Kind zu lernen und täglich Hausaufgaben zu kontrollieren. Andere wieder kommen in einen Gewissenskonflikt, weil sie spüren, dass es nicht ihre Aufgabe ist, sie ihr Kind aber nicht im Stich lassen wollen. Immer mehr Eltern springen nicht mehr auf diesen Zug auf. Zugegeben, es braucht Mut, klar Position zu beziehen. Dabei sind Hausaufgaben eindeutig eine Angelegenheit zwischen Lehrer und Kind. Besonders dann, wenn es nicht gut läuft.

Gelegentlich habe ich mit Schülern Hausaufgaben gemacht und dabei Folgendes festgestellt: Sie hassen Hausaufgaben, bei denen ihr Gehirn sozusagen nicht gefordert wird, wenn es nicht unter die Haut geht, wie z. B. das Abschreiben eines Textes. Besonders unbeliebt ist das Verbessern von Schularbeiten und Tests. Wie klug Kinder doch sind! Studien belegen, dass diese Art der Hausaufgaben keinen Lerneffekt hat. Aber es ist einfach, sie zu ihren Hausaufgaben zu bringen, wenn sie recherchieren, gestalten und selbst wirksam sein können.

„Was soll ich tun? Ich kann meine Tochter nicht ins offene Messer laufen lassen!“, so die Worte einer besorgten Mutter, die ihrer Tochter Nachhilfe finanziert, um sicher zu gehen, dass ihre Tochter wirklich sattelfest in Englisch ist. Angst und auch geringes Vertrauen in die Fähigkeiten der Kinder veranlassen Eltern, aktiv – manchmal sogar hyperaktiv – zu werden, um ihr Kind durch die Schule zu bringen. Für viele Eltern und auch Schüler ist Sitzenbleiben ein Albtraum. Auf jeden Fall ist es ein Versagen des Systems. Es gibt keine Garantie, dass ein Schüler beim Wiederholen einer Klasse zügig im Schulsystem weitergeht. In vielen Fällen ist es eine Wiederholungsrunde desselben und nicht erfolgreich. Wiederholen einer Klasse entspringt der Logik der Erwachsenen, nicht der Entwicklung der Kinder.

Im Sommer 2012 erzählten mir einige Schüler, wie ihre Nachprüfungen verlaufen waren. Auch die Elternsicht bekam ich zu hören. Ein langes und berührendes Gespräch mit einem Jugendlichen blieb besonders in meiner Erinnerung. Die Nachprüfung in Englisch hatte er nicht geschafft, obwohl er in den Ferien dafür gelernt hatte. Zugegeben, der Start war zögerlich und es mussten zuerst ein paar Hindernisse aus dem Weg geräumt werden, bevor der Schüler sich auf die Lernstrecke begab, durchhielt und sein Lernziel in den Ferien erreichte. Er fühlte sich gut vorbereitet für die Nachprüfung, die er jedoch nicht bestand.

Damit konnte er leben, nicht aber damit, dass sein Lehrer seine Bemühungen nicht sah und diese nicht anerkannte. Das war unfassbar für ihn und machte ihn sehr wütend. Noch dazu hatte der Jugendliche während der Prüfung ein Blackout. „Mir fällt nichts mehr ein! Alles ist weg.“ Der Lehrer ging darauf nicht ein, sondern zur nächsten Prüfungsfrage weiter. Es erstaunt wohl niemanden, dass der Schüler sein Wissen nicht mehr abrufen konnte. Um seine Würde und Glaubwürdigkeit zu retten, fragte er am Ende der Prüfung, ob er seine geschriebenen Aufsätze und Übungszettel zeigen durfte, damit der Lehrer sich ein Bild davon machen konnte, was er in den Ferien gelernt hatte. Sein Lehrer wollte nichts davon sehen. Ich sah Traurigkeit in den Augen des Jugendlichen.

Zu diesem Zeitpunkt ist der Entschluss, dieses Buch zu schreiben, endgültig gefallen. Schon zuvor hatte ich immer wieder den Impuls dazu. Ich begann dialogische Gespräche mit Eltern mit sehr unterschiedlichen Familienkonstellationen zu führen. Jedes Gespräch hinterließ einen großen Eindruck bei mir. Es wurde mir noch mehr bewusst, wie unterschiedlich Familien heute sind, wie unvergleichlich sie funktionieren und wie komplex das Familienleben geworden ist. Die Gespräche zeigen auf, was sich Eltern von Schule wünschen, was für sie und ihre Kinder Druck erzeugt und wie es besser miteinander gehen könnte.

Alle dialogischen Gespräche mit den Familien wurden von mir auf Tonband aufgezeichnet und authentisch wiedergegeben. Am Ende eines jeden Kapitels fasse ich die Sicht der Schüler, Eltern, Experten und meine Sicht zusammen.

Die Namen aller beteiligten Personen und auch ihre Lebensorte habe ich geändert. Das spielt keine Rolle. Es sind Geschichten von Familien, die sich überall ereignen können. Das letzte Interview habe ich mit Frau Joya Michaela Marschnig geführt. Gerne will sie ihren Namen öffentlich machen, um Eltern zu unterstützen, wenn sie in Erwägung ziehen, ihr Kind im häuslichen Unterricht zu begleiten. Einen Satz aus dem Interview mit Frau Marschnig nehme ich vorweg:

„Ich suche mir die Schule und die Menschen aus, denen ich mein Kind anvertrauen möchte.“

Für mich ist es ein Appell an alle Eltern, „raus aus der Box zu steigen“, über die Barrieren im Kopf hinauszudenken und wieder mehr ihrem Bauchgefühl zu vertrauen. Dafür weniger den vielen Erziehungsratgebern, die eine große Unsicherheit in das Elterndasein bringen. „Ich weiß gar nicht mehr, auf wen ich hören soll!“, so eine Mutter bei einem meiner Workshops. Ja, und Eltern haben Macht! Immerhin ist die Familie die kleinste Einheit der Gesellschaft.

Es ist vieles möglich – gemeinsam mit anderen: mit mutigen Eltern, visionären Direktoren und engagierten Lehrern! Vielleicht macht die Politik dann mit.


Ein herzliches Dankeschön an alle Familien. Sie haben mir sehr persönlich über ihre Situationen und Erfahrungen erzählt und Einblick in ihr familiäres Leben und ihre Werte gegeben.


Barbara Tolliner
August 2013

Acht dialogische Gespräche mit Eltern

 

Wenn Zahlen ein Problem sind