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ISBN 978-3-7065-5809-9

Buchgestaltung nach Entwürfen von Kurt Höretzeder

Satz: Studienverlag/Da-TeX Gerd Blumenstein, Leipzig

Umschlag: Studienverlag/Karin Berner

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Helmut Reinalter (Hg.)

Freimaurer und Geheimbünde im 19. und 20. Jahrhundert in Mitteleuropa

Reihe: Quellen und Darstellungen zur europäischen Freimaurerei

hg. von Helmut Reinalter

in Zusammenarbeit mit dem Institut für Ideengeschichte

Band 17

Die Drucklegung dieses Werks wurde durch die Kulturabteilung des Landes Tirol, das Vizerektorat für Forschung der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, das Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie und die Kölner Stiftung zur Förderung der masonischen Forschung an Hochschulen und Universitäten, begründet 1993 von Hannelie und Professor Adolf Schmitt, unterstützt.

Vorwort

Die in diesem Sammelband zusammengefassten Beiträge setzen die Studien fort, die der Band „Freimaurer und Geheimbünde im 18. Jahrhundert in Mitteleuropa“ (3. Aufl., 1989) enthält. Sie sind, wie im ersten Band, nach drei Schwerpunkten gegliedert: Probleme und Einzelaspekte, historische Entwicklung sowie Erscheinungsformen und Richtungen. Sie befassen sich mit der Geschichte der Freimaurerei und Geheimbünde im 19. und 20. Jahrhundert, wobei – stärker als im ersten Band – den politischen Geheimgesellschaften seit dem 19. Jahrhundert größere Aufmerksamkeit gewidmet wird.

Die Beiträge im ersten Kapitel setzen sich mit der Entwicklung und den Formen der Verschwörungstheorien im 19. und 20. Jahrhundert auseinander, der zweite Abschnitt skizziert in Grundzügen die Geschichte der Freimaurerei und der Geheimbünde im 19. und 20. Jahrhundert in Deutschland, Österreich, in Italien und der Schweiz, während die Studien im dritten Abschnitt wichtige Aspekte, Richtungen und Erscheinungsformen der Freimaurerei, wie deren Spaltung im ausgehenden 19. Jahrhundert, die Hochgradsysteme und das komplexe Verhältnis zwischen Kirche und Freimaurerei umfassen. Die einzelnen Studien sind größtenteils Originalbeiträge und bauen z. T. auf neuem Quellenmaterial auf. So wurde z. B. der Beitrag des Herausgebers über die Geschichte der Freimaurerei in Österreich auf der Grundlage neuer Quellen aus dem Deutschen Sonderarchiv in Moskau (heute Aufbewahrungszentrum der historisch-dokumentarischen Kollektionen) verfasst.

Nach dem Zusammenbruch des politischen Systems in Russland wurden seit 1991/92 die Moskauer Archive der Forschung zugänglich gemacht, darunter auch die für die Geschichte der deutschen und österreichischen Freimaurerei so bedeutsamen Bestände des erwähnten Archivs. Seit 1991 untersteht dieses Archiv der Russischen Archiv-Verwaltung, heute dem Komitee für Archivangelegenheiten bei der Regierung der Russischen Föderation in Moskau. 2001 ist dort eine Bestandsübersicht des ehemaligen Sonderarchivs auf Russisch erschienen, die auch eine kurze Bibliographie der Veröffentlichungen zu den Beständen enthält. Im „Moskauer Sonderarchiv“ sind die „Beute-Akten“ abgelegt worden, darunter auch die Freimaurerakten aus verschiedenen europäischen Staaten, die vorher von den Nationalsozialisten aus den Logenarchiven und -bibliotheken geraubt, nach Berlin und von dort durch die Rote Armee nach Moskau gebracht wurden. Das Moskauer Sonderarchiv war bis 1990 streng geheim. Nur das Innenministerium und der KGB wussten von seiner Existenz. Dem Herausgeber ist es bei einem Forschungsaufenthalt in Moskau 1993 gelungen, das von den Nationalsozialisten geplünderte Archiv der Großloge von Österreich in Moskau zu entdecken und zu identifizieren. Die österreichischen Freimaurerbestände in diesem Archiv wurden 2002 publiziert1*.

Die Beiträge sind, wie schon beim ersten Band, interdisziplinär ausgerichtet und wurden von Historikern, Juristen, Politologen und Philosophen verfasst. Sie dokumentieren nicht nur den aktuellen Stand der Forschung, sondern entwickeln auch neue Forschungsperspektiven zu einem Untersuchungsgegenstand, der lange Zeit in der Wissenschaft als weitgehend tabu galt.

Mit diesem Band liegt weiters ein Werk vor, das gemeinsam mit dem ersten Band (Schwerpunkt 18. Jahrhundert) die Geschichte der Freimaurerei im zentraleuropäischen Raum zusammenfasst. Auf ihrer Grundlage plant der Herausgeber eine erste moderne Darstellung der europäischen Freimaurerei seit dem 18. Jahrhundert.

Die ausführliche Einleitung im ersten Band über die freimaurerische Forschungssituation ist insofern zu ergänzen, als 1992 in Innsbruck eine aus profanen und masonischen Forschern zusammengesetzte „Wissenschaftliche Kommission zur Erforschung der Freimaurerei“ gegründet wurde, die bereits mehrere Publikationen veröffentlicht, Forschungsprojekte und wissenschaftliche Tagungen durchgeführt hat. Sie wurde in der Zwischenzeit leider wieder aufgelöst. Der Herausgeber hat zudem 1999 die wissenschaftliche „Zeitschrift für Internationale Freimaurerforschung“ (IF) gegründet, von der bisher 16 Jahrgänge (32 Hefte) erschienen sind. Die erwähnte Wissenschaftliche Kommission (WKF) kooperierte sehr eng mit dem 2000 gegründeten privaten Institut für Ideengeschichte in Innsbruck, das sich u. a. schwerpunktmäßig mit internationaler Freimaurerforschung beschäftigt.

Für Hinweise und Anregungen ist der Herausgeber den ehemaligen Mitarbeitern der inzwischen aufgelösten Innsbrucker Forschungsstelle „Demokratische Bewegungen“, der Wissenschaftlichen Kommission zur Erforschung der Freimaurerei, der Forschungsloge Quatuor Coronati Bayreuth, dem Deutschen Freimaurermuseum in Bayreuth, dem Archiv und der Bibliothek der Großloge von Österreich, der Bibliotheca Klossiana in Den Haag und dem Aufbewahrungszentrum der historisch-dokumentarischen Kollektionen in Moskau zu besonderem Dank verpflichtet. Der Dank des Herausgebers gilt auch den Autoren für die Bereitstellung ihrer Originalbeiträge und für deren große Geduld. Die Literaturergänzungen beschränken sich auf Neuerscheinungen seit ca. 1983, weil der erste Band eine umfangreiche Bibliographie zum 18., 19. und 20. Jahrhundert enthält.

Innsbruck, im Juni 2015

H. R.

Helmut Reinalter

Einleitung

Grundsätzliches zur Freimaurerei

Der Begriff „freemason“ taucht zum ersten Mal in einer Londoner Urkunde 1376 auf. Unter „freemason“ verstand man den qualifiziert ausgebildeten Maurer und Steinmetz, der den freistehenden Stein kunstvoll bearbeiten konnte. Das Wort „lodge“, erstmals urkundlich 1278 erwähnt, bezeichnet zuerst ein Holzgebäude, das für die Bauhandwerker Werkstatt und auch Aufenthaltsraum war. Später wurde diese Bezeichnung auch für Gruppen von Steinbauwerken verwendet, die gemeinsam an einem größeren Bau arbeiteten. Um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert trat in der Entwicklung der Logen der Werkmaurer zuerst in Schottland und dann auch in England insofern eine tiefgreifende Änderung ein, als nun immer häufiger Nichtangehörige des Bauhandwerks als Mitglieder aufgenommen wurden. Diese hießen in Schottland „gentlemen masons“ und in England „accepted masons“.

Das symbolisch-esoterische Brauchtum der Freimaurerei entstand aus zwei Entwicklungssträngen: den alten Konstitutionsschriften der englischen und dem „Maurerwort“ der schottischen Freimaurer. Es nahm dann vermutlich von den Logen der „accepted masons“ im 17. und frühen 18. Jahrhundert seine heutige Form an. Aus den allgemeinen und besonderen Pflichten der alten englischen Konstitutionsschriften entstanden 1723 die „Alten Pflichten“ des James Anderson († 1739).

Über die Ursprünge und Entstehung der Freimaurerei haben sich im Laufe der Jahrhunderte verschiedene Theorien, Mythen und Legenden entwickelt, die bis in die Antike zurückreichen. Heute stehen in der masonischen Historiographie stärker die westeuropäischen Gilden-, Maurer- und Steinmetzzünfte, Kathedralenbaumeister, Wandergesellen, Tempelritter, Mönchsorden und die frühen Akademien sowie aufgeklärten Sozietäten und Rosenkreuzer im Vordergrund der historischen Überlegungen. In der älteren Forschung wurden auch direkte oder indirekte Verbindungslinien zwischen den Bauhütten und den antiken Mysterienbünden, dem salomonischen Tempelbau und dem späteren Ritterorden hergestellt, um die esoterischen Wurzeln der Freimaurerei aufzuzeigen und zu erklären.

In diesem Zusammenhang sind vor allem der Salomonische Tempel, der Kult der Brahmanen, die Isis- und Osiris-Legende des alten Ägypten, die ägyptische Mythologie, die geheime „Dreiheit“ des alten China, die Eleusinischen Mysterien, der Bund der Pythagoräer, der Mysterienkult der Essener, der Mithras-Kult, die Kabbala, die Gnosis, die Druiden und Barden zu nennen. Problematisch ist zweifelsohne der Versuch, Freimaurerei als eine Fortführung der alten Mysterien zu sehen (Johann August Starck). Inwieweit für die Gründung der Freimaurerei auch der Neuplatonismus bestimmend wurde, ist z. T. noch ungeklärt. Der Neuplatonismus versteht sich als Weiterentwicklung des Platonismus, der Lehre des Philosophen Platon. Dieser geht von der Annahme aus, dass das gesamte Individuelle stufenweise aus einem einzigen letzten Urgrund hervortritt und wieder dahin zurückkehrt. Dieser Urgrund ist das Eine, Ewige, Höchste, Gute und Schöne sowie Nicht-Seiende. Außerhalb dieses Einen existiert sonst nichts mehr. Der „Demiurg“ oder Schöpfer bringt die Weltseele hervor und schafft das ständig wahrnehmbare Universum nach dem Vorbild des „Nous“ und beseelt damit auch die Materie. Nicht bewiesen sind weiters der englische Philosoph Francis Bacon und der Philosoph, Theologe und Pädagoge Jan Comenius als Begründer der Freimaurerei. Die hier erwähnten Mysterienbünde können nur mit Vorbehalt und Einwänden als mögliche esoterische Wurzeln der späteren Freimaurerei angesehen werden. Mit wissenschaftlichen Belegen und Argumenten lassen sich solche Entwicklungslinien und Zusammenhänge kaum festmachen.

Als wesentlich konkretere Vorstufen der modernen „spekulativen“ Freimaurerei findet man in der Literatur öfters die beruflichen Zusammenschlüsse der Handwerker und der Ritterorden, wie z. B. der Malteser- oder der Templerorden, der sich auf das hohe Ansehen der Ordensmitglieder als Bauherren stützt und auf der Hypothese aufgebaut ist, dass der Orden trotz Verurteilung und Verfolgung seine Weiterentwicklung sichern wollte. Der Großmeister Pierre d’Aumont, der zusammen mit zwei Kommandeuren und fünf Rittern nach Schottland floh, soll vom schottischen König Robert I. Bruce freundlich aufgenommen worden sein und Templer um sich gesammelt haben. Diese Gruppe soll weiters die bereits bestehenden Bauhütten als Organisationsträger beeinflusst und instrumentalisiert haben. Eine weitere Legende geht auf Baron Karl von Hund zurück, der ein bedeutender Freimaurer des 18. Jahrhunderts in Deutschland war. Auf der Basis des von ihm gegründeten masonischen Ritus, der „Strikten Observanz“, sollte der Templerorden wiederhergestellt werden. Ein Indiz für den Zusammenhang der Freimaurerei und den Templern könnte die Baukunst in den Logen gewesen sein, worüber mehrere Manuskripte des Bauhandwerks aus England berichten und auf die später noch hingewiesen wird. Eine weitere These geht von der älteren Rosenkreuzer-Bruderschaft als Ursprung der Freimaurerei aus. Charles von Bokor erwähnt, allerdings nicht vollständig, mehrere „pseudowissenschaftliche“ Theorien, die für ihn keinen Aufschluss über die Entstehung der Freimaurerei bieten. Erst im 19. Jahrhundert ist die realistische Geschichte durch alte Urkunden, kritische Prüfung der Quellen sowie durch den Vergleich mit den Steinmetz- und Handwerkerordnungen in Verbindung mit der Baukunst geklärt worden.

Als die eigentlichen Vorläufer der modernen Freimaurerei gelten jedoch in der heutigen profanen als auch masonischen Forschung die handwerklichen Bruderschaften, die Bauhütten und Baumeister, auf deren Brauchtum sehr viel maurerisches Gedankengut zurückgeführt werden kann. Sie setzten sich aus Mitgliedern des Steinmetzstandes zusammen, nahmen aber auch Maurer und Decker auf.

Die Freimaurerei breitete sich dann im britischen Inselreich aus, ehe sie auch auf dem Festland, in Frankreich, in den Niederlanden, in Deutschland und Österreich Fuß zu fassen begann. In Frankreich wurde 1736 die erste Großloge gegründet, in Deutschland entstand die erste Loge 1737 in Hamburg und nannte sich „Loge d‘Hambourg“ (später „Absolom zu den drei Nesseln“). Von ihr wurde auch der preußische Kronprinz und spätere König Friedrich II. (1740-1786) in Braunschweig aufgenommen. Von nun an breitete sich die Freimaurerei in Preußen und dann im übrigen Deutschland rasch aus. Auf dem Freimaurerkonvent von Wilhelmsbad 1782 traten sehr heterogene esoterisch-ideologische Strömungen hervor. Die Gruppe der Rationalisten und Aufklärer hatte im Geheimbund der Illuminaten einen Verbündeten, der einen stark politisch-rationalen Kern besaß. Der Orden wurde 1776 von Adam Weishaupt (1748-1830) in Ingolstadt gegründet. Der wesentliche Unterschied zwischen dem Illuminatenorden und der Freimaurerei lag trotz starker personeller Verknüpfungen im Charakter beider Gesellschaften. Die Freimaurerei war letztlich eine esoterische Gemeinschaft ohne Ideologie, während die Illuminaten ein rational-aufgeklärtes System mit ideologisch politischer Zielsetzung besaßen.

Die historische Entwicklung der Freimaurerei im 19. Jahrhundert war geprägt von Reformen, der nationalen Frage und der Entstehung politischer Geheimbünde. Vor der Machtergreifung Hitlers wurde die Freimaurerei besonders von Erich Ludendorff (1865-1937) scharf angegriffen und 1933 von den Nationalsozialisten verboten. 1958 schlossen sich die Freimaurer in Deutschland, nachdem sie sich nach 1945 neu formiert hatten, zu den „Vereinigten Großlogen von Deutschland“ zusammen. Diese Vereinigung umfasst heute ca. 20 500 Freimaurer. In Wien entstand die erste Loge „Aux trois canons“ 1742. Schon vorher war Franz Stephan von Lothringen (1745-1765) von einer nach dem Kontinent entsandten Deputation der englischen Großloge in die Freimaurerei aufgenommen worden. 1784 wurde die „Große Landesloge von Österreich“ gegründet, die sechs Provinziallogen zusammenfasste. Im Dezember 1785 erließ Joseph II. (1765-1790) das kaiserliche Handbillett (,‚Freimaurerpatent“), mit dem die Logen praktisch der Polizeiaufsicht unterstellt wurden. Leopold II. (1790-1792) wollte die Freimaurerei seinen politischen Zwecken dienstbar machen. Unter Franz II. (1792-1806) lösten sich die meisten Logen auf, und 1795 wurden sie durch das kaiserliche Kriminalpatent verboten. Der Ausgleich mit Ungarn 1867 änderte dann die Lage, da nun die Freimaurer in Österreich ihre rituellen Arbeiten auf ungarischem Boden (Grenzlogen) abhalten konnten. 1918 wurde nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie die „Großloge der Alten Freien und Angenommenen Maurer von Österreich“ gegründet. Von 1938 bis 1945 verboten, entstand sie nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wieder.

Zwischen Freimaurerei und Kirche bestand seit dem 18. Jahrhundert eine fast unüberbrückbare Kluft. Die Kirche verurteilte besonders deren humanistisch-deistische Vorstellungen. Die Freimaurerei sah sich von Anfang an Argwohn, Behinderungen und Verfolgungen ausgesetzt. Schon vor der ersten päpstlichen Bulle waren Veröffentlichungen erschienen, die sich scharf gegen die Freimaurerei wandten. 1738 erließ Papst Clemens XII. (1730-1740) die Bulle „In eminenti“ zur Verurteilung der Freimaurerei. Sie wurde allerdings nur in den päpstlichen Gebieten, in Spanien, Portugal und Polen veröffentlicht und erlangte daher nur dort Gesetzeskraft. Zu einer Erneuerung der Verurteilung kam es unter Papst Benedikt XIV. (1740-1758) 1751. Weitere Verdammungsurteile ergingen unter Pius VII. (­­1800­-1823), Leo XII. (1825-1829), Pius IX. (1846-1878) und Leo XIII. (1878-1903). Heute sieht die römisch-katholische Kirche die Freimaurerei differenziert und ist mit ihr in einen Dialog eingetreten, dessen erstes sichtbares Ergebnis die Streichung der Exkommunikation (Kirchenbann) von Freimaurern aus dem Kirchenrecht war. Die Katholische Deutsche Bischofskonferenz allerdings hat eine „Unvereinbarkeitserklärung“ abgegeben, die mit ausdrücklicher Zustimmung von Papst Johannes Paul II. durch einen Kommentar des damaligen Kardinals Ratzinger, des Präfekten der Glaubenskongregation, für die Gesamtkirche verbindlich gemacht wurde, wonach Freimaurerei mit der Lehre der katholischen Kirche unvereinbar bleibe.

Das Verhältnis der evangelischen Kirche zur Freimaurerei war entscheidend beeinflusst von der Mitgliedschaft evangelischer Geistlicher zu den Logen, die jedoch vorwiegend Anhänger der Aufklärungstheologie waren. Die evangelischen Kirchen betrachteten die Religion, in der alle Menschen im freimaurerischen Sinne übereinstimmen, als Ergebnis deistischen Vernunftglaubens. Nach ihrer Überzeugung darf die freimaurerische Humanität nicht mit jener des Neuen Testaments verwechselt werden, die allein der Gnade des dreieinigen Gottes entspringt.

Wenn sich die heutige Freimaurerei als historisch gewordene Sozietät versteht, dann liegt es nahe, den Prozess dieses Werdens einer Revision zu unterziehen, zumal wir unseren gegenwärtigen Zustand im Spannungsfeld zwischen Moderne und Postmoderne als problematisch erfahren.

Resultieren unsere aktuellen Probleme daraus, dass das Projekt der Moderne nicht zu Ende geführt wurde oder dadurch, dass es schon als solches mit Ambivalenzen belastet war? In diesem Zusammenhang geht es um die Frage: Vollendung oder Revision der Moderne? Die großen und bedeutenden neuzeitlichen Projekte, die unsere Zeit prägen, betreffen die Wissenschaft, die Natur, den Menschen und die Geschichte – sie bilden die wesentlichen Dimensionen der Moderne.

Das Durchschnittsleben in der technischen Zivilisation ist emotional verarmt, das Ausleben der Gefühle abgespalten und in den imaginären Raum verwiesen. Demgegenüber wird heute stärker gefordert, sich emotional einzulassen. Die Freimaurerei setzt auf Kommunikation, Dialog und auf Selbstgewinnung in der Auseinandersetzung mit anderen. Dabei sollte sie sich der modernen Kommunikationsmittel bedienen. Hier ist die Freimaurerei als Lebenskunst angesprochen. In der Freimaurerei als Lebensform (Lebenskunst) geht es um Dasein, um das Erreichen des Lebens in seiner Präsenz. Das Wesen der Freimaurerei ist nicht durch eine wissenschaftliche Methode erfassbar, sondern nur durch die Ästhetik der Existenz.

Ästhetische Werte sind Formung, Gestaltung und Transformation. Ästhetik der Existenz ist ein Wille zur Form, um aus sich selbst und seinem Leben ein Kunstwerk zu machen, um die Wendung vom esoterischen Subjekt zum exoterischen Selbst zu vollziehen. Ästhetik der Existenz bedeutet, sich selbst erfinden und erarbeiten, wobei sich Lebenskunst nicht über die Befolgung von Normen, sondern über die Haltung des Individuums konstituiert. Lebenskunst heißt Ausarbeitung des eigenen Lebens in Form eines persönlichen Kunstwerks. Lebenskunst ist kein Selbstkult, keine Selbstversessenheit, sondern Selbstkultur, Erziehung seiner selbst, Selbstpraktik. Das eigene Leben zu formen und zu führen, bedeutet Aneignung von Techniken: Einübung, Ausübung (Stil), Selbstformung, Kunstfertigkeit und Geschicklichkeit. Lebenskunst ist die Einlösung der Forderung der Aufklärung, sich selbst zu überlassen. Bei der Lebenskunst geht es um die Erarbeitung eines individuellen Entwurfs, der den Menschen zur Führung seiner selbst und zur Gestaltung des eigenen Lebens befähigt. Insofern ist die Freimaurerei als Lebenskunst ein Formungsversuch, ein Selbstgestaltungsversuch und keine wissenschaftliche Methode.

Die Freimaurerei versteht sich als ethische Gemeinschaft. Der ethische Grundkonsens besteht in der Entwicklung einer ethischen Lebenshaltung, in der Herausbildung einer „Ästhetik der Existenz“. Sie ist eine „Einübungsethik“, die ohne Vorschriften und Gebote auskommt und bestimmte Vorstellungen von vorbildlichen und bewährten Verhaltensweisen durch Einübung vermittelt. Dieser Aspekt kommt besonders in den freimaurerischen Ritualen stark zum Ausdruck.

Die Aufklärung als nie abschließbare Aufgabe und als Denkprinzip versteht sich als Selbstaufklärung, als Selbstwerden durch freies Denken, aber auch als Sachaufklärung im Sinne von Wegräumen geistiger und realer Hindernisse der Selbstaufklärung. Aufklärung richtet sich als Selbstdenken gegen angemaßte Autorität und Vorurteile, als Richtdenken gegen Irrtümer, Irrationalismus und Aberglauben, gegen Verabsolutierungen und Ideologien, gegen Dogmen und absolute Wahrheiten.

Die bleibende Aktualität der Aufklärung resultiert aus dem permanenten Aufklärungsbedarf und Aufklärungsbedürfnis. Sie ist ein stets erneuerter Aufbruch (Versuch), die immer neu wuchernde Pseudowahrheit zu überwinden und ideologiekritisch zu arbeiten. Aufklärung als Denkmodell der Freimaurerei darf allerdings Aufklärung über sich selbst nicht vernachlässigen, sonst degeneriert sie zur Pseudoaufklärung oder Ideologie und zerstört sich selber. In einer Zeit, in der gegenaufklärerische Tendenzen wieder an Bedeutung gewinnen, ist es wichtig, an die positiven Werte der Aufklärung zu erinnern, wie:

Entfaltung eines Denkens, das kritisch überkommene Autoritäten in Frage stellt, darunter insbesondere die tradierten religiösen Vorstellungen, Dogmen und Institutionen, die Legitimation der politischen Herrschaft und – im Reifestadium – ihren eigenen Anspruch, ihr eigenes Verfahren und ihre eigene Begründung („reflexive“ Aufklärung);

Toleranz, rechtliche Gleichstellung aller Menschen, persönliche Freiheit und freie wirtschaftliche Entfaltungsmöglichkeit und damit Herstellung von Öffentlichkeit;

politische Selbstbestimmung und Schaffung von Möglichkeiten zur Formung des Menschen und

eine grundsätzlich positive Diesseitsgestaltung.

Die Freimaurerei kann die Aufklärung als Denkmodell weiterführen und Bemühungen im Sinne einer kritischen Aufklärung fortsetzen.

Die Freimaurerei hat eine ganz bestimmte (spezifische) Anthropologie, die die Grundwerte definiert, die den Bruder bei seiner Arbeit am „rauen Stein“ bestimmten und leiteten. Diese Anthropologie ist eine partielle, keine vollständige, umfassende, weil sie jene Bereiche in den Vordergrund stellt, die mit der ethischen Vervollkommnung zu tun haben. Zum masonischen Menschenverständnis gehören Freiheit, Toleranz (und darüber hinaus das Verstehen des anderen), Brüderlichkeit und auch Transzendenz (im Sinne des „Großen Baumeisters“). Die Transzendenz hat eine doppelte Funktion: Sie rechtfertigt moralische Wertmaßstäbe und verleiht dem menschlichen Dasein einen Sinn und sie stellt das höchste Ziel dar, dem der Mensch bei der Verwirklichung seiner Ideale entgegengeht. Zur freimaurerischen Anthropologie gehört aber auch das „initiatische Geheimnis“ bzw. das fundamentale initiatische Konzept. Dieses zeigt auf, wie der vollständige Gehalt der maurerischen Anthropologie durch Initiationsriten erworben werden kann. Die Selbstverwirklichung eines Menschen als Freimaurer erfolgt in Form einer permanenten dialektischen Auseinandersetzung zwischen den Prinzipien und dem Individuellen, gesteuert vom freimaurerischen Menschenbild und von der Verhaltensnorm des „Großen Baumeisters aller Welten“.

Die hier aufgezeigten Grundpfeiler der Freimaurerei sollten verdeutlichen, dass sie kein vollständiges philosophisches System darstellt, sondern eine genau umschriebene praktische Philosophie des Menschen umfasst, Verhaltensmuster, die der Natur des Menschen entsprechen. Der wesentliche Kern des freimaurerischen Denkens liegt in der masonischen Anthropologie. Innerhalb von ihr liegt auch der Schwerpunkt auf der Initiation, auf den Ritualen, die die Freimaurerei verwendet, um den Menschen auf den Weg zur Selbstvervollkommnung zu führen. Dies geschieht über ein ethisches Konzept, das man „Ästhetik der Existenz“ oder auch als Einübungsethik bezeichnen könnte. Das masonische Denken weist neben dem Rituellen auch eine besonders stark ausgeprägte rationale Systematik auf.

Die Freimaurerei ist kein philosophisches System, sondern ein humanes Verhaltensmuster für eine menschliche Gesellschaft. Das masonische Menschenbild nimmt im europäischen Denken eine Sonderstellung ein, weil es verbindend, integrierend und ausgleichend angelegt ist und nicht ausgrenzt. Grundlage der ethischen Verantwortung des Freimaurers ist das Symbol des „Großen Baumeisters aller Welten“. Der Wert des Menschen wird in der Freimaurerei nicht nach seinem Bekenntnis zu einer Religionsgemeinschaft und zu einem Dogma beurteilt, sondern nach seiner Redlichkeit. Der „Große Baumeister“ ist Ausdruck des freimaurerischen Bestrebens, auf eine Form hinzuwirken, in der es möglich erscheint, ohne dogmatische Festlegung der Form der Gottheit sich menschlich in Einigkeit zu begegnen. Der „Große (Oberste) Baumeister“ symbolisiert Gott in seiner Wirksamkeit als der ewige Hintergrund und der allumfassende Rahmen, aus dem das Leben Sinn und menschliche Verantwortung erhält.

Aus dem bereits Gesagten ergibt sich, dass die Freimaurerei auch gesellschaftliche Aufgaben wahrzunehmen hat. Die menschliche Verantwortung führt die Freimaurerei zur Beschäftigung mit aktuellen Problemen der Gesellschaft, wobei diese Auseinandersetzung auf dem Wissensstand der Zeit erfolgen muss: z. B. Probleme des Friedens und der Konfliktbewältigung, der Umwelt (Ökologie), des Fundamentalismus (der Gegenaufklärung), die Auseinandersetzung mit dem anderen, Fremden, mit Problemen der gesellschaftlichen Katalysatorfunktion der Freimaurerei und mit der technischen Zivilisation im Allgemeinen.

Die Freimaurerei könnte für das Erleiden der gesamtgesellschaftlichen Probleme im eigenen Lebenszusammenhang sensibel und die Verarbeitung dieser Probleme im persönlichen Kontakt für die begriffliche Arbeit (Aufklärung) an den allgemeinen Problemen fruchtbar machen. Sie scheint wegen ihrer spezifischen Struktur (Rationalität, Sensualität, Individualisierung dafür besonders geeignet. Die Katalysator-Theorie geht davon aus, dass die Freimaurerei die gesellschaftliche und kulturelle Evolution der letzten 250 Jahre in indirekter Weise bestärkt und akzeleriert hat, ohne allerdings selbst als politischer oder gesellschaftlicher Akteur aufgetreten zu sein. In der Tat scheint es so, dass die Freimaurerei durch das Wirken einzelner Brüder im profanen Leben katalysatorische Effekte in der Geschichte erzielt hat. Eine direkte Einflussnahme lässt sich jedoch nur schwer nachweisen.

Freimaurerische Geschichtsschreibung

Die aktuelle Grundlagendiskussion über Theorien- und Methodenprobleme der Geschichtswissenschaft zeigt deutlich, dass die wissenschaftlichen Formen des menschlichen Denkens nicht ohne Bezug auf lebensweltliche Zusammenhänge verstanden werden können. Die Historiographie ist von praktischen Interessen abhängig, die aus ihrem gesellschaftlichen Kontext abgeleitet werden können. Durch diese Verbindung wird die Geschichte unter den Bedingungen der sich stets ändernden Orientierungsbedürfnissen im gesellschaftlichen Leben immer wieder neu geschrieben. Dies trifft auch auf die Erforschung der Freimaurergeschichte zu.

Dieses Umschreiben bedeutet allerdings nicht eine äußerliche Anpassung der Geschichtswissenschaft an ihre jeweilige Zeit, sondern erfolgt aus dem, was wir unter „innerer Logik“ der historischen Erkenntnis verstehen. Geschichte und daher auch freimaurerische Geschichtsschreibung verstehen sich als bedeutungsvoller Zusammenhang zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen vergangenem und gegenwärtigem Handeln. Die Geschichtswissenschaft verhält sich zu den Formen und Inhalten der lebensweltlich-historischen Bewusstseinsbildung stets kritisch und unterscheidet sich von dieser Bewusstseinsbildung durch einen höheren Geltungsanspruch ihrer historischen Aussagen. Dieser Anspruch wird wissenschaftlich mit methodischer Rationalität und historischer Erkenntnis begründet.

Für die freimaurerische Geschichtsforschung steht heute nicht mehr ausschließlich das Verstehen von Ereignissen, Personen, Intentionen und Handlungen im Vordergrund des Interesses, sondern mehr Strukturen und Prozesse als Bedingungen, Voraussetzungen und Folgen von Ereignissen, Entscheidungen und Handlungen. Dass dabei auch Einzelpersönlichkeiten oder Kollektive eine wichtige Rolle spielen, steht außer Diskussion. Die für das historische Denken entscheidenden Faktoren bilden eine besondere Form der „disziplinären Matrix“. Diese macht Geschichte zu einer wissenschaftlichen Disziplin. In die leitenden Perspektiven des historischen Denkens werden „Zeitorientierungsbedürfnisse“ stark berücksichtigt. Genauso wichtig sind auch Verfahren der empirischen Absicherung historischer Behauptungen. Letztlich mündet das historische Denken in Darstellungen ein, bei denen formalwissenschaftliche Prinzipien eingehalten werden müssen.

Zwei wesentliche Bereiche der Geschichtswissenschaft sind die Theoriebildung und die historischen Methoden. Historische Theorien entwickeln Fragerahmen oder Hypothesenkonstruktionen, um empirische Fakten besser erschließen zu können. Unter Methoden verstehen wir in der Historiographie die Regeln der historischen Forschung. Die Summe der Regeln, das Handwerkzeug des Historikers, bestimmen die Verfahren, mit deren Hilfe die menschliche Vergangenheit als Geschichte dargestellt werden kann. Die Methoden garantieren aber auch weitgehend die Objektivität historischer Aussagen und deren Beurteilungen.

Für die freimaurerische Geschichtsschreibung ist weiters von besonderer Bedeutung, dass auch neue Richtungen der Geschichtswissenschaft rezipiert und in die Forschung integriert werden, wie z. B. die „Neue Politische Geschichte“, die „Historische Sozialwissenschaft“, die „Neue Kulturwissenschaft“, die „Mentalitätsgeschichte“, die „Neue Ideengeschichte“ und die „Historische Anthropologie“. Dabei geht es um die Erfassung der hinter der zeitlichen Ereignisabfolge liegenden permanenten Strukturen des gesellschaftlichen Prozesses. Dabei wird der Ereignisgeschichte die Erfassung von Strukturen in der zeitlichen Dimension der „langen Dauer“ gegenübergestellt. Angestrebt werden hier eine Zusammenfassung zur Einheit der Geschichte und damit die Durchdringung der Gesellschaft in ihrer strukturellen Ausprägung. Der Mentalitätshistorie geht es um die Erforschung kollektiver Verhaltensweisen durchschnittlicher miterlebender Zeitgenossen. Hier stehen Themen wie Angst, Menge, Gewalt, Volk, Glück, Lebensformen, Humanität, Feste, Religion, soziale Gruppen, Alltag, Familie und Tod im Mittelpunkt des historischen Interesses. Sie untersucht alle bewussten und unbewussten Ausdrucksformen menschlichen Lebens. Was allerdings noch dringend notwendig erscheint, wäre mehr Klarheit und Einvernehmen über Zuständigkeiten und Stellenwert der Mentalitätsforschung, die sicher mehr bedeutet als nur ein auf Gesellschaftsstrukturen begrenzter Begriff von Sozialgeschichte des menschlichen Bewusstseins. Sie setzt sich vielmehr mit der psychisch-anthropologischen Dimension der Sozialgeschichte auseinander. Insgesamt gilt für die Freimaurerforschung, dass sie sich um mehr Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung bemühen muss, um die enge Perspektive der Vereinshistoriographie sprengen zu können. Dazu gehört auch u. a. die Adaption von modernen Methoden und Erklärungsmodellen aus der Geschichtswissenschaft, der Soziologie, der Ökonomie, der Demographie und der Anthropologie, aber auch die Rückkehr zur Narration als Geschichtsschreibung, die ihre Autonomie gegenüber den Sozialwissenschaften begründet gewährleisten kann.

Die Entwicklung der Freimaurerei vor dem Hintergrund der politischen Geschichte, Gesellschafts- und Ideengeschichte im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert

Struktur und Charakter einer Epoche oder eines Jahrhunderts können kaum von den Grenzen her bestimmt werden, sondern nur von den besonderen Ausprägungen der verschiedensten gesellschaftlichen, ökonomischen, politischen und kulturellen Prozessen. Solche Prägungen sind nie allein einzelne Persönlichkeiten, Institutionen, Ideen und Ereignisse, sondern immer die besondere Form des sehr oft komplexen Zusammenspiels zahlreicher Kräfte und Bewegungen, wobei jedoch einzelne Persönlichkeiten als Impulsträger eine wichtige Rolle spielen. Daher ist es sinnvoll, wenn die Geschichte der Freimaurerei im 19. und 20. Jahrhundert in den größeren gesamtgesellschaftlichen Rahmen gestellt wird.

Wurde der Bruch mit der traditionellen politisch-sozialen Ordnung des Ancien Régime durch die Aufklärung und Französischen Revolution vorbereitet und vollzogen, so drohte Ende des 18. und am Beginn des 19. Jahrhunderts die Sprengung des alten Gefüges. Durch Säkularisierung, Mediatisierung und Reichsauflösung brach ein Teil der europäischen Staatenwelt zusammen. Die Französische Revolution und die napoleonischen Kriege sowie die damit verbundenen territorialen Umwälzungen erzwangen tiefgreifende politische und gesellschaftliche Reformen. Der Zusammenstoß zwischen dem revolutionärem Frankreich und den Mächten des alten Europa führte zu einer völligen Umgestaltung der politischen Lage, die auf dem Wiener Kongress nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte. Die entscheidende Bedeutung der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert lag daher für die Freimaurerei in der Spannung von Revolution, Reform und Restauration, die über 1815 hinaus im Konflikt zwischen den Verteidigern der alten Ordnung und den neu entstehenden nationalliberalen Bewegungen eine Fortsetzung fand. Dieser entscheidende Übergang fand seinen stärksten Ausdruck auch im säkularen Wandel, der mit der westeuropäsichen Doppelrevolution (industrielle Umwälzungen und Französische Revolution) am Ausgang des 18. Jahrhunderts eingeleitet und vielfach mit dem Beginn der Moderne gleichgesetzt wurde. Mit der Industriellen Revolution in England wurde das technisch-industrielle Zeitalter eingeleitet und damit ein Prozess des beschleunigten Wachstums und des technologischen Wandels mit den sozialen Veränderungen in Gang gesetzt, während die Ereignisse der politisch-sozialen Revolution in Frankreich mit dem Abbau ererbter Privilegien und die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte eng verbunden waren. Die Französische Revolution brachte die Schicht des Besitz- und Bildungsbürgertums an die Macht und schuf 1791 den ersten demokratisch legitimierten Nationalstaat mit einer Repräsentativverfassung auf der Grundlage der Volkssouveränität und Gewaltenteilung.

Die Zeit der Französischen Revolution und napoleonischen Herrschaft verdeutlicht die politische Auseinandersetzung zwischen revolutionärer und vorrevolutionärer Gesellschaftsordnung. Viele Reformstaaten standen vor der Aufgabe, ihre eigenen historischen Traditionen mit den revolutionären Herausforderungen, die meist von außen kamen, in Einklang zu bringen. Die vorhandenen gesellschaftlichen Mischformen dieser Übergangszeit zeigten zum Teil traditionelle, aber auch moderne Elemente, heterogene Gesellschaftsformen und Möglichkeiten, mit moderneren Methoden alte Herrschaftsziele durchzusetzen. Dieser Verlaufsprozess wurde stark von Schüben nach vorne und Rückentwicklungen, von Refeudalisierung und Modernisierung geprägt. Diese dialektische Entwicklung der Gesellschaft beeinflusste auch die Geschichte der Freimaurerei dieser Zeit.

Zweifelsohne sind diese erwähnten Umbrüche und Reformen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, zurzeit der Romantik und des Vormärz, als teilweise Fortführung der Aufklärungsideen und der Französischen Revolution zu sehen und als Emanzipationsbewegung zu deuten. Alle großen Forderungen dieser Zeit verstanden sich als Emanzipationswünsche. In der Tat waren die Restauration, die Romantik und der Vormärz in ihrem Kern und in ihrer Grundstruktur durch den Aufstieg des Bürgertums und die Ausformung der bürgerlichen Gesellschaft bestimmt. Der Kampf um die Emanzipation sozialer Gruppen, Institutionen von traditionellen Rechtsbeschränkungen verdeutlicht die Vielfalt der Probleme dieser Übergangsphase. Agrarreformen, Gewerbereformen, Gemeindereformen, Schul- und Universitätsreformen waren wichtige Teile dieses umfassenden Emanzipationsprozesses, durch den die Fesseln der alten Gesellschaft zunächst gelockert und dann schrittweise aufgesprengt wurden.

Das Jahr 1815 war zweifelsohne eine wichtige Zäsur in der politischen Entwicklung des 19. Jahrhunderts: der Abschluss der territorialen Neuordnung Europas, das Ende der napoleonischen Herrschaft, die Gründung des Deutschen Bundes und der Beginn einer Periode konservativer Politik. Der zunehmende Widerspruch zwischen politischer Emanzipation der bürgerlichen Gesellschaft und einer staatlichen Ordnung, die trotz Modernisierung durch Verfassungen und Reformen auf Konservierung vorbürgerlicher Herrschaftsstrukturen ausgelegt war, zählte zu den entscheidenden Grundtendenzen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie führte schließlich über mehrere politische und soziale Konflikte in eine gesamtgesellschaftliche Systemkrise, die sich in der Revolution von 1848/49 entlud. In dieser Revolution traten auch einzelne Freimaurer als Akteure hervor. Nach der Julirevolution in Frankreich 1830 nahmen auch dort die politischen Konflikte zu, die der zunehmenden Spannung zwischen Staat und Gesellschaft entsprangen. Der monarchische Verfassungsstaat wurde langsam zu einem Verfassungsstaat umgebaut, der aber auf institutioneller Ebene noch hinter den politischen Erwartungen der neuen Gesellschaft zurückblieb. Diese Zeit war auch von einem tiefen geistigen und kulturellen Umbruch geprägt, da sich die durch den Idealismus und die Romantik gegründete Einheit von Philosophie, Wissenschaft und Kunst langsam aufzulösen begann. An ihre Stelle trat vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Vielfalt von philosophischen Schulen, wissenschaftlichen Disziplinen und literarisch-künstlerischen Gruppen. Mit dieser Entwicklung war auch der Aufstieg der Naturwissenschaften eng verbunden. In dieser Entwicklung zeigten sich ein neuer Wirklichkeitssinn und ein wachsendes Unbehagen an der Gegenwart, sodass sich ein deutlicher Wandel vom kontemplativen Begreifen der Welt zu ihrer aktiven Veränderung vollzog. Auch die ideologisch-politische Zerklüftung ging im 19. Jahrhundert rasch vor sich. Politik, Ökonomie und Gesellschaft wiesen ein besonders gelagertes Spannungsverhältnis auf, zumal der politische Bereich sehr stark durch soziale Probleme herausgefordert wurde. Dies hatte seine tieferen Ursachen in der vorwiegend ökonomisch bedingten Formveränderung der Gesellschaft. Die Romantik mit ihren Folgen war nicht nur eine bedeutende Geistesströmung, sondern auch eine politisch akzentuierte Bewegung, die bereits Ansätze eines Konzepts politischer Institutionen enthielt. Die Entwicklung der Freimaurerei spiegelt diese allgemeinen Veränderungsprozesse wider.

Im 19. Jahrhundert waren zwar Freimaurer an der nationalen Einigungsbewegung beteiligt, doch wäre es sicher falsch zu behaupten, dass die deutsche Einigung das Werk der Freimaurerei gewesen wäre. Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden neue Geheimbünde, die sich durch ihren politischen Charakter wesentlich von der Freimaurerei unterschieden, auch wenn sie sich in der äußeren Form und in den praktischen Organisationsstrukturen zum Teil an den Logen orientierten. Erfasst wurde die Freimaurerei im 19. Jahrhundert vor allem auch über den beschleunigten Wandel der überkommenen Lebensverhältnisse und Lebensformen, die teilweise zu vielgestaltigen Identitätskrisen geführt haben. In den neuen bürgerlichen Führungsschichten standen zunehmend der Fortschrittspessimismus mit Fortschrittshoffnung unvermittelt nebeneinander, eine Tatsache, die das Aufkommen irrationaler, ausgeprägt antimodernistischer Strömungen nachhaltig begünstigten, wie die Entwicklung in die tiefgreifende politische und gesellschaftliche Krise in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verdeutlichte. In dieser schwierigen Entwicklungsetappe genoss die Freimaurerei zum Teil bis 1918 den Schutz der regierenden Häuser. Ihre Bedeutung lag neben den humanitären Leistungen in der Reformbewegung, andererseits war nicht nur das 19. Jahrhundert, sondern vor allem die Zeit des europäischen Faschismus eine ständige geistige, ethische konfliktbeladene Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Systemen und Richtungen. Im 20. Jahrhundert musste sich die Freimaurerei heftigster Kritik aussetzen und wurde durch verschiedenste Verschwörungstheorien, die sprunghaft zunahmen, diffamiert. Viele Faschisten sahen in der Freimaurerei eine Organisation, die durch die jüdische Hochfinanz die Weltherrschaft anstreben wollte. Nach 1945 hat sich die Freimaurerei nach ihrem Niedergang in Europa wieder neu konstituiert.

Zum Schluss nochmals der wichtige Hinweis: Es ist nicht ganz einfach, den Einfluss der Freimaurerei als geistiger Bewegung in der Geschichte der Neuzeit darzustellen. Nicht selten hat man in der freimaurerischen Historiographie, insbesondere in der anti-masonischen Propaganda die Bedeutung der Freimaurerei bei weitem überschätzt. Da zu den wichtigsten Prinzipien der Freimaurerei auch das Wirken des einzelnen Bruders in der Gesellschaft zählt, kann in diesem Zusammenhang der Freimaurerei ein bescheidener Einfluss nicht abgesprochen werden. Dieses Wirken läuft jedoch über die einzelne Persönlichkeit und nicht über die Freimaurerlogen als Organisationen. Die Rolle der Freimaurerei ist hier vergleichbar mit einem gesellschaftlichen Katalysator. Die Freimaurerei kann in minimalen Quantitäten den gesellschaftlichen Entwicklungsprozess fallweise beschleunigen, aber nicht lenken. Mehrere Beispiele aus der Geschichte der Neuzeit verdeutlichen dies. Zu nennen wären hier vor allem die Auflösung der frühneuzeitlichen Dogmen, die Aufklärung, Säkularisierung und die bürgerlichen Revolutionen, insbesondere die Französischen Revolution, wo der Freimaurerei eine gewisse Rolle zukam. Es war zweifelsohne keine tragende Funktion, wenngleich die freimaurerischen Ideen der Humanität und Toleranz für die Ideen der Freiheit, Humanität und Toleranz, für die ideengeschichtliche und politische Entwicklung nicht ohne Wirkung blieben. Die katalysatorische Bedeutung der Freimaurerei zeigte sich auch bei der Herausbildung der westlichen Demokratien, des Liberalismus, des modernen Parlamentarismus und Sozialstaates. Die Freimaurerei trat auch immer für die Verbreitung der Menschenrechte und für den Weltfrieden ein und war in diesen Bemühungen nicht erfolglos. Heute arbeitet sie an einer Weiterentwicklung ihrer zentralen Ideen wie Humanität, Aufklärung und Toleranz. Dabei geht es um die Entwicklung einer „reflexiven“ Aufklärung, einer aktiven Toleranz und einer neuen Humanität.

Die vorliegenden Beiträge, nach drei inhaltlichen Schwerpunkten gegliedert, erheben keinen Anspruch auf eine vollständige Darstellung der Geschichte der Freimaurerei in Mitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert. Sie versuchen vielmehr, wichtige Entwicklungstendenzen und Richtungen aufzuzeigen, die für die Freimaurerei dieser Zeit bestimmend waren. Die Bibliographie am Schluss des Bandes enthält nur die wichtigsten Arbeiten zum Thema des Sammelbandes.

Literaturhinweise

Reinalter H. (Hg.), Aufklärungsprozesse seit dem 18. Jahrhundert, Würzburg 2006.

Reinalter H. (Hg.), Handbuch freimaurerischer Grundbegriffe, Innsbruck 2002.

Reinalter H., Die Freimaurer, München 6. Aufl. 2010.

Reinalter H., Methodenprobleme der Geschichtswissenschaft, in: Methodenfragen der Geisteswissenschaften, hg. von Herdina Ph., Innsbruck 1992, S. 93 ff.

Reinalter H., Neue Tendenzen in der Geschichtsschreibung und ihre Bedeutung für die freimaurerische Historiographie, in: Freimaurerische Historiographie im 19. und 20. Jahrhundert. Forschungsbilanz – Aspekte – Problemschwerpunkte, hg. von Reinalter H., Bayreuth 1996, S. 11 ff.

Reinalter H., Was ist Freimaurerei und masonische Forschung, in: Aufklärung und Geheimgesellschaften. Zur politischen Funktion und Sozialstruktur der Freimaurerlogen im 18. Jahrhundert, hg. von Reinalter H., München 1989, S. 1 ff.

Reinalter H., Zur Aufgabenstellung der gegenwärtigen Freimaurerforschung, in: Freimaurer und Geheimbünde im 18. Jahrhundert in Mitteleuropa, hg. von Reinalter H., Frankfurt a. M. 1983, S. 9 ff.

Reinalter H., Die historischen Ursprünge und die Anfänge der Freimaurerei, in: Geheimgesellschaften. Kulturhistorische Sozialstudien, hg. von Frank Jacob, Würzburg 2013, S. 49 ff.

Reinalter H., Freimaurerische Forschungsperspektiven in Europa, in: IF 29 (2013), S. 39 ff.

Rüsen J. (Hg.). Historische Objektivität. Aufsätze zur Geschichtstheorie, Göttingen 1975.

Rüsen J., Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik I, Göttingen 1983.

Rüsen J., Rekonstruktion der Vergangenheit. Grundzüge einer Historik II, Göttingen 1986.

Verschwörungstheorien im 19. und 20. Jahrhundert

Helmut Reinalter

Die Verschwörungstheorien im 19. Jahrhundert

Die in direkter Reaktion auf die Französische Revolution voll ausgebildete und zu einem geschichtsphilosophischen System überhöhte Verschwörungstheorie ist im 19. und 20. Jahrhundert keineswegs nur von politischen Sektierern, sondern auch von gesellschaftlich und politisch relevanten Gruppen als ideologisch-politisches Kampf- und Propagandainstrument eingesetzt worden. Zu diesem Zweck musste sie allerdings jeweils an die veränderten Konstellationen angepasst werden. Diese ständig notwendige Aktualisierung im 19. Jahrhundert, zuerst 1830/31, dann 1848/49 und im Kulturkampf, hat nicht zuletzt auch eine Säkularisierung der Komplott-Theorie zur Folge gehabt. Ohne ihre Verweltlichung hätte sie wahrscheinlich keine Propagandawaffe des modernen Rechtsradikalismus bzw. Faschismus werden können.2

Die freimaurerischen Verschwörungstheoreme haben sich in der napoleonischen Zeit weiterentwickelt, meist auch mit der bewussten Verbindung zum Illuminatenorden, wobei der Illuminaten-Verdacht nun vor allem von christlich-konservativen Traditionalisten gegen die Verfechter einer aufgeklärt-absolutistischen Politik gerichtet wurde. Während der Verschwörungsthesen, die die Französische Revolution als Resultat eines Komplotts von Philosophen, Freimaurern und Illuminaten sahen, lediglich eine polemisch-ideologische Substanz hatten, schien die Verschwörungsfurcht in der Zeit der Restauration nachträglich inhaltlich bestätigt zu werden. Diese Entwicklung hatte zwangsläufig eine Verhärtung der konterrevolutionären Verschwörungstheoreme zur Folge. Illuminaten und ihre angeblichen direkten Nachfolger, besonders die Tugendbündler und die Burschenschaftler sowie der politische Geheimbund der Carbonari, gerieten in den Verdacht, die Weltherrschaft anzustreben und anzutreten. Auch Metternich warnte in einer Geheimschrift und in Briefen immer wieder vor einer Verschwörung und veranlasste Gegenmaßnahmen.3

Im 19. und 20. Jahrhundert ist die Verschwörungstheorie besonders von katholischen Geistlichen, antiliberalen Royalisten und Rechtsradikalen systematisch verwendet und eingesetzt worden. In der überwiegend auf Barruel aufbauenden Pamphletliteratur, die schließlich in den „Protokollen der Weisen von Zion“ kulminierte, fällt auf, dass die geschichtstheologischen Elemente mehr und mehr zugunsten einer weltlichen, politischen Agitation zurücktreten. So hat z. B. der Prager Advokat Eduard Emil Eckert 1852 die absurde Behauptung aufgestellt, die deutsche Reichsverfassung von 1848/49 sei von einem engeren Maurerbund den Sozialdemokraten dekretiert worden. Diese anti-sozialistische Komponente der Verschwörungstheorie ist dann später von einigen Jesuiten weiterentwickelt worden. So erklärte etwa der Jesuit Pachtler, dass der von dem Juden Karl Marx gegründete Sozialistenbund die „furchtbarste politische und religiöse Verschwörung in der ganzen Weltgeschichte“ darstellt. Dabei ging er davon aus, dass der gefürchtete Arbeiterbund nach der Struktur einer Freimaurerloge aufgebaut und eine Folge des verderblichen Liberalismus sei. Pachtler teilte die Meinung der antiliberalen Kräfte, der Liberalismus sei jüdisch-freimaurerisch geprägt.4

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