Cover

Impressum

Das Werk basiert auf Motiven der Reihe

Die Wilden Hühner von Cornelia Funke.

 

 

Originalausgabe

© Dressler Verlag GmbH, Hamburg 2014

Alle Rechte vorbehalten

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Cover- und Innenillustrationen: Edda Skibbe

E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde 2014

ISBN 978-3-86272-777-3

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1

 

Aus der Kirche drang leise Orgelmusik, der Kies unter den Rädern des Kinderwagens knirschte und Lillis kleine Schwester quengelte. Lilli klappte das Verdeck zurück und steckte ihr den Schnuller in den Mund. Hoch über ihnen schlug die Turmuhr Viertel vor elf. Auf Zehenspitzen schaute Lilli über die Mauer des Kirchhofs zurück zum Parkplatz, wo ihre Eltern noch immer am Auto standen. Lillis Vater reichte Luisa das Stammbuch der Familie aus dem Handschuhfach und holte das Blumengesteck aus dem Kofferraum. Luisa hielt in der einen Hand die Taufkerze und mit der anderen zupfte sie an Stefans Anzug herum.

Lilli ließ ihren Blick über die parkenden Autos wandern, konnte aber nirgends ein Motorrad entdecken.

Als bekäme er keine Luft mehr, lockerte Stefan seine Krawatte. »Schläft unser Schnuckelchen endlich?«, rief er.

Lilli musste nicht antworten, denn das Schnuckelchen hatte soeben den Schnuller aus dem Kinderwagen gespuckt, nun bäumte es sich auf und quäkte wild drauflos.

Luisa und Stefan beschleunigten ihre Schritte.

»Hunger kann sie jedenfalls nicht mehr haben.« Luisa schlug die Babydecke beiseite. »Ich hab dich doch im Auto eben erst gestillt, mein Engelchen.«

»Hoffentlich schreit sie nicht die ganze Feier über!« Lillis Vater bückte sich nach dem Schnuller.

Luisa hob ihre auf den Tag genau drei Monate alte Tochter aus dem Kinderwagen, legte sie sich über die Schulter, strich das weiße Taufkleidchen glatt und klopfte ihr auf den Rücken. »Hörst du die Orgel? Hm, hörst du das, meine Kleine, wie schön die Frau Homolka spielt? Extra für dich!«

Das Baby rülpste und verstummte, als wäre es selbst erstaunt über die befreiende Wirkung.

Mit triumphierendem Lächeln legte Luisa die Kleine, die jetzt friedlich an ihrer Unterlippe saugte, zurück in den Kinderwagen und schob ihn hinter Lilli und Stefan her in die kühle Kirche.

Das Sonnenlicht schien durch die bunten Fenster und verteilte Farbtupfer auf die bereits versammelten Gäste. Viele Köpfe drehten sich nach den Hollers um und lächelten. Lilli blieb beim Kinderwagen stehen, während ihre Eltern alle Verwandten, Freunde und Bekannten mit Handschlag begrüßten. Bobs Vater Jens umarmte erst seine Schwester Luisa und dann Stefan. Genauso machte es auch Bobs Mutter Anna. Nonna Paola saß zwischen ihren Enkeln Giulia und Siegi gleich in der ersten Reihe. In einer der hinteren Kirchenbänke tuschelten Verys Eltern mit Henriette Roland, der Mutter von Ole und Little. Herr und Frau Röhrich, Lillis Nachbarn, hatten etwas abseits im Seitenschiff Platz genommen. In einer anderen Bank saßen die Lehrerkollegen von Luisa. Frau Schley war da, Herr Buse und etliche Referendare. Frau Homolka stellte ihr Orgelspiel kurz ein und winkte von der Empore.

Opa Ferdinand kämmte sich noch rasch die schlohweißen Haare und Giulias Freund Justin wedelte scherzhaft mit seiner Krawatte. Alle waren gekommen, nur nach Nadja hielt Lilli vergeblich Ausschau. Grüßend lächelte sie in all die freundlichen Gesichter und versuchte gleichzeitig, ihre Enttäuschung wegzudrücken. Nadja war Lillis leibliche Mutter, hatte sich aber schon kurz nach Lillis Geburt von Stefan getrennt. Erst elf Jahre später hatte Lilli ihre Mutter kennengelernt. Bei der Hochzeit von Lillis Eltern war Nadja sogar Trauzeugin gewesen und seither gehörte sie wieder zur Familie. Trotzdem würde sie für Lilli nie mehr eine richtige Mutter werden, dafür hatte sie ihre Tochter viel zu lange im Stich gelassen. Genau wie auch heute wieder.

Als Tänzerin war Nadja viel im Ausland unterwegs, und wenn sie gerade kein Engagement an irgendeinem Theater hatte, bereiste sie mit ihrem Motorrad die halbe Welt. Aber bei ihrem letzten Telefonat hatte sie Lilli fest versprochen, zur Tauffeier zu kommen. Fehlanzeige. Lilli wollte schon fast ins Grübeln geraten, da traten Bob, Very und Enya durch das Seitenportal in die Kirche. Alle drei steckten in festlichen Sommerkleidern. Enyas schwarze Haare waren zu einem kunstvollen Kranz geflochten, Bob hielt ein Blumensträußchen in den Händen und um Verys Schultern lag ein golden schillerndes Seidentuch. Wie Lilli trugen auch die anderen Wilden Küken ihre Hühnerfeder an einem Lederband um den Hals. Obwohl Lilli, Bob, Very und Enya schon so viel gemeinsam erlebt hatten, erfüllte Lilli der Gedanke daran, dass sie vier nicht nur die besten Freundinnen, sondern auch eine Bande waren, noch immer mit so viel Stolz und Glück, dass sie davon einen Kloß im Hals bekam.

»Passwort?«, fragte Enya.

Lilli vergaß den Kloß in ihrem Hals und schaute ihre Freundinnen verblüfft an. Erstens machten sich die Wilden Küken normalerweise immer lustig über Lillis Passwörter und zweitens hatten sie bei ihrem gestrigen Bandentreffen gar keins vereinbart.

»Passwort Kükentaufe!«, sagten Bob, Very und Enya gleichzeitig und lachten ihrem Oberküken ins verdutzte Gesicht. Alle drei gingen neben dem Kinderwagen in die Hocke und wurden auf einmal ganz ernst. Very kramte ein Babyarmkettchen aus ihrer Tasche und legte es Lillis Schwester ums Handgelenk. »Alles Gute zur Taufe, Miniküken!«

An dem Kettchen baumelte eine winzige Feder aus Silber.

Vor lauter Rührung wusste Lilli gar nicht, was sie sagen sollte, also sprach sie einfach das Bandenmotto der Wilden Küken mit, das ihre Freundinnen jetzt verschwörerisch murmelten: »Keine alleine, alle oder keine!«

Nacheinander strichen Bob, Very und Enya dem neugierig dreinblickenden Baby über die Wange.

»Du hast die süßeste kleine Schwester der Welt!«, flüsterte Enya.

»Senza dubbio!«, hauchte Bob. »Ganz ohne Zweifel!« Bobs Mutter und ihre Oma stammten aus Italien, und auch wenn Bob die Sprache nicht wirklich beherrschte, rutschten ihr doch manchmal ein paar italienische Brocken heraus. Sie steckte ihr Blumensträußchen ans Verdeck des Kinderwagens und das Baby dankte es ihr mit einem kieksenden Lacher.

»Ich will auch so eine niedliche kleine Schwester!«, bettelte Very gespielt.

Alle vier Wilden Küken betrachteten das Miniküken, machten »Ah!« und »Oh!«, riefen »Wie süß!« und »Seht nur, wie entzückend sie schaut!«. Sie wären garantiert restlos dahingeschmolzen, wenn die süßeste kleine Schwester der Welt nicht im nächsten Augenblick wieder zu schreien angefangen hätte.

»Ihr Bäuerchen hat sie gemacht«, sagte Luisa. »Wahrscheinlich ist sie einfach nur müde.«

»Vielleicht schläft sie ein, wenn wir sie ein bisschen spazieren fahren!«, schlug Lilli vor.

Luisa überlegte kurz und nickte dann. »Es verzögert sich sowieso alles. Kaplan Hoffmann hat vorhin eine SMS geschickt, dass er seinen Anschlusszug nicht mehr erwischt hat.«

Kaplan Hoffmann war ein alter Schulfreund von Lillis Vater und hatte ihn und Luisa auch getraut. Und heute sollte er auf beider Wunsch hin auch ihr Töchterchen taufen.

Very und Enya hielten das Seitenportal auf, Lilli kippte den Kinderwagen leicht an und schob ihn über die marmorne Schwelle. »Vielleicht hat sie Blähungen«, sagte Bob und folgte ihren Freundinnen. Durch ihren Bruder Siegi hatte Bob die meiste Erfahrung mit kleinen Geschwistern.

»Blähungen, igitt!« Very rümpfte ihre spitze Nase. »Wie kann man so niedlich aussehen und Blähungen haben?«

Die Wilden Küken schoben den Kinderwagen am Seitenschiff entlang in den Schatten der Kirche. In den Hecken zwischen den Grabreihen zwitscherte eine Schar Spatzen, aber als sich die Mädchen mit Lillis greinender Babyschwester näherten, nahmen die Vögel Reißaus. Alle vier Freundinnen schuckelten den Kinderwagen. Sie konnten noch so nachdrücklich Schlaf, Kindlein, schlaf! singen, das Miniküken verstummte nur, um Atem zu holen und umso verzweifelter weiterzuplärren.

»Was macht ihr denn da?«, fragte plötzlich eine bekannte Stimme. »Wollt ihr, dass Lillis Schwester seekrank wird?«

Sofort hielten die Wilden Küken mit Schuckeln und Singen und Pschten inne und wandten die Köpfe. Sogar das Baby unterbrach sein Schreien für einen Augenblick.

Fast hätte Lilli die Grottenolme nicht erkannt. Ole, Little, Mitch und Erik trugen helle Sakkos und dunklen Hosen. Jeder der Jungs hatte ein weißes Hemd an und eine Krawatte umgebunden. Und auf ihren Nasen thronten verspiegelte Sonnenbrillen. Supercool schlenderten die Olme wie vier Minimafiosi auf die Mädchen zu.

Sie bauten sich der Reihe nach auf, neigten nacheinander die Köpfe und lugten über die Ränder ihrer Sonnenbrillen.

»Hi, Oberküken!«, sagte Ole mit tiefer Stimme.

»Hi, Olmboss!«, antwortete Lilli möglichst lässig. In Wahrheit hüpfte ihr Herz vor Freude darüber, dass Ole und seine Jungs zur Taufe ihrer kleinen Schwester erschienen waren. Auch wenn die schon wieder anfing zu schreien.

Erik nahm die Brille ab und wies mit dem Bügel auf Enyas Beine. »Hübsche Socken!«

»Selbst gehäkelt!« Enya machte erst einen gekünstelten Knicks, dann gab sie Erik einen Schubs.

Enya konnte so gut nähen, stricken und häkeln, dass sie später sicher mal eine tolle Modeschöpferin abgeben würde. Aber Enya wollte lieber Tierärztin werden und behauptete, da sie da eines Tages auch Wunden nähen müsse, seien filigrane Handarbeiten auch für diesen Beruf eine gute Vorbereitung.

Wie ein Wissenschaftler beugte Little sich über den Kinderwagen und betrachtete Lillis weinende Schwester, als wäre sie ein besonders interessantes Forschungsobjekt, während Mitch rasch ein Gänseblümchen pflückte und es Very mit übertriebener Verbeugung überreichte.

Very quittierte das mit einem abgeklärten Lächeln und zeigte mit spitzem Finger auf Mitchs Krawatte. »Ist das Blut oder Ketchup, du Ober-Gangster?«

Mitch hielt sich das Krawattenende an den Mund und schleckte den roten Klecks weg. »Ach das … ist nur süßsaure Soße vom Asia-Imbiss.«

»Ferkel!« Angeekelt rümpfte Very die Nase, steckte sich aber das Gänseblümchen an ihr Sommerkleid.

Genau wie die Wilden Küken waren auch die Grottenolme eine Bande. Olme nannten sich Ole, Little, Mitch und Erik, weil sich das Wort aus den Anfangsbuchstaben ihrer Vornamen ergab. Und Grottenolme, weil ihr Bandenquartier eine kleine Höhle war, an die sie eine Hütte angebaut hatten, die sogenannte Grottenolmgrotte.

Ole und Little waren Zwillingsbrüder aber trotz ihrer oberflächlichen Ähnlichkeit grundverschieden. Little hieß eigentlich Linus. Obwohl er sogar ein bisschen größer war als Ole, nannten ihn alle nur Little. Manche sagten auch Professor Little, weil er ein wandelndes Lexikon war. Zum Glück war Ole kein solcher Alleswisser.

Mitch war seit jeher der beste Freund der Zwillinge und Erik war, wie Enya zu den Küken, etwas später zur Olm-Bande gestoßen.

Ratlos standen die acht Mädchen und Jungs um den Kinderwagen, in dem Lillis Schwesterchen noch immer brüllte. Mittendrin holte das Baby tief Luft, schloss fest die Augen und presste. Presste, bis ein lautes Geräusch durch ihre Windel hindurch aus dem Kinderwagen drang.

»Verstärkte Entwicklung von Gasen …« Little räusperte sich, wie er es immer tat, bevor er einen seiner klugen Vorträge hielt. »Sitzen die Darmgase fest, kann es zu schmerzhaften Krämpfen kommen.«

»Da sitzt nix mehr fest!« Mitch zeigte mit einer Hand auf Lillis Babyschwester, die jetzt selig lächelte, mit der anderen hielt er sich die Nase zu.

»Das rektale Entweichen von Darmgasen bezeichnet man als Flatulenzen!«, fuhr Little sachlich fort. »Zu Deutsch Leibwinde!«

»Das waren nicht nur Winde!« Enya hob die Babydecke hoch.

»Oh, nein!« Verzweifelt fasste Lilli in das leere Fach des Kinderwagens. »Ich hab vergessen, die Wickeltasche einzupacken. Dabei hatte Luisa mich beim Frühstück noch dran erinnert!« Lilli schlug sich mit der Hand an die Stirn. »So ein Mist aber auch!«

»Das kannst du laut sagen!« Very hielt sich jetzt genau wie Mitch die Nase zu. »Dein Schwesterchen läuft aus!«

Alle Küken und Olme starrten auf die etwas zu locker sitzende Windel. Hoch über ihnen schlug die Turmuhr elf, eigentlich sollte jetzt die Tauffeier beginnen.

»Mamma mia!« Bob fing sich als Erste wieder. »Wir sollten sie wickeln, bevor ihr Taufkleid versaut wird.«

»Wir müssen improvisieren!« Rasch bugsierte Lilli den Kinderwagen zu einer an der Kirchhofmauer aufgestellten Bank, auf der sie die rosarote Babydecke ausbreitete. Dann hob sie ihre Schwester aus dem Wagen und legte sie darauf.

»Wir halten Wache!«, entschied Ole und schob seine Gangsterbrille zurecht.

»Wieso Wache halten?«, fragte Enya verwirrt.

»Sie ekeln sich bloß vor …« Very redete nicht weiter, weil sie sich kurz die Hand vor den Mund halten musste. »Ich halte auch lieber Wache!«

Wie Fußballer, die eine Mauer vor dem Tor bilden, stellten Very und die Jungs sich mit dem Rücken zur Bank auf, während Lilli die Klebestreifen der Windel löste.

»Noch so klein und schon so stinkig!«, sagte Bob.

»Hat jemand Papiertaschentücher?«, fragte Lilli.

Ohne den Kopf zu wenden, reichte Very ein Päckchen aus ihrem Umhängetäschchen an Enya weiter.

Nicht weit von der Bank hingen etliche Gießkannen links und rechts neben einem Wasserhahn, der aus der Kirchhofmauer ragte. Enya fummelte ein paar Tücher aus der Packung, befeuchtete sie am Wasserhahn und reichte sie Lilli, die ihre Schwester damit sauber machte. Schließlich stopfte Lilli die benutzten Tücher in die dreckige Windel, rollte sie ein und verschloss sie mit den Klebestreifen zu einem prallen Bündel. »Fertig!«

»Wir können sie doch nicht mit nacktem Po in die Kirche mitnehmen!«, sagte Bob.

Das Baby auf der rosaroten Decke strampelte lustig mit den Beinchen und quietschte vor Vergnügen.

Bob hatte recht, erstens gehörte sich das nicht und zweitens: Was, wenn ihr Schwesterchen während der Tauffeier noch mal musste?

»Tut mir leid, Very!« Mit einer raschen Bewegung zog Lilli Very das goldfarbene Tuch von den Schultern.

»Spinnt ihr, das ist echte Seide!«, beschwerte sich Very und wies auf die ärmellose Weste, die Bob über ihrem geblümten Kleid trug. »Wieso nehmen wir nicht die?«

»Weil das hier besser zum Taufkleid passt!« Lilli breitete das Tuch aus, faltete alle noch vorhandenen Papiertaschentücher auseinander und wickelte ihre Schwester in diese provisorische Windel.

Bob nahm das Baby hoch und legte es zurück in den Wagen. Zufrieden steckte Lillis Schwesterchen den Daumen in den Mund und nuckelte daran.

Jetzt wagten es auch die Wachmänner, sich wieder umzudrehen. Lilli wollte sich, wie Enya und Bob es bereits taten, die Hände am Wasserhahn waschen. Vorher drückte sie aber noch Erik, der am nächsten bei ihr stand, die volle Windel in die Hand. »Entsorgst du das mal, da …« Dahinten ist ein Abfallkorb, wollte Lilli sagen, kam aber nicht dazu, weil Erik die Windel – kaum, dass er sie berührt hatte – mit einem Aufschrei zu Ole warf. Sie prallte an Oles Brust ab und sauste nach unten, automatisch kickte Ole sie mit der Fußspitze wieder in die Luft. »Mitch, nimm du sie!«

Das Windelpaket flog in die Höhe, verharrte für den Bruchteil einer Sekunde, machte kehrt und sauste auf Mitch zu. Der griff sich eine der Gießkannen, holte aus und wehrte die Windel damit ab. Es gab ein dumpfes Geräusch, und das Geschoss trudelte in hohem Bogen auf das kleine Seitentor in der Mauer zu, durch das sich soeben im Laufschritt eine Person näherte. Kaplan Hoffmann.

»Auf dem Kirchhof wird nicht Ball gespielt!«, rief er empört, sprang und fing den vermeintlichen Ball aus der Luft.

Eine Sekunde lang starrte er auf die Windel. »Bäh …« Er warf sie mehrere Meter weit und versenkte sie im Abfallkorb.

»Treffer, versenkt!«, rief Ole und applaudierte.

Kaplan Hoffmann verbeugte sich und da applaudierten auch die anderen Bandenkids.

»Lilli!« Erst jetzt erkannte der Kaplan sie und begrüßte sie. »Und hier ist ja auch der Täufling!« Er nahm das Baby auf den Arm und trug es Richtung Kirche. Lilli, Bob, Very und Enya folgten ihm mit dem Kinderwagen.

»Auf geht’s zur Taufe Nummer eins!«, sagte Ole, zwinkerte den anderen Jungs zu und setzte sich ebenfalls in Bewegung.

 

In der Kirche gab es erst ein großes Hallo und dann wurde es richtig feierlich.

Egal ob Kaplan Hoffmann Gebete sprach oder Frau Homolka die Orgel spielte, Lillis kleine Schwester lächelte die ganze Zeit selig und sah dabei in ihrem Taufkleidchen und der goldenen Windel wirklich wie ein Engel aus.

Gerade als sich alle um das Taufbecken versammelten, ging das Hauptportal auf und eine Frau in Motorradkleidung und mit Helm in der Hand betrat die Kirche. Kaplan Hoffmann wartete geduldig, bis Nadja sich hinter Lilli gestellt hatte.

Bobs Mutter war die Taufpatin von Lillis kleiner Schwester. Sie hielt das Baby über das Taufbecken. Lilli, Luisa und Stefan nahmen sich an der Hand und Nadja berührte Lillis Schulter. Die ganze Familie war versammelt, alles war, wie es sein sollte. Und als Kaplan Hoffmann schließlich die Taufformel sprach: »Ich taufe dich auf den Namen Marie!«, da krähte die kleine Marie so zufrieden, als hätte auch sie sich ihre Taufe ganz genau so und kein bisschen anders gewünscht.

2

 

Nach der Feier in der Kirche versammelte sich die ganze Taufgesellschaft bei Kaffee und Kuchen im Garten der Hollers. Schon in aller Frühe hatten Lilli und ihr Vater Bierbänke, Tische und Sonnenschirme aufgestellt, und Luisa hatte weiße Tischdecken und Servietten gebügelt.

Die Erwachsenen tranken Kaffee, redeten und zeigten sich gegenseitig auf den Displays ihrer Kameras die Fotos, die sie während der Feierlichkeiten geknipst hatten. Kaplan Hoffmann zog neben dem aufgerollten grünen Gartenschlauch Schuhe und Socken aus, krempelte die Hosenbeine hoch und verpasste seinen bleichen Füßen eine kalte Dusche. Lillis Vater gab Nonna Paola den Tipp, dass der Kaplan in seiner Heimatpfarrei neuerdings einen Italienischkurs besuchen würde. Sofort sprach die Nonna den Kaplan in ihre Muttersprache an, hakte sich bei ihm unter und flanierte mit dem barfüßigen Priester durch den Garten.

Die kleine Marie steckte inzwischen längst in einer frischen Windel und Verys goldenes Seidentuch drehte seine Runden im Schonprogramm der Waschmaschine. Da Sneaker, Lillis Hund, nicht mit in die Kirche gedurft hatte und er auch jetzt nicht im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses stand, spielte er den Eingeschnappten. Mit dem Kopf auf den Vorderpfoten lag er zwischen Schreinerwerkstatt und Holzlager und beobachtete das fröhliche Treiben mit vorwurfsvollen Blicken, bis Ole endlich durch die Zähne pfiff und ihn zu sich rief. Erst ließ er sich vom Boss der Grottenolmbande durchs Fell kraulen und dann machte er es sich im Schatten der Tannen auf der Picknickdecke bequem und bewachte Marie. Dabei brauchte Marie eigentlich gar keinen Aufpasser, weil sich ohnehin schon acht Babysitter um sie kümmerten. Die Wilden Küken und die Grottenolme hatten um die Picknickdecke herum Isomatten verteilt und hielten Marie reihum im Arm.

So in sich versunken, als wäre er selbst noch ein Kleinkind, untersuchte Little Maries plüschiges Qietschküken. Er drückte mehrmals drauf und machte dabei sein Wissenschaftlergesicht. »Das Plüschtier erzeugt beim Drücken ein quietschendes Geräusch und regt damit den Hör-, Seh- und Tastsinn an!« Erneut führte er die Wirkung vor.

Alle starrten ihn eine Sekunde lang an, als wäre er von einem anderen Planeten, und brachen dann wie auf Kommando gleichzeitig in lautes Gelächter aus. Neugierig drehte Marie den Kopf hin und her und fing ebenfalls laut zu lachen an.

»Fast vier Wochen zu früh«, konstatierte Little und hob verwundert die Augenbrauen. »Statistisch lachen Babys erst mit vier Monaten!«

Ole rempelte seinen Bruder an. »Statistisch bist du hier der Einzige, der mit Babysachen spielt!«

»Ist das aus echtem Silber?« Mitch rückte näher an Marie heran und verglich sein ledernes Armband mit ihrem neuen Armkettchen.

Die Wilden Küken nickten.

Wie die Mädchen ihre Hühnerfedern, trugen auch die Grottenolme ein Bandenzeichen: ein Lederarmband mit einem eingeprägten Olm. Vorsichtig berührte Mitch die silberne Feder an dem Babykettchen. »Schon klar, Marie ist natürlich ein Wildes Küken, aber ein bisschen ist sie auch ein Grottenolm

Sofort protestierte Enya. »Marie ist vielleicht ein süßer Wurm, ein schnuckliges Fröschchen oder eine niedlich Krabbe, aber garantiert kein grottiger Olm!«

»Aber sie trägt ein Armband«, beharrte Mitch, »wie wir, also ist sie auch unser Bandenkind!«

Da richtete Very sich plötzlich auf und gab ihm überraschend einen Kuss. Es war kein Liebeskuss, dafür machte Very ein zu übertriebenes Kussgeräusch, und der Kuss traf auch nicht seinen Mund, sondern nur Mitchs Wange, aber er strahlte wie ein Honigkuchenpferd.

»Na, besten Dank!«, frotzelte Ole und zeigte auf Mitchs Wange. »Jetzt wäscht er sich wieder wochenlang nicht!« Er lachte Lilli an und seine Augen strahlten so tiefblau, dass Lilli davon Herzklopfen bekam. Verlegen wich sie Oles Blick aus und entdeckte Herrn Röhrich, der genau zwischen zwei Sonnenschirmen in der prallen Sonne saß. Der Erdbeerkuchen auf seinem Teller und sein knallrotes Gesicht leuchteten um die Wette. Herr Röhrich trug ein Toupet, unter dem er ganz offensichtlich extrem schwitzte. Kaum dass ihm seine Frau mit ihrer Serviette die Stirn abgetupft hatte, perlten schon wieder neue Schweißtropfen unter seiner Perücke hervor.

Luisa, die den Röhrichs gegenübersaß, winkte Lilli zu sich. »Kommst du mal mit Marie?«

Lilli nahm Marie auf den Arm und lief hin. Wie es sich für einen Babywachhund gehörte, begleitete Sneaker sie. Als Herr Röhrich den Vierbeiner erblickte, rückte er sofort mit seinem Stuhl etwas weiter hinter seine Frau.

»Lauf zu Ole, Sneaker!«, befahl Lilli ihrem Hund.

Sneaker knurrte und trollte sich, sehr zu Herrn Röhrichs Erleichterung.

»Da hast du wirklich eine süße Halbschwester!« Frau Röhrich schenkte Lilli ein zuckersüßes Lächeln.

Das musste die Nachbarin natürlich wieder loswerden, dass Luisa nicht Lillis leibliche Mutter war. Aber Lilli beschloss, sich nicht auf die Palme bringen zu lassen, und lächelte genauso zuckersüß zurück.

Herr Röhrich beugte sich indessen nach vorne und schnitt vor Maries Gesicht Grimassen. »Duziduziduzi, Schnuckiputzi, eieiei, wen haben wir denn da, Mausimausi …«

Herr Röhrich hätte wohl noch eine Weile so weitergemacht, wenn Maries durch die Luft rudernde Hand nicht genau in diesem Moment seine Haare erwischt und sie ihm vom Kopf gezogen hätte.

Im Gegensatz zu seinem geröteten Gesicht, das einen immer tieferen Farbton anzunehmen schien, erstrahlte sein kahler Schädel käseweiß im grellen Sonnenlicht.

Marie wedelte mit dem haarigen Bündel durch die Luft, Frau Röhrich presste vor Schreck die Hand auf ihren Mund, und die ganze Festgesellschaft hielt den Atem an.

»Was soll’s!« Herr Röhrich sprang auf und klopfte mit der Kuchengabel an seine Tasse, als wollte er eine Rede halten. Was er dann sagte, war aber nur: »Weiß ja sowieso jeder, dass ich …« Anstatt den Satz zu vollenden, polierte er sich mit der Hand über die schweißglänzende Glatze. »Die Kleine hat recht, wer braucht bei der Hitze schon eine Zweitfrisur?«

Und als hätte sie jedes Wort verstanden, ließ Marie die Zweitfrisur los.

Frau Röhrich fing die Haare geschickt auf. »Dann entsorgen wir das Ding jetzt?«

Herr Röhrich nickte entschlossen. »Und zwar ein für alle Mal!«

»Na endlich!« Frau Röhrich ließ das Toupet in ihrer Handtasche verschwinden und seufzte so erlöst, dass Lilli ihr nicht mehr im Geringsten böse sein konnte.

Als hätte nur kurz die Zeit stillgestanden, klapperten alle wieder mit ihren Tellern und Tassen.

Lilli blickte sich um und entdeckte Nadja, die mit Stefan etwas abseits der anderen Gäste neben ihrem Motorrad stand.

Das Oberküken gab Marie an Bob weiter und schnappte sich einen Minimuffin. Kauend schlenderte sie näher hin. Ihren Vater mit ihrer richtigen Mutter zusammen zu sehen, war ein ungewohnter Anblick. Ohne dass die beiden Lilli bemerkten, betraten sie Stefans Schreinerei.

»Es ist noch genau wie damals«, hörte Lilli Nadjas Stimme durch die offen stehende Werkstatttür.

»Quatsch!«, widersprach ihr Lillis Vater. »Die Hobelmaschine ist neu und die kleine Furnierpresse! Und die alte Kreissäge hat längst ihren Geist aufgeben.« Er stellte sich neben Nadja und kratzte sich am Hinterkopf. »Eigentlich ist nur noch die Standbohrmaschine die gleiche. Unverwüstlich, das Ding.«

Lilli trat ans Werkstattfenster, das nur angelehnt war, und spähte durch den Spalt ins Innere.

»Ich meine nicht die Maschinen.« Nadja legte den Kopf in den Nacken und sog die Luft ein. »Immer wenn ich irgendwo auf der Welt Holzspäne und Sägemehl rieche … muss ich an dich denken. An dich und an Lilli!«

Lilli stand reglos vor dem Fenster.

»Alles Gute, übrigens!« Nadja umarmte Stefan so fest, dass sein Kopf ganz unter ihren dichten Locken verschwand. Lilli wandte den Blick ab und betrachtete ihr Spiegelbild in der staubigen Fensterscheibe. Sie hatte die gleichen hellbraunen Locken wie Nadja und auch die grünen Augen ihrer Mutter.

»Du und Lilli und Luisa und Marie … ihr habt das toll hingekriegt …«, sagte Nadja und unterbrach sich. Sie hatte vor dem Fenster Lilli entdeckt und eilte jetzt aus der Werkstatt heraus auf sie zu. »Hey, Lilli … wir haben uns ja noch gar nicht richtig begrüßt in dem ganzen Trubel, komm mal her, meine Kleine.«

»Eigentlich bin ich jetzt ja die Große«, sagte Lilli und ließ sich von Nadja hochheben. Lilli verbarg das Gesicht an Nadjas Schulter und atmete ihren Geruch ein. Sie löste sich aus der Umarmung. »Papa riecht nach Holz und du nach grünen Haselnüssen!« Lilli lachte. »Und Marie nach Babyöl!«

»Und Luisa?«, fragte Nadja.

»Die riecht nach ihrem Parfüm und ein bisschen nach Schule!«, antwortete Lilli.

»Und nach Glück!«, ergänzte Lillis Vater leise.

»Wer ist das denn?« Erstaunt machte Lilli ein paar Schritte Richtung Einfahrt. Durch das offen stehende Schiebetor mit der Aufschrift Schreinerei Stefan Holler schob sich ein orangefarbener Geländewagen.

»Jan!«, rief Nadja überrascht und straffte den Rücken.

Aus dem Auto stieg ein großer, schlanker Mann mit grauen Schläfen. »Nadja, Liebes …« Die Art, wie der Mann seine Sonnenbrille abnahm und Nadja aus seinen dunkelbraunen Augen anstrahlte, erinnerte Lilli an eine Filmszene.

Verwundert hob Nadja die Hände. »Jan, ich dachte, wir sehen uns erst heute Abend im Hotel.«

Unwillkürlich huschte durch Lillis Kopf der ärgerliche Gedanke, dass sie ihr Zimmer umsonst aufgeräumt hatte.

Leichtfüßig tänzelte Nadja zu diesem Jan, schmiegte sich an ihn und schob ihre Arme unter sein helles Sakko.

Wie zwei vergessene Utensilien standen Lilli und ihr Vater vor der Werkstatt und sahen zu, wie Nadja und Jan sich küssten. So leidenschaftlich und lange, dass inzwischen auch Luisa und Opa Ferdinand neugierig näher gekommen waren.

Opa Ferdinand applaudierte, als Nadja und Jan endlich voneinander abließen. »Das nenn ich mal einen Kuss!«

Nadja nahm Jan an der Hand und ihre Stimme klang auf einmal ganz fremd, so als würde sie ein offizielles Telefonat führen. »Das ist mein neuer Freund«, stellte sie ihn vor. »Er ist Kulturmanager und wir haben uns auf einem Tanzfestival in Barcelona kennengelernt!«

»Ich war in der Festivalleitung«, Jan legte den Arm um Nadja, die neben seiner hochgewachsenen Gestalt wie ein junges Mädchen wirkte, »und Nadja hat die Prinzessin Aurora in Tschaikowskys Dornröschen getanzt.«

»Vielleicht das letzte Mal«, murmelte Nadja und blickte kurz ins Leere. »Inzwischen bin ich die älteste Tänzerin in meiner Kompanie!« Sie lehnte den Kopf an Jans Brust und er drückte ihr einen Kuss auf die Locken.

Umringt von den restlichen Küken und Olmen näherte sich Bob mit Marie auf dem Arm und einem verzweifelten Lächeln im Gesicht. Marie saugte wie wild am Ohrläppchen ihrer Cousine und schmatzte dabei genüsslich.

»Ich glaub, sie hat Hunger!«, sagte Bob und alle lachten.

Nur Mitchs Aufmerksamkeit gehörte nicht dem niedlichen Baby, sondern Jans Geländewagen. »Das ist ja ein cooler Schlitten!«, murmelte er voller Bewunderung.

»Allradantrieb!« Jan zwinkerte zu Mitch und tätschelte dabei sein Auto. »Dreistufiger Turbolader, 380 PS und eine Beschleunigung von null auf hundert in fünf Komma drei Sekunden. Das Verdeck lässt sich vollautomatisch öffnen.«

Mitch grinste. »Darf ich mal fahren?«

Lachend schüttelte Jan den Kopf.

Luisa nahm Marie mit ins Haus, um sie zu stillen, während Stefan dem neuen Gast einen Platz und ein Stück Torte anbot.

»Irgendwas ist mit unserer Hotelreservierung schiefgegangen«, erzählte Jan und holte ein Smartphone raus. »Ich schau grad mal, ob ich in der Innenstadt noch was anderes für uns kriege …«

»Kommt gar nicht infrage!«, protestierte Stefan. »Ihr könnt hier übernachten. Lilli hat ihr Zimmer sowieso schon für Nadja hergerichtet!«

Lilli nickte. »Ich schlafe im Gewächshaus!« Eine Woge der Vorfreude erfasste sie bei dem Gedanken, dass Bob, Very und Enya heute hier übernachten würden. Unwillkürlich wanderte Lillis Blick zum Holunderbaum. Ein leiser Windhauch fuhr durch seine Blätter und ließ dunkelgrüne Schatten über das alte Gewächshaus tanzen, unter dessen gläsernem Dach vier Schlafsäcke darauf warteten, endlich ausgerollt zu werden.

3

 

Draußen war es längst dunkel, als Lilli in der Küche den Kühlschrank öffnete. In allen Fächern türmten sich Gefäße mit Torten- und Kuchenresten. Sie nahm das in Alufolie gewickelte Paket mit den letzten Nussecken und eine Flasche Saft heraus. Durch die offene Küchentür drangen die leisen Stimmen von Luisa und Stefan, die im oberen Stockwerk gerade als Letzte aus dem Bad kamen. Was für ein schönes Fest, dachte Lilli. Und noch immer waren Gäste im Haus. Lilli stellte sich vor, wie Opa Ferdinand oben in Luisas Arbeitszimmer auf dem Gästebett lag und schnarchte. Kaplan Hoffmann hatte sich vorhin noch ein Buch aus Luisas Regal geschnappt und erzählt, dass er ohne zu lesen nicht einschlafen könne. Also würde in Maries Zimmer noch die kleine Klemmlampe neben dem Klappbett brennen. Und in Lillis eigenem Zimmer? Da lagen jetzt Nadja und Jan aneinandergekuschelt in ihrem Bett und … Lilli stoppte ihren Gedankengang, löschte das Licht und trat durch die Terrassentür ins Freie. Mit dem Proviant in der Hand verharrte sie einen Augenblick lang und fühlte unter ihren nackten Fußsohlen die in den Terrassenplatten gespeicherte Sonnenwärme. Über die Glasscheiben des Gewächshauses huschten die Lichtkegel von drei Taschenlampen.

»Lilli!«, seufzte Enya. »Sag Bob, dass es hier keine Riesenschlangen gibt!«

»Hier gibt’s keine Riesenschlangen, Bob!« Lilli schlüpfte durch die schmale Tür und ließ sich auf ihrer Isomatte nieder. Außer der großen Bananenstaude, die in keinem Zimmer des Hauses mehr Platz hatte, gab es im Gewächshaus keine einzige Pflanze. Dafür jede Menge Krimskrams. Die Schachtel mit Stefans altem Schlauchboot, Lillis zu klein gewordenes Fahrrad, eine kaputte Stehlampe, drei giftgrüne Schwimmnudeln und eine Vielzahl von Gartengeräten.

»Und was ist das?« Bob hockte auf ihrer Isomatte und zeigte auf einen Karton mit alten Zeitungen. Im Schein von Enyas Taschenlampe erkannte Lilli das Foto einer Schlange.

Enya nahm die oberste Zeitung und las die Überschrift: »Vom Terrarium in die freie Wildbahn. Hohe Dunkelziffer ausgesetzter Reptilien. Besonders in der Urlaubszeit entledigen sich viele Menschen ihrer Haustiere, indem sie …« Der Rest der Seite war abgerissen.

In vielen Dingen war Bob die Mutigste der Bande. Zum Beispiel, wenn es darum ging, Fremde nach dem Weg zu fragen, eine unangenehme Wahrheit auszusprechen oder für eine Freundin in die Bresche zu springen – aber schon der bloße Gedanke an irgendwelche Kriechtiere oder giftige Insekten versetzte sie in Panik.

Rasch nahm Lilli Enya die Zeitung ab und warf sie mit dem Schlangenfoto nach unten zurück in die Schachtel. Dann schlüpfte sie zwischen Very und Bob in ihren Schlafsack, griff sich ihre eigene Taschenlampe und schaltete sie ebenfalls ein.

Bob betrachtete die Bananenstaude und gleichzeitig lief ihr ein Schauder über den Rücken. »Da fühlen sich Schlangen doch wie zu Hause, in so Dschungelpflanzen.«

Very kramte eine winzige Tube aus ihrem Täschchen und cremte sich das Gesicht ein. »Mitch war heute total süß! Als er das mit Marie gesagt hat, dass sie ein Bandenkind von uns allen ist. Braucht jemand Nachtcreme?«

Lilli, Bob und Enya schüttelten die Köpfe.