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Wunibald Müller

Trau deiner Seele

topos taschenbücher, Band 1030

Eine Produktion des Matthias Grünewald Verlags

Wunibald Müller

Trau deiner Seele

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Verlagsgemeinschaft topos plus
Butzon & Bercker, Kevelaer
Don Bosco, München
Echter, Würzburg
Lahn-Verlag, Kevelaer
Matthias Grünewald Verlag, Ostfildern
Paulusverlag, Freiburg (Schweiz)
Verlag Friedrich Pustet, Regensburg
Tyrolia, Innsbruck

Eine Initiative der
Verlagsgruppe engagement

www.topos-taschenbuecher.de

ISBN 978-3-8367-1030-5
E-Book (PDF): 978-3-8367-5035-6
E-Pub: 978-3-8367-6035-5

2016 Verlagsgemeinschaft topos plus, Kevelaer
Das © und die inhaltliche Verantwortung liegen beim
Matthias Grünewald Verlag, Ostfildern
Umschlagabbildung: © hajos/photocase.de
Einband- und Reihengestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart
Herstellung: Friedrich Pustet, Regensburg

Inhalt

Vorwort

Du bist liebenswert

Nimm dich an

Werde du selbst

Liebe und lasse dich lieben

Entdecke die Seele im Alltag

Höre auf deine Träume

Verdränge den Tod nicht aus deinem Leben

Bleib auf dem Boden der Wirklichkeit

Betrachte deine Krise als Chance

Tu deinem Leib Gutes

Lass dich von Gott finden

Werde wie ein Kind

Vertraue

Lebe aus deinem Bauch und Herzen heraus

Höre auf das Dunkle und Schwere

Lebe im Hier und Jetzt

Entdecke die leise Freude

Lebe im Jetzt und in der Ewigkeit

Lasse los

Sei unvollkommen

Fürchte dich nicht

»Duende« – Lebe dein Leben ganz

Epilog

Weiterführende Literatur mit Quellennachweis

Vorwort

Unser tieferes, wahres Selbst kann, so C. G. Jung, uns Menschen wie ein Du gegenübertreten. Es begleitet uns ein Leben lang, »wie man früher glaubte, dass ein Schutzengel uns durchs Leben begleitet« (Riedel 2000, 11f). Dieses tiefere, wahre Selbst in uns ist für mich unsere Seele. Sie begleitet uns wie ein Engel und will, dass wir uns immer mehr »auf das hin entwickeln, was durch unser innerstes Wesen in uns angelegt ist« (ebd.).

Zu wissen und schließlich daran zu glauben, dass ich in der Seele eine Begleiterin habe, die weit mehr, als es mein bewusstes Ich vermag, um mich weiß, und die will, dass ich das mir zugedachte Leben wirklich lebe, ist für mich eine wichtige Entdeckung in meinem Leben. Es bedurfte einiger Zeit, bis ich diesem Engel in mir, meiner Seele, trauen konnte. Auch jetzt gibt es Situationen und Momente, in denen mir das schwerfällt. Doch im Letzten traue ich diesem Engel in mir, verlasse ich mich auf ihn.

Ich durfte erfahren, dass ich nicht enttäuscht werde, wenn ich mich meiner Seele überlasse. Sie macht es mir nicht unbedingt leichter im Leben, manchmal sogar schwerer. Sie erspart mir auch nicht Enttäuschungen und andere leidvolle Erfahrungen. Doch ich kann mich bedingungslos auf sie verlassen, auch dann – und vielleicht vor allem dann –, wenn ich glaube, mit meiner Weisheit am Ende zu sein. Spätestens dann übernimmt sie die Führung in meinem Leben, wenn ich sie ihr überlasse, ich mich ganz ihr überlasse.

Die folgenden Anregungen wollen Mut machen, der Seele in deinem Leben die Führung zu überlassen. Sie ist dein Schutzengel, der um dich weiß und um dich besorgt ist. In ihm begegnest du deinem tieferen Du, das dich ein Leben lang begleitet, um in der Begegnung mit dir selbst, in der Begegnung mit deinen Mitmenschen und schließlich in der Begegnung mit Gott, dein Leben zu beseelen.

Seit der Erstveröffentlichung dieses Buches habe ich immer wieder Rückmeldungen von Leserinnen und Lesern erhalten, deren Leben, wie sie mir berichteten, von der Lektüre bereichert worden ist. Auch ich bin in diesen Jahren immer wieder darin bestärkt worden, dass ich bei allem, was ich in meinem Alltag entscheiden muss, gut beraten bin, wenn ich mich vertrauensvoll meiner Seele, dem Größeren, überlasse.

Das wünsche ich auch meinen Leserinnen und Lesern: dass es ihnen gelingt, sich vertrauensvoll ihrer Seele zu überlassen.

Wunibald Müller

Du bist liebenswert

Ich finde eine ungeheuere Freude darüber; ein Mensch zu sein, einer Gattung von Lebewesen anzugehören, in der Gott selbst Fleisch geworden ist. Zwar könnten mich die Schmerzen und Absurditäten, denen wir Menschen ausgesetzt sind, überwältigen, aber jetzt erkenne ich deut­ lich, was wir in Wirklichkeit alle sind: könnte doch nur jeder das erkennen! Aber man kann es nicht erklären. Es gibt einfach keine Möglichkeit, den Menschen zu sagen, dass sie alle wie strahlende Sonnen durch die Welt laufen.
THOMAS MERTON

Virginia Satir muss eine großartige Psychologin und Therapeutin gewesen sein. Als ich in den USA studierte, hörte ich sehr bald von ihr, und einmal war ich nahe daran, an einem Workshop von ihr teilzunehmen. Doch irgendwie klappte es nicht. So ist es ein Video über sie, und es sind ihre Bücher, die den großartigen Eindruck von ihr bei mir hinterlassen.

Ich erinnere mich jetzt noch sehr lebendig an die Zeit, als ich ihr Buch Peoplemaking las. Ich hatte das Buch auf einen Wochenendausflug mitgenommen, den ich zusammen mit Studenten im Yosemite-Park in Kalifornien verbrachte. Da ich meinen Fuß verstaucht hatte, konnte ich nicht mit den anderen wandern gehen. Ich besann mich auf meine Lektüre und begann zu lesen. Ich habe seitdem kein Buch gelesen, das mich so direkt und persönlich ansprach wie Virginia Satirs Peoplemaking. Ich sehe mich noch heute, wie ich dasitze, das Buch zugeklappt neben mir, fassungslos, staunend und betroffen zugleich. Ich hatte in diesem Buch Virginia Satirs Überlegungen über das Selbstwertgefühl gelesen, und mir fiel es wie Schuppen von den Augen: Was mich im Augenblick bewegte und Anlass zu viel Not und Problemen war, wurde auf dem Hintergrund ihrer Darlegungen zum Selbstwertgefühl für mich zum ersten Mal verständlich. Seitdem hat mich dieses Thema nicht mehr in Ruhe gelassen, und ich habe die Erfahrung gemacht, dass viele Nöte und Probleme der Menschen, die meine Hilfe suchen, in einem Zusammenhang mit ihrem Selbstwertgefühl zu sehen sind.

Virginia Satir vergleicht ein gesundes Selbstwertgefühl mit einem vollen Pott, im Unterschied zu einem geringen Selbstwertgefühl, für das sie das Bild des leeren Gefäßes gebraucht. Unser Selbstwertgefühl ist dabei ihrer Ansicht nach einem Fundament, einem Angelpunkt oder Eckstein in uns vergleichbar. Von der Beschaffenheit dieses Fundamentes hängt es ab, wie wir durch das Leben gehen, wie wir in Beziehung zu uns selbst, zu anderen, zu Gott treten.

Habe ich ein geringes Selbstwertgefühl, dann erachte ich mich selbst für wertlos und nicht liebenswert. Ich habe dann von mir selbst eine geringe Meinung bis dahin, dass ich mich verachte. Ich vermag nicht wirklich »Ja« zu mir zu sagen, mich anzunehmen. Weil ich mich aber für gering und wertlos erachte, getraue ich mich auch nicht, auf meine Mitmenschen zuzugehen, mich ihnen zuzumuten. Ich sterbe z. B. fast vor Sehnsucht nach der Frau, die ich liebe, wage es aber nicht, ihr meine Liebe zu gestehen. Ich schleiche mich an den Menschen vorbei, verdrücke mich in eine Ecke, statt mich vor sie hinzustellen oder in die Mitte zu treten. Ich halte mich, meine Gedanken, meine Wünsche, mein Wissen, meine Talente zurück. Auch Gott gegenüber sehe ich mich nur als den armen Sünder und Versager, der in seinen Augen nichts wert sein kann.

Habe ich ein positives Selbstwertgefühl, vermag ich mich anzunehmen, kann ich »Ja« zu mir sagen und empfinde mir selbst gegenüber gute, herzliche, warme Gefühle. Ich traue und vertraue mir. Für den Entwicklungspsychologen Eric Erikson steht ein positives Selbstwertgefühl für Selbstvertrauen. Alfred Adler spricht von der positiven Selbsteinschätzung. Entscheidend ist: Ich habe zu mir selbst, zu meinem Selbst eine gute Beziehung. Das aber ist die Voraussetzung dafür, um auch zu anderen Menschen und schließlich zu Gott in eine gute, tragfähige Beziehung treten zu können. Jetzt muss ich mich nicht verkriechen. Ich gehe auf die andere Person zu, im Bewusstsein und in der inneren Gewissheit, wertvoll und liebenswert wie ich bin, sie durch meine Anwesenheit bereichern zu können. Gott gegenüber weiß ich, dass ich ein fehlerhafter Mensch und ein Sünder bin. Doch ich kann ihm aufrecht gegenübertreten im Bewusstsein und im Erfahren meiner Würde. Ich kann zu ihm sagen: »Du, mein Gott, ich bin nicht würdig, dass du eintrittst unter mein Dach«, weil ich um meine Würde und um meinen Wert weiß. Dabei ist mir sehr wohl bewusst, dass bei aller grundsätzlichen Würde, die mir zukommt, es ein unsagbares und unverdientes Privileg bedeutet, dass Gott bei mir einkehrt.

Viele verwechseln die Liebe zu sich selbst mit Egoismus. Ihnen ist beigebracht worden, dass sich selbst zu lieben etwas Negatives, Egoistisches sei, das es zu überwinden gilt. In Wirklichkeit, so Elisabeth Kübler-Ross (in: Carlson/ Shield 1995, 135), verhält es sich gerade andersherum. Menschen, die sich selbst schätzen, die eine echte Liebe für sich selbst empfinden und spüren, erleben sich als genährt und vollständig. »Sie haben etwas übrig für andere Menschen.« Wenn du dich selbst ganz zu lieben vermagst und wenn du weißt, dass es in Ordnung ist, dass du unvollkommen bist, so Elisabeth Kübler-Ross, nährst du deine Seele Tag für Tag. Du nimmst dich dann so an, wie du bist – du und deine Seele sind eins.

Die zentrale Bedeutung der Annahme meiner selbst als Selbstliebe wird in folgenden Worten von Meister Eckehard (in: Fromm 1978, 89) deutlich:

»Hast du dich selbst lieb, so hast du alle Menschen lieb wie dich selbst. Solange du einen einzigen Menschen weniger lieb hast als dich selbst, so hast du dich selbst nie wahrhaft lieb ge­ wonnen, – wenn du nicht alle Menschen so lieb hast wie dich selbst, in einem Menschen alle Menschen; und dieser Mensch ist Gott und Mensch. So steht es recht mit einem solchen Men­ schen, der sich selbst lieb hat und alle Menschen so liebt wie sich selbst, und mit dem ist es gar recht bestellt.«

Wenn ich spüre, dass ich wertvoll, liebenswert bin, wenn ich die Erfahrung mache, auf mich bauen und mir vertrauen zu können, vernehme ich aus dem Tiefsten in mir, aus meiner Seele, einen vielstimmigen Chor, der mindestens so wunderbar wie Händels Messias klingt und mir immer wieder auf vielfältige Weise singt: »Du bist wertvoll, kostbar, liebenswert, vertrauenswürdig.« Diese Melodie durchweht meinen Leib, meine Gefühle, meinen Kopf, mein Herz. Sie entspringt meiner Seele und wirkt in meine Seele hinein, bis meine Lippen zunächst leise, kaum hörbar, dann aber immer lauter werdend, diese Melodie aufgreifen. Dann spüre ich, wie es mir warm wird ums Herz, wie ich mich strecke, weit werde, aufrecht gehe, und mit ausgebreiteten Armen und offenem Herzen mir selbst, anderen und Gott begegnen kann. Ich spüre mein Fundament in und unter mir. Ich vermag darauf zu stehen und in mir zu ruhen. Ich kann mich nach anderen Menschen ausstrecken, muss es aber nicht. Ich bin nicht davon abhängig. Ich kann mit den Worten von Psalm 139 Gott danken, »dass du mich so wunderbar gemacht hast«, im Bewusstsein meiner Einzigartigkeit und in der Erfahrung meiner inneren Schönheit, einer duftenden Blume vergleichbar.

Lass dich immer wieder von dieser inneren Schönheit, der duftenden Blume in dir anstecken. Glaube daran, dass es diese Blume gibt, dass du liebenswert, schön, wertvoll bist, auch zu Zeiten, wenn du daran zweifelst oder durch andere enttäuscht wirst. Was dich liebenswert macht, was diese innere Blume blühen und duften lässt, ist nicht abhängig von der Art und Weise, wie andere dich sehen und dir begegnen, so sehr es auch dein Denken über dich selbst oder deine Einstellung dir selbst gegenüber beeinflusst. Diese Blume blüht unabhängig von den anderen in dir. Vergiss das nicht. Lass daher nicht nach, daran zu glauben, auch wenn es Zeiten gibt, in denen du das Gefühl hast, dass sie nicht in dir blüht und ihren Duft nicht mehr nach innen oder nach außen verbreitet. Diese Blume in dir wird genährt von deiner Seele, die dich nie verlassen hat und dich nie verlassen wird. Genauso wie Gott dich nie verlassen hat und dich nie verlassen wird. Höre nicht auf, darauf zu vertrauen, dass es diesen Schatz in dir gibt. Lass dich von deiner Seele zu diesem Schatz führen, bis die Fühler deiner Seele diesen Schatz, diese Blume in dir, deine innere Schönheit berühren und du deine Schönheit spürst, sie gleichsam siehst und dich davon beseelen lässt.

Nachdenken – Nachspüren – Inspirieren – Beseelen

Wie voll, wie leer ist augenblicklich dein Pott? Worauf führst du das zurück? Handelt es sich dabei lediglich um eine augenblickliche Einschätzung, oder trifft diese Einschätzung grundsätzlich als Beschreibung für dein Selbstwertgefühl zu?

Welche Auswirkung hat dein geringes, dein starkes Selbstwertgefühl auf deine Beziehungen zu anderen Menschen? Glaubst du, dass du ihnen wenig bedeutest, ihnen wenig zu bieten hast? Oder hast du den Eindruck, dass es für sie ein Gewinn ist, wenn du mit ihnen bist? Gehst du auf andere zu oder meidest du sie?

Denkst du, fühlst du und verhältst du dich so, wie du glaubst, dass andere von dir erwarten zu denken, zu fühlen und dich zu verhalten? Wie würdest du dich verhalten, wenn du nur von dir ausgehen würdest, von dem, was für dich stimmt?

Lasse dich von folgendem Vers aus Psalm 139 inspirieren und beseelen:

»Ich danke dir, dass du mich so wunderbar gestaltet hast.« Versuche dabei in Berührung zu kommen mit deiner Einzigartigkeit, mit dem Wunder deines Seins und Daseins.

Stelle dir vor, dass du eine wunderschöne Rose bist. Sei für einen Augenblick diese Rose, komme in Berührung damit, was es heißt, eine Rose zu sein, die blüht, die andere erfreut durch ihr Dasein, ihren Duft, ihre Farben. Versuche anderen zu begegnen, während du dich selbst als diese Rose erachtest. Sieh dich selbst als diese Rose und schenke dir selbst die Gefühle, die du einer blühenden Rose gegenüber empfinden magst.

Ich bin ich selbst.

Es gibt auf der ganzen Welt keinen, der mir vollkommen gleich ist. Es gibt Menschen, die in manchem sind wie ich, aber niemand ist in allem, wie ich bin. Deshalb ist alles, was von mir kommt, original mein; ich habe es gewählt. Alles, was Teil meines Selbst ist, gehört mir – mein Körper und alles, was er tut, mein Geist und meine Seele mit allen dazugehörigen Gedanken und Ideen, meine Augen und alle Bilder, die sie aufnehmen, meine Gefühle, gleich welcher Art: Ärger, Freude, Frustration, Liebe, Enttäuschung, Erregung; mein Mund und alle Worte, die aus ihm kommen, höflich, liebevoll oder barsch, richtig oder falsch, meine Stimme, laut oder sanft, und alles, was ich tue in Beziehung zu anderen und zu mir selbst.

Mir gehören meine Fantasien, meine Träume, meine Hoffnungen und meine Ängste. Mir gehören alle meine Siege und Erfolge, all mein Versagen und meine Fehler.

Weil alles, was zu mir gehört, mein Besitz ist, kann ich mit allem zutiefst vertraut werden. Wenn ich das werde, kann ich mich lieb haben und kann mit allem, was zu mir gehört, freundlich umgehen. Und dann kann ich möglich machen, dass alle Teile meiner selbst zu meinem Besten zusammenarbeiten.

Ich weiß, dass es manches an mir gibt, was mich verwirrt, und manches, was mir gar nicht bewusst ist. Aber solange ich liebevoll und freundlich mit mir selbst umgehe, kann ich mutig und voll Hoffnung daran gehen, Wege durch die Wirrnis zu finden und Neues an mir zu entdecken …

Wie immer ich in einem Augenblick aussehe, was ich sage und tue, das bin ich. Es ist authentisch und zeigt, wo ich in diesem einen Augenblick stehe.

Wenn ich später überdenke, wie ich aussah und mich anhörte, was ich sagte und tat, und wie ich gedacht und gefühlt habe, werde ich vielleicht bei manchem feststellen, dass es nicht ganz passte. Ich kann das aufgeben, was nicht passend ist, und behalten, was sich als passend erwies, und ich erfinde etwas Neues für das, was ich aufgegeben habe.

Ich kann sehen, hören, fühlen, denken, reden und handeln. Ich habe damit das Werkzeug, das mir hilft zu überlegen, anderen Menschen nahe zu sein, produktiv zu sein, und die Welt mit ihren Menschen und Dingen um mich herum zu begreifen und zu ordnen.

Ich gehöre mir, und deshalb kann ich mich lenken und bestimmen. Ich bin ich, und ich bin o.k.

VIRGINIA SATIR, 2000

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Nimm dich an

Die Seele nimmt dich an,
so wie du bist.
Du und die Seele sind eins.
Wie kann es sein, dass du nicht liebst,
was deine Seele liebt?

ELISABETH KÜBLER-ROSS

»Wenn ich entdecken sollte, dass ich selbst des Almosens meiner Güte bedarf, dass ich selbst der zu Liebende sein will, was dann?«, fragt C.G. Jung. Er spricht damit eine Frage an, die mich persönlich und in meinem Beruf als Theologe und Psychotherapeut immer wieder beschäftigt hat. C.G. Jung stellt damit eine Kernfrage unseres Lebens, die uns mitten hinein in unsere Existenz führt.

Ja, was dann, wenn ich entdecken sollte, dass ich selbst des Almosens meiner Güte bedarf? Wenn ich spüre, wie schwer es mir fällt, mich in meinem So-Sein, mit meinen Schwächen und Fehlern anzunehmen? Wenn ich mit mir hadere? Wenn ich gegen mich wüte und aufbegehre und mich mit Vorwürfen überschütte? Oder wenn ich es einfach nicht über mich bringe, »Ja« zu mir und all meiner Erbärmlichkeit zu sagen, wenn ich nicht in der Lage bin, mich meiner selbst zu erbarmen?

Ja, was dann? Dann bleibt es dunkel in mir. Dann lasten Traurigkeit und Schwermut auf mir. Dann spüre ich meine Seele nicht mehr. Sie vermag dann ihre vitalisierende und animierende Kraft nicht mehr zu entfalten. Sie fühlt sich dann abgewiesen. Wenn ich mir selbst das Almosen meiner Güte versage, ich nicht Ja sagen kann zu mir, ich mir nicht verzeihen kann, gehe ich an mir, an meiner Seele vorbei wie an einem Bettler, der mich in der Stadt um ein Almosen bittet. Ich sehe nicht meine Hände, die sich nach mir ausstrecken, damit ich mich meiner selbst erbarme, verweigere mir selbst die Hilfe. Ich versage meiner Seele, die mir in meiner Erbärmlichkeit und Erbarmungswürdigkeit gegenübertritt, die Annahme.

Will ich, dass meine Seele die Führung in meinem Leben übernimmt, darf ich mir und damit auch meiner Seele dieses »Ja« nicht versagen. Ich darf diesen beschwerlichen Weg, der zur Selbst-Annahme führt, auf Dauer nicht verlassen, etwa indem ich mich, wie es C.G. Jung einmal sagt, statt um mich, um die Schwierigkeiten und Sünden anderer kümmere. Die Auseinandersetzung mit mir selbst gehört, so C.G. Jung, »zu dem Allerschwierigsten«. Solange ich mich davon ablenken lasse, mag ich tatsächlich oder anscheinend viel Gutes tun für andere, mich selbst aber sträflich vernachlässigen. Wenn ich mich in meinem erbärmlichen So-Sein nicht anzunehmen vermag, werde ich unerlöst bleiben.

Für den Menschen, der bemüht ist, vollkommen zu leben, der sich nichts zuschulden kommen lassen möchte, wird es schwer sein, die Seite von sich anzunehmen und sich mit ihr zu versöhnen, die nicht vollkommen ist, die nicht rein und schuldlos ist. Zu akzeptieren, nicht der fehlerfreie, vollkommene, edle Mensch zu sein, der er glaubte zu sein, wird für ihn schrecklich und kaum auszuhalten sein. Alles in ihm wird dagegen aufbegehren.

Er wird aus seiner inneren Not herausfinden, wenn er die dunkle, die unvollkommene, die fehlbare und mitunter schmutzige Seite an sich annimmt. Das mag für ihn zu einem Bußgang werden, der ihn fast überfordert. Doch er muss ihn gehen, will er ganz Mensch sein. Ganz bin ich erst, wenn ich auch meine Schattenseite von mir kennengelernt und integriert habe. »Geh‘ deinen Weg vor mir, und sei ganz«, heißt es im Buch Genesis. Man könnte »ganz« auch mit »vollkommen« übersetzen. Vollkommen bin ich nicht, wenn ich die dunklen Seiten in mir ausklammere oder unterdrücke. Ich bin auf dem Weg zur Vollkommenheit – wohl ein Leben lang – wenn ich mir meine nicht bewussten, unbeleuchteten, dunklen Anteile bewusst mache und sie in mein Leben integriere.

»Vollkommenheit bedeutet für mich heute«, so Pierre Stutz, »annehmen zu können, dass es kein Licht ohne Schatten gibt. Das Gleichnis vom Unkraut und vom Weizen aus dem Neuen Testament hat mich befreit von erdrückenden Vollkommenheitsansprüchen, von der Allmachtsfantasie, perfekt sein zu müssen. Da wird erzählt, dass nach dem Säen von Weizen beim Aufgehen der Saat zugleich auch Unkraut wächst. Die Knechte wollen es ausreißen, doch der Gutsherr sagt weise: ›Nein, sonst reißt ihr zusammen mit dem Unkraut auch den Weizen aus. Lasst beides wachsen bis zur Ernte‹ (Matthäus 13,24–30). Ein inneres Bild, das mich aufatmen lässt: beides wachsen lassen, Fehler machen dürfen, Scheitern und Versagen in mir annehmen, weil es kein ›reines‹ Wachstum gibt« (Ein Stück Himmel im Alltag, Freiburg 2000, 62).

Uns auch in unserem Scheitern und Versagen anzunehmen, kann zu einer riesengroßen Herausforderung für uns werden. Ganz klar zu sagen: Ja, es gibt auch dunkle, fehlerhafte Seiten in mir, die zu mir gehören. Auch das bin ich. Auch das ist ein Teil von mir. Ich kann so tun, als wäre das nicht so. Ich kann diese Seite von mir ablehnen. Dann aber lehne ich mich ab. Oder aber ich sage Ja dazu: Ja, das bin ich auch, so weh mir das zunächst tun mag. So schwer mir es auch fallen mag, diese Seite von mir und darin mich anzunehmen.

Kann ich Ja zu mir, einschließlich meiner Unvollkommenheit, sagen, kann ich auch Ja zu meiner Seele und zu Gott sagen, die mir nicht nur in schönen spirituellen Erfahrungen und Gipfelerfahrungen begegnen, sondern mir auch in meiner eigenen Erbärmlichkeit entgegentreten können. Ich verleugne dann nicht länger, wie es C. G. Jung einmal sagt, Gott selbst, »der in solch verächtlicher Gestalt« wie meiner Erbärmlichkeit, an mich herantreten kann.

Wenn mir bewusst wird, dass ich in der bedingungslosen Annahme meiner selbst den Zugang zu meiner Seele und schließlich den Zugang zu Gott finden kann, öffnet sich das Grab, in das ich meine Seele und Gott eingesperrt habe. Ich werde befreit. Das ist der Augenblick meiner Auferstehung. Die Ablehnung meiner selbst verliert ihre unheilvolle Macht. Die Seele und Gott, die ich in der Verachtung meiner selbst mit verachtet und aus meinem Leben immer wieder ausgegrenzt habe, lasse ich jetzt voll Anteil haben an meinem Leben. Sie können ihre beseelende, vitalisierende und segensreiche Kraft in mir und an mir entfalten, ohne mit meinem Widerstand rechnen zu müssen.

Wenn du dich annimmst, so wie du bist, kannst du in eine lebendige Beziehung zu deinem Innersten, deiner Seele treten. Du beseitigst die Hindernisse, die zwischen dir und deiner Seele stehen mögen, sodass es zwischen dir und deiner Seele fließen kann. Elisabeth Kübler-Ross (1995, 135) sagt: »Ob du es glauben willst oder nicht, eine der wichtigsten Beziehungen in deinem Leben ist die mit deiner Seele. Wirst du freundlich und liebevoll zu deiner Seele sein oder wirst du den harschen und schwierigen Umgang mit ihr pflegen? Viele von uns zerstören unbewusst ihre Seele durch ihre negativen Einstellungen und Handlungen oder einfach, indem sie sie vernachlässigen. Wenn du aber die Beziehung zu deiner Seele zu einem wichtigen Teil deines Lebens machst, indem du sie täglich berücksichtigst, schenkst du deinem Leben eine größere Bedeutung und Wesentlichkeit. Nutze deine Erfahrungen – alle von ihnen – als Möglichkeit, deine Seele zu nähren! In der Annahme deiner selbst, wenn du in Beziehung zu dir selbst trittst, tust du den entscheidenden Anfang dazu.«

Trau deiner Seele! Sie wird dich zur Selbstannahme führen. Sie wird sich dabei mitunter vieles einfallen lassen müssen, vor allem wenn du störrisch bist, wenn du meinst, perfekt sein zu müssen, wenn du zu sehr nach oben schaust. Sie wird es dir auch nicht immer leicht machen. Denn dich so anzunehmen, wie du bist, kann ein Stück harte Arbeit bedeuten. Dein Herz so groß zu machen, so weit zu machen, dass es sich nicht nur der Erbärmlichkeit der anderen, sondern deiner eigenen Erbärmlichkeit erbarmt, setzt voraus, über den eigenen Schatten springen zu können. Es setzt voraus, ganz tief in sich anzuerkennen und zu würdigen, dass ich nicht besser bin als die anderen. Lass nicht nach, deiner Seele zu trauen, auch wenn es schwierig wird. Sie wird dich ans Ziel bringen, wenn du sie walten lässt. Sie wird dich dahin führen, dass du schließlich ganz tief in dir, aus deiner Tiefe heraus »Ja« zu dir sagen kannst. Dieses »Ja« zu dir bringt dich in Berührung mit deiner Tiefe, wo du spürst, dass du verankert bist in dir und einen Stand und einen Halt hast, der dir vorenthalten wird, wenn du nur das anscheinend Tolle, Wunderbare, Positive von dir annimmst. Vergiss nie: Deine Seele will dir gut, auch wenn du zwischendurch manchmal nahe daran sein magst zu verzweifeln. Sie will dir gut, sie will, dass du dich annimmst, so wie du bist, mit all deinen Möglichkeiten, mit all deinen Grenzen. Wenn du durchhältst, wirst du am Ende belohnt, mit einem Gefühl tiefer Dankbarkeit und innerer Freude, so zu sein, wie du bist.

Nachdenken – Nachspüren – Inspirieren – Beseelen

Erich Fromm sagt: »Ich werde geliebt, weil ich bin … Ich brauche gar nichts zu tun, um geliebt zu werden … Ich brauche nur zu sein.« Kannst du eine so bedingungslose, vorbehaltlose Liebe und Annahme dir selbst gegenüber aufbringen? Was macht es dir leicht, was macht es dir schwer, dich so bedingungslos anzunehmen?

Kannst du dir vorstellen, dass, wenn du dich nicht selbst, so wie du bist, anzunehmen vermagst, es dir auch sehr schwerfallen wird, dich wirklich von anderen annehmen zu lassen, so wie du bist? Du wirst immer wieder auf der Suche danach sein, angenommen zu werden, nur um die Erfahrung zu machen, dass die Annahme der anderen bei dir nicht ankommt, du sie in Zweifel ziehst – solange du nicht in der Lage bist, dich selbst bedingungslos anzunehmen.