image1
logo

Brennpunkt Politik

Herausgegeben von Martin Große-Hüttmann, Gisela Riescher, Reinhold Weber und Hans-Georg Wehling

Die Herausgeber:

Professorin Dr. Gisela Riescher lehrt Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Freiburg, Professor Dr. Hans-Georg Wehling lehrt Politikwissenschaft an der Universität Tübingen, Martin Große Hüttmann lehrt als Akademischer Oberrat Europapolitik am Institut für Politikwissenschaft der Universität Tübingen und Dr. Reinhold Weber ist Publikationsreferent bei der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg und Lehrbeauftragter an der Universität Tübingen.

Gisela Riescher

Spannungsfelder der Politischen Theorie

in Zusammenarbeit mit Lukas Becht, Laura Gorriahn, Judith Gurr, Anna Meine, Marcus Obrecht, Luzia Sievi, Astrid Sigglow und Marcel Vondermaßen

Verlag W. Kohlhammer

Alle Rechte vorbehalten

© 2014 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart

Gesamtherstellung:

W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-022230-4

E-Book-Formate:

pdf:     ISBN 978-3-17-024443-6

epub:  ISBN 978-3-17-024444-3

mobi:  ISBN 978-3-17-024445-0

Inhaltsverzeichnis

  1. Einführung
  2. Gleichheit und Gerechtigkeit
  3. Freiheit und Sicherheit
  4. Öffentlichkeit und Privatheit
  5. Gemeinwohl und Interesse
  6. Minderheit und Mehrheit
  7. Partizipation und Repräsentation
  8. Macht und Gewalt
  9. Handlung und System
  10. Souveränität und Entscheidung
  11. Legitimität und Legalität
  12. Personen- und Sachregister

Einführung

Politische Begriffe zeigen sich in den Entwicklungslinien einer über 2000-jährigen Theoriegeschichte in immer neuen Spannungsfeldern. Nicht zuletzt sind es veränderte gesellschaftliche Bedingungen, die diese Begriffe in immer neue Spannungen versetzen. So gehört beispielsweise die Diskussion über Privatheit und Öffentlichkeit seit den griechischen Stadtstaaten zum festen Bestand der Politischen Theorie. Doch während die antiken Diskurse eine strikte Trennung der Bereiche vornahmen, zeigen sich demgegenüber in der feministischen Theorie des 20. Jahrhunderts osmotische Übergänge, die es neu zu verhandeln gilt. Macht und Gewalt, um weitere Beispiele zu nennen, bilden aus sich heraus ein Spannungsfeld, das sich konstitutiv mit Hannah Arendt verbindet und durch sie seither eine feste Größe im politikwissenschaftlichen Diskurs darstellt. Und nicht zuletzt zeigen die aktuellen Sicherheitsdiskussionen in der Folge der Terroranschläge des 11. September 2001, dass Freiheit und Sicherheit als politische Begriffe ein gegenwärtig außerordentlich bedeutsames Spannungsfeld ausbilden. Bis dahin sah man in der politischen Begriffsgeschichte politische Freiheit vor allem in Verbindung mit Gleichheitsforderungen. Da Gleichheit seit John Rawls Theorie der Gerechtigkeit (1971) und dem danach einsetzenden Boom an Gerechtigkeitstheorien zum Maßstab einer gerechten Gesellschaft wurde, etablierte sich Gerechtigkeit und Gleichheit als ein gemeinsames Spannungsfeld in der Politischen Theorie.

Diese und ähnliche Erfahrungen führten zu der konzeptionellen Entscheidung, die wichtigsten Begriffe der Politischen Theorie nicht als Einzeldarstellungen, sondern als Spannungsfelder vorzustellen, sie in ihren zeitgeschichtlichen Entwicklungslinien zu beschreiben, querschnittartige Vertiefungen vorzunehmen und kritisch zu diskutieren. Dies ermöglicht didaktisch ein Zusammenlesen von Begriffspaaren, die in der Politik und der Politischen Theorie entweder zusammengehören oder aber stets gemeinsam diskutiert werden. Im Einzelnen sind es Gleichheit und Gerechtigkeit, Freiheit und Sicherheit, Öffentlichkeit und Privatheit, Gemeinwohl und Interesse, Minderheit und Mehrheit, Partizipation und Repräsentation, Macht und Gewalt, Handlung und System, Souveränität und Entscheidung, Legitimität und Legalität.

Das Hauptaugenmerk unserer dichten Beschreibungen haben die Autorinnen und Autoren auf die Begriffsentwicklungen der letzten Jahrzehnte gelegt. Die Begriffe sind so ausgewählt, dass sie aus der Theorieperspektive die wichtigsten Bereiche des Politischen abdecken. Die Beiträge werden ergänzt um Literaturangaben, die eine thematische Vertiefung ermöglichen.

Freiburg im Breisgau, im Juli 2013

Gisela Riescher

Gleichheit und Gerechtigkeit

von Gisela Riescher

Die Frage, wie eine Gesellschaft beschaffen sein soll, um sie als gerecht zu bezeichnen, ist eine der zentralen Fragen der Politischen Theorie. 1st eine Gesellschaft dann als gerecht zu bezeichnen, wenn alle ihre Mitglieder die ihnen mögliche Position einnehmen, um das zu tun, was sie am besten können? Platon gibt uns eine Antwort in diesem Sinne, indem er drei Stände in der Politik (Nährstand, Wächter und Philosophenkönige) definiert und um mit Cicero zu sprechen „jedem das seine” (suum cuique) zuordnet. Doch die dabei entstehende Ungleichheit als gerecht zu empfinden entspricht nicht den Gerechtigkeitsvorstellungen unserer Gegenwart. Heute sind die Vorstellungen von Gerechtigkeit vielmehr mit Vorstellungen von Gleichheit verbunden. Die aristotelischen Definitionen von Gerechtigkeit sind uns dabei präsenter als die Platons. Aristoteles spricht von ausgleichender und verteilender Gerechtigkeit, von justitia correctiva und justitia distributiva. Seine Gerechtigkeitsdefinitionen sind eng mit dem Gleichheitsbegriff verbunden und finden sich bis heute in den diskutierten Theorien der Gleichheit und der Gerechtigkeit wieder. Dabei ist zu klären, welchen Anteil Gleichheit einnimmt und in welchem Spannungsverhältnis sie zur Gerechtigkeit steht. 1st es gerecht, alle gleich zu behandeln: jenen, die mehr leisten, die gleiche Benotung, die gleiche Anzahl an Creditpoints oder ein gleiches Einkommen zukommen zu lassen? Im Neuen Testament lesen wir Ähnliches im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg: Am Ende des Tages wird allen ein Gleiches bezahlt: ein Denar für den Tag, denen, die seit dem frühen Morgen arbeiten ebenso wie jenen, die kurz vor Feierabend zur Arbeit kamen. Da wir dies als ebenso ungerecht empfinden wie jene Arbeiter, die viele Stunden in der Tageshitze im Weinberg verbrachten, erfahren wir und sie in Matthäus 20,1–16, der Lohn sei nicht ungerecht, weil er mit allen so vereinbart war. Zudem stehe es dem Herrn zu, Gutes zu tun, dem Ersten wie dem Letzten.

Ob eine Gesellschaft gerecht ist, wenn sie Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt, oder ob Gerechtigkeit nicht vielmehr dann vorherrscht, wenn Ungleichheit einem gerechten Ausgleich unterliegt – dies sind Fragen, die sich im Spannungsfeld von Gleichheit und Gerechtigkeit bewegen. Ebenso die Überlegung, ob die Herstellung von Gleichheit der Gerechtigkeit förderlich ist, ob es überhaupt gelingen kann, Gleichheit zu verwirklichen – und wenn ja, in welchen Bereichen. In den Gerechtigkeitsdiskursen der Politischen Theorie des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts dominieren diese Spannungen im Blick auf soziale Gleichheit und Gerechtigkeit. Frühere Problemdimensionen wie die Rechtsgleichheit oder auch die politische Gleichheit sind dagegen heute institutionell weitgehend gelöst. Denn die Gleichheit vor dem Gesetz gehört zu den Selbstverständlichkeiten des liberalen Rechtsstaates und politische Gleichheit zu den nicht mehr hintergehbaren Grundbestandteilen der Demokratie. Die Probleme ihrer Durchsetzung gehören zu den Gleichheits- und Gerechtigkeitsdiskursen anderer Gesellschaften und anderer Zeiten. Sie gilt es im Folgenden kurz zu resümieren, bevor die aktuellen Spannungen der Politischen Theorie der Gegenwart aufgezeigt werden: die Theorien der sozialen Gerechtigkeit. Soziale und ökonomische Gleichheitsfragen treffen hier auf Fragen der Verteilungsgerechtigkeit, der Chancen- und der Ergebnisgleichheit, der Gerechtigkeit zwischen Geschlechtern und Generationen wie den Fragen des gerechten globalen Ausgleiches.

Politische Gleichheit

Die Idee politischer Gleichheit ist seit jeher konstitutiv für die Demokratie. Alexis de Tocqueville, der 1835 die damals noch neue Demokratie in Amerika betrachtete, nennt die Zeit der entstehenden Demokratien das Zeitalter der Gleichheit. Monarchische Alleinherrschaft von Gottes Gnaden, adelige Vorherrschaft, begründet aus Geburts- und Erbrechten, politische Vorrechte, die an Grundbesitz und Reichtum gebunden sind, verlieren ihren Anspruch mit der Idee der Herrschaft des ganzen Volkes. Politische Gleichheit, so schreibt der Althistoriker Jochen Bleicken, ist bereits das Schlüsselwort der athenischen Demokratie:

„Die Gleichheit, an der alle Athener teilhaben, wird von den antiken Autoren übereinstimmend als die Grundidee der Demokratie betrachtet” (Bleicken 1995: 340).

Man behandelt also die Gleichheit nicht als besonders erklärungsbedürftiges Phänomen, sondern betrachtet sie als natürlichen, selbstverständlichen Bestandteil des Bürgerseins. Sie bezieht sich auf die Gruppe, die herrscht, auf die Bürger, die als Freie und Gleiche ohne Unterschied des Standes oder der Bildung Mitspracherecht in der pólis, dem Stadtstaat, haben. Ihnen kamen – im Gegensatz zu Sklaven, Fremden und generell Frauen – zwei „Gleichheiten” zu: isonomia, die Gleichheit vor dem Gesetz, und isegoria, das gleiche und freie Rederecht in der Versammlung. Gleichheit als das die Demokratie konstituierende Prinzip meint folglich die Beteiligung aller am öffentlichen Leben, also die politische Gleichberechtigung.

Im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen politischen Denken verlor sich der politische Gleichheitsgedanke bis zur amerikanischen Demokratiegründung (1778) und der Französischen Revolution. Das liberale Gleichheitsdenken (Charles de Montesquieu, John Locke, Jeremy Bentham oder auch Immanuel Kant) bindet bis in das 19. Jahrhundert hinein politische Beteiligungsrechte an den Besitz. Andere, für die weitere Entwicklung des Gleichheitsparadigmas nicht weniger wichtige Sphären standen für sie zeitbedingt im Vordergrund: die natürliche Gleichheit als unantastbare Menschenwürde, die sich von der Existenz des Menschen ableitet und daraus folgend die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz. Prägnant ist dies bei Montesquieu ausgedrückt:

„Zwar kommen im Naturzustand die Menschen in Gleichheit zur Welt, doch können sie nicht darin verbleiben. Durch die Gesellschaft verlieren sie ihre Gleichheit. Erst durch die Gesetze werden sie wieder gleich” (Vom Geist der Gesetze, VIII. Buch, 3. Kapitel).

Die Forderungen nach politischer Gleichheit, dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht sind zunächst radikaldemokratische, später sozialdemokratische Forderungen der Arbeiterparteien, die erst im 20. Jahrhundert mit der Durchsetzung des Frauenwahlrechts in den westlichen Demokratien verwirklicht wurden. Sprechen wir heute in der Politikwissenschaft über politische Gleichheit, so addieren wir im Allgemeinheits- und Gleichheitsgrundsatz des Wahlrechts jene Gleichheitsforderungen, um die in Theorie und Praxis gerungen wurde: Alle Staatsbürgerinnen und -bürger, unabhängig von Einkommen, Beruf, Bildung, Geschlecht und politischer Einstellung, besitzen Stimmrecht und sind wählbar. Ihrer Stimme kommt unabhängig von den genannten Kriterien, in denen sie voneinander verschieden sein können, das gleiche Stimmgewicht, der gleiche Zählwert zu. Damit wird die Gleichheitsforderung in Demokratien heute zu einem eher technischen Problem der Wahlkreiseinteilung. Soll der Stimme jeder einzelnen Wählerin und jedes Wählers das gleiche Gewicht zukommen, müssen die Wahlkreise in etwa gleich groß und in gleicher Relation zur Zahl der zu wählenden Abgeordneten stehen.

Nach der Durchsetzung formaler politischer Gleichheitsrechte differenziert sich der Diskurs heute mehr und mehr aus um den gleichen Anteil an politischen Partizipationsmöglichkeiten, um die Inklusion von Migranten und politischen Minderheiten oder um den Frauenanteil in Parteien und Parlamenten (→ Partizipation/Repräsentation;Minderheit/Mehrheit).

Gerechtigkeit als Gleichheit

Das Spannungsverhältnis von Gleichheit und Gerechtigkeit dagegen formuliert sich im 20. Jahrhundert, in dem Nationalstaaten zu Sozialstaaten und sozialpolitische Programme zu wahlentscheidenden Politiken werden, vor allem aus im kontroversen Diskurs um die Maßstäbe sozialer Gerechtigkeit. Für die Politische Theorie war es 1971 John Rawls, der diese Problemdimension für die gegenwärtigen liberalen Gesellschaften neu theoretisierte und mit seinem Buch „Eine Theorie der Gerechtigkeit” (A Theory of Justice) den Ausgangspunkt einer Diskussion um Gerechtigkeit schuf, die bis heute unvermindert anhält. Denn seine Grundsätze der Gerechtigkeit sind einfach und komplex zugleich, sie sind theoretisch begründet und in der Praxis nachvollziehbar, sie sind konkret formuliert und doch zugleich hinreichend abstrakt, um für die unterschiedlichen Problemdimensionen verschiedener Gesellschaften und Zeiten ausbuchstabiert werden zu können. Zudem entwickelte Rawls seine Theorie Zeit seines Lebens weiter, reagierte auf seine Kritiker und Kritikerinnen, prüfte ihre Argumente und nahm sie auf oder verwarf sie. Insofern eignet sich seine Theorie der Gerechtigkeit als Ausgangsebene und nicht selten schließt sich mit ihr wieder der Kreis, wenn viele andere Positionen diskutiert sind. Wichtig ist es ihm, immer wieder zu betonen, dass es in seiner Theorie um die Grundstruktur einer gerechten Gesellschaft geht und nicht bereits um ausdifferenzierte Bereichsgerechtigkeiten, wie z. B. Generationengerechtigkeit oder Gerechtigkeit im Gesundheitswesen. Obgleich ihm Kritikerinnen und Kritiker vorwerfen, dass westliche Gesellschaften im Fokus seiner Überlegungen stehen, kann Rawls’ Theorie eher universelle Gültigkeit beanspruchen als andere Theorieansätze. Rawls’ „Beweisführung” beginnt mit dem sogenannten Urzustand, dem „Schleier des Nichtwissens” (veil of ignorance). Hier treffen gleiche, gleichberechtigte und in eigenen Belangen weitestgehend unwissende Individuen zusammen und einigen sich auf die Grundsätze einer Gesellschaft, die in ihren Augen als gerecht zu bezeichnen wäre.

Dass Rawls dabei auf die alte und bis zu seiner Zeit kaum mehr genutzte Methode der Vertragstheorie als Legitimationskriterium zurückgreift, hat gute Gründe. Nur aus dem vertragstheoretischen Argument heraus kann er eine Zustimmung aller begründen und somit eine umfassende Legitimation vorlegen. Zudem bindet das Vertragsargument alle Beteiligten und ist verbindlich, da die Zustimmung auf freier Übereinkunft beruht. Die Schwierigkeit dieser kontraktualistischen Begründungsfigur liegt allerdings darin, die Ausgangsituation, den Urzustand, bereits so zu konzipieren, dass das gewünschte Ergebnis erreicht werden kann: gleiche, freie, vernünftige, einsichtige, zielorientierte, kommunikative und vom Guten und Rechten Überzeugbare müssen zusammentreffen. Das heißt es gilt eine für freie Individuen vorteilhafte Situation zu schaffen und in Aussicht zu stellen, damit alle zustimmen können. Rawls konzipiert den Urzustand deshalb als Zustand der Gleichheit in Unwissenheit über die eigene Position. Denn im Zustand der Gleichheit und ohne Kenntnisse über ihre Stellung in der Gesellschaft werden rational handelnde und denkende Individuen aus Interesse am eigenen Nutzen und um nicht später Schaden zu nehmen vernünftigerweise Ungleichheit nicht tolerieren wollen und die Grundordnung einer Gesellschaft dann als gerecht ansehen, wenn alle Vorteile, aber auch die Lasten fair verteilt sind. Als gesellschaftliche Grundgüter bezeichnet Rawls z. B. auch Rechte und Freiheiten, die für ein gelingendes Leben unabdingbar sind und geht damit weit über materielle Güter hinaus. Er gelangt dabei zu folgenden Grundsätzen:

„Jedermann hat gleiches Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten, das für alle möglich ist.

Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen folgendermaßen beschaffen sein: a) sie müssen [. . .] den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen, und b) sie müssen mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offenstehen” (Rawls 1979: 336).

Im Spannungsfeld von Gleichheit und Gerechtigkeit gilt folglich für die Grundfreiheiten der Gleichheitsgrundsatz. Ungleichheit ist nach dem zweiten Grundsatz dann zu tolerieren, wenn sie – am Beispiel der progressiven Besteuerung von Einkommen oder einer Quotierung verdeutlicht – die Benachteiligten am meisten begünstigt.

Gerechtigkeit als komplexe Gleichheit

Gerade diese letzte Position der Rawls’schen Gerechtigkeitstheorie hat große Kontroversen hervorgerufen, die grob gezeichnet an den Theorielinien zwischen Politischer Ökonomie einerseits und kommunitaristischen bzw. egalitären Positionen andererseits verlaufen. Während neoliberale Sichtweisen die Theorie der Gerechtigkeit von Rawls als egalitär verurteilen, wird sie im kommunitaristischen Ansatz als zu undifferenziert und für konkrete Verteilungsgemeinschaften unbrauchbar bezeichnet, weil sie universalistisch und weltfremd unter dem „Schleier des Nichtwissens” entstanden sei. Der Vertreter der Kommunitaristen Michael Walzer antwortet auf Rawls mit einem Gegenentwurf, der den Titel Sphären der Gerechtigkeit trägt und der Gerechtigkeitsvorstellungen auf der Basis einer von ihm sogenannten „komplexen Gleichheit” beschreibt. „Komplex” und nicht „einfach” sind Gleichheitsvorstellungen nach Walzer dann, wenn nicht gefordert wird, dass eine gänzliche Übereinstimmung in allen Verteilungsfragen herrscht und Gerechtigkeit und Gleichheit nur hergestellt sind, wenn in allen gesellschaftlichen und politischen Bereichen alle Unterschiede gänzlich beseitigt sind. Es kommt in Walzers Theorie von Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit vielmehr darauf an, dass soziale Güter so zu verteilen sind, dass die sie besitzenden Personen nur durch ihren Besitz nicht in anderen Sphären bereits von vorneherein bevorzugt werden. Ein System der Ungerechtigkeit wäre z. B. dann etabliert, wenn Geld als Tauschmittel auf dem freien Markt zugleich das Gut wäre, mit dem politische Ämter erkauft werden, oder wenn z. B. der Zugang zu politischen Ämtern wiederum verbunden wäre mit dem Gut Gesundheit. Ein Gesundheitssystem als gerecht zu bezeichnen, das sich vor allem an politischen Amtshierarchien bemisst, würde schwerfallen.

Walzer formuliert als Distributionsprinzip:

„Kein soziales Gut X sollte ungeachtet seiner Bedeutung an Männer und Frauen, die in Besitz eines anderen Gutes Y sind, einzig und allein deshalb verteilt werden, weil sie dieses Y besitzen” (Walzer 1998: 50).

Walzer plädiert für verschiedene Verteilungsregeln für unterschiedliche Güter in verschiedenen Sphären. In Abgrenzung zu Rawls kommt es nicht darauf an, dass Menschen sich unter einem Schleier des Nichtwissens auf allgemeingültige Verteilungsregeln einigen, sondern im Mittelpunkt des Ansatzes stehen konkrete Güter, über deren Wert und deren Verteilungsregeln sich eine konkrete Gemeinschaft verständigt. Sie werden im kommunitaristischen Sinne gemeinschaftlich auszuhandeln haben, welche Güter in welchen Sphären welchen Wert für sie besitzen und ob die Güter am gerechtesten gleich oder ungleich verteilt werden, ob Chancengleichheit oder die Gleichheit im Ergebnis angestrebt wird, ob es fairer ist, Minderheiten zu bevorzugen oder ihnen, in einer anderen Sphäre der Güterverteilung höhere Steuern aufzuerlegen, weil sie möglicherweise vermögender sind.

Deutlich wird, dass das Walzer’sche Modell auch deshalb komplexer ist, weil es differenzierte Regelungen (im Einzelnen) sucht. Nicht ein universaler und gleicher Grundsatz, ein für alle Mal unter dem Schleier des Nichtwissens festgelegt, steht im Mittelpunkt, sondern eine Vielzahl von unterschiedlichen Distributionsmöglichkeiten, die in verschiedenen Gemeinschaften immer wieder neu zu verhandeln sind. Zu prüfen wäre, ob das liberale Modell eines John Rawls und das kommunitaristische eines Michael Walzer bei genauem Hinsehen und in ausbuchstabierter Form in komplexen Gesellschaften nicht viel mehr aufeinander angewiesen sind, als uns die Protagonisten glauben machen wollen. Denn die Gerechtigkeitsgrundsätze von Rawls fordern in der Anwendung nicht, „gleich” oder „ungleich” in allen sozialen und wirtschaftlichen Sphären gleichzusetzen, sondern es geht darum, den am wenigsten Begünstigten die größtmöglichen Vorteile zu bringen. Wenn es allerdings um die praktische Ausformulierung einer gerechten Gesellschaft geht, bleibt Rawls’ philosophischer Ansatz hinter dem kommunitaristischen Aushandlungsmodell zurück, das Raum für Tausch- und Verteilungsgerechtigkeit ebenso gibt wie für Zuteilung nach dem Bedürfnis einzelner. Was Walzer nicht leisten kann – dies werfen ihm seine Kritiker vor –, ist eine klare Bestimmung der Sphären, für die die Verteilungsgrundsätze gelten. Doch z. B. Sphären des Tausches oder der gleichen Verteilung (vielleicht auch immer wieder neu) zu definieren, gehört in sein kulturspezifisches und damit nicht universalistisches Bild von Verteilungsgemeinschaften.

Gleichheit als Ungerechtigkeit

Die neoliberale Kritik an Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit zielt in eine andere Richtung. Sie zielt nicht auf ein Zuwenig an sozialer Gerechtigkeit, sondern auf ein Zuviel bzw. auf ihre Unmöglichkeit. Das Diktum des wirtschaftswissenschaftlichen Nobelpreisträgers Friedrich August von Hayek steht im Hintergrund, wonach soziale Gerechtigkeit nichts als eine inhaltsleere Formulierung sei. Gerecht seien Regeln, die eine sich selbst generierende spontane Ordnung ermöglichen und erhalten. Gerecht oder ungerecht können menschliche Handlungen, Gesetze und Regeln sein, nicht aber ein Verteilungsergebnis, das auf Verteilungsgerechtigkeit abzielt. Die für Egalitaristen provokant anmutende Zurückweisung sozialstaatlicher Ausgleichs- und Verteilungsgerechtigkeitsvorstellungen resultiert aus einem Spannungsfeld, das zu Gleichheit und Gerechtigkeit den Begriff der Freiheit in dominante Beziehung setzt. Hayeks prioritäres Denken gilt der individuellen Freiheit, die eng mit dem Begriff der Verantwortung verbunden ist (→ Freiheit und Sicherheit). Sozialstaatliche Versuche der Herstellung von Gerechtigkeit setzen ein Ausmaß an Eingriffen in die liberale Gesellschaft und der am freien Wettbewerb orientierten Marktwirtschaft voraus, die für Hayek wie auch für andere liberale Denker die Zerstörung individueller Freiheitsrechte befürchten lassen. Staatsdirigismus und Zentralstaatlichkeit anstatt liberaler Gesellschaft wird als Ergebnis befürchtet.

Dies lässt Robert Nozick kurz nach dem Erscheinen von Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit zu einem Gegenentwurf ansetzen. Nur ein Minimalstaat, wenn nicht gar ein Ultraminimalstaat sei als politisches System legitim, ein Sozialstaat dagegen durch nichts gerechtfertigt. Den Verteilungsgrundsatz von Rawls, soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen so beschaffen sein, dass sie den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen, lehnt er als unbrauchbar, falsch und zutiefst ungerecht ab. Dies resultiert aus einem Denken, das von Besitzenden und ihrem Besitz ausgeht. Güter fallen nicht wie Manna vom Himmel, so seine bekannte Kurzformel. Sie sind in der Regel nicht frei verfügbar, sie gehören jemand. Sie wegzunehmen ist Diebstahl. Sie gleich oder aber nach anderen Verfahrensregeln sozialstaatlich zu verteilen, greift illegitimerweise in die Besitz- und Eigentumsrechte freier Individuen ein. Nozick formuliert daraus eine Theorie der Anspruchsgerechtigkeit, deren Begründung die gerechte Aneignung und die gerechte Übertragung von Besitztümern beinhaltet. Zu den wenigen Staatsaufgaben im Ultraminimalstaat, der im Wesentlichen aus Versicherungsgemeinschaften zum Schutz von Leib, Leben und Eigentum entstanden ist, gehört es, diese Eigentumsrechte zu schützen – nicht aber, sie umzuverteilen. Nozick und mit ihm liberale, neoliberale oder libertäre Denker (→ Freiheit und Sicherheit) lenken den Blick auf die Güter und deren Erwerb und Besitz. Sie fordern die Theorien der sozialen Gerechtigkeit insoweit heraus, als sie gerechte Verteilungsmaßstäbe auch vor der Folie von Eigentums- und individuellen Freiheitsrechten prüfen und rechtfertigen. Sie bringen einer zunehmend sozialstaatlich ausgerichteten Gesellschaft in Erinnerung, dass es berechtigte Ungleichheiten und legitime Ungleichverteilungen gibt: z. B. Verdienst, Leistung, rechtmäßig erworbener Besitz und zugeeignetes Eigentum.

Gerechtigkeit als Chancengleichheit

Die Überlegung, dass Eigentum und Eigentumsrechte in der Regel aus einer gesellschaftlichen Verteilung resultieren, erfordert es, die Zueignung und die Ermöglichung von Chancen in die Erörterung des Spannungsfeldes von Gleichheit und Gerechtigkeit einzubeziehen. Den derzeit weitesten Entwurf zu liberalen Gerechtigkeitstheorien legt Amartya Sen vor. Im Ausgang und in der Kritik von John Rawls lenkt er den Blick auf die Startchancen und die fairen Möglichkeiten, die Individuen benötigen, um einen angemessenen Platz in der Gesellschaft zu erlangen. Befähigungen, Capabilities, bilden für ihn, Martha Nußbaum u. a. die Voraussetzungen von Chancengleichheit und Gerechtigkeit. Befähigungen sind Wohlergehen, Glück, Freiheit, Möglichkeiten, am deutlichsten aber die Abwesenheit von Armut. Die Rawls’sche Theorie der gerechten Güterverteilung als Maßstab einer gerechten Gesellschaft wird damit im Capability-Ansatz erweitert um die Ressource, Individuen zu befähigen, an einer gerechten Gesellschaft teilzuhaben. Armut wird im Weitesten als Mangel an Chancen begriffen, deren Vermeidung als gerecht nicht allein aus Gründen der Vernunft, sondern aus einer Pluralität von Gründen geboten ist. Sens „Pluralität der Gründe” befördert die ldee, Befähigungen sowohl für individuelle wie kulturelle Besonderheiten, lokale, geographische wie globale Bedürfnisse spezifizieren zu können. Nicht eine einzige Bedeutungsquelle, sondern verschiedene Gründe und Wertungen zeigen in der Umsetzung ihre Praktikabilität, können kritisch verglichen und beurteilt werden. Im Vertrauen auf Gefühl und Verstand als menschliche Fähigkeiten, Ungerechtigkeiten zu erkennen und nach Gerechtigkeit streben zu wollen, gelingt es Sen in seinem Theoriekonzept zudem, globale Gerechtigkeit ohne die Institutionen einer Weltrepublik zu denken.

Gerechtigkeit als Tausch

Obgleich das Spannungsfeld von Gleichheit und Gerechtigkeit heute zunehmend den Rahmen sozialstaatlicher Umsetzung verlässt und global gedacht wird, bleibt das Konzept der Weltgesellschaft und die Idee der dort zu übenden Gerechtigkeit immer noch, wie Otfried Höffe betont, weitgehend unpolitisch. Dass Menschen sich als Menschen gleiche Anerkennung, Achtung und Gerechtigkeit schulden, hat Eingang gefunden in die Erklärung der Menschenrechte. Doch gerade die im Fokus stehenden Fragen der sozialen Gerechtigkeit scheinen diffus zu werden, wenn sie über die Grenzen von staatlichen Solidar- oder Versicherungsgemeinschaften hinausgehen. Otfried Höffe schlägt einen Paradigmenwechsel vor: Nicht Verteilungsgerechtigkeit, sondern die Idee des Tausches rechtfertigt für ihn den Sozialstaat und eine solidarische Weltgemeinschaft. Denn die Denkfigur des Tausches argumentiert nicht mit Zuteilung, Allokation oder Gleich- oder Umverteilung. Sie geht von gleichberechtigten Tauschpartnern aus, die sich auf Augenhöhe begegnen und gleichermaßen und gleichwertig zum wechselseitigen Vorteil geben und voneinander nehmen. Das ökonomische Grundmuster der Wechselseitigkeit und der Kooperation unter Gleichen macht niemanden zum „Sozialempfänger”, sondern rechtfertigt soziale Gerechtigkeit als Tauschgerechtigkeit. Höffe formuliert, der Tausch dürfe weder „ungeduldig” noch „kleinlich” gedacht werden und meint damit, dass diese Form der Gerechtigkeit über Zeiten, Generationen und Kulturen hinweg legitimiert werden kann. Diachrone Tauschmodelle rechtfertigen z. B. den Generationenvertrag zwischen Kindern, Erwachsenen und Alten im Blick auf Versorgung und Bedürftigkeit ebenso wie z. B. zwischen der westlichen Welt und dem globalen Süden. Hier kann der Tauschgedanke z. B. die Rohstoffabschöpfung seit der Kolonialzeit aufgreifen und die Verantwortung der westlichen Welt heute als Gegengabe rechtfertigen, die als Entschädigungsaufgaben aus ungerechten Tauschbeziehungen der Vergangenheit resultiert. Diese von Höffe angedachte „Legitimationsstrategie” für soziale Gerechtigkeit könnte in der Lage sein, das egalitaristische und liberale Spannungsverhältnis zwischen Gleichheit und Gerechtigkeit auszugleichen, bietet sie doch den Vorzug, eine tradierte und zudem ökonomische Gerechtigkeitsvorstellung in das 21. Jahrhundert hinein zu transferieren, um innerstaatliche und globale Sozialleistungen als Tausch zu rechtfertigen.

Unstrittig bei allen Kontroversen um die Fragen der Gerechtigkeit, insbesondere der sozialen Gerechtigkeit in ihrem Spannungsverhältnis zur Gleichheit, bleiben die Rawls’schen Grundideen, die dem Gerechtigkeitsdenken inhärent sind: Gerechtigkeit ist die Grundtugend sozialer Institutionen. Eine Gesellschaft ist dann als gerecht zu bezeichnen, wenn sie von gemeinsamen Gerechtigkeitsvorstellungen geleitet wird und Ungerechtigkeiten nur dann zulässt, wenn sie zur Vermeidung noch größerer Ungerechtigkeiten notwendig sind. Der Forderung nach Gleichheit kommt dabei eine herausragende Bedeutung zu. Ohne die Reflexion von Gleichheit kann Gerechtigkeit im demokratischen Zeitalter und in einer globalisierten Welt nicht gedacht werden.

Literaturhinweise

Bleicken, Jochen (1995), Die athenische Demokratie, Paderborn: Schöningh.

Gosepath, Stefan (2004), Gleiche Gerechtigkeit. Grundlagen eines liberalen Egalitarismus, Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Hayek, Friedrich A. (1971), Die Verfassung der Freiheit, Tübingen: Mohr.

Heidenreich, Felix (2011), Theorien der Gerechtigkeit. Eine Einführung, Opladen: Budrich.

Höffe, Otfried (2001), Gerechtigkeit, München: Beck.

Kersting, Wolfgang (2002), Kritik der Gleichheit, Weilerswist: Velbrück.

Koller, Peter (Hrsg.) (2001), Gerechtigkeit im politischen Diskurs der Gegenwart, Wien: Passagen-Verlag.

Montesquieu, Charles de Secondat (1748/1992), Vom Geist der Gesetze. [De L’esprit des Loix.] Hrsg. u. übers. von Ernst Forsthoff, Tübingen: Mohr.

Niesen, Peter (Hrsg.) (2012), Transnationale Gerechtigkeit und Demokratie, Frankfurt/Main: Campus.

Nozick, Robert (2006), Anarchie, Staat, Utopia, München: Olzog.

Nußbaum, Martha (2010), Die Grenzen der Gerechtigkeit, Berlin: Suhrkamp.

Rawls, John (1979), Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Sen, Amartya (2010), Die Idee der Gerechtigkeit, München: Beck.

Walzer, Michael (1998), Sphären der Gerechtigkeit, Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Freiheit und Sicherheit

von Gisela Riescher