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Antje Babendererde

Der Kuss des Raben

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Die verborgene Seite des Mondes
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Der Gesang der Orcas
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Talitha Running Horse

Der Kuss des Raben ist auch als Hörbuch erhältlich.

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1. Auflage 2016
© 2016 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Frauke Schneider
Vignette im Innenteil: © yyang/Shutterstock
ISBN 978-3-401-80467-5

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Verwünschung

Falsche Augen, die dich sehn,
sollen hier zugrunde gehen,
sollen brennen, immer brennen,
und der Blitz soll sie versengen!

Aus »Zehn in der Nacht sind neun«

1

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Reha-Klinik, Montag, 4. August »Guten Morgen, Tristan. Ich bin Rosa Wagner, Ihre Therapeutin für die Zeit der Reha. Wie geht es Ihnen heute?«

»Ich bin achtzehn und kann meine Beine nicht bewegen. Also, was soll die Frage?«

»Es ist normal, dass Sie deprimiert sind, aber das wird sich ändern. Wir werden daran arbeiten.«

»Deprimiert? Mir geht es beschissen, und daran wird sich auch nichts ändern, wenn ich mit Ihnen darüber spreche. Das ganze Psychozeug hat doch keinen Sinn.«

»Was hat Sinn? Im Bett liegen und in Selbstmitleid schwelgen?«

»Ich schwelge nicht in Selbstmitleid. Ich will Rache.«

»Sie hatten einen Motorradunfall, in den keine andere Person verwickelt war. An wem wollen Sie sich rächen? An einem Grenzstein?«

»Es war kein Unfall.«

»Ich denke, Sie können sich an nichts erinnern.«

»Kann ich auch nicht.«

»Keine Sorge, daran werden wir in den nächsten Wochen zusammen arbeiten.«

»Er hat gewonnen.«

»Was haben Sie gesagt? Wer hat gewonnen?«

»Der Rabe.«

Ein Jahr zuvor

Donnerstag, 5. September The Monster diminishes in size if you let it know you’re not scared. – diminish: verringern, vermindern, abnehmen. Die Buchstaben verschwammen vor Milas Augen. Gähnend warf sie einen Blick auf den Wecker. Schon fast elf.

Tilde, ihre Gastmutter, spielte jeden Donnerstag mit ihren Freundinnen Doppelkopf und würde erst nach Mitternacht nach Hause kommen. Sie konnte also noch eine gute Stunde unbehelligt lernen, bevor es an ihre Tür klopfen und Tilde rufen würde: Licht aus, Mila, dein Hirn braucht eine Pause.

Dismal: düster, trostlos, miserabel. Wistful: wehmütig, sehnsüchtig. Die Vokabeln wollten einfach nicht mehr in ihren Kopf.

Als Kind war Mila immer so lange aufgeblieben, bis ihr die Augen zufielen, und das war so gut wie nie vor zwölf gewesen. Jetzt war sie fast siebzehn und zwang sich, wenigstens an den Wochentagen vor Mitternacht das Licht auszuschalten.

Das Gastschuljahr am Saale-Gymnasium in Moorstein war ihre große Chance, und sie wollte im Unterricht ausgeschlafen sein, doch die alte Gewohnheit saß tief im Gedächtnis ihres Körpers.

Es fiel Mila nicht leicht, dem Unterricht in einer fremden Sprache zu folgen, auch wenn ihr Deutsch schon fast perfekt war, als sie nach Moorstein kam. Aber vier grammatikalische Fälle, drei Vergangenheits- und zwei Zukunftsformen, dazu die Konjugationsregeln. Und nun Englisch, eine Sprache, in der wieder alles ganz anders war.

»Unser Hirn arbeitet auch in der Nacht«, hatte Tilde ihr erzählt. Der Hippocampus, eine kleine, nussförmige Region im Hirn, verarbeitet Fakten, Ereignisse und Situationen sehr schnell, hat aber keine große Speicherkapazität. Während wir schlafen, filtert der Hippocampus und gibt an die Großhirnrinde weiter, was als wichtig heraussortiert wurde.

Mila hoffte, dass die kleine Nuss in ihrem Hirn die englischen Vokabeln als wichtig erkennen und nicht durch den Filter fallen lassen würde.

Sie tappte in das kleine Bad gegenüber ihrem Zimmer, duschte singend und schlüpfte danach in ihr knielanges Pyjamashirt mit dem Rosenmuster. Mila föhnte und bürstete ihr Haar, bis es knisterte. Es fiel ihr in langen Wellen über die Schulter bis zur Hüfte, war dunkel, fast schwarz, doch jetzt hatte es einen hellen Schimmer von der Sommersonne.

Mit einem trockenen Handtuch wischte Mila über den beschlagenen Badezimmerspiegel und betrachtete kritisch ihr Gesicht: leichter Teint, aber nicht so dunkel, um auf ihre Herkunft schließen zu lassen. Hohe Wangenknochen, eine gerade Nase und ein schmales, aber kantiges Kinn. Ihre Zähne waren strahlend weiß, doch ein Schneidezahn stand leicht über dem anderen.

Die fast schwarzen, weit auseinanderliegenden Augen hatte sie von ihrer Mutter. Das energische Kinn vermutlich vom Vater, den sie nie kennengelernt hatte.

Betrachtet man sich im Spiegel, wenn es Nacht ist, gibt man seine Seele dem Teufel, meldete sich die fast vergessene Stimme ihrer Großmutter Sidonia.

Früher hatte Mila sich an sämtliche überlieferte Regeln und Tabus gehalten, doch das war vorbei, denn die alten Sprüche führten zu nichts. Die Knochen ihrer Baba moderten in ferner Erde und in einer hübschen deutschen Stadt wie Moorstein gab es keine Teufel.

In ihrer ersten Nacht in Tildes Haus hatte Milas kleine tote Großmutter als wortloser Schemen vor ihrem Bett gestanden, gebeugt und dünn wie ein Strich. Die Seelen der Toten wandern als Geister auf der Erde, hatte Baba Sidonia ihr erzählt. Jetzt war sie selbst ein Geist.

Delusion: Einbildung, Wahn, Täuschung.

Mila schnitt ihrem Spiegelbild eine Grimasse. Sie löschte das Licht im Bad und kehrte zurück in ihr heißgeliebtes Zimmer mit den altrosa gestrichenen Wänden, den weinrot schimmernden Vorhängen und den weiß lasierten Holzmöbeln. Ein Zimmer, in dem es genug Platz gab, um darin zu tanzen. Denn Tanzen war ein Teil von Mila – wie Luft holen. Sie schritt über den flauschigen roten Teppich vor ihrem schmiedeeisernen weißen Bett mit dem geschwungenen Kopfteil, grub ihre Zehen voller Wonne hinein, bevor sie in die rote Satinwäsche sprang und sich darin wie eine Königin fühlte. Über ihr ein Baldachin aus Himmelsstoff, luftig wie weiße Wolken.

Mila liebte alles, was schön war. Schönheit war ein großes Geheimnis, war Licht und Schatten. Immer gab es eine zweite Seite, einen Gegenpol: schön und kalt. Schön und gefährlich. Schön und traurig. Nichts war vollkommen, nie. In ihrer Sprache gab es gar kein Wort für hässlich, nur den Ausdruck »nicht schön«.

Vor vier Wochen war Mila mit einem Rucksack voller Wünsche, Hoffnungen und Träume in der kleinen Stadt am Rande des Thüringer Schiefergebirges angekommen und morgen hatte sie schon die zweite Schulwoche hinter sich. Die Zeit verging so schnell, dass ihr manchmal ganz schwindelig wurde davon. Am liebsten wollte sie nie wieder fort aus diesem Land, das ihr auf Schritt und Tritt fremd erschien – mit all seinen Fragezeichen, Eigenheiten und ungeschriebenen Regeln.

Dem Unterricht am Gymnasium zu folgen, war eine Sache. Mit der Mentalität der Moorsteiner zurechtzukommen, eine ganz andere. Obwohl die Sprache keine Hürde war, verstand sie so vieles nicht. Es schien, als teilten alle um sie herum ein Wissen, das ihr verschlossen blieb.

Ihre ersten Tage am Saale-Gymnasium waren das reinste Gefühlschaos. Zwar hänselte oder mobbte sie niemand aus ihrer neuen Klasse, wie das an ihrem alten Gymnasium in Cheb der Fall gewesen war, doch wirklich willkommen fühlte sie sich auch nicht. Einige Mitschüler löcherten sie mit Fragen, die sie nicht beantworten wollte, andere nahmen Mila lediglich zur Kenntnis und der Rest sah einfach durch sie hindurch. Sie hatte das Gefühl, dass es gewisse Prüfungen gab, die sie bestehen musste, um dazuzugehören. Doch niemand sagte ihr, welche das waren.

»Du bist die Neue«, hatte Tilde sie getröstet, »und Moorstein ist nun mal eine Kleinstadt. Sie sind neugierig, aber gleichzeitig auch skeptisch allem Fremden gegenüber. Geh auf sie zu und sei offen, dann werden sie dich schnell mögen.«

Doch Mila verstand sich nicht gut darauf, Freundschaften zu schließen, deshalb stand sie auf dem Schulhof mitten unter ihren Klassenkameraden und gehörte dennoch nicht dazu. Sie wusste es und die anderen spürten es auch.

Nur einer schien sie wirklich zu sehen. Er hieß Tristan Hellstern und trug ausnahmslos schwarze Klamotten. Mit seinen langen blonden Haaren, den verträumten braunen Augen und seinem sinnlichen Mund war er der attraktivste Junge in ihrer Klasse und der Begriff Schönheit bekam für sie eine neue Dimension, einen neuen Gegenpol: schön und beunruhigend.

Mila mied Tristan, denn sein gutes Aussehen und seine schwarze Kluft schüchterten sie ein. Offensichtlich verstand er es, mit seinem düsteren Komplettlook einen finsteren Eindruck zu schinden, und doch verhielt er sich vom ersten Tag an ausgesprochen aufmerksam und höflich ihr gegenüber. Aus diesem Grund mied sie ihn auch weiterhin. Weil alle sie anstarrten, wenn er mit ihr sprach, und Mila lieber unsichtbar bleiben wollte.

»Wenn du es zu etwas bringen willst, erzähl niemandem, wer du bist und wo du herkommst«, hatte ihre Mutter ihr geraten. Und Mila hielt es für klug, sich an diesen Rat zu halten. Es war gar nicht schwer, sich unsichtbar zu machen, wenn man nur wusste, wie.

Als ihre Vorfahren vor mehr als tausend Jahren aus Indien gen Westen flüchteten und sich überall auf der Welt verteilten, mussten sie lernen, schnell hinter die Fassaden von Gewohnheiten, Sitten und Gebräuchen zu schauen, um mit den Menschen vor Ort klarzukommen. Etwas von dieser Fähigkeit steckte Mila wohl noch im Blut.

Sie war nach Moorstein gekommen, um zu lernen. Dieses Gastschuljahr aus dem Euregio-Egrensis-Programm war ein Glücksfall, ihre große Chance. Alles andere musste eben warten.

Freundschaften. Liebe.

Erst einmal wollte sie ankommen und dazugehören. Die Dinge begreifen. Eines Tages würde ihr dann jemand begegnen, der so gut aussah wie Tristan und genauso klug war. Jemand, der sie liebte und den auch sie lieben konnte. Und bis dahin würde Mila Wissen bunkern wie eine Besessene, denn in ihrem Fall waren gute Noten alles, was zählte.

Montag, 9. September Doch schon am darauffolgenden Montag endete Milas Schattendasein und sie konnte nichts dagegen tun. Jasmin Voss, die mit einem komplizierten Knöchelbruch im Krankenhaus gelegen hatte, kehrte mit einem Gips am Fuß, aber ansonsten quietschfidel in die Klasse zurück. Jassi, wie sie von allen genannt wurde, steuerte mit ihren Krücken schnurstracks den leeren Platz neben Mila an, als sie am Morgen den Klassenraum betrat. Klack. Klack. Klack.

Das Haar von Milas neuer Banknachbarin hatte die Farbe von Buchenblättern im Winter – halblange Locken, die ihr wild vom Kopf abstanden und auf der linken Seite über dem Ohr ausrasiert waren. Jassi trug löchrige Jeans und ein weites T-Shirt mit dem Spruch EAT THE RICH, dazu einen ausgetretenen Converse-Chuck, den sie mit Kuli bemalt hatte. Auf dem Gips an ihrem linken Fuß leuchteten neongrüne Herzen.

Die abgerissenen Klamotten und der Spruch auf dem T-Shirt ließen Mila annehmen, dass Jassis Eltern arm waren und sie deshalb eine Außenseiterin. Trotzdem war sie froh, endlich jemanden neben sich zu haben, der sie so offen angrinste wie dieses Mädchen.

»Cooles T-Shirt«, meinte Jassi zu Mila in der großen Pause.

»Wirklich?«, fragte Mila schüchtern und sah an sich herunter. Sie trug ein türkisfarbenes T-Shirt mit silbernen Ärmeln und Strassnieten in Form eines Schmetterlings auf der Brust, dazu helle Jeans und weiße Ballerinas.

Jassi zuckte grinsend die Achseln. »Na ja, wer so was mag.«

Ohne großes Trara nahm Jassi Mila unter ihre Fittiche und gab ihr Nachhilfe in Sachen Schulalltag, Mode, Make-up und Jungs. So skeptisch Mila anfangs auch war – das Mädchen mit dem frechen Mundwerk und den wilden Klamotten eroberte in Windeseile ihr Herz.

Jasmin Voss war – wie sich schnell herausstellte – weder arm noch eine Außenseiterin. Von heute auf morgen gehörte Mila ganz selbstverständlich dazu. Man lächelte ihr ins Gesicht und fast jeder in der Elften und Zwölften kannte auf einmal ihren Namen. Ohne zu wissen, wie, schien sie die geheime Prüfung bestanden zu haben.

Mithilfe von Jassi und ihren neuen Freunden meisterte Mila die nächsten Wochen am Gymnasium. Wurde sie nach ihrer Herkunft gefragt, hielt sie die Antworten ziemlich vage: das kleine Dorf tief in der Slowakei, in dem sie geboren wurde. Der tragische Unfalltod ihrer Eltern (ihr Vater war tatsächlich vor ihrer Geburt bei einem Autounfall ums Leben gekommen), die netten Pflegeeltern in Cheb, der tschechischen Grenzstadt, ihre guten Noten dort am Gymnasium und schließlich das Stipendium.

Die Wahrheit streifte Mila ab wie ein zu eng gewordenes Kleid.

Mittwoch, 30. Oktober Eines Tages auf dem Schulhof, ein kühler Herbstwind wehte die ersten bunten Blätter von den Bäumen, hatte Mila für sich und Jassi (die noch nicht so gut laufen konnte) zwei belegte Brötchen und zwei heiße Kakao vom Backshop an der Straße geholt, als ein Fünftklässler auf der wilden Jagd nach seinem Kumpel sie beinahe über den Haufen rannte und der heiße Kakao sich im hohen Bogen über den weißen Wildledermantel einer solariumbraunen Blondine aus ihrer Parallelklasse ergoss.

Das Mädchen mit den grünen Katzenaugen, sie hieß Patrizia, flippte aus und machte Mila wortreich die Hölle heiß. »Hast du keine Augen im Kopf, du blöde Kuh, die Flecken gehen doch nie wieder raus! Der Mantel hat ein Vermögen gekostet, den musst du mir ersetzen!«

Vor Milas Augen begann es zu flimmern. Gelähmt vor Entsetzen wünschte sie sich unsichtbar, als plötzlich Tristan aufkreuzte, der schwarze Ritter. Wie immer, wenn die anderen Schüler ihn kommen sahen, traten sie zur Seite, als wären sie bloß Statisten, und er hatte die Hauptrolle. Tristan beruhigte die aufgebrachte Patrizia mit geflüsterten Worten erstaunlich schnell und mit einem letzten ätzenden Blick auf Mila verschwand die Blonde im Schulgebäude.

Dass sie Tristans Ex war, erfuhr Mila erst später.

Tristan fasste Mila behutsam am Arm. »Keine Angst, den Mantel musst du nicht bezahlen, das übernimmt die Haftpflicht. Na komm, holen wir neuen Kakao. Noch ist Zeit.«

»Ich … ich glaube, mein Geld reicht nicht mehr.« Plötzlich hatte sie das Gefühl, Fieber zu haben.

»Macht nichts«, sagte er mit einem ritterlichen Lächeln, »den Rest zahle ich.«

Dass ihr jemand zu Hilfe eilte, noch dazu jemand wie Tristan Hellstern, war Mila nicht gewohnt. Obwohl sie ahnte, dass es pures Mitleid war, was Tristan dazu trieb, konnte sie nichts dagegen tun: Die Liebe brach über sie herein und Tristan wurde zum hellen Stern in Milas Universum. Schön und unerreichbar fern.

Unfassbar, aber er übernahm die Schuld an der Kakao-Geschichte und regelte das mit seiner Haftpflicht.

»Wie romantisch«, kommentierte Jassi mit verdrehten Augen. »Aber du hast dich nicht ernsthaft in ihn verliebt, oder?«

Mila machte sich keine Illusionen, dass Tristan jemals etwas anderes in ihr sehen würde als das Mädchen aus Cheb, das für ein Gastschuljahr nach Moorstein gekommen war, um die deutsche Sprache zu lernen und interkulturelle Erfahrungen zu sammeln. Jemand, der wieder fortgehen würde und es deshalb nicht lohnte, ihm mehr als freundliche Aufmerksamkeit zu schenken.

Ohnehin war es vernünftiger, nicht zu lieben, denn Liebe machte blind und unvorsichtig. Schlimmer noch: Unerwiderte Liebe konnte einen wie eine furchtbare Krankheit verzehren, und man lief Gefahr, den Verstand zu verlieren. Das durfte Mila auf keinen Fall riskieren. Das Schicksal hatte es gut mit ihr gemeint und sie wollte ihr Glück nicht aufs Spiel setzen.

Deshalb beantwortete sie Jassis Frage mit einem Kopfschütteln.

»Das ist auch besser so.« Auf ihre direkte Art machte Jassi Mila wenig Hoffnung, dass Tristan ihre Gefühle jemals erwidern würde. »Er kann nämlich jede haben«, sagte sie, die milde Umschreibung von: eine Nummer zu groß für dich. »Und falls du es noch nicht gemerkt haben solltest: Du bist nicht die Einzige, die Tristan Hellstern völlig aussichtslos anhimmelt. Willkommen im Club, Mila. Sogar meine Mum ist rot geworden, als er sie mal angesprochen hat. Sie meint, er wäre eine jüngere Ausgabe von David Garrett, diesem blonden Stargeiger.«

»Anhimmeln?«, fragte Mila mit einem Stirnrunzeln.

»Anbeten, verehren, vergöttern.«

»Ich anhimmele nicht«, entgegnete sie, »ich mögen ihn, das ist verschieden.« Eine himmelschreiende Untertreibung war das. Doch man hielt es besser geheim, wenn man sich verliebte.

Jassi zuckte mit den Achseln. »Wie du meinst. Aber ich an deiner Stelle würde mich an Hannes halten. Der ist lockerer drauf als Tris.«

Tristans Freund Hannes war ein hagerer Lockenkopf mit einem markanten Gesicht und einem etwas schrägen Sinn für Humor. Laut Jassi war er in Mila verschossen und traute sich bloß nicht, es ihr zu zeigen, weil er wusste, dass sie nur Augen für Tristan hatte.

In den darauf folgenden Wochen hatte es den Anschein, als sollte Jassi recht behalten. Tristan half Mila, wenn sie mit ihrem Handy nicht klarkam, rettete sie, wenn Hannes auf dem Schulhof unbeholfen mit ihr flirtete und ihr dabei ein wenig zu sehr auf die Pelle rückte. Tristan Hellstern war ihr Freund und Beschützer, der immer im richtigen Moment zur Stelle war.

Mehr passierte allerdings nicht. Tristan machte nicht einen einzigen Annäherungsversuch. Also lernte Mila weiter wie eine Besessene, kochte mit Tilde, traf sich mit Jassi, um zu quatschen und DVDs anzuschauen, und aus Herbst wurde Winter. Ihr Leben in Cheb war längst in weite Ferne gerückt, obwohl zwischen den beiden Städten bloß hundert Kilometer lagen.

Weihnachten kam heran. Tilde fuhr mit ihr nach Erfurt auf den Weihnachtsmarkt und Mila war ganz berauscht vom Weihnachtszauber unter dem beleuchteten Dom.

Der Duft von gebrannten Mandeln, Glühwein und Zimt, all die süßen Köstlichkeiten, die sie probieren konnte. Das alte Kinderkarussell, die weihnachtlichen Gesänge, der Märchenerzähler mit dem Rauschebart und seine Geschichte von der Hexe Baba Jaga hielten Mila noch bis ins neue Jahr gefangen. Doch ihre Liebe zu Tristan verging nicht. Im Gegenteil, sie wurde so groß, dass kaum noch ein Gedanke in Milas Kopf Platz fand, der nicht auf irgendeine Weise mit Tristan zu tun hatte.

Es war die Zeit, als sie anfing, Apfelkerne zu sammeln.

2

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Reha-Klinik, Mittwoch, 6. August »Guten Morgen, Tristan. Wie geht es Ihnen heute?«

»Nicht gut. Ich habe Schmerzen und schlafe schlecht. Außerdem habe ich Albträume.«

»Wovon träumen Sie?«

»Jemand stopft mir Rabenfedern in den Hals.«

»Wer ist dieser Jemand? Kennen Sie ihn?«

»Und ob. Er heißt Ludwig Castorf. Er hat mir mein Mädchen weggenommen und mich zum Krüppel gemacht.«

»Erzählen Sie mir von diesem Mädchen, wie heißt sie?«

»Mila. Sie kam im vergangenen Jahr als Gastschülerin aus Tschechien in unsere Klasse, und ich habe gleich gemerkt, dass sie etwas Besonderes ist.«

»Inwiefern?«

»Ihre Ausstrahlung hatte etwas Unschuldiges. Mila hat jeden Kerl abblitzen lassen, der bei ihr zu landen versuchte. Es schien ihr Lebensinhalt zu sein, gute Noten zu haben. Aber unter ihrem Ehrgeiz und ihrer Unschuld war sie lustig und sexy.«

»Haben Sie ihr gezeigt, dass Sie in sie verliebt waren?«

»Zu Anfang habe ich versucht, es zu verbergen. Meine Ex hatte mich erst kurz zuvor wegen eines anderen in die Wüste geschickt und ich hatte immer noch ziemlich daran zu knabbern. Außerdem war klar, dass Mila nach einem Jahr wieder zurück nach Cheb gehen würde, und auf eine Fernbeziehung hatte ich keine Lust.«

»Was änderte sich?«

»Alles.«

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Mittwoch, 5. Februar Mila stand in ihrem Zimmer am offenen Fenster und blickte hinauf zum Haus der Hellsterns, das auf der anderen Straßenseite in den Hang gebaut war. Es war beinahe Mitternacht, draußen fielen Schneeflocken, die im Licht der Straßenlaterne glitzerten wie Feenstaub. Der Eishauch des Winters strömte in ihr Zimmer.

So viel Schönheit, doch ihr wurde das Herz schwer. Voller Wehmut dachte Mila an die heruntergekommene Barackensiedlung am Rande des kleinen slowakischen Dorfes, in der sie aufgewachsen war. Dachte an das schlecht isolierte Häuschen ihrer Baba, an die kalten Tage im Winter und die noch kälteren Nächte. Eine dieser klirrenden Frostnächte hatte aus ihrer kleinen Großmutter einen Geist gemacht.

In Milas neuem Leben war der Winter kein Schreckensherrscher. Schloss sie das Fenster, blieb er ausgesperrt. Auf den doppelt verglasten Fensterscheiben würden niemals Eisblumen blühen, schöner als die filigranste Spitzengardine. Eine Träne lief über Milas Wange und auf einmal hatte sie den würzigen Geruch von Holzfeuern in der Nase.

Mila blieb am offenen Fenster stehen und schaute wie gebannt zu dem dunklen Fenster im Kellergeschoss der Hellsterns hinauf. Es war Tristans Zimmer, das wusste sie von Hannes, und sie hatte Tristan auch schon ein paarmal dort stehen sehen.

Sich Tristan Hellstern aus dem Kopf zu schlagen, war Mila nicht gelungen. Sie war verliebt in ihn und sehnte sich danach, wiedergeliebt zu werden. Das Warten auf ein Zeichen von ihm war eine Qual, denn die Sehnsucht verzehrte sie wie ein schlimmes Fieber.

Die einzig wirksame Ablenkung war das Lernen, doch auch das fiel ihr zunehmend schwerer, weil Tristan immer mehr Raum einnahm in ihrem Kopf und alles verdrängte, was nicht mit ihm zu tun hatte.

Auf einmal ging in Tristans Kellerzimmer das Licht an und Mila sah eine dunkle Gestalt am Fenster stehen. Sah er sie? Eine eisige Windböe fuhr ihr in die Knochen, bauschte die Gardine und trieb Schneeflocken ins Zimmer. Es war ein Wind aus uralten Träumen und Sternengesängen. Und auf einmal war da dieses Lied, es kam aus dem Nichts zwischen den Sternen.

Lieber Tristan aus fernem Land,

reich verstohlen mir die Hand,

willst du, so umarme mich:

Herzlich werde ich küssen dich.

Unbewusst hatte Mila Tristans Namen in dieses fast vergessene Liebeslied gefügt. Es passierte wie von selbst, Melodie und Worte hatten im Verborgenen geschlummert und nun war ihre Zeit gekommen.

Mila fröstelte. Sie schlang die Arme um ihren Körper und warf einen Blick in den schwarzen Himmel, wo die Sterne als winzige Lichtpunkte pulsierten. Die Sterne, sie waren ihre Freunde.

»Fàla!«, flüsterte sie. »Danke!«

Vom nächsten Tag an änderte sich Tristans Verhalten ihr gegenüber – jedenfalls empfand sie es so. Mila bemerkte, dass er sie manchmal anstarrte, wenn er sich unbeobachtet wähnte, und er schien immer öfter ihre Nähe zu suchen. Von Umarmungen und Küssen war das Ganze noch weit entfernt, aber Mila spürte, dass ihr Liebeslied seine Wirkung entfaltete wie einen unaufhaltsamen Zauber.

Doch die finanzielle Unterstützung aus dem Euregio-Egrensis-Programm lief nach einem Jahr aus und die Hälfte ihrer Zeit in Moorstein war bereits um. Spätestens im August musste Mila zurück nach Cheb. Eine Tatsache, die ihr immer wieder schlaflose Nächte bereitete. Sie wollte nicht zurück. Nie mehr. Zwischen all ihren Zweifeln und Schuldgefühlen war sie glücklich angekommen in ihrem neuen Leben in Moorstein. Und für Tristan hegte sie Gefühle, die sie noch nie zuvor empfunden hatte.

Als Hannes sie und Jassi in den Winterferien zu seiner Geburtstagsparty einlud, sagte sie zu und bediente sich des alten Wissens. Von den Apfelkernen, die sie gesammelt hatte, nahm sie so viele, wie sie mit drei Fingern ihrer linken Hand halten konnte. Sie röstete und zermahlte sie. Stach sich mit einer Nadel in den linken Mittelfinger und ließ drei Blutstropfen auf die zermahlenen Apfelkerne fallen. Das Ganze vermischte sie, ließ es trocknen und zerrieb es noch einmal zu Pulver.

Mila hatte diese Dinge für immer verloren geglaubt, aber sie waren das Echo ihrer Vorfahren, eingelagert im Mark ihrer Knochen, und würden immer da sein. Heute ist heute, dachte sie. Und ich kann die sein, die ich sein will.

Auf der Party trug sie das Gemisch aus Apfelkernen und Herzblut, das laut Baba Sidonia Liebe erzeugen konnte, bei sich. Sie ignorierte Hannes, der sie immer noch mit hungrigem Blick ansah, und als sich die Gelegenheit ergab, mischte sie das Pulver Tristan unbemerkt in seine Schüssel mit Nudelsalat.

Montag, 10. Februar Am ersten Schultag nach den Winterferien wurde Mila in der großen Pause ins Büro der Direktorin gerufen. Sie dachte, es würde um irgendwelche Formalitäten wegen ihres Stipendiums gehen, doch was Frau Steinbach ihr lächelnd mitteilte, verschlug ihr für einen Augenblick den Atem.

»Du hast eine schnelle Auffassungsgabe und ein hervorragendes Sprachengedächtnis, Mila. Dadurch sind deine Noten in fast allen Fächern so gut, dass die Schulleitung dir anbietet, noch ein weiteres Jahr zu bleiben und dein Abitur am Saale-Gymnasium zu machen.«

Mila brachte kein Wort heraus, ihr Herz klopfte zum Zerspringen.

»Überlege es dir gut, Mädchen, das ist eine großartige Chance. Und was deine Gastmutter angeht … ich habe schon mit ihr gesprochen. Matilde Kreuzer wird dich weiter bei sich wohnen lassen und unterstützen, auch ohne Stipendium.«

Überlegen? Da gab es nichts zu überlegen. Die Direktorin hatte ja keine Ahnung, was dieses Angebot für Mila bedeutete. Alles in ihr jubelte vor Glück, sie hatte das Gefühl, vor Freude zu platzen.

Ohne ein Wort stürmte Mila aus dem Direktorat, die Treppe hinunter und weiter aus dem Schulgebäude. Draußen tanzten dicke Flocken in wilden Spiralwirbeln über den Pausenhof, und sie begann, mit ihnen zu tanzen. Hob die Hände und drehte sich um ihre eigene Achse, dachte nicht mehr daran, was die anderen denken könnten. Sie war frei, musste nicht mehr zurück in ihr altes Leben, nie wieder. Alles würde gut werden. Mila war so euphorisch, dass sie Tristan um den Hals fiel, als er mit Schneekristallen im Haar auf einmal vor ihr stand wie ein Wintergott.

»Ich darf bleiben«, jauchzte sie. »Ich können mein Abi hier machen.«

Und da küsste er sie – vor den Blicken der anderen. Es war ein kühler, süßer Schneekuss, wie Vanilleeis, doch Mila wurde sehr warm davon. Ihr Herz schien zu schmelzen. Dieses Gefühl hatte sie zum ersten Mal in ihrem Leben.

»Das ist eine tolle Nachricht«, flüsterte Tristan ihr ins Ohr und sein warmer Atem streifte kitzelnd ihre Wange. Dann küsste er sie noch einmal.

So fühlte man sich also im siebten Himmel.

Seither verging kein Tag, an dem Mila nicht ihrem Glücksstern dankte. Na gut, sie hatte ein wenig nachhelfen müssen, aber nun hatte Tristan erkannt, dass sie die Einzige war, die einzig Richtige für ihn.

März Doch Milas Glück blieb nicht ungetrübt. Schon bald spürte sie, dass sie von nun an auf den Fluren und auf dem Pausenhof auch neidische Blicke erntete und so manches Lippenstiftlächeln falsch war.

»Du hast dir den begehrtesten Typen der ganzen Schule geangelt«, kommentierte Jassi achselzuckend Milas Klage. »Was erwartest du denn? Sie werden sich schon irgendwann damit abfinden.«

Diesmal behielt Jassi recht. Sogar Hannes fand sich damit ab, dass Mila Tristan ihm vorgezogen hatte. Sie und Hannes Prager wurden Freunde.

Doch Milas Angst, Tristan nicht zu genügen und seine Liebe wieder zu verlieren, war ein großer schwarzer Vogel, der hin und wieder auftauchte und dunkle Schatten warf. Nur wenn sie mit Tristan zusammen war, konnte sie die Schatten in Schach halten.

Sie trafen sich im Café im Park oder gingen ins Kino. Tristan hatte ihr einen Motorradhelm besorgt. Er mochte es, sie in Restaurants in der Umgebung zum Essen einzuladen, und Mila war froh, als sie merkte, dass er kaum Alkohol trank. Er kaufte ihr schöne Sachen, dunkle Röcke und modische T-Shirts, die ihm gefielen und die sie sich von ihrem Taschengeld nie hätte leisten können.

Zu ihr nach Hause kam er nur ungern. Mila vermutete, dass es an Tilde lag, die Tristan gleich bei seinem ersten Besuch in ihrer offenen Art ausgefragt hatte, etwas, das er nicht mochte.

Und zu ihm gingen sie nur, wenn seine Eltern nicht da waren.

Im großen, modernen Haus der Hellsterns fühlte Mila sich jedes Mal eingeschüchtert. Das Wohnzimmer war ein riesiger Raum mit hellen Marmorfliesen, einem modernen Kamin und einer großen roten Ledercouch mit einem Glastisch davor. Kein Fingerabdruck, kein Staubkorn war auf dem polierten Glas zu sehen. Wohnzimmer und Küche kamen Mila vor wie die Ausstellungsfläche eines Möbelhauses, aber nicht wie ein Zuhause. An der blendend weißen Wand über der Couch hing ein großes abstraktes Gemälde in schreienden Farben, das – wie Tristan ihr verraten hatte – ein Vermögen wert war.

Mila wagte kaum, etwas anzufassen, geschweige denn, sich zu setzen, aus Angst, sie würde einen Abdruck hinterlassen im klinisch sauberen Zuhause von Familie Hellstern.

Es tröstete sie, dass es Tristan damit genauso zu gehen schien wie ihr. Er sprach nur selten von seinen Eltern und auch nicht besonders nett, aber vielleicht war das normal, wenn die Eltern Pläne mit einem hatten, die nicht die eigenen waren.

Tristans Zimmer war doppelt so groß wie Milas und schlicht eingerichtet. Ein großes Bett, ein Schreibtisch, ein Bücherregal, ein Kleiderschrank und ein Ledersessel – alles schwarz, daran hatte sie sich immer noch nicht gewöhnt. An der Wand über seinem Bett hing ein Sportbogen, ein Köcher mit Pfeilen stand in der Ecke. An der gegenüberliegenden Wand prangte ein großer Flachbildschirm.

Für einen Jungen war es ziemlich aufgeräumt, aber dennoch kein Vergleich zur pedantischen Ordnung im restlichen Haus.

Auf dem Schreibtisch stand meistens ein Glas mit schwarzer Tusche und es lagen Halter mit verschiedenen Zeichenfedern herum.

Von seinen Zeichnungen hatte Tristan ihr bisher kaum welche gezeigt. Es schien, als wäre er nur wenig überzeugt von seinem Können. Doch was das Zeichnen anging, da konnte ihm keiner so schnell etwas vormachen. Nicht umsonst war Tristan der Liebling von Frau Hess, ihrer Kunstlehrerin.

Seine Tuschezeichnungen waren gleichzeitig locker und präzise. Atmosphärisch, wie die Hess sie genannt hatte.

Manchmal lagen Skizzen für seine Graphic Novels auf dem Schreibtisch und Mila bewunderte Tristans genaue Beobachtungsgabe, wenn er Tiere oder Menschen zeichnete.

Einmal – Tristan war von seiner Mutter nach oben gerufen worden – öffnete Mila die große schwarze Mappe, die unter seinem Bett hervorlugte – und hielt die Luft an. Tristan hatte sie gezeichnet. Nackt. Sie hatte ihm nie Modell gesessen, er hatte sie aus dem Gedächtnis gezeichnet. Alles stimmte und doch wieder nicht. Sie lag schlafend auf dem Bett und ihr Haar floss in schwarzen Wellen über ihre kleinen Brüste. Ihre Hüfte war ein perfekt geschwungener Bogen. So schön war sie nicht, doch offenbar sah er sie so.

Bis jetzt hatten sie noch nicht miteinander geschlafen, und Mila war Tristan dankbar, dass er sie nicht drängte. Er war zärtlich, und sie liebte es, was seine Hände und seine Lippen mit ihr anstellten. Sie wollte mit ihm zusammen sein und gleichzeitig fürchtete sie sich davor. Sie hatte Angst, schwanger zu werden, hatte Angst vor seiner Reaktion, wenn er merkte, dass er nicht der Erste war.

Eine zweite Zeichnung zeigte Mila schüchtern, mit beiden Händen vor dem Gesicht. Schnell klappte sie die Mappe zu und schob sie wieder unters Bett, als sie durch die halb offene Zimmertür Tristans Schritte hörte.

Er schloss die Tür hinter sich und drehte den Schlüssel um. Diesmal wollte Tristan mehr. Auf seine Küsse, nach denen Mila süchtig war, folgte das Suchen seiner Hände unter ihren Kleidern. Ihr ganzer Körper stand in Flammen, und doch entzog sie sich ihm, weil wieder nicht der richtige Zeitpunkt war.

»Was ist denn los, Mila?«, fragte er und ließ sie zum ersten Mal seine Enttäuschung spüren. »Stimmt irgendetwas nicht mit mir? Findest du mich abstoßend?«

»Nein«, sagte sie erschrocken. »Nein, es liegt nicht an dir. Ich bin nur … heute nicht, Tris.«

»Heute nicht oder nie?«

Sie dachte an seine Zeichnungen in der schwarzen Mappe, wie er sie sah. Wie sehr sie ihn liebte. »Es ist … dieses Haus, deine Eltern …«

Er setzte sich auf. »Sie sind weggefahren.«

»Aber sie könnten zurückkommen.«

»Ich habe die Tür abgeschlossen.«

Das stimmte, er schloss immer ab. Doch es half ihr weder bei dem einen noch bei dem anderen Problem. Außerdem würden Tristans Eltern natürlich wissen, was eine verschlossene Zimmertür bedeutete, und sie würde ihnen danach nicht mehr in die Augen schauen können.

Es ist nicht richtig, Mila.

Verflucht, es musste richtig sein, so gut, wie es sich anfühlte. Sie wollte etwas sagen, fürchtete, Tristan würde ihr böse sein, doch er grinste. »Na gut«, sagte er, »du willst nicht, dass meine Eltern wissen, dass wir Sex haben. Ich muss das nicht verstehen, oder?«

Mila schüttelte den Kopf, sah ihn mit großen Augen an.

»Okay. Ich lasse mir was einfallen.«

Mila war erleichtert. Sie begehrte Tristan, doch sie fürchtete sich, diese Schwelle zu überschreiten. Das Problem lag in ihrer Vergangenheit, die sie zwar verschweigen, aber nicht auslöschen konnte. Sosehr sie sich auch danach sehnte, ihm alles zu offenbaren: Sie fand den Mut nicht, weil für sie alles auf dem Spiel stand.

Als er das Bett verließ, um etwas aus seiner Schublade zu holen, stand Mila auf, um sich anzuziehen.

Er trat hinter sie, schob ihr das lange Haar über die Schulter und auf einmal berührte etwas Kühles die Haut zwischen ihren Brüsten. Es war eine silberne Kette mit einem Anhänger. Ein heller Türkisstein, so groß wie ein Eineurostück, gefasst in ein hübsch verziertes Bett aus Silber.

Mila nahm ihn in die Hand und betrachtete ihn fasziniert.

»Er ist sehr alt und gehörte meiner Großmutter«, flüsterte Tristan in ihr Ohr, »und nun gehört er dir.«

»Aber …«, sie wirbelte herum. »Das kannst du doch nicht …«

»Doch«, sagte er mit einem Lächeln, »ich kann.«

Später in der Nacht, als Mila kaum hundert Meter entfernt von ihm in ihrem eigenen Bett lag, den Glücksbringer in der Hand, da fragte sie sich, was Tristan wohl empfinden würde, wenn er die Wahrheit über sie erfuhr. Würde er sich ihrer schämen? Schluss machen? Ihr den Anhänger wieder wegnehmen, weil sie ihn entehrte? Das durfte nicht passieren. Niemals. Sie konnte sich ihr Leben ohne Tristan gar nicht mehr vorstellen.

In ihrem Dorf galt Mila als verloren, als abgeschrieben. Sie hatte sich von ihrer Familie und von der Welt ihrer Vorfahren losgesagt, als sie bei Nacht und Nebel geflüchtet war. Jetzt war sie marime. Beschädigt, beschmutzt. Ihr wurde himmelangst, wenn sie nur daran dachte, dass sie ihr Abi vielleicht nicht schaffte. Dass Tristan ihrer überdrüssig wurde und Schluss machte. Denn dann hatte sie gar nichts mehr. Keine Wurzeln, kein Zuhause, keine Zukunft und auch keine Liebe mehr.

Reiß die Brücke hinter dir nicht ab, du musst wieder über sie zurückgehen!

Doch sie hatte die Brücke abgerissen, einen Weg zurück gab es nicht mehr. Ihr Onkel, ihre Tante, ihre Cousins und Cousinen, Katka, ihre Freundin aus Kinderzeiten, die Nachbarn – alle würden so tun, als wäre sie Luft. Nie wieder würden sie ihr Haus und ihre Mahlzeiten mit ihr teilen, niemals je denselben Weg nehmen wie sie. Mila konnte nicht zurückkehren in das Dorf ihrer Kindheit. Und zu ihrer Mutter nach Cheb konnte sie auch nicht zurück.

Deshalb war die Schule so wichtig für sie, auch wenn ihr das den Ruf einer Streberin einbrachte. Sogar Jassi neckte sie dauernd deswegen. Wie gerne hätte sie mit ihrer Freundin über alles geredet. Jassi hätte ihr vielleicht helfen können, hätte sie bestärken und ihr die Angst nehmen können, doch je mehr Zeit verging und je mehr Geschichten Mila über ihr Leben erzählte, umso schwerer wurde es, auch nur an die Wahrheit zu denken.

Außerdem: Was würde es ändern, wenn Jassi die Wahrheit wusste? Vielleicht konnte sie ihr Wissen nicht für sich behalten. Vielleicht würde sich Mitleid in ihre Freundschaft schleichen, vielleicht auch Scham. Es würde die Dinge auf jeden Fall nicht einfacher machen. Jassi war ihre beste Freundin. Mila konnte eine Menge mit ihr teilen, aber nicht alles.

Mittwoch, 23. April Zu Ostern spielte das Wetter verrückt. Plötzlich knackte das Thermometer die 20°C-Grenze und überall begann es zu grünen und zu blühen. Die Natur erwachte aus ihrem Winterschlaf, fast zwei Wochen zu früh.

Am Mittwoch nach Ostern nahm Tristan Mila zum ersten Mal mit zum Kleinen Schiefersee. Sie fuhren mit seiner schwarzen Suzuki aus der Stadt heraus, bogen nach ein paar Kilometern wieder in den Wald und fuhren noch ein Stück einen Forstweg entlang.

Nachdem sie ein Schild passiert hatten, auf dem stand: Privatbesitz, Betreten verboten, stellte Tristan sein Moped hinter Büschen ab, nahm Mila an der Hand und zog sie auf einem steinigen Pfad hinter sich her durch ein dicht bewachsenes Waldstück mit Tannen, deren Zweige bis zum Boden reichten.

Die Sonne schien warm, an den Vogelbeersträuchern und Birken spross junges Grün und der Duft des Frühlings lag in der Luft. Als sie nach hundert Metern wieder aus dem Wald traten, stieß Mila einen Begeisterungsschrei aus. Das Wasser des ehemaligen Schieferlochs funkelte in der unirdischen Farbe von Vergissmeinnicht. Umrahmt vom grauen Schiefer, sah der kleine See aus wie der Türkisstein in seiner Silberfassung, den sie um ihren Hals trug.

Magisch angezogen, lief sie die wenigen Meter zum Ufer, das auf dieser Seite flach abfiel. Millionen feine Schieferplättchen knirschten unter ihren Schritten, als würde sie über Glasscherben gehen. Auf der gegenüberliegenden Seite des Sees ragte eine steile, knapp vier Meter hohe Felswand empor, die linkerhand in Stufen abfiel. Rechts von ihnen stand ein Blockhaus mit einem Steg, der ein paar Meter weit in den See führte.

Mila verliebte sich auf der Stelle in diesen Ort – genauso wie vor ein paar Monaten in Tristan. So etwas Schönes wie diesen kleinen See, der wie ein Juwel leuchtete, hatte sie noch nie gesehen. Am Waldrand, der gesäumt war von Birken und Beerensträuchern, bedeckten Moose und Flechten den Schiefer.

Die Muster im gefalteten Gestein waren so vielfältig, dass sie sich nicht sattsehen konnte. Überall gab es winzige Höhlen und Spalten und die Moose schimmerten in allen Schattierungen von Grün. Sie war im Reich der Feen gelandet. Für einen Augenblick kam es ihr so vor, als existiere das alles nur für sie beide, Mila und Tristan.

»Gefällt es dir hier?«

»Der See ist wunderschön.« Sie zog ihre Schuhe aus und steckte einen Zeh ins Wasser. »Huh, kalt.«

»Es ist ja auch noch April.« Tristan lachte. »Außerdem ist der See tief. Sechs oder sieben Meter.«

»Woher weißt du?«

»Er gehört meinem Vater.«

»Oh, dann hat er also die Schilder aufgestellt?«

Tristan nickte. »Bin gleich wieder da«, sagte er und ging in die Hütte. Wenig später quoll Rauch aus dem Schornstein und Tristan kam mit einem zusammengerollten Schlafsack zurück. Er breitete ihn aus und wusch seine Hände im See.

Es war so warm, dass sie ihre Jacken ausziehen konnten. Sie setzten sich ans Ufer, und Tristan erzählte ihr, dass sein Opa bis zur Rente im Krüger-Bruch, einem größeren Tagebau ganz in der Nähe, gearbeitet hatte, zu dem mehrere kleine Schieferlöcher gehörten, unter anderem auch dieses.

Als Mila nach Moorstein kam, war ihr als Erstes aufgefallen, dass viele Häuser in der Region diese gemusterten dunkelgrauen Wände und Dächer hatten und deshalb aussahen wie Monster mit Fischschuppen. Einige Dörfer in der Umgebung wirkten dadurch ziemlich düster.

Im vergangenen Herbst war ihre Klasse dann zu einer Führung im Schieferparkmuseum gewesen und Mila hatte erfahren, dass dieses graue, in dünne Platten spaltbare Gestein, das wegen seines bläulichen Schimmers auch Blaues Gold genannt wurde, enorm wetterbeständig war.

Tristan ließ flache Schieferstücke über die Wasseroberfläche hüpfen. »Als Kind wollte ich immer Dachdecker werden, so wie mein Großvater«, sagte er. »Aber ich glaube, der Job ist mir zu hart. Na ja«, er lachte, »ich tendiere zu einem Grafikdesign-Studium, aber mein Vater will natürlich, dass ich Bauingenieur werde und seinen Laden übernehme.«

Mila wusste aus eigener Erfahrung, dass die Erwartungen der Familie einem die Luft zum Atmen nehmen konnten. Nur hatte sie nicht erwartet, dass ein Junge wie Tristan in solch einer Falle sitzen könnte. »Das wäre sehr schade«, sagte sie. »Dein Opa würde bestimmt verstehen, dass du deinen eigenen Weg gehen möchtest. Lebt er eigentlich noch?«

»Ja, in einem Altenheim in Saalfeld.«

Überrascht sah sie ihn an. »Aber warum er nicht wohnt bei euch? Ihr habt so ein großes Haus und deine Mutter geht nicht zu Arbeit. Sie könnte sich kümmern um ihn.«

Ein Familienmitglied, das alt war, in ein Heim abzuschieben, kam Mila grausam vor. So etwas gab es bei ihren Leuten nicht, da kümmerte man sich um die Alten, das ganze Leben drehte sich um die Familie.

Tristan warf ihr einen finsteren Blick zu, und Mila fürchtete, zu weit gegangen zu sein. Doch dann sagte er: »Großvater hat Alzheimer, das würde nicht gut gehen.« Er stand auf und streckte ihr seine Hand entgegen. »Na komm, wir sind schließlich nicht hier, um über so etwas Langweiliges wie meine Familie zu reden.«

Das Blockhaus bestand aus einem einzigen Raum, in dem es jetzt nach Holzfeuer roch. Alles war überraschend sauber und gemütlich. Eine breite Liege mit einem bunten Überwurf und ein alter Ledersessel, der kleine Holzofen, der gemütliche Wärme verbreitete, ein Tisch mit Stühlen, auf dem ein paar Zeitschriften lagen, ein Schrank und ein Regal.

An den Wänden hing eine mit Reißzwecken festgepinnte Tuschezeichnung vom See und dem Felsen im DIN-A3-Format, die von Tristan stammte. Auf den ersten Blick wirkte die Szenerie friedlich, Tristan hatte den See, den schroffen Schieferfelsen und den Wald gut eingefangen. Doch Mila hatte das Gefühl, als würde sich darunter noch etwas anderes befinden, ein zweites, verborgenes Bild.

»Gefällt es dir?«

Mila wandte sich zu ihm um. »Ja, sehr.« Auf dem niedrigen Tisch entdeckte sie ein Marmeladenglas mit einem blühenden Kirschzweig. Sie atmete tief ein.

»Es war lange niemand mehr hier«, meinte Tristan achselzuckend. »Deshalb bin ich gestern hergefahren und habe sauber gemacht.«

Mila trat auf ihn zu, schlang ihre Arme um seinen Hals und küsste ihn. Wie sehr sie ihn liebte, für all das, was er war und was er mit ihr teilte.

Tristans Hände schlüpften unter ihr T-Shirt und wanderten von ihren Hüften langsam nach oben, bis sie warm ihre Brüste umschlossen. Ein wohliges Ziehen meldete sich in ihrem Unterleib. Diesmal würde es geschehen und der Zeitpunkt passte. Er würde merken, dass er nicht der Erste war, doch es würde keine Bedeutung mehr haben, denn sie war längst ein Teil von ihm, schon seit den Winterferien.

»Falls du befürchten solltest, dass meine Eltern hier auftauchen könnten«, flüsterte er in ihr Haar, »kann ich dich beruhigen. Sie kommen seit einigen Jahren nicht mehr her, seit …«

Mila verschloss seine Lippen mit einem zärtlichen Kuss. Dann legte sie ihre Hände auf seine Brust und sagte: »Ich bin gleich wieder da.«

Tristan hielt sie am Arm fest. »Nicht weglaufen, hörst du.« Er grinste. »Ich kenne mich hier besser aus als du und diesmal kommst du mir nicht davon.«

Mila verschwand in einem Busch hinter der Hütte. Eine Wolke hatte sich vor die Sonne geschoben und sofort wurde es kühl. Doch drinnen wartete Tristan auf sie, sein warmer Körper. Die Erde würde sich nicht auftun, sie zu verschlingen. Es würde nicht einmal mehr wehtun.

Tristan saß auf der Liege mit der bunten Flickendecke und klopfte mit der Hand neben sich. In der anderen hielt er eine halb leere Flasche Aperol. Mila setzte sich und er reichte ihr die Flasche. »Hier«, sagte er, »die habe ich noch gefunden. Den trinkt man eigentlich mit Sekt, aber vielleicht macht dich das ein bisschen lockerer.«

Mila nahm einen Schluck. Das rote Zeug schmeckte süß und bitter, und sie fragte sich, ob Tristan auch davon getrunken hatte, um lockerer zu werden. Sie nahm noch einen Schluck und tatsächlich verschwand nach ein paar Minuten der Druck, der auf ihr lastete.

Tristan stellte die Flasche auf den Tisch und holte Mila auf seinen Schoß. Er zog ihr das T-Shirt über den Kopf, küsste ihre Lippen und dann ihren Hals.

Dafür, dass es nicht richtig war, fühlte es sich wunderbar an. Milas Schüchternheit verflog. Sie half Tristan aus seinem T-Shirt, drückte ihre Brust gegen seine, die glatt und warm war. Sie spürte die Sicherheit von Tristans Hand in ihrem Rücken, und als er sich nach hinten fallen ließ, nahm er sie mit und rollte sie herum.

Sein Gesicht über ihrem, sein unergründlicher Blick ein Abgrund, in den Mila sich fallen ließ. In Tristan schien ein schmerzliches Sehnen zu sein, nach etwas, das er in ihr zu finden hoffte. Und sie war bereit, ihm alles zu geben, damit er glücklich war.

Tristan löste sich von ihr, um Jeans und Unterhose auszuziehen. Er zog ein Kondompäckchen aus der Hosentasche und Mila sah weg. Sie hatte sich umsonst Gedanken gemacht.

Flink schlüpfte sie aus ihren Kleidern und unter die Decke. Sie zog sie über ihren Kopf, hoffte, dass Tristan zu ihr ins Dunkel kommen würde. Doch er schob die Decke langsam zur Seite und ihr ganzer Leib überzog sich mit einer Gänsehaut

»Hast du etwa Geheimnisse vor mir?«, flüsterte er lächelnd und sein Blick wanderte über ihren bloßen Körper. »Du brauchst dich nicht verstecken, Mila. Du bist schön und ich will dich endlich ganz sehen.«

Ganz. Mila schloss die Augen, damit sie nicht zu sehen brauchte, wo Tristan überall hinsah. Aber es nützte nichts, denn seine Blicke brannten auf ihrer Haut wie Sonnenstrahlen. Dann spürte sie seine Hände, seine Lippen auf ihren Brüsten, ihrem Bauch, seine Knie zwischen ihren Knien.

Es tat doch weh. Mit einem überraschten Laut klammerte sie sich an ihn, denn sie hatte geglaubt, das hinter sich zu haben. Milas Fingernägel gruben sich in seinen Rücken, bis das Brennen aufhörte und seine Bewegungen kleine warme Wellen in ihrem Schoß auslösten, die jede Faser ihres Körpers zu erfassen schienen. Und dann hatte sie das Gefühl zu fallen, tiefer, weicher und dunkler als je zuvor.

Als sie die Lider öffnete, sah sie in Tristans braune Augen, die wie polierte Kastanien schimmerten. Er schien ungehindert in sie hineinzusehen und ihr Herz schlug schnell wie das eines Vogels unter seinem Blick. War er zufrieden? Würden jetzt die Fragen kommen? Mit angehaltenem Atem betrachtete sie ihn.

»Ganz schön wild, dafür, dass du dich erst so geziert hast«, sagte er und grinste. Mila spürte, wie sie rot wurde. Tristans Haarband hatte sich gelöst und die Spitzen seiner langen Haare kitzelten ihre Brust.

Hatte er gar nicht gemerkt, dass er nicht der Erste gewesen war? Wenn doch, dann verlor er kein Wort darüber. Es prickelte an ihrer Nasenwurzel und ihr Blick verschwamm.

»Ich hoffe, das sind Freudentränen.« Tristan küsste sie zärtlich. »Endlich gehörst du mir, meine Schöne. Und ich werde alles tun, damit du das nie bereust.«

Mila ließ ihren Tränen freien Lauf. Ja, es waren Freudentränen, denn sie fühlte sich so unendlich erleichtert.

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Donnerstag, 8. Mai Udik, Udik!

Der große schwarze Vogel mit dem mächtigen Schnabel saß auf Lucas’ Brust und sah ihn mit schief gelegtem Kopf aus glänzenden Augen an. Udik.

Was willst du?

Erinnerst du dich nicht?

Ich will schlafen, hau ab!

Deine Zeit ist gekommen.

Du bist nur ein Traum.

Bin ich nicht. Erinnere dich!

Ich will mich nicht erinnern.

Udik. Udik.

Eine schwarze Welle schwappte über ihm zusammen und die Luft zum Atmen war weg. Lucas riss die Augen auf und starrte ins Dunkel.

War der krächzende Ruf seinem Rabentraum entsprungen oder real? Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit und die Konturen des Raumes nahmen Gestalt an. Die Fenster zwei graue Vierecke ohne Gitter. An den Wänden kauerten Möbel wie dunkle Ungeheuer mit Zähnen und Klauen, bereit zum Sprung.

Wo zum Teufel bin ich?

Fenster ohne Gitterstäbe. Also keine Gefängniszelle. Aber wo war er dann? Lucas lauschte in die Nacht.

Durch das offene Fenster hörte er das Rascheln der Blätter im Wind, in das sich ein leises Wimmern, wie das Klagen eines verwundeten Tieres, mischte. Der quälende Ton ging ihm durch Mark und Bein. Er setzte sich ruckartig auf und tastete nach dem Knipser der Lampe neben der zum Bett umfunktionierten Couch.

Eine staubige Glühbirne auf einem gedrechselten Ständer erhellte den Raum. Oh fuck. Schlagartig wusste er wieder, wo er war. Im muffigen kleinen Wohnzimmer von Wilma Singer, der Rabenfrau. Kein Wunder, dass er von einem sprechenden Vogel geträumt hatte.

Munin, »Erinnerung«, hatte die Alte den jungen Raben getauft, den sie verletzt im Wald gefunden und mit der Hand aufgezogen hatte. Als er flügge war und alt genug, um alleine klarzukommen, hatte er sich seinen Geschwistern wieder angeschlossen. Als die sich jedoch neue Reviere suchten, blieb Munin in der Nähe, besuchte seine Retterin regelmäßig und benahm sich wie ein zahmes Haustier.

Munin war einer der beiden Raben Odins, des einäugigen Rabengottes aus der nordischen Mythologie. Hugin, »der Gedanke«, und Munin, »die Erinnerung«. Bei Tagesanbruch entsandte Odin seine beiden Raben, über die ganze Welt zu fliegen. Nach ihrer Rückkehr setzten sie sich auf seine Schultern und berichteten ihm alles ins Ohr, was sie gesehen und gehört hatten.

Auch Wilma Singer war immer bestens darüber informiert gewesen, was in Moorstein passierte. Munin saß am liebsten auf ihrer Schulter oder auf dem Lenker ihres Fahrrades, wenn sie einkaufen fuhr, was der Alten in der kleinen Stadt den Namen Rabenfrau eingebracht hatte.