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David Urquhart

REISEN UNTER
OSMANEN UND
GRIECHEN

Vom Peloponnes zum Olymp
in einer ereignisreichen Zeit

um 1830

Herausgegeben und eingeleitet
von Lars Martin Hoffmann

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ALTE ABENTEUERLICHE REISEBERICHTE

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David Urquhart (1805 - 1877)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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ISBN: 978-3-8438-0351-9

www.marixverlag.de

INHALT

VORWORT DES HERAUSGEBERS

EINLEITUNG

ERSTES KAPITEL

ZWEITES KAPITEL: Zustand des griechischen Landvolks im Jahr 1830 – Militärische und politische Wichtigkeit der Bucht von Korinth – Vorfall im Befreiungskrieg – Seegefecht in der Bay von Salona

DRITTES KAPITEL: Patras – Türkische und griechische Flaggen

VIERTES KAPITEL: Das westliche Griechenland – Griechische Meinungen vom Herzog von Wellington – Messolonghi – Das Füllhorn – Schlacht von Lepanto

FÜNFTES KAPITEL: Anatolikó – Trigardon – Moor von Lezini – Schwimmen nach einem Kloster – Senkung der Küste von Akarnanien und Epirus

SECHSTES KAPITEL: Europäische Politik und türkisches Verfahren – Vergleichung der türkischen und römischen Eroberung – Von den Türken eingeführte Verwaltung

SIEBTES KAPITEL: Flüchtlinge im See von Vrachóri – Altertümliche Forschungen und Unfälle – Einfluss des Schießpulvers auf Regierungen und Völker – Kultur und Trümmer von Alyzea – Eine malerische Szene

ACHTES KAPITEL: Veränderungen unter den Palikaren – Die Vlachen, Hirten, Soldaten – Pouqueville’s Irrtümer – Festlichkeiten auf dem Makronoros – Eberjagd – Ankunft in Albanien

NEUNTES KAPITEL: Das Protokoll

ZEHNTES KAPITEL: Die drei Kommissarien – Abreise von Preveza – Aussicht auf Zerrüttung in Albanien – Die Ebene von Arta

ELFTES KAPITEL: Politische, gesellschaftliche und diplomatische Erörterungen mit einem Gouverneur, einem Edelmann und einem Kadi

ZWÖLFTES KAPITEL: Stand der Parteien, Einleitungen zur Eröffnung des Feldzugs

DREIZEHNTES KAPITEL: Stadt Arta – Abreise nach und Ankunft in Jannena – Zustand des Landes – Weibliche Tracht und Schönheit – Häuslicher Gewerbfleiß – Verteilung der Truppen – Plötzlicher Schrecken und Zurüstungen zu einem Feldzuge

VIERZEHNTES KAPITEL: Skipetaren – Zug nach dem Pindos

FÜNFZEHNTES KAPITEL: Zusammentreffen der Lager – Konferenz zwischen den Anführern – Neue Besorgnisse

SECHZEHNTES KAPITEL: Eindrücke, die das Skipetarenlager auf uns machte – Frühere Lage und zukünftige Aussichten Albaniens – Vergleichende Charakterzüge des Aufstandes in der Türkei und in Europa

SIEBZEHNTES KAPITEL: Abreise aus dem Lager – Abenteuer auf dem Pindos – Aufwinden in ein Kloster – Meteora – Entdeckung seltsamer Intrigen – Der radikale Gouverneur von Trikala – Ankunft in Lárissa

ACHTZEHNTES KAPITEL: Thessalien

NEUNZEHNTES KAPITEL: Aufnahme der albanesischen Beys aus Monastir

ZWANZIGSTES KAPITEL: Ausflüge in Thessalien – Politische Stellung Englands – Abenteuer in Thermopylä – Feld von Pharsalia – Ver fassung und Wohlstand der Städter in Magnesia – Túrnovo – Einführung der Künste aus Kleinasien – Geschichte Turkhan Beys

EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL: Ein Rückblick – Mohammed IV. und seine Zeiten – Diplomatischer Verkehr – Gegenseitiges National-Unrecht – Dragomans im Orient – Handelsbe schränkungen im Abendlande

ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL: Geselliger Verkehr mit den Türken

DREIUNDZWANZIGSTES KAPITEL: Eigentümlichkeiten eines orientalischen und eines antiken Zimmers – Erscheinen eines Europäers in morgenländischer Gesellschaft

VIERUNDZWANZIGSTES KAPITEL: Streifereien auf dem Olymp und Ersteigen des Gipfels

FÜNFUNZWANZIGSTES KAPITEL: Gerichtsverwaltung und auswärtige Angelegenheiten eines Bergräuber-Königs – Organische Überreste des trojanischen Krieges

VORWORT DES HERAUSGEBERS

Vom ausgehenden 17. Jahrhundert an gehörten Reiseberichte zu den meistgelesenen Werken in der schönen Literatur. Verglichen mit den Büchern unserer Tage, hätte so manche Publikation ihren Weg in die heute verbreiteten Bestsellerlisten gefunden - und dort auch, wie ein moderner Roman, einen Platz für längere Zeit gehalten. Um so mehr galt dies natürlich für Berichte, die Auskunft über Länder und Menschen gaben, an deren Schicksal halb Europa Anteil nahm. Ein sehr gutes Beispiel dafür ist das Osmanische Reich, das nicht zuletzt durch den Einfluss der europäischen Großmächte aus den Fugen zu geraten schien. Insbesondere an den Rändern dieses riesigen Reichs, das in seiner größten Ausdehnung das Römische um ein Vielfaches übertroffen hatte, entstanden oft aus einer Unzufriedenheit mit den allgemeinen politischen Verhältnissen heraus Unabhängigkeitsbewegungen - so auch im Gebiet des modernen Griechenlands. In Mittel- und Westeuropa nahm man daran großen Anteil. Zum einen verband man das neue Griechentum jener Zeit mit der klassischen Antike, für deren Ideale man sich insbesondere seit der Französischen Revolution wieder neu begeistert hatte, zum anderen hielt man in den eigenen Ländern den Begriff der politisch-bürgerlichen Freiheit hoch, die man nunmehr auch auf andere Weltgegenden übertrug. Überall in Europa entstanden daher die sogenannten Philhellenischen Gesellschaften und Vereine, deren Ziel es war, den Griechen zu einem eigenen Staat zu verhelfen. Vor diesem Hintergrund waren Reiseberichte aus dem westlichen Osmanischen Reich und den griechischen Territorien hochgeschätzt - und verschafften Verlegern wie auch Buchhändlern steigende Umsätze.

Natürlich setzte sich der osmanische Staat gegen eine solche mögliche Verkleinerung seines Territoriums zur Wehr, ein Staat freilich, der einen tiefen inneren Wandel durchmachte und der von den europäischen Großmächten des frühen 19. Jahrhunderts intensiv beobachtet wurde. Das waren in erster Linie Russland, Frankreich und England, während sich Österreich, das Interessen in erster Linie auf dem Balkan wahrnahm, aus dem sich abzeichnenden internationalen Konflikt zunächst noch heraushielt. Die Positionen waren klar. Frankreich unterstützte den Unabhängigkeitskampf der Griechen auf eigene Rechnung, um damit den Einfluss der Osmanen im Mittelmeerraum zu mindern und engagierte sich eher im südlichen Griechenland. Russland, das ja auch im Kaukasus gemeinsame Grenzen mit den Osmanen hatte, strebte eher die Errichtung eines panslavischen Staates unter seiner Führung an, womit man an das alte Byzantinische Reich und die eigene Tradition des sogenannten Dritten Roms anknüpfte. Man hätte auf diese Weise eine große orthodoxe Region unter Einschluss von Rumänien, Bulgarien und Serbien aufbauen können. England dagegen stand trotz eines Lord Byron, der für Griechenland fiel, solchen Ideen skeptisch gegenüber, da man einen Zuwachs der französischen und russischen Macht zu Lasten der eigenen Interessen befürchtete. Von daher unterstützte man mal die eine, mal die andere Seite, um sich unter dem Deckmantel einer scheinbaren politischen Neutralität den türkischen Sultan gewogen zu halten und eher dafür einzutreten, dass man wohl einen kleinen, innenpolitisch autonomen griechischen Staat schafft, ohne dass dabei die Osmanen entscheidend geschwächt und der russische Einfluss in Europa zu sehr gestärkt worden wäre. So hätte man in London keinesfalls darunter gelitten, hätte sich an den politischen Konstellationen nichts geändert und wäre alles beim Alten geblieben.

Deswegen verwundert es kaum, dass am Ende der 20er-Jahre des 19. Jahrhunderts, nachdem die heftigsten Kämpfe zwischen Türken und Griechen abgeflaut waren und man - ähnlich wie heute im Kosovo - nnnach einer diplomatische Lösung suchte, zahlreiche Reisende in dem zum Teil stark zerstörten Land unterwegs waren. Zu ihnen gehörte David Urquhart, ein bekennender Freund der Osmanen, von dem aber nicht ganz klar ist, welche Zwecke er eigentlich mit seiner Reise verfolgte.

Urquhart wurde 1805 auf Braelangwell Castle unweit der schottischen Stadt Inverness geboren. Er besuchte Internate in der Schweiz, in Frankreich und in Spanien, um nach seiner Rückkehr am St. John’s College in Cambridge Altertumskunde zu studieren. Während dieser Zeit starb sein Vater, was dazu führte, dass er sein Studium abbrechen und sich um den elterlichen Besitz kümmern musste. Im Jahr 1827 jedoch ging er zusammen mit Admiral Thomas Cochrane, der aus dem Dienst der englischen Flotte entlassen worden war, nach Griechenland, um an dem dortigen Unabhängigkeitskampf teilzunehmen. Ob nun auf Anforderung oder nicht, jedenfalls berichtete Urquhart der britischen Regierung regelmäßig über die Kämpfe, die bis zum Jahr 1829 zur Ruhe gekommen waren und in deren Verlauf die südlichen Teile des modernen Griechenlands hatten befreit werden können. Nach dem sogenannten Juli-Traktat des Jahres 1830, das in London beschlossen worden war, sollten die Griechen jedoch einige der von ihnen eroberten Gebiete wieder räumen, was auf breiten Widerstand in der griechischsprachigen Bevölkerung stieß. Unumstritten waren Attika, die südlichen Teile Thessaliens und auch der Peloponnes. Das mittelgriechische Bergland hingegen, das nördlich einer Linie von Preveza bzw. Arta nach Volos lag, sollte im Osmanischen Reich verbleiben. Urquharts ursprünglicher Plan war es, bereits 1829 nach dem Ende der Kämpfe wieder nach London zurückzukehren. Aus seinem Bericht geht nun nicht eindeutig hervor, warum er in Griechenland blieb und seine mehrmonatige Reise auf sich nahm, die ihn zunächst nach Arta und Jannena und dann in etwa entlang der neu vereinbarten Demarkationslinie nach Thessalien und weiter in den Norden brachte. Vieles spricht dafür, dass er ein Doppelleben führte. Denn zum einen war er als Reisender unterwegs, der sich für Landschaften, geologische Formationen, Altertümer sowie für Sitten und Gebräuche interessierte, zum anderen fällt auf, dass ihm auf den Wegen, die er ging, eine Spur des Todes und der Verwüstung folgte. In Nordgriechenland hatten nämlich verschiedene albanische Gruppen die Gelegenheit genutzt, ihren eigenen Einfluss geltend zu machen, und je nach politischer Lage für die Griechen oder für die Türken gekämpft. Eines ihrer Zentren war die Gebirgsregion nördlich von Jannena, wo wenige Jahre zuvor der albanischstämmige Ali Pascha ein eigenständiges Herrschaftsgebiet errichtet hatte, das die Osmanen nur mühsam hatten zurückgewinnen können. Urquhart besuchte nun Jannena, das bald darauf ein weiteres Mal vom türkischen Heer zerstört wurde. Daraufhin traf er sich im Pindos-Gebirge mit den beiden wichtigsten albanischen Stammesführern, die nicht allzu viel später mitsamt ihren Einheiten regelrecht abgeschlachtet wurden - weil ihre Gegner entscheidende Informationen über deren Stärke und Vorgehensweise besaßen. Dabei hatte Urquhart die Gastfreundschaft beider genossen - nachdem er sich ihnen zuvor mehr oder weniger aufgedrängt hatte. Über Mittelund Nordgriechenland sowie über den Berg Athos, Gebiete, die bis nach 1922 bei der Türkei verblieben, reiste Urquhart schließlich nach Skutari/Skodar in Albanien und danach über Konstantinopel zurück nach England. Eine weitere Reise brachte ihn Anfang der 30er-Jahre des 19. Jahrhunderts erneut in die Türkei, die er daraufhin als wichtigsten und verlässlichsten Bündnispartner Englands anpries. Überhaupt wurde Russland in der Folgezeit sein Lieblingsfeind, das er während und nach seiner kurzen Zeit als Botschaftssekretär in Konstantinopel (1835-1836) heftig bekämpfte. Politische Kompromisse lehnte er ab, weswegen sich Urquhart nunmehr gegen seinen früheren Förderer Lord Palmerston stellte.

Heftige Angriffe auf seinen Gegner prägten auch seine Zeit als Abgeordneter im britischen Unterhaus, dem er von 1847 bis 1852 angehörte. Sein barsches Auftreten, insbesondere nach der Montenegro-Krise des Jahres 1853, verhinderte jedoch, dass er 1854 erneut in das Parlament gewählt wurde. Seine politischen Ambitionen musste Urquhart von da an aufgeben, nicht aber seine ausgedehnte Reisetätigkeit, die ihn immer wieder in das Osmanische Reich, aber auch nach Frankreich, Spanien und Nordafrika bringen sollte. So verwundert es nicht weiter, dass er nicht in seiner Heimat starb, sondern am 16. Mai 1877 in Neapel. Was er seit seinem ersten Aufenthalt in den osmanischen Gebieten beförderte, waren einerseits die politischen und wirtschaftlichen Interessen Großbritanniens, und damit verbunden eine starke Türkei als unabdingbares Gegengewicht zu einem immer einflussreicheren Russland. Dessen enormes wirtschaftliches Potenzial, das auch England hätte gefährlich werden können, war ihm nicht verborgen geblieben. Andererseits waren Urquharts Methoden mitunter rücksichtslos, da er auch in dem von ihm so geschätzten Osmanischen Reich Aufstände anzettelte, wenn ihm dies geboten erschien.

Daneben zeigte er sich von den seiner Meinung nach ursprünglichen orientalischen Lebensformen begeistert, und es gelang ihm sogar, sein persönliches Umfeld dafür zu gewinnen. So war er im Jahr 1850 einer der Initiatoren für den Bau des ersten türkischen Bades in London, das großen Anklang finden sollte. Auch im vorliegenden Reisebericht, der im Jahr 1839 unter dem Titel „The Spirit of the East” erschien und der noch im selben Jahr ins Deutsche übersetzt wurde, finden sich zahlreiche Elogien auf die Welt des Orients. Die Menschen lebten dort noch der Natur näher, sie gestalteten sich ihre Umwelt so, wie es ihren Bedürfnissen entspricht, Herr und Diener könnten an demselben Tisch essen, und vor allem sei es die Landschaft, die auch die Wesenszüge derjenigen präge, die in ihr leben. Eindrucksvoll beschreibt er den Idealtyp des orientalischen Hauses, in dem man sich allem Anschein nach frei bewegen kann - wenn man nur die unausgesprochenen Regeln versteht, die ein geordnetes Zusammenleben überhaupt erst gewährleisten. Aber man muss sich nicht über diese Dinge verständigen, sondern alles liegt klar vor Augen, und jeder weiß, wie er sich zu benehmen hat. Urquhart steht damit in der Tradition der Romantik, einer stark zurückgewandten freilich, die in jedem Fortschritt zugleich die Zerstörung eines alten, vertrauten Wertes sieht.

Vor diesem Hintergrund will Urquhart - wie er es in seinem Vorwort ausdrückt - einen unverfälschten Einblick in die Dinge vermitteln, um sich auf diese Weise von seinen zahlreichen literarischen Mitbewerbern zu unterscheiden, die über ihre Reiseberichte eher die eigenen politischen Überzeugungen vermittelten. Im Gegensatz zu ihm selbst fehle diesen Autoren nämlich die Bereitschaft, sich wirklich auf die geschilderte Kultur einzulassen und dieser nicht von vornherein mit dem Bewusstsein zu begegnen, dass man aus einer in jeder Beziehung überlegenen Position heraus schreibe und urteile. Er werde jedoch anders vorgehen, um damit als einziger dem Gegenstand gerecht zu werden, über den er berichten will.

Wie sich dabei schon recht bald zeigt, interessiert ihn der von den ionischen Inseln und Epiros ausgehende Kampf um die staatliche Unabhängigkeit Griechenlands wenig. Urquhart sieht darin nur einen Prozess des Verfalls, der eine bis dahin bestehende gute politische und soziale Ordnung durcheinander bringt. So besuchte er während seiner Reise insbesondere die noch umkämpften Gebiete, um festzustellen, dass dort anstelle der früheren wirtschaftlichen Prosperität nur noch Armut herrscht, dass Dörfer und Städte zerstört sind und dass deren Einwohnerschaft ganz erheblich zusammengeschrumpft ist. Dies sei das ernüchternde Ergebnis eines zehnjährigen Kampfes, der aus Urquharts Sicht hätte vermieden werden können. Dass es so weit gekommen sei, liege aber nicht nur am griechischen Aufstand und den daran teilnehmenden, untereinander zum Teil verfeindeten Gruppen, sondern auch an den Türken selbst, die sich seit dem 19. Jahrhundert mehr und mehr dem schädlichen westlichen Einfluss geöffnet hätten, um westeuropäische Institutionen und Umgangsformen nachzuahmen. Und in der Tat war das 19. Jahrhundert für das Osmanische Reich ein Jahrhundert der Reformen, in dem man zahlreiche, aus Westeuropa stammende Elemente übernahm - und die nicht zuletzt in der weiteren politischen Entwicklung den aus Thessalonike stammenden Kemal Atatürk dazu bewogen, das Zentrum der politischen Macht von Europa weg nach Asien zu verlegen. Bis heute verbindet man in der Türkei den Zusammenbruch des Osmanischen Reiches und die Einbuße der politischen Macht vor allem mit dem westeuropäischen Einfluss jener Zeit - und vor diesem Hintergrund begegnet man Europa nach wie vor mit großen Vorbehalten.

Die Naivität, mit der Urquhart seine persönlichen Überzeugungen vorträgt, ist bisweilen aber grenzenlos. Von den Osmanen fordert er, dass sie an ihren alten Werten festhalten und damit zugleich ein Agrarstaat bleiben sollen - der sich freilich für die Produkte der rasch wachsenden englischen Industrie zu öffnen habe. Der Islam sei eine tolerante, friedfertige Religion, aber von den Greueltaten der Sultane und Wesire gegen die christliche Bevölkerung insbesondere in den europäischen Teilen des Osmanischen Reiches und der in Konstantinopel begünstigten kulturellen Gleichmacherei schreibt oder weiß er nichts. England sei die einzige politisch unschuldige Weltmacht dieser Zeit, die keine territoriale Ausdehnung anstrebe, und daher der natürliche Verbündete der Türkei, die ähnliche Prinzipien verfolge. Der britische Kolonialismus hingegen wird reichlich beschönigt. Dass Urquhart mit seinen Überzeugungen auf Dauer jedoch allein stehen sollte, beweist das unvermittelte Ende seiner politischen Laufbahn nach 1852: Man hörte ihn zwar nach wie vor an, man las seine Bücher, aber seine Sicht der Welt hatte mit den politischen Realitäten jener Tage nicht mehr viel zu tun.

Urquharts Reisebericht wird damit auch zu einem Dokument jener tiefen politischen Veränderung, die ganz Europa und das Osmanische Reich im 19. Jahrhundert ergriff. Er selbst wehrt sich dagegen und will das verteidigen, was er für die alten Ideale hält, die allein den Fortbestand einer Gesellschaft sichern könnten. Mit diesen Vorstellungen ist er vertraut, sein eigenes Wohlbefinden hängt davon ab, und daher möchte er sie um keinen Preis verlieren. So erklärt sich auch die innere Struktur seiner Texte, denn in die Abfolge einzelner Episoden und Erlebnisse fügt er immer wieder allgemeine Erwägungen ein, mit denen er seine persönlichen Überzeugungen zu erkennen gibt. Einer seiner sehr begierigen Leser in Deutschland war übrigens Karl May, der Urquharts Weltsicht mehr oder weniger übernahm - und auch in formaler Hinsicht ganz ähnlich schrieb.

Mitunter fällt es dem Leser ein wenig schwer, nicht doch die Geduld mit dem Autor zu verlieren, dessen politische Absichten man rasch durchschaut. Den einen oder anderen Exkurs, der von den unmittelbaren Erlebnissen ablenkt, hätte man sich vielleicht gerne erspart. Andererseits erweist er sich damit jedoch wieder als sehr belesen, und es beeindruckt durchaus, dass er die wichtigsten Bücher zur osmanischen Geschichte kennt und verarbeitet, die in seiner Zeit erhältlich waren. Dies spricht für Urquhart und zeigt, dass er immerhin dazu bereit war, auch andere Sichtweisen zur Kenntnis zu nehmen und sich damit auseinander zu setzen.

Der vorliegende Band enthält nun die erste Hälfte seiner Reise, die ihn vom Peloponnes zum Berg Olymp in Thessalien brachte - und damit aus griechischem in türkisches Territorium. Die deutsche Übersetzung des 19. Jahrhunderts, die Urquharts mitunter altertümliches Englisch nachahmt, wurde zum Teil sprachlich angepasst, zum Teil aber auch verbessert, wo offensichtliche Verständnisfehler vorlagen. Neben Urquharts eigenen Erläuterungen hatte bereits der Übersetzer einige Begriffe oder auch Vorgänge mit eigenen Anmerkungen versehen. Diese wurden - sofern zutreffend - beibehalten und entsprechend gekennzeichnet. Viele Namen und Ereignisse, die man um 1840 noch als allgemein bekannt voraussetzen konnte, sind heute jedoch nicht mehr ohne Weiteres nachvollziehbar. Um aber das Verständnis des Textes zu gewährleisten, mussten nunmehr eine ganze Reihe neuer Erklärungen ergänzt werden. Ein Name oder Begriff wird dabei beim ersten Auftreten kurz erläutert, da anderenfalls der größere Sinnzusammenhang verlorenginge. Urquhart selbst hatte eine ganze Reihe griechischer Zitate in seinen Text aufgenommen - und diese mit einer Ausnahme auch richtig wiedergegeben. Um der besseren Lesbarkeit willen, wurden diese Passagen nun jedoch unter den Text gesetzt, zumal Urquhart selbst diese zu einem großen Teil schon übertragen hatte. Doch wie eingangs bereits angedeutet: Solche Reiseberichte wurden - bevor Kulturwissenschaftler und Historiker sie für sich in Anspruch nahmen - als Werke der schönen Literatur verfasst und von ihrem Publikum auch als solche verstanden. Und von daher sollten sie in erster Linie auch gut lesbar sein.

Weiterführende Literatur:

D. BREWER, THE FLAME OF FREEDOM. THE GREEK WAR OF INDIPENDENCE, 1821-1833. LONDON 2001.

P. N. TZERMIAS, NEUGRIECHISCHE GESCHICHTE. EINE EINFÜHRUNG. 3., ÜBERARBEITETE UND ERWEITERTE AUFL. TÜBINGEN 1999.

R. HEYDENREUTHER (HRG.), DIE ERTRÄUMTE NATION. GRIECHENLANDS WIEDERGEBURT IM 19. JAHRHUNDERT. 2. AUFL. MÜNCHEN 1995.

TH. C. PROUSIS, RUSSIAN SOCIETY AND GREEK REVOLUTION. DEKALB, ILL., 1994.

G. HERING, DIE POLITISCHEN PARTEIEN IN GRIECHENLAND, 1821-1936. BAND 1. MÜNCHEN 1992.

G. ROBINSON, DAVID URQUHART. BOSTON 1920.

(Titel der deutschen Originalausgabe)

DER GEIST DES ORIENTS

erläutert in einem Tagebuch

über

Reisen durch Rumili

während einer ereignisreichen Zeit.

Von

D. Urquhart, Esq.

Verfasser der Schriften: „Die Türkei und ihre Hilfsquellen“ -„England, Frankreich, Russland und die Türkei“ u.s.w.

Aus dem Englischen übersetzt von F. Georg Buck, b.R. Dr. Hamburg

(Motto: Nicht durch Tatsachen, sondern durch Ansichten über Tatsachen lassen sich die Menschen leiten. Epiktet.)

Erster Band

Stuttgart und Tübingen, Verlag der J.G. Cotta’schen Buchhandlung 1839.

Dem Andenken Wilhelms IV. gewidmet.

EINLEITUNG

Jeder Reisende, der dem Publikum ein Werk vorlegt, setzt voraus, dass er neue Tatsachen oder Ideen mitzuteilen oder irrige Angaben oder Meinungen in den Werken seiner Vorgänger zu berichtigen habe. Ist das richtig in Beziehung auf uns nahe liegende Länder, mit deren Sprache, Einrichtungen und Gebräuchen wir völlig vertraut sind, so muss es noch viel anwendbarer auf ferne Länder sein, deren Sitten und Einrichtungen den unsrigen unähnlich, mit deren Sprache wir nun einmal nicht bekannt sind, von deren Literatur wir nichts wissen, mit deren Gesellschaft wir nie zusammenkommen, zwischen deren Bewohnern und unseren Landsleuten selten oder nie Freundschaft besteht. Wer zufällig in solch ein Land reist, muss, da es ihm unmöglich ist, genau zu beobachten, eine Menge oberflächlicher Eindrücke in sich aufnehmen, die er dann bei seiner Heimkehr eben so leicht und bunt verbreitet, wie er eben sie empfangen. Nicht sowohl in dem Glauben daher, dass vieles zu berichtigen sei in den Meinungen, die aus solchen Nachrichten in Bezug auf die Länder entstanden sind, von denen diese Bände handeln, sondern in der Überzeugung, dass man gar nichts davon weiß, übergebe ich diese Bände meinen Landsleuten. Mit den Sitten eines Volkes geht es, wie mit seiner Sprache: Keines von beiden kann genau beschrieben, keine Stelle kann richtig angewendet werden, wenn nicht der Geist der Volkssitten, wie die Grammatik der Volkssprache fleißig studiert und vollkommen begriffen ist.

Die Ansprüche, die ich aufweisen kann, um mein Selbstvertrauen oder das Vertrauen anderer zu begründen, sind -zehn Jahre, die ich unablässig anwendete, die nötige Belehrung zu erlangen, um über die Länder zu urteilen, die ich hier zum Teil beschreibe. Während dieses Zeitraumes, wo kein anderer Zweck mich beschäftigte, habe ich meine Zeit gänzlich dazu gewidmet, im einzelnen oder im ganzen zu erforschen und zu studieren, was sich in gegenseitiger Verbindung auf die Gesetze, die Geschichte, den Handel, die politische und diplomatische Lage des Orients und besonders der Türkei bezog. Obgleich sich diese Untersuchungen über weite und mannigfache Felder verbreiteten, wurden sie doch systematisch auf die Aufklärung einer einzelnen Frage geleitet, der Frage nämlich, welche die Interessen und vielleicht das politische Dasein Großbritanniens zunächst berührt.

Während meiner früheren Reisen, eingebunden, wie ich ursprünglich war, in den Krieg zwischen Griechenland und der Türkei, kam ich zu den ungünstigsten Schlüssen über den Charakter der orientalischen Länder und besonders der türkischen Regierung und des türkischen Volkes. Erst nach dreijährigen fleißigen Forschungen in der Statistik1 begann ich einzusehen, dass es doch wirklich Institutionen gebe, die mit dem Orient verknüpft sind. Von dem Augenblick an, wo ich das Vorhandensein besonderer, obgleich noch unklarer Grundsätze bemerkte, erwachte in meiner Seele ein hohes Interesse, und ich machte mich an eine Sammlung finanzieller Details, in der Absicht, die Regeln kennenzulernen, auf welche diese gegründet waren. Ich darf wohl sagen, dass ich abermalige drei Jahre in dieser Ungewissheit zubrachte, und ich sammelte und notierte die Verwaltung von zweihundertfünfzig Städten und Dörfern, bevor mir die gemeinsamen Grundsätze auffielen, welche diese Verwaltung leiteten.

Erst nachdem also die Hälfte der Zeit verflossen war, die ich überhaupt im Orient zubrachte, begann ich zu merken, dass dort bestimmte Regeln und Grundsätze der geselligen Sitten und Gebräuche vorhanden waren, die man an ihnen selbst studieren müsse, und deren Erlernung eine Bedingung zum nützlichen und geselligen Verkehr sei.

Nachdem ich diesen mühsamen Prozess durchgemacht, muss ich natürlich annehmen, dass eine Kenntnis des Orients lange und emsige Arbeit erfordert, die nur von jemand unternommen werden kann, der keine andere Beschäftigung oder Ziele hat, der mit Tatkraft und Beharrlichkeit ausgerüstet und bereit ist, alle Bequemlichkeiten, Annehmlichkeiten und Lebensgenüsse, an die er gewöhnt gewesen, gänzlich aufzuopfern.

Ein Werk über den Orient ist eine Aufgabe, die kein Man von richtigem Takt leicht oder bereitwillig übernehmen kann. Je weiter man vorschreitet, gerade um so deutlicher werden die Schwierigkeiten solch eines Studiums, desto grösser das Misstrauen des Forschers.

Wenn ein Botaniker, an eine Gegend gewöhnt, die nur eine beschränkte Zahl von Arten enthält, seine Theorie der Botanik auf solche allgemeinen Regeln gegründet hat, wie er nach dieser beschränkten Anzahl von Daten aufstellen durfte oder anwenden konnte, und nun plötzlich in eine andere Gegend gerät, wo er seine Grundsätze unanwendbar oder unzureichend findet, so muss er augenblicklich die ganze Wissenschaft, zu der er sich bekennt, revidieren. Ebenso wenn man Nationen beobachtet und auf Ideen stösst, die, wenn richtig verstanden, nicht genau durch die Worte der bekannten Sprache übersetzt werden können, muss man augenblicklich zu den ersten Anfängen zurückkehren, zurück zu der Wiederbeobachtung der menschlichen Natur.

Darin liegt die Schwierigkeit des Orients, der eigentliche Grund der Verlegenheit, die sich zu vergrössern scheint, je nachdem die Materialien sich anhäufen. Wer das Morgenland einen Tag lang ansieht, kann äussere Gegenstände mit den Worten skizzieren, die in der europäischen Sprache vorhanden sind. Um aber im Stande zu sein Gedanken vorzuführen, muss er fühlen wie die Morgenländer, und dennoch diese Gefühle in einer Sprache beschreiben, die nicht die ihrige ist, und das gerade ist eine überwältigende Aufgabe. Die Sprache ist die herkömmliche Vertreterin der Eindrücke; aber wenn die Eindrücke nicht dieselben sind, können sie nicht durch gemeinsame Töne ausgedrückt werden, und deshalb ist da, wo eine Verschiedenheit der Eindrücke stattfindet, keine Möglichkeit einer gemeinsamen Sprache.

Bei dieser Schwierigkeit der gemeinsamen Mitteilung darf man natürlich nur annehme, dass jeder Teil in den Augen des anderen gelitten hat: wir sind der Mittel beraubt gewesen, das Gute zu würdigen; wir haben das Schlechte übertrieben und das Gleichgültige ungünstig gedeutet. Die ursprüngliche Unzulänglichkeit der Sprache ist später die Veranlassung zu einer entschuldbaren Feindseligkeit geworden, und aus dieser Wechselwirkung von Ursache und Wirkung ist endlich gegenseitige Verachtung entstanden. Dieses bei den im Morgenlande ansässigen Europäern eingewurzelte Missverständnis beschliesst durch die bestehende Feindseligkeit Reisende aus von dem Verkehr mit den Landeseingeborenen. Sie haben nicht den Schlüssel zum Verkehr und sind in den ersten Eindrücken, durch welche ihre ganze spätere Laufbahn notwendig geleitet wird, von den im Orient ansässigen Europäern abhängig, welche mit ihnen dieselbe Sprache reden.

Man sollte annehmen, dass Leute, die ihr Antlitz der aufgehenden Sonne zuwenden, von einem edlen Eifer der Forschung beseelt wären; dass ihre Einbildungskraft erwärmt wäre von der Poesie des orientalischen Lebens und dem Glanz morgenländischer Staffage; dass Männer, deren früheste Erziehung nach der Bibel gebildet worden, und deren kindliche Sehnsucht angefeuert wurde durch den orientalischen Hauch der „arabischen Nächte“, mitfühlend und teilnehmend auf jene Einrichtungen, Gewohnheiten und Wirkungen blicken würden, die allein in des Morgenlandes Klima leben. Nichtsdestoweniger ist es unglücklicherweise nur zu wahr, dass während europäische Reisende die politischen und moralischen Interessen und Charakterzüge vernachlässigten, die das Land darbietet, sie auch selbst die äusseren und physischen Züge vernachlässigten, die in den Bereich der Wissenschaften gehören, welche die der Gegenwart zu Gebot stehenden Fähigkeiten der Beobachtung und Vergleichung für sich in Anspruch nehmen. Die Botanik, die Geologie, die Mineralogie der europäischen und asiatischen Türkei sind kaum weiter gekommen seit Tourneforts Zeiten. Unsere gegenwärtige geographische Kunde der Länder von Hochasien verdanken wir einer in Paris angefertigten Übersetzung eines chinesischen Erdbeschreibers, dessen Werk vor anderthalb tausend Jahren erschien! Bis zum Berichte des Leutnants Burnes war die einzige Belehrung, die wir über den Lauf des Indus besaßen - des Kanals des indischen Handels und der Grenze der britischen Besitzungen - aus den Geschichtsschreibern Alexanders genommen! Wir dürfen uns also nicht wundern, dass wir unwissend sind, in Bezug auf das Wesen des orientalischen Geistes, die Grenzen orientalischer Kenntnis, die Ebbe und Flut orientalischer Meinung.

Gibt man es bloss als allgemeinen Satz zu, dass das Studium des Orients schwierig sei, dass wir von Tatsachen nichts wissen, dass wir irrige Schlüsse ziehen, so mag das ein fruchtloses, unnützes Wahrheitsbekenntnis sein, und es bleibt also noch übrig und nötig zu zeigen, wie der Gebrauch gewisser Ausdrücke, die auf unseren Zustand anwendbar sind, zur Quelle des Irrtums wird, während es dem Beobachter auf keine Weise einfallen kann, der Irrtum liege nur im Gebrauch der Sprache, mit der allein er vertraut ist. Ich will deshalb einige Beispiele geben, die vielleicht dazu dienen, die Steine des Anstoßes zu bezeichnen, welche vorurteilsvolle und europäische Begriffe auf den Pfad werfen, auf welchem man den Orient erforschte.

Blicken wir eben nicht gar viele Jahre zurück in der Geschichte von Großbritannien, so finden wir eine erniedrigte, jämmerliche, vereinzelte Bevölkerung. Wir sehen, dass der Fortschritt der Künste, der Landwirtschaft und vor allen Dingen des Wegebaues eine gleichzeitige Verbesserung in der Lage der Menschen hervorbrachte, und wir folgern natürlich, dass gute Wege, mechanische Fertigkeit u.s.w. Bedingungen des Wohlseins sind, und dass, wo sie fehlen, alles schlecht und erbärmlich sein muss. Hören wir also von Ländern, wo die Wege in so schlechtem Zustande sind, wie sie vor fünfzig Jahren in England waren, so schliessen wir, das gesellschaftliche Verhältnis dieser Länder sei, wie es in England zu einer früheren Zeit war, oder wie wir glauben, dass es war, denn der dogmatische Charakter des Heute ist stets geneigt, die Vergangenheit herabzusetzen. In England aber und in den unter derselben Breite liegenden Ländern kommen die Lebensgenüsse des Volkes aus ferner Zone her, müssen weit hervorgebracht werden, und um diese Luxusgegenstände zu erhalten, muss erst der Überfluss an heimischen Erzeugnissen ausgeführt werden, um ihn gegen jene zu vertauschen. Fehlt es einer so gelegenen Bevölkerung an leichten Transportmitteln, so muss sie aller der Lebensgenüsse entbehren, die aus dem Tauschhandel entstehen und den Gewerbfleiss erzeugen. Für sie werden also Landstraßen zur Lebensfrage; keineswegs aber sind Landstraßen von gleicher Wichtigkeit für Länder, wo jedes Dorf in seinem Bereiche die Bequemlichkeiten und Genüsse hat, welche nördliche Völkerschaften aus der Ferne holen müssen.

Auf gleiche Weise war die Bevölkerung Großbritanniens, vor der Einführung des Gemüsebaues, während der langen, rauhen Wintermonate auf Nahrungsmittel der schlechtesten Art beschränkt. Gesalzener Speck, und in früheren Zeiten Aale, war die einzige Zugabe, die der Bauer während sechs Monaten im Jahr zu seinem Roggen- oder Gerstenbrot erwarten konnte, und wir halten daher natürlich die Verbesserungen der neueren Landwirtschaft für nötig, zu einer guten und vollständigen Kost und zum Wohlsein jeder ackerbauenden Bevölkerung. In Ländern aber, wo der Winter nicht so lange anhält, und wo die Erzeugnisse des Bodens mannigfacher sind, ist der Fortschritt der Wissenschaft des Landbaues nicht in demselben Grade nötig zum Wohlsein der Gemeinde. Der „zurückstehende Ackerbau“ ist daher eine Redensart, welche nicht denselben Begriff ausdrückt, wenn man sie auf Länder in verschiedenen Breiten anwendet.

Ferner ist in unserer konstitutionellen Gedankenreihe der Ausgangspunkt, auf den wir zurückblicken, das Lehnswesen. Die Masse der Bevölkerung war damals wirkliches Eigentum, und da jeder Schritt, der geschehen ist in der Erlangung gesellschaftlicher Rechte, in der Festsetzung der Gleichheit, in der Erhebung der Macht und des Charakters eines allgemeinen Gerichtsstandes, eine Verbesserung der ursprünglichen Staatsverfassung war, so betrachten wir das Vorwärtsschreiten als gleichbedeutend mit Verbesserung. Im Morgenland ist der Ausgangspunkt: freies Eigentumsrecht jedermanns und Gleichheit aller vor dem Gesetze. Jede Abweichung von dieser ursprünglichen Verfassung ist als Verletzung ihrer Grundsätze und als Verletzung der Volksrechte vorgegangen. Morgenländische Bevölkerungen wünschen daher das Bestehenbleiben als die Sanktion der Volksrechte; der Europäer hingegen, der einsieht, das Vorrücken der Volksrechte liege in dem Worte Fortschritt, begreift den Orientalen nicht, der auf das Feststehende als auf etwas Vortreffliches hinsieht. Während also den Europäer seine vorgefasste Meinung der Fähigkeit beraubt, eine so wichtige und wertvolle Gedankenfolge zu begreifen, stellt er irrtümliche Angaben als die Grundlage aller seiner Folgerungen auf.

Sodann veranlasst das Wort „Lehnswesen“ eine ähnliche Verwirrung. Das Lehnswesen, in seiner wahren und wesentlichen Bedeutung hat im ganzen Morgenland seit allen Zeiten bestanden, und besteht noch. Dennoch habe ich mich, als ich den zwischen dem Osten und Westen bestehenden Unterschied in dem einfachsten Ausdrucke zusammenfasste, genötigt gesehen, zur Erläuterung des Gegensatzes eine Grenzlinie zwischen den Nationen zu ziehen, die das Lehnswesen durchgemacht, und den anderen, welche das nicht getan haben. Unter den ersteren verstand ich die Bewohner des westlichen Europa, mit Ausnahme einiger Bruchstücke von Rassen, z.B. der baskischen Provinzen, der Inseln Guernsey, Jersey u.s.w.

Obgleich das Lehnswesen von Osten nach Westen gebracht worden, gingen damit in unseren westlichen Gegenden Abänderungen und Modifikationen vor, die das Wesen desselben völlig umänderten. Der ursprüngliche Charakter des Lehnswesens war eine örtliche militärische Organisation zur Verteidigung des Grundes und Bodens, wofür eine regelmäßige Abgabe gezahlt wurde, die sich auf den Zehnten des Ertrags von dem so beschützten Boden belief. Das Innehaben dieser Belehnung hing von dem Willen des Souveräns ab, und in den früheren Zeiten waren es allgemein jährliche Übertragungen. Im Westen wurden die Lehnsträger, die Vasallen, Eigentümer des Bodens, mit dessen Schutz sie beauftragt waren, und stürzten so die Grundsätze des Systems gänzlich um und verfälschten den Zweck. Das Lehnswesen im Morgenland lässt dem Bebauer das Eigentumsrecht; das Lehnswesen im Abendland hat ihn dieses Recht beraubt, hat das Land auf den Lehnsträger übertragen und den Bebauer in einen Leibeigenen verwandelt. Das System ist völlig verschieden, aber das Wort ist dasselbe. Der Europäer stösst auf ein Verhältnis, das er als Lehnswesen bezeichnet, und augenblicklich wendet er nun seine Ansichten vom abendländischen Lehnswesen auf den Zustand einer bürgerlichen Gesellschaft an, wo nichts dergleichen jemals bekannt war. Daher entstehen unsere Missbegriffe von den Eigentumsrechten unserer Hindu-Untertanen und eine Grundquelle von Missbegriffen jedes Grundsatzes orientalischer Regierung, Gesetze, Eigentumsverhältnisse und Gesetzgebung.

Man ist es gewohnt, die Regierung der Türkei, wie die der übrigen morgenländischen Nationen, als Despotismus zu bezeichnen, und diese Bezeichnung hat sich nicht nur auf Reisebücher beschränkt, sondern wird von Schriftstellern eines wissenschaftlichen Charakters und in der Klassifizierung der Länder gebraucht. Nun aber ist es ein sonderbar Ding, dass unsere Idee von Despotismus dem Geiste des Orients ganz unbekannt ist; dass, um einem Orientalen das Wort zu erklären, man ihm einen gesellschaftlichen Zustand beschreiben muss, wo die Leute über die Grundsätze von Recht und Gesetz uneinig sind. Die Idee des Despotismus, oder die Verfälschung des Rechtes durch die Gewalttat der Macht, kann nur da existieren, wo zwei Meinungen über Recht und Unrecht vorhanden sind, so dass eine schwankende und zufällige Mehrheit ihren Willen als die Richtschnur von Gerechtigkeit und Gesetz durchsetzt. Solch ein Zustand der Dinge hat Gefühle tiefer Erbitterung unter den Menschen erzeugt und entwickelt, und daraus entsteht folgerichtig eine Erbitterung des Ausdrucks in allen mit der Politik verknüpften Ideen. In Ländern aber, wo die Grundsätze der Regierung niemals im Widerspruch standen mit den Meinungen irgendeiner Volksklasse, ist der Missbrauch der Gewalt Tyrannei, aber nicht Despotismus. Die Menschen mögen dulden unter der Gewalttat der Macht, aber sie werden nicht erbittert dadurch, dass Ansichten, die sie verwerfen, in Gesetze verwandelt werden.

Zu den allen Europäern gemeinsamen Quellen der Täuschung kommen noch die, welche aus den Sekten- und Partei-Ansichten der Reisenden entspringen. Jeder Engländer gehört zu der einen oder der anderen der politischen Parteien, die sein Vaterland zerspalten. Unfähig, eine unparteiische Ansicht von seinem Vaterland zu fassen, wie kann er der Beurteiler eines anderen Landes sein? Selbst seine Sprache ist unanwendbar auf den Gegenstand, und die Worte rufen die Antipathie seiner Parteilichkeit hervor. Der Liberale nennt die Türkei eine despotische Regierung, verwirft sie schon durch dies Wort und forscht nicht weiter; der Tory erblickt in der Türkei volkstümliche Grundsätze und sieht nicht weiter hin; der Radikale sieht dort Grundsätze, die er für aristokratische hält, und der Begünstiger der Aristokratie verachtet die Türkei, weil es dort keine erbliche Aristokratie gibt; der Konstitutionelle hält ein Land ohne Parlament nicht der Mühe wert, weiter daran zu denken; den Legitimisten verdrießen die dort der königlichen Gewalt gesteckten Grenzen; der Staatsökonom stösst auf ein Steuersystem, das er inquisitorisch nennt, und der Verteidiger des „Schutzes der Industrie“ kann ohne Zollhaus keinen Wohlstand, keine Zivilisation sehen. So findet das Mitglied jeder Partei, der Bekenner jeder Klasse von Meinungen in den Worten, die er zu gebrauchen gezwungen ist, dasjenige, was seine Grundsätze verletzt und seine Theorie umstürzt.

Die zunächst sich darbietenden Hindernisse sind von gesellschaftlicher Art. Täuschungen metaphysischer, logischer und politischer Beschaffenheit missleiten unsere Vernunft; Irrtümer über Sitten empören unser Gefühl. Wir werden im Orient als Verstossene, als Verworfene behandelt. Wir forschen nicht nach der Ursache; wir erwerben uns nicht die Kenntnis, wodurch unsere Stellung verändert werden kann; wir sind folglich geneigt, wo möglich ungünstig zu schliessen, und sind entweder von ihrer Gesellschaft ausgeschlossen, oder, wen wir darin zugelassen werden, leiden wir unter unaufhörlicher Geistesverstimmung.

Die nächste und letzte Quelle des Irrtums, deren ich gedenken will, ist die Religion. Im Widerspruch mit der Liturgie der englischen Kirche sehen wir die Muselmänner als Ungläubige an, und im Geist unseres Zeitalters und Vaterlandes, der nicht weniger fanatisch in der Religion als im Unglauben ist, nicht weniger unduldsam im Glauben als in der Politik, behandeln wir als Feinde unserer Religion diejenigen, welche die Evangelien als ihr Glaubensbekenntnis annehmen und setzen bei ihnen dieselbe Unduldsamkeit gegen uns voraus, deren wir uns gegen sie schuldig machen.

Als ich dieses Werk unternahm, war einer meiner Hauptzwecke, das Wesen des Islam darzulegen, sowohl in der Glaubenslehre, als auch der Ausübung. Umstände aber, die zu erörtern unnütz sein würde, haben mir die nötige Muße genommen, die Frage gehörigermassen zu behandeln. Ich muss sie daher für den Augenblick fallen lassen, und will nur bemerken, dass ich als Presbyterianer und Calvinist den Islam in seiner Glaubenslehre der wahren Kirche näher halte3 als manche Sekten sich so nennender Christen. Der Muselmann gibt nämlich die Rechtfertigung durch den Glauben zu und nicht durch gute Werke; er erkennt die Evangelien als geoffenbarte Schriften und als Glaubensregel; er betrachtet Christus als den Geist Gottes, als ohne Erbsünde, und bestimmt, wenn die Zeit erfüllt ist, zu schaffen, dass „Ein Hirte sei und Eine Herde.“4

Der gesellschaftliche und politische Einfluss des Islamismus ist völlig missverstanden worden, und ich erlaube mir nur einige Bemerkungen über das ausschliesslich weltliche und zeitliche Wesen des Islamismus, um eine andere Quelle des Irrtums in unserer Beurteilung des Orients zu erörtern.

Im Orient hat das Wort Religion nicht dieselbe Bedeutung wie in Europa. Bei uns ist Religion - Glaube und Lehre -ganz verschieden von polizeilichen Massregeln und Regierungsformen. Zur Zeit der Erhebung des Islamismus stellte der Kampf der Religionen den Meinungskampf des Westens in jetziger Zeit dar, wenn gleich mit edleren und nützlicheren Charakterzügen. Unser Meinungskampf bezieht sich auf Regierungsformen; ihr Religionskampf bezog sich auf Regierungsmassregeln. Der Grieche (seinem Glauben und System gemäß) hielt schwere Steuern, Monopole und Privilegien aufrecht. Der Muselmann (Araber und Anhänger Mohammeds) verwarf Monopole und Privilegien und erkannte nur eine einzige Vermögenssteuer an. Tuleihah, ein Nebenbuhler des Propheten, gewann verschiedene Stämme, indem er das Gesetz gegen die Zinsen wegstrich und verschiedene zivilrechtliche Vorschriften abänderte. Mosseylemah5, der größte Nebenbuhler Mohammeds, hatte ein Gesetzbuch aufgestellt, das so wenig von dem seines siegreichen Mitbewerbers abwich, dass nur örtliche und persönliche Zufälle Einfluss hatten auf den „Kampf, der entscheiden sollte, ob dieLehrsätze Mohammeds oder das Gesetzbuch Mosseylemahs der morgenländischen Welt Gesetze geben sollten.“ Er hatte nur die Grundsätze abgeschrieben von wohlfeiler Regierung, gleichem Gesetz und freiem Handel, deren Mohammed sich als der Hebel bemächtigte, die bestehende Ordnung der Dinge umzustürzen und eine neue einzuführen, die er, den Ideen seines Zeitalters und seines Vaterlandes nachgehend, mit religiösen Glaubenslehren verband, das Bestehende verbessernd und das Ganze bildend, das als Religion ausdauerte, ohne seine politischen Züge zu verlieren, und das als politisches System triumphierte, ohne seinen Charakter der Gottesverehrung abzulegen.

Nach langer und sorgfältiger Erwägung, während deren ich mich mehr auf lebendige Eindrücke als auf kalte Erzählungen der Vergangenheit verließ, und wobei ich den Vorteil hatte, die Ursachen und Wirkungen neuerlicher Annahme des Islams durch christliche und heidnische Bevölkerungen ansehen zu können, bin ich zu der folgenden Beurteilung des politischen Charakters des Islams gelangt.

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