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Originalausgabe 2/2014

Copyright © 2014

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie

Werbeagentur, Zürich, Dominic Wilhelm

Titelfoto © Florian Seidel

Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels

ISBN: 978-3-641-11342-1

www.heyne.de

Für alle Frauen
Alle Männer
Und all die wunderbaren
Anderen

Inhalt

Vorwort

1 Verbotenes Wohlgefühl

2 Die Weiblichkeit ist kein Bermudadreieck

3 Schwimmen in der Luft

4 Kein Mann mehr?

5 Der Weg ist, wo die Angst ist

6 Frauenoffen

7 Seelennackt

8 Wunderglimmen

9 Schutzlos

10 Dominomenschen

11 Unstillbar

12 Gespielte Freiheit

13 Die Liebe ist kein Christbaum

14 Ein richtiger Mann

15 Orgasmus Location

16 Der Mann ist eine Art Frau

17 Freundschaft ist kein Loblied

18 Belästigungen können Steine zerkratzen – und Seelen noch viel mehr

19 Die Männer-Minus-Quote

20 Die Ausgrenzung der Weiblichkeit

21 Seelenblankgerieben

22 Mein erster Flug

23 Wegschwimmende Felle

Danke

Ein paar Tipps zum Weiterlesen

Vorwort

Es gibt viele Bücher, die sich der Geschlechterdiskussion und dem endlos diskutierten ominösen Unterschied zwischen Mann und Frau auf wissenschaftliche oder auf populärwissenschaftliche Weise annähern, nicht selten sehr theoretisch und differenziert. Diesen Arbeiten gebührt mein Respekt. Im Zentrum meines über ein Jahr dauernden Selbstversuchs, als Frau durch die Welt zu gehen, stand jedoch etwas anderes: Ich wollte nicht immer nur von der Weiblichkeit und von der Frau im Manne sprechen, sondern mich ihr praktisch annähern.

Mein Interesse bestand darin, überflüssige und vielleicht überholte Grenzen zu erkennen und zu überwinden. Es war diese innere Stimme, die Lust, ihr zu folgen und die gleichzeitige Angst davor, es am Ende wirklich zu tun. Was würde geschehen, in mir, außerhalb von mir, wenn ich ein solches Wagnis einginge?

Entstanden ist mein persönliches Erlebnis einer Tabuüberschreitung. An ihrem Ende steht die Erkenntnis, dass aus einer anfänglich großen Skepsis gegenüber unserer »friedlichen«, »aufgeschlossenen« und ach so unglaublich »freiheitlichen« Zeit, dank vieler überraschender und unerwarteter Begegnungen eine echte Bereicherung für mich und mein Leben entstanden ist.

Vielleicht inspiriert die Art und Weise, wie ich meinen Selbstversuch angegangen bin, den einen oder anderen, auf seine eigene Weise aus dem eigenen Aquarium herauszuschwimmen.

Die auf den folgenden Seiten geschilderten Erlebnisse habe ich genau so erfahren. Alle Personen existieren tatsächlich, nur die meisten Namen habe ich geändert und manche Geschehnisse etwas verfremdet, um ihre Privatsphäre zu schützen.

München, 15. Oktober 2013

CHRISTIAN SEIDEL

Wenn der hölzerne Mann zu singen beginnt,
erhebt sich die Steinfrau und tanzt.

TOSAN (ein alter Tantra-Spruch)

1

Verbotenes Wohlgefühl

»Weißt du, was Nachtdüfte sind?«, fragte ich meine Frau.

»Natürlich weiß ich das! Sie stecken in Fläschchen, aus denen ich mir für die Nacht etwas Schönes auf die Haut träufeln kann.«

»Und warum hast du mir noch nie von ihnen erzählt? Was gibt es bei euch Frauen denn noch alles Interessantes, was ich nicht weiß?«

»Was redest du eigentlich die ganze Zeit für komisches Zeug?«

»Ich hab diese Duftfläschchen in der Damenabteilung im Kaufhaus gesehen. Für Männer gibt es so etwas nicht.«

Maria kicherte: »Du warst du in der Damenabteilung? Was wolltest du denn da?«

»Ich finde das alles ziemlich spannend.«

»Wie bitte, was alles? Die Damenabteilung, Nachtdüfte?«

Alles ganz offen erzählen ist das Beste, dachte ich. Besser, als wenn sie die Strümpfe in meinem Schrank entdecken würde. Besser, als wenn sie deswegen denken könnte, ich hätte sie mit einer anderen Frau betrogen. Viel besser, als wenn ich ihr dann erklären müsste, dass es diese andere Frau tatsächlich gab, dass es sich bei ihr aber um mich selbst handelte, ich etwas von einer weiblichen Stimme, der Frau in mir, faseln würde, wobei sie überlegen würde, ob ich verrückt geworden sei. Irgendwann musste ich es ihr sowieso sagen. Warum also nicht jetzt.

Ich sah in Marias Augen. Sie blitzten mich unsicher an. Würde sie jetzt böse werden? Oder könnte sie meine »Beichte« humorvoll und interessiert aufnehmen? Vielleicht würde sie so wunderschön lachen, wie ich es an ihr immer geliebt hatte in all den Jahren. Und ich würde weiter dieses Glücksgefühl empfinden können, mit dieser wunderbaren Frau zusammen sein.

Maria und ich saßen in unserem vietnamesischen Lieblingsrestaurant. Natürlich an dem Tisch beim Aquarium. Das Wasser gurgelte immer so auffällig leise, dass es nicht störte und man es, wann immer man wollte, angenehm wahrnahm. Und wie immer, wenn ich nicht wusste, wie ich etwas sagen sollte, schaute ich dort hinein. Langsam schwebten die Fische durchs Wasser. Und dann wieder ganz schnell. Ohne, dass man es erwartete. Warum stießen sie nie am Glasrand an? Den konnten sie doch unmöglich sehen. Sie hatten solche Probleme nicht.

»Ist dir eigentlich nicht aufgefallen, dass ich in diesem Winter noch keine Bronchitis hatte?«, sagte ich schließlich leise zu Maria.

»Stimmt, toll!«

»Und weißt du warum? Weil ich jetzt Nylonstrümpfe trage! Das wollte ich dir endlich einmal erzählen.«

Jetzt musste sie tatsächlich lachen. Schallend aber, was mir peinlich war und mich verletzte.

Sie warf mit dieser typisch weiblichen Bewegung, die ich so an ihr liebte, ihr blondes Haar zurück. Und da ich das Gefühl hatte, dass sie mich nicht ernst nahm, ließ ich die Katze aus dem Sack. Meine kleine Rache für dieses Lachen.

»Halterlose!«, sagte ich. Sie waren für mich ja kein Witz, diese Strümpfe. Sie waren eine neue Erfahrung. Der Schlüssel zu einer neuen Welt. Um ihr das Ausmaß der Katastrophe wirklich ganz deutlich vor Augen zu führen, griff ich unter den Tisch und zog meine Hosenbeine nach oben: »Du glaubst mir nicht? Doch, schau mal!«

Schwarze Nylons auf zusammengepressten Männerbeinhaaren.

»Was, du trägst Damenwäsche?«, flüsterte Maria fassungslos.

Der Anblick der halterlosen Strümpfe brachte ihre Miene auf eine eigenartige Weise ruckartig zum Stillstand. So wie man schaut, wenn der Glaube im Sturzflug von einem abfällt. Das Vertrauen in etwas, von dem man immer dachte, dass es doch das Selbstverständlichste der Welt sei. Dass ein Mann unerschütterlich und unzerstörbar sein muss. Keine Nylons trägt. So, wie ein Mann eben zu sein hat.

Plötzlich fühlte ich mich schuldig. Ich hatte wohl etwas Gravierendes falsch gemacht. Zu deutlich erzählt, auf die falsche Weise, nicht diplomatisch genug, vielleicht zu viel auf einmal? Dabei hatte ich nichts gestohlen. Ich hatte meine Frau auch nicht betrogen. Nichts Unanständiges getan. Oder etwa doch?

Wir hatten nur einen entspannten Abend haben wollen, waren Arm in Arm durch die Straßen spaziert, zu unserem vietnamesischen Lieblingsrestaurant. Das Essen hatte fabelhaft geschmeckt. Tintenfischsuppe mit Glasnudeln. Knusprige Ente mit Chili. Weiter hinten im Lokal plätscherte auch noch der Miniwasserfall beim Zen-Altar. Alles sehr friedlich. Und jetzt diese bedrückte Stimmung. Wegen eines Paars Nylonstrümpfe.

»Was hast du denn?«, beschwichtigte ich Maria und versuchte es mit Komischsein: »Schau, willst du mal fühlen? Findest du sie nicht perfekt für mich?«

War da ein feuchter Schimmer in Marias Augen? Hektisch rang ich um die richtigen Worte. In dem Moment fühlte ich mich so furchtbar tief unter Wasser.

Wie sollte ich meiner Frau denn um Himmels willen klarmachen, dass das doch gar nichts Schlimmes war, was ich machte. Genau diese Absurdität war es, die mich immer mehr reizte. Sie weckte eine eigenartige Kriegslust in mir. Ganze Streitmächte marschierten plötzlich auf und scharrten mit den Waffen.

»Es ist völlig harmlos, Liebling«, stammelte ich. »Soll ich es dir erzählen? Es hat eigentlich alles ganz zufällig angefangen, ich kann gar nichts dafür …!«

Genau das war es, genau das! Dieses Verbiegen, Verdrehen, dieser scheiß Druck, dachte ich in mir drinnen. Und gleichzeitig sagte diese neue Stimme in mir: »Was soll dieser Quatsch, seit wann musst du dich dafür rechtfertigen, was du anziehst?«

Immerhin bestellte sich Maria noch ein Glas Wein. Sie war nicht sofort aufgestanden und gegangen. Ein gutes Zeichen.

»Aber warum muss es denn ausgerechnet Damenunterwäsche sein, wenn du perverse Erfahrungen machen willst?«, fragte sie mich.

So sehr es mich erleichterte, dass sie dabei an ihrem Wein nippte, so sehr ärgerte mich aber auch ihre Frage.

»Pervers?«, antwortete ich. »Ich will versuchen, dir alles zu erklären.«

»Also, mir ist das zu peinlich«, sagte Maria, »du bist doch ein Mann. Warum trägst du nicht einen Ohrring, so wie es andere eitle Männer machen, oder rote Schuhe? Warum wirfst du dir nicht einen eleganten Schal um?«

Wollte oder konnte sie mich einfach nicht verstehen? Langsam wurde ich wütend. Das hatte ich mir schon gedacht. Dass für all dies kein Mensch auch nur einen Hauch von Verständnis haben würde. Sondern nur ein Universum an Kategorien. »Eitel« und »pervers« hatte sie gesagt. Kaum machte ich etwas, das außerhalb einer Norm lag, stand sofort eine andere bereit, um mich fein säuberlich danach einzustufen. Dieser Schubladenhaufen aus Normen kam mir vor wie eine Niemandszone. In den Schubladen fanden nämlich keine Berührungen mehr statt. Sie waren leblos. Die Menschen wurden in ihnen durch beschriftete Deckel fein säuberlich voneinander getrennt. Befand man sich nicht in einer solchen Zone, bestand die Gefahr, durchs Raster zu fallen. Durch die ganze Gesellschaft. Genauso existenziell fühlte sich die Angst an, die ich in dieser Gesprächssituation empfand. Diese Möglichkeit, alles verlieren zu können. Meine Frau und vielleicht noch viel mehr. Nur weil ich Nylonstrümpfe trug und versuchte, offen dazu zu stehen.

»Ich trage diese Strümpfe, weil mir kalt ist. Keiner sieht sie. Soll ich dir das verschweigen und es heimlich tun?«

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Es hatte an jenem Tag begonnen, als ich durch die Damenabteilung eines Kaufhauses streunte. In diesem langen Winter gab es einen besonders unwirtlichen Tag. Er war einer von denen, die einem das Leben in der Übergangszeit zum Frühjahr so unleidlich machen. Wie immer ging ich morgens unten am Fluss spazieren. Eigentlich wollte ich nur aufs Wasser blicken, in Ruhe in den Himmel schauen, stehen bleiben und ganz entspannt den Enten zugucken. Doch irgendetwas ärgerte mich: Ich konnte meine aufsteigende Unzufriedenheit nicht im Zaum halten, über mich selbst und all die Dinge, die mich immer wieder störten in meinem Leben. Die ich so leicht überging und wegschob, anstatt etwas gegen sie zu tun. Sie wirkten so lästig klein und waren viel zu unwichtig, als dass man sich mit ihnen beschäftigen müsste. Und dennoch hatten sie mich im Griff.

Dieses Mal war es der kalte Wind, der mich nervte. Er kroch unter meine Hosen und die Waden hoch. Als ich das bemerkte, musste ich niesen. Schon immer fror ich leicht, und augenblicklich wusste ich: Jetzt ist es so weit. Eine Riesenerkältung bahnt sich an. Wegen dieser Mischtemperaturen, bei denen ich nie wusste, ob es draußen mittelwarm, halbkalt oder eiskalt war, würde ich meinen jährlichen Schnupfen bekommen. Der würde sich in die übliche Bronchitis verwandeln. Die würde ich dann nur noch schwer wegkriegen. Und davon hatte ich die Nase so gestrichen voll. Dieser seit Jahren wiederkehrende Krankheitsverlauf. Einzig und alleine meine Unterkleidung trug daran die Schuld! Das war meine feste Überzeugung. Diese mickrige Auswahl, die Männern angeboten wurde. Ich wollte endlich einmal etwas anderes als diese fetten Unterhosen, die ich im Winter auf Restauranttoiletten mühselig auszog, weil ich in ihnen so schwitzte. Die ich mir klammheimlich in meinen Jackettärmel stopfte, bevor ich das Klo verließ, und dann in der Garderobe in meinen Mantel schob, um sie schließlich vor Verlassen des Lokals wieder ganz schnell anzuziehen. Dieses unbequeme, dicke, lieblos zusammengenähte und sich oft lumpenartig anfühlende Zeugs. Es war mir schon zuwider gewesen, als ich ein kleiner Junge war. Wenn mich meine Mutter in die langen Lappen gesteckt hatte, riss ich sie mir bei der nächsten Gelegenheit auf der Toilette heimlich vom Leib. Einmal versuchte ich, eine hinunterzuspülen. Der darauf folgende Skandal hing mir noch lange nach. Long Johns waren für mich ein Armutszeugnis. Eine Zumutung für mein Körpergefühl, für mein ästhetisches Empfinden. Und für mein praktisches erst recht. Untauglich waren sie, es sei denn, ich musste bei minus 30 Grad auf einem Gletscher nächtigen. Wann machte ich das schon? Nie.

Auch an diesem Tag hatte ich auf lange Unterhosen verzichtet, weil ich wieder einmal gedacht hatte, es wäre draußen wärmer. Meinen Morgenspaziergang hatte ich mir gründlich verdorben. Mein verlorener Blick auf den Fluss wandte sich nach innen. Hinein in meinen Frust. Schlecht gelaunt machte ich kehrt. Mit dem Ziel, die Kaufhäuser der Innenstadt auf den Kopf zu stellen. Gründlich. Da musste es doch etwas Geeigneteres geben als diese Hard-Core-Lumpen. Etwas für unter die Hosen, womit ich draußen nicht vereiste und drinnen nicht verdampfte.

Es war hoffnungslos. In den karg bestückten und düster wirkenden Männerabteilungen gab es gar nichts. Na ja, olympisch aussehende Sportunterwäsche eben oder grässliche Trainingssachen im Siegerlook. Die Männerwäsche präsentierte sich zudem in Farben, die mich abstießen. Müllgrau, Abwaschwasserblau, Kackbraun oder Pechschwarz. Ein Grauen.

Ziellos kreuzte ich durch die Abteilungen. Das Friergefühl klebte weiterhin wie ein eiskalter Film an meiner Wadenhaut. Doch dann, ganz zufällig, stand ich plötzlich im Bereich für Damenwäsche.

»Hier bist du falsch!«, sagte ich mir, und ein automatischer Reflex wollte mich zum Umkehren bewegen. Aber irgendetwas war anders. Neu. Mein Blick war von dieser überbordenden Zone gefesselt. Sie leuchtete hell. Wunderschön. Und wieder wollte mich etwas in mir zwingen, sofort kehrtzumachen. Diese Automatik machte mich stutzig und ließ mich innehalten. Ich hasste es, wenn ich mir so vorkam, als würde ich ferngesteuert werden.

Da erblickte ich mich selbst in einem Spiegel: ein hochgewachsener, ernst wirkender, dürrer Mann mittleren Alters mit kurzen, schwarz-grauen Haaren. Jeans bedeckten die frierenden Beine, darüber ein weißes Hemd und ein dunkelblaues Sakko, die ganze Gestalt eingehüllt in einen Mantel. Seit Jahren trug ich im Winter fast nichts anderes. Die Auswahl war begrenzt. Im Vergleich zum Glitzern der Damenwäscheabteilung vor mir fand ich mich selbst seltsam leblos und blass. Wie abgestellt und nicht abgeholt.

Der Kauf vernünftiger Unterbekleidung für meine Beine wurde plötzlich unwichtig. Als ich mich weiter in dem Spiegel betrachtete, erschien mir das Männerdasein auf einmal so klein. Vollkommen beengt. Unentwegt geriet ich an eine Barriere, wie jetzt dieser Umkehrreflex vor der Damenwäscheabteilung. Ich stand nichts weniger als mitten auf der Grenze zwischen Mann und Frau, hier auf dem Abschnitt, der durch ein Kaufhaus führte. Eine Abteilung für Damen und eine für die Herren. Die eine strahlte hell, die andere war dunkel. Die eine roch gut, die andere gar nicht. Die eine war bevölkert und lebendig, die andere gähnte vor Leere. Sie wirkte unbeseelt und funktionalisiert. Darf ich dort, in diesen schöneren Räumlichkeiten, nicht auch einmal entspannt hineingehen und mir vielleicht sogar etwas kaufen?, überlegte ich. Aber sollte ich das tun, war ich dann tatsächlich noch ein richtiger Mann? War es für einen Mann nicht angemessener, dort nicht hineinzugehen, sondern sich abzuwenden, umzukehren?

Eine sanfte innere Stimme sagte mir: »Hör auf, dich zu begrenzen. Trau dich nur!«

Langsam löste ich mich von meinem Spiegelbild in dem Kaufhaus, machte einen Schritt über die Grenze – und stand plötzlich in diesem Neuland. Das Territorium der Frauen. In Form eines Schlaraffenlands für Damenunterwäsche. Ich staunte. Was den Frauen alles angeboten wurde! Eine unermessliche Vielfalt an Wäscheteilen. Ein Universum, in dem man sich verlieren konnte.

Das beklommene Gefühl, nicht hier sein zu dürfen, blieb weiterhin. Trotzdem kehrte ich nicht um. So diskret wie möglich zwängte ich mich zwischen den vielen Frauen hindurch, die mitten an diesem Vormittag an den Warentischen in Sonderangeboten wühlten.

Während ich neugierig herumschaute, entdeckte ich eine ganze Abteilung, in der es nur Nylonstrümpfe gab! In unendlich langen Regalen breitete sich eine Welt hauchfeiner, leichter und dickerer Strumpfhosen aus. Halterlose, kniehohe, mittel- und halbhohe, halb- und vierteldurchsichtige Feinstrümpfe. Zarteste Füßlinge. Alle Farben von Pink bis Blau, von Weiß bis Schwarz. Und nirgendwo sah ich dieses Müllgrau oder Dreckbraun wie bei den Männern. Wie ungerecht!, dachte ich, und meine neu entdeckte innere Stimme sagte mir: »Du wirst dir jetzt Nylons kaufen. Ja, du dir! Es ist doch egal, ob du das als Mann darfst oder nicht.«

Ja, genau, das war überhaupt die Idee! Nylons waren fein genug, um mich nicht zu stören, würden mich aber trotzdem wärmen. Ich sprach mir Mut zu, und diese neue Stimme samt meiner Wut wegen der Kälte auf meiner Beinhaut halfen mir dabei. Ich würde jetzt Nylons kaufen – für mich! Doch welche? Und wie machte ich das am besten?

Aus Angst davor, peinlich aufzufallen, griff ich einfach dorthin, wo die durchsichtigen schwarzen lagen. Doch es war wie mit allem im Leben: Auch das Kaufen von Feinstrümpfen stellte sich als etwas heraus, wofür man Erfahrung brauchte. Die einzelnen Artikel unterschieden sich nämlich durch eine geheimnisvolle Zahlenarithmetik. Auf den knisternden Plastikverpackungen standen riesengroße Ziffern. 20, 25 oder 30. Zuerst dachte ich, das wären Schuhgrößen. Ich rief eine Verkäuferin zu mir und zeigte auf die 20er-Packung.

»Tragen bereits Kinder solche Strümpfe?«, fragte ich.

Die Verkäuferin schaute mich verdutzt an und lachte.

»Ist das ein Witz?«, fragte sie. Dann wandte sie sich einer Kundin zu.

Verunsichert vertiefte ich mich weiter in das Studium dieser mir fremden Wissenschaft. Auf manchen Verpackungen stand sogar »blickdicht« drauf. Für wen waren die? Vielleicht für arabische Frauen, die Schleier trugen? Es gab sogar Strümpfe für Riesinnen mit der Schuhgröße 60!

Ich musste die Verkäuferin nochmals fragen: »Entschuldigen Sie, ich kenne mich mit so was wirklich nicht aus. Aber es gibt doch nicht allen Ernstes Frauen mit der Schuhgröße 60?«

Jetzt strahlte mich die Verkäuferin an: »Ach, ist das schön – und leider so selten! Ich liebe Männer mit Humor!«

Wieder ging sie fort. Verständnislos schaute ich ihr nach.

Plötzlich kam sie zurück: »Ich glaube, Sie wissen wirklich nicht, was diese Zahlen bedeuten, oder? Das sind die ›Den‹-Ziffern. Sie stehen für die Dichte des Fadennetzes und die Dicke der Strümpfe. Das kommt von dem Begriff Denier und bezeichnet das Gewicht des verarbeiteten Garns in Gramm auf 9000 Meter Länge.«

»Wieso denn neun Kilometer?«, fragte ich. »Ist wirklich so viel Faden in einem Strumpf verarbeitet?«

»Ich glaube schon.«

Der Elan der Frau gefiel mir.

»Und 20-den-Strümpfe gehen leichter kaputt als die mit 30 den, weil eben weniger Garn verarbeitet wurde«, erklärte sie weiter. »Also, welche Strumpfhosen suchen Sie denn für Ihre Frau?«

»Na ja, meine Frau ist in etwa so groß wie ich.«

Ich entschloss mich für die halterlose Variante, denn ich fürchtete, dass mir Strumpfhosen um die Hüfte herum zu warm werden könnten. Als Mann sollte man seine Prostata möglichst kühl halten, hatte mir ein Urologe einmal gesagt. Während ich einen auffällig hohen Stapel von halterlosen Strümpfen auf meinen Arm lud, schaute ich mich um. Keine verdächtige Regung. Da war nur wieder ein Spiegel. Dieser Mann in der Damenabteilung, der Packungen der Normvariante 20 den in der Hand hielt, hatte ein wenig Farbe im Gesicht bekommen. Und wo war bei den Frauen jetzt die Kasse? Der bevorstehende Zahlvorgang machte mich nervös. Das würde peinlich werden.

»Vielleicht glaubt die Kassiererin, du bist ein Perverser. Willst du das? Hör also sofort auf mit dem Quatsch!«

Diese innere Stimme kannte ich gut. Ich nannte sie »Dränger«, ein unerträglicher Geselle. Immer wieder hatte ich versucht, ihn auf den Mond zu schicken. Ohne Erfolg. Als würde ein Bleigewicht an ihm hängen, und das war ich selbst.

»Auf diesen Idioten hörst du nicht mehr, okay?«, sagte da diese neue, andere Stimme in mir.

»In Ordnung«, erwiderte ich. Diese sanfte Stimme gefiel mir.

»Was sagten Sie?« Die Verkäuferin, die neben mir die von mir herausgerissenen Strümpfe wieder ins Regal sortierte, stellte diese Frage.

»Oh, Entschuldigung, ich war nur in Gedanken.«

»Das seid ihr Männer immer, eure Gedanken würde ich gern mal lesen können. Oder besser lieber nicht. Übrigens, dort hinten ist die Kasse!«

Während ich zwischen BH-Ständern und anderer Wäsche meinen Weg zur Kasse suchte, geriet noch mehr in mir in Proteststimmung. Mir fiel auf, wie vieles als weiblich und damit als unberührbar galt. Röcke, Kosmetik, fantasievolle Kleidung. Auch bestimmte Gerüche zählten zum Verbotsgebiet. Weichere und süßere zum Beispiel, so wie sie neben einem Negligé-Stand angeboten wurden. »Ihr Nachtduft für den schönsten Traum!«, stand dort geschrieben.

Was war das schon wieder? Und warum gab es das nicht für Männer? Weil es etwa zu weiblich ist für einen Mann, nachts angenehm duften, oder angenehm zu träumen? Man darf dem wohl nicht zu nahe kommen: »Vorsicht, weiblich!«, wetterte auch sofort mein innerer Dränger. Ich musste unbedingt verhindern, dass dieser Typ zu oft zu Wort kam.

Eigentlich war es mir ja nur um die Temperierung meiner Beine gegangen. Doch auf einmal fühlte ich, wie sehr ich dieses Rollenspiel leid geworden war. Nein. Daran wollte ich mich nicht mehr beteiligen. Als ich an der Kasse stand, um die ersten halterlosen Nylons meines Lebens zu bezahlen, zeichnete sich schemenhaft eine Idee in mir ab. Ich würde aus dieser Männerrolle ausbrechen. Ich wollte wissen: Wie fühlt sich das Leben der Frauen an. Besser? Offener und fantasievoller? War es so, wie die Damenwelt in dem Kaufhaus auf mich wirkte, also heller, weicher, schillernder?

Dabei fühlte ich mich in meiner eigenen Haut nicht unwohl. Die Tatsache, dass ich ein Mann war, kam mir nicht übermäßig problematisch vor. Ich fand dieses Mannsein zwar nicht derart atemberaubend, wie mir manchmal andere Männer davon beeindruckt erschienen. Aber vielleicht war das Frausein schöner?

Als ich nun in der Kassenschlange stand, als einziger Mann zwischen einem Dutzend wartender Frauen, schoss mir erstmals der Gedanke durch den Kopf: Wie wäre das, ich als Frau? Der totale Tabubruch? Oder würde es gar nicht so schlimm sein?

Dieses Fantasieren war ein schöner Zeitvertreib. Wie wäre es, überlegte ich weiter, wenn ich wie eine Frau wirken würde? Oder wenn ich wie eine Frau aussähe? Würden mich die Männer aus ihrer Sippe verstoßen? Wäre ich dann für sie ein »Weichei?« Doch unabhängig davon: Was ist Frausein überhaupt? Wäre es nicht eine spannende Erfahrung, einmal wie eine Frau in die Welt hinauszugehen? In Nylons, mit Rock, Stöckelschuhen und Make-up?

Dieses Gedankenexperiment reizte mich, gleichzeitig wurde mir heiß und kalt. Denn so etwas zu tun, kam mir in dem Moment vor wie der völlige Verlust gesellschaftlichen Ansehens. Nur wegen ein paar Kleidungsstücken und ein bisschen mehr Farbe im Gesicht.

Ich war nun dran mit Bezahlen. Als mir die Kassiererin in die Augen sah, fühlte ich Scham. Meine Verlegenheit überspielte ich mit einem Lächeln und einer Lüge: »Das hier möchte ich bezahlen, es ist für meine Freundin!«

Die junge Frau sah in mein heiß gewordenes Gesicht und kicherte: »Ach ja? Für sich selbst werden Sie die ja wohl kaum kaufen, schon gar nicht gleich so viele!«

Und mein innerer Dränger fügte hinzu: »Ein Mann in Nylons? Du hast ja einen Vollknall! Das ist wirklich peinlich, was du da tust!«

Genau das war es, diese äußeren und inneren Rollenklischees. Dagegen würde ich nun mit den ersten Nylons meines Lebens anarbeiten. Nachdem ich meinen Packen Strümpfe bezahlt hatte, lenkte mich ein angenehm warmes Pochen in mir von ihm ab. Ich kannte das vom Verlieben. Oder von erregenden Gefühlswellen, die mich durchfluteten, wenn ich etwas Neues erlebte, etwas Spannendes. Es war dieses Seelenkribbeln, das ich wahrnahm, wenn meine innere Fühlmuschel ein wenig aufklappte, ich bereit war, Wagnisse einzugehen und sich dadurch so ein Alles-kann-passieren-Gefühl auftat. Mein Herz schlug mit einem Mal anders, um nicht zu sagen weiblicher.

Der Weg nach Hause schien weiter als sonst. Als ich endlich angekommen war, nahm ich ein Küchenmesser, das ich an der Kante einer der verschweißten Plastikpackungen ansetzte. Ruckartig zerrte ich daran. Die Tüte platzte auf und der zarte Beinstoff hing an der Klinge. In Laufmaschen zerrissen. Tausende von Meter den! Erst in diesem Moment erkannte ich, dass es auch unkomplizierter ging. Einfach nur mit einer Lasche eine Klebefolie lösen!

Zum Glück hatte ich mehrere Strümpfe gekauft, und mit einem Griff hatte ich ein unbeschädigtes Paar Strümpfe in der Hand. Vorsichtig faltete ich sie auseinander und betrachtete sie eingehend. Am oberen Ende sah ich lustige Spitzen. Dort wurden sie offenbar mittels eines Gummibandes am Oberschenkel festgehalten.

Diese Dinger konnte man nur mit Fingerspitzen anfassen. Als würde eine empfindsame Seele in ihnen stecken. Nun versuchte ich, sie mir anzuziehen. Leider waren meine Fußnägel nicht perfekt gefeilt, und beim Überziehen über den Fuß verletzte ich das sensible Fadennetz schon wieder. Irgendein Fädchen hatte sich verfangen. Eine Laufmasche war das Ergebnis. Verflixt! Wieso ging das so schnell? Meine Mutter fiel mir ein, oft hatte ich ihr als Junge zugesehen, wenn sie sich herrichtete. Auch bei Freundinnen hatte ich es beobachtet. Erst wenn sie mit beiden Händen das Strumpfknäuel vorsichtig auseinandergezogen hatten, steckten sie die Zehenspitzen hinein.

Kaum hatte ich den ersten Teil des Strumpfes über den Fuß gezogen, spürte ich dieses angenehme Gefühl. Unten am Fluss, wenn sich der Kaltwind unter mein Hosenbein schlich, hatte ich mich immer danach gesehnt: nach einer zweiten Haut für meine Männerbeine. Nach einem leichten Strumpf für frische Temperaturen. Das, was ich jetzt spürte, schien für meine Bedürfnisse ideal zu sein.

Um den Praxistest zu machen, lief ich sofort zum Fluss hinunter. Und erlebte Unwahrscheinliches: Ohne zu frieren genoss ich einen der schönsten Spaziergänge meines Lebens. Anschließend saß ich in einem Café, ohne zu schwitzen oder mich vorher auf der Toilette umzukleiden. Doch das Praktische war es nicht allein. Auf eine ungewohnte Art fühlte ich mich beim Tragen dieses geschmeidigen Materials weicher und runder. Auch verletzlicher, aber seltsamerweise gleichzeitig stärker – und ein kleines Stückchen weiblicher. Das war eigentlich etwas völlig Unakzeptables für mich als Mann, dabei war dieses weibliche Gefühl so entspannend. Was für ein Widerspruch: Ich fühlte mich gleichzeitig wohl und peinlich!

Zurück in der Wohnung betrachtete ich mich vor dem Spiegel. Die gepressten Beinhaare machten sich nicht gut hinter dem transparenten Fadennetz. Ich überlegte, wie es wohl aussehen würde, wenn ich meine Beine rasierte. Wie würde sich das anfühlen?

Maria war entsetzt, als ich ihr beim Vietnamesen von meinem Plan erzählte: »Aber ich habe doch einen Mann geheiratet!«, sagte sie.

»Mach dir keine Sorgen, Maria«, erwiderte ich, »es ist einfach nur ein Experiment, eine Erfahrung. Die hört wieder auf.«

Dabei war mir klar: Wahre Experimente haben einen ungewissen Ausgang. Was am Ende dabei herauskommt, steht nicht fest.

»Fühlst du dich nicht gut als Mann?«, fragte sie mich leise.

»Doch, Liebling, mach dir keine Sorgen. Ich bin völlig happy als Mann.«

Und dann wechselte ich das Thema. Das Letzte, was ich wollte, war, Maria zu verlieren. Noch nie war ich mit einer Frau so lange und so glücklich zusammen gewesen. Doch es drehte sich bei meinem Vorhaben nicht um irgendeinen skurrilen Einfall. Ich wollte einer inneren Intuition folgen.

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Ich habe in meinem Leben alle möglichen Fähigkeiten erworben, mich mit vielem vertraut gemacht. Wie es sich für einen richtigen Mann gehört. Meistens durch Einsatz, Durchhaltevermögen, Energie, Kreativität und Zeit. Je länger ich mich mit etwas beschäftigte, desto besser kannte ich mich damit aus. Es gab nur eine Ausnahme: die Frauen. Selbst nach ausreichend Begegnungen wurde der Umgang mit den Frauen für mich nie zu etwas, von dem ich gewusst hätte, wie es funktionierte: Schlug ich eine Taste an, ergab das einen Ton, aber meist nicht den, den ich erwartete. Frauen waren ja auch keine Musikinstrumente. Aber obwohl wir Männer nicht die geringste Anleitung dafür haben, ihre Saiten anzuschlagen, behandeln wir sie oft so, als würden wir genau wissen, wie wir sie zum Klingen bringen können. Später wundern wir uns, dass es nicht geklappt hat. Mal wieder.

Frauen waren immer Neuland für mich gewesen. Irgendwann empfand ich es fast so, als würde uns eine unsichtbare Mauer trennen. Dabei fand ich sie immer begehrenswert, anziehend. Manchmal auch mehrere gleichzeitig. Aber für dieses Neuland gab es nie eine unbegrenzte Aufenthaltserlaubnis, wieder und wieder wurden die Visumvorschriften geändert. Trotzdem wollte ich jedes Mal mit ihnen verschmelzen. Mit einer zumindest. In der Liebe und im Orgasmus gelang das manchmal. In solchen Momenten war es, als wäre der (geschlechtliche) Unterschied zwischen uns aufgehoben.

Ansonsten waren meine Begegnungen mit Frauen auf eine unerklärliche Weise unerfüllt geblieben – und nach einer gewissen Zeit waren sie wie ein Spuk verschwunden. Ein Häuflein Liebe war vielleicht noch übrig geblieben, doch der Rest war missglückt.

Auch meinen männlichen Freunden gegenüber konnte ich meine neue Faszination nicht richtig ansprechen. Natürlich. Immer wenn ich es versuchte, erntete ich das typisch männliche Grinsen. Es hatte etwas Herablassendes. Es war oft begleitet von einem Spruch von dieser Sorte: »Und Warmduscher bist du auch noch, oder?« Oder alternativ: »Nylons auf der Haut? Na, dann pass mal auf, dass du nicht am Ende sogar überläufst! Plötzlich willst du dich umoperieren lassen.«

Mit derartig klischeegeladenen Bemerkungen halten sich Männer gegenseitig in Schach. Das eindeutige Signal war: Es ist männlicher, sogar im Winter ohne Beinwärmer herumzulaufen. Ein Mann hält das doch aus! Vor allem ist es sicherer. Man bleibt dann ganz sicher ein Mann.

Das Tragen von Nylons – eigentlich eine banale Erfahrung, wie ich dachte – hatte eine erste Grenze in mir gesprengt. Ich fühlte mich deutlich freier, und zwar als Mann. Oder sollte ich besser sagen: als Mensch? Es fühlte sich so unglaublich gut an, etwas von diesem Mannsein Losgelöstes zu tun. Geradezu sauwohl. So wie sich ein Mensch nur fühlen konnte, der im Stillen Millimeter für Millimeter von sich selbst zurückeroberte. Außerdem hatte dieses Wohlgefühl auch etwas seltsam Verbotenes. Das reizte umso mehr.

Mehr und mehr fing ich an, über die Rolle von Männern und Frauen in unserer Gesellschaft nachzudenken. Die Männerrolle kam mir immer künstlicher vor. Da war dieser Leistungs- und Bestätigungswahn, den ich plötzlich viel deutlicher wahrnahm. Er wirkte zwanghaft auf mich. Weiblichkeit bedeutete für mich dagegen, unabhängig von solchen inneren Bedrängnissen zu sein. Das Leben einer Frau wirkte auf mich viel sinnlicher und lässiger, ein mysteriöses, paradiesisches und vor Lebendigkeit strotzendes Reich.

Meine eigenen Vorstellungen waren sicher auch nicht frei von Klischees und einer gewissen Naivität. Das war mir bewusst, aber zunächst egal. Ich wollte meinen Gedanken freien Lauf lassen. Um die Welt aus dieser weiblichen Perspektive kennenlernen zu können, würde ich aber gänzlich in eine Frauenrolle schlüpfen müssen. Je mehr ich mich damit beschäftigte, desto faszinierender fand ich die Idee. Auf diese Weise konnte ich vielleicht aus dem männlichen Rollenverhalten ausbrechen, das ich als unerträglich beengend wahrnahm.

Ich wollte mich gegen die Welt der harten Handschläge und der schweren Hiebe auf die Schulter wehren, gegen das Kaltduschen, Springen in eisige Seen und Marathonläufe bei 30 Grad Hitze, gegen den Irrglauben, alles allein managen und organisieren zu müssen, gegen die Mär vieler männlicher Halbweiser, durch das Kaufen von Zen-Büchern ein richtiger Weiser werden zu können. Gegen die Verhinderung von Weiblichkeit in unserem Leben. Und ganz besonders gegen diesen von mir verhassten Zynismus von Männern. Den hatte ich, als ich noch Manager im Filmbusiness war, mehr als genug erlebt. Ständig musste man mit wohlklingenden Schnörkelsätzen brillieren, mit pseudogeistreichen Witzen und sonstigen wachsweichen Bemerkungen. Dieses Sich-Aufspielen in Besprechungen, als hätte man soeben ein Ei gelegt. Dieses Recht-haben-Wollen von Männern empfand ich, wenn es zelebriert wurde, schon immer als schmerzhaft. Dazu gehörte auch das Pflegen falscher Freundschaften, das Nichtzulassen von anderen Sichtweisen und das Fertigmachen dieser, wagte es jemand, diese zu formulieren. All das musste endlich einmal auf den Tisch. Und dann weg damit.

Mich in eine Frau zu verwandeln wurde zu meinem geheimen Abenteuer, zu meiner ganz persönlichen Revolte gegen diese entsetzlich anstrengende Art und Weise, wie wir angeblich so extrem unterschiedlichen Geschlechter uns miteinander zu verhalten haben. Eine Aktion gegen diesen sich auf Geschlechterrollen beziehenden Lebensstil. Ja, meine kleine Privatrevolution sollte das werden. Sie sollte mich selbst in meinen eigenen, stereotypen Verhaltensweisen angreifen. Ich wollte aber auch meine soziale Umwelt unter die Lupe nehmen.

Und immer wieder kreisten meine Gedanken dabei um die Frage: Warum dürfen sich Frauen wie Männer kleiden, Männer aber nicht wie Frauen? Warum dürfen sie keine Röcke tragen, luftige Wickeltücher, farbige Schnürsandalen? Warum sind rote Zehennägel und ein hübscher Lidstrich nicht genehm? Wäre Mann dann weniger Mann? Sind Männer in Wirklichkeit möglicherweise sogar viel unfreier und eingesperrter als es den Anschein hat? Meist heißt es, dass sich die Frauen mehr befreien sollen. Aber was ist mit dem anderen Geschlecht? Und: Könnte es nicht vielleicht auch den Frauen guttun, wenn sich die Männer endlich aus ihren engstirnigen und überholten Klischees lösen würden? Oder funktioniert dann der Sex zwischen Mann und Frau nicht mehr, weil die Polarität und diese obskure Reibung am Fremden verflogen wäre? Und wie sähen Managermeetings aus, in denen der eine mit Stöckelschuhen, der andere mit roten Lippen und der Dritte im Rock erscheinen würde (wohlgemerkt, ich spreche von Männern)? Wären das deswegen weniger kompetente, wichtige und staatstragende Besprechungen?