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Brennpunkt Politik

 

Herausgegeben von Gisela Riescher, Hans-Georg Wehling, Martin Große Hüttmann und Reinhold Weber

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Herausgeber:

Professorin Dr. Gisela Riescher lehrt Politische Ideengeschichte an der Universität Freiburg, Professor Dr. Hans-Georg Wehling lehrt Politische Wissenschaft an der Universität Tübingen, Dr. Martin Große Hüttmann lehrt als Akademischer Rat Europapolitik am Institut für Politikwissenschaft der Universität Tübingen und Prof. Dr. Reinhold Weber ist Publikationsreferent bei der Landeszentrale Baden-Württemberg und Honorarprofessor für Zeitgeschichte an der Universität Tübingen.

Wolfgang Kersting

Vertragstheorien

Kontraktualistische Theorien in der Politikwissenschaft

Verlag W. Kohlhammer

 

 

 

 

 

 

1. Auflage 2016

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-024166-4

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-024167-1

epub:    ISBN 978-3-17-024168-8

mobi:    ISBN 978-3-17-024169-5

 

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Inhaltsverzeichnis

  1. Die Logik des Gesellschaftsvertrags
  2. 1 Varianten des vertragstheoretischen Theorieprogramms
  3. 1.1 Staatsphilosophischer Kontraktualismus
  4. 1.2 Der gerechtigkeitstheoretische Kontraktualismus
  5. 1.3 Moralischer Kontraktualismus
  6. 2 Individualismus, Prozeduralismus, Kontraktualismus
  7. 3 Die drei Dimensionen des Vertrags
  8. 3.1 Normativität des Vertrags
  9. 3.2 Die Moralität des Vertrags
  10. 3.3 Die Rationalität des Vertrags
  11. 4 Ausgangssituation und Vertrag
  12. 4.1 Einmütigkeitsstrategien: Grenzsituation und Unwissenheitsschleier
  13. 4.2 Kontraktualismus und Grundgüter
  14. Die Geschichte des Gesellschaftsvertrags
  15. 5 Thomas Hobbes: Die vertragliche Gründung des Leviathan
  16. 5.1 Der Naturzustand: Knappheit, Konkurrenz, Krieg
  17. 5.2 Vertrag und Rechtsverzicht
  18. 5.3 Autorisierung
  19. 5.4 Politische Einheit und identitäre Repräsentation
  20. 5.5 Souveränitätsrechte und Bürgerpflichten
  21. 6 John Locke: Vertragsstaat und bürgerliche Freiheit
  22. 6.1 Naturzustand, natürliches Gesetz und natürliche Rechte
  23. 6.2 Naturzustand und Kriegszustand
  24. 6.3 Vertrag und politische Vereinigung
  25. 6.4 Vertrag und Mehrheitsprinzip
  26. 6.5 Politische Gesellschaft und Regierung
  27. 6.6 Herrschaftslegitimation und Herrschaftslimitation
  28. 7 Jean-Jacques Rousseau: Allgemeinwille und Republik
  29. 7.1 Unzureichende Lösungen des Problems der Herrschaftslegitimation
  30. 7.2 Freiheitsrecht und staatsphilosophisches problème fondamental
  31. 7.3 Die Struktur des Gesellschaftsvertrags
  32. 7.4 Das rechtlich-ethische Doppelgesicht des Gesellschaftsvertrags
  33. 7.5 Gesellschaftsvertrag und Menschwerdung
  34. 7.6 Anatomie der Volkssouveränität
  35. 8 Immanuel Kant: Vernunftrecht und Vertrag sui generis
  36. 8.1 Kants Antivoluntarismus
  37. 8.2 Das Ideal des Rousseau
  38. 8.3 Der Vertrag als Gerechtigkeitskriterium
  39. 8.4 Vertrag, Volkssouveränität und Demokratie
  40. 8.5 Exkurs: Kontraktualismus und Kosmopolitismus
  41. 9 John Rawls: Fairnessgerechtigkeit und Verfassungswahl
  42. 9.1 Der Schleier der Unwissenheit
  43. 9.2 Rationale Entscheidung und soziale Grundgüter
  44. 9.3 Zwei Prinzipien der Gerechtigkeit
  45. 9.4 Differenzprinzip und demokratische Gleichheit
  46. 9.5 Differenzprinzip und Maximin-Regel
  47. 9.6 Kontraktualistische und kohärenztheoretische Begründung
  48. 9.7 Die Illusion des archimedischen Punktes
  49. 10 James M. Buchanan: Vertrag der natürlichen Ungleichheit
  50. 10.1 Eigentumsrechte und natürliches Gleichgewicht
  51. 10.2 Konstitutioneller und postkonstitutioneller Kontrakt
  52. 10.3 Realismus, Ökonomismus, Kontraktualismus
  53. Bibliographie

 

 

 

Die Logik des Gesellschaftsvertrags

1          Varianten des vertragstheoretischen Theorieprogramms

Als Gesellschaftsvertragstheorien oder auch kontraktualistische Theorien bezeichnet man moral-, sozial- und politikphilosophische Konzeptionen, die die moralischen Prinzipien menschlichen Handelns, die rationale Grundlage der institutionellen gesellschaftlichen Ordnung und die Legitimationsbedingungen politischer Herrschaft in einem hypothetischen, zwischen freien und gleichen Individuen in einem wohldefinierten Ausgangszustand geschlossenen Vertrag erblicken und damit allgemeine Zustimmungsfähigkeit in den Rang eines grundlegenden normativen Gültigkeitskriterium erheben.

Das Vertragsmotiv ist so alt wie das politische Denken. Erste Spuren des Gesellschaftsvertrags findet man bereits in der Sozialphilosophie der Sophisten im fünften vorchristlichen Jahrhundert. Es gehörte zu den fundamentalen Überzeugungen der griechischen Aufklärung, dass die Vergesellschaftung der Menschen und die Errichtung einer gesetzlichen Ordnung auf Vertrag und Übereinkunft zurückgeführt werden müssen und die menschliche Gemeinschaft in ihrer Struktur wie in ihrer Zielsetzung durch diesen konventionellen Konstitutionsakt geprägt sei.

Auch dem politischen Denken des Mittelalters ist das Vertragsmotiv bekannt. Es tritt durchgängig in der Gestalt des Herrschaftsvertrags auf, der, zwischen der Volksgesamtheit im körperschaftsrechtlichen Sinne und dem Herrscher geschlossen, die Bedingungen der Herrschaft und die Grenzen des Gehorsams des Volks formuliert. Die Rechtssprache hält hier mit dem Vertragskonzept ein flexibles hermeneutisches Schema bereit, das, auf Wechselseitigkeit beruhenden Rechtsverständnis der mittelalterlichen Welt entsprechen und die grundlegenden Strukturen des mittelalterlichen Rechtslebens in sich aufnehmen kann, das wechselseitige Treueverhältnis zwischen Volk und Herrscher ebenso wie das Verhältnis von Vasall und Lehnsherr und den ständestaatlichen Dualismus.1 Die größte Bedeutung erlangt dieser hermeneutische, die vorfindlichen Rechtsverhältnisse interpretierende Kontraktualismus in den Streitschriften der protestantischen und katholischen Monarchomachen und in der staats- und kirchenpolitischen Selbstverständigung der Independenten.

Jedoch erst in der Neuzeit ist das Vertragsmodell in den Rang einer begrifflich durchgearbeiteten Konzeption erhoben und ins Zentrum einer systematisch sich entfaltenden Legitimationsargumentation gestellt worden. Der Begründer dieses philosophischen Kontraktualismus ist Thomas Hobbes2. Indem der englische Philosoph sich bemühte, die in seiner Zeit revolutionär veränderten theoretischen und praktischen Weltverhältnisse zu begreifen, entwickelte er auch die methodischen und erkenntnistheoretischen Fundamente für das kontraktualistische Begründungsprogramm in der politischen Philosophie. Der Vertrag des Kontraktualismus ist kein geschichtliches Ereignis, sondern eine legitimationstheoretische Konstruktion. Der Kontraktualismus ist keine deskriptive Theorie, die Erklärungen von wirklichen geschichtlichen Abläufen gibt, sondern eine normative Theorie, die ein Konzept legitimer staatlicher Herrschaft entwickelt oder die Grundzüge einer Gerechtigkeitsordnung formuliert.

1.1        Staatsphilosophischer Kontraktualismus

Der Kern der staatsphilosophischen Vertragstheorie ist die Idee der Autoritäts- und Herrschaftslegitimation durch freiwillige Selbstbeschränkung aus eigenem Interesse unter der Rationalitätsbedingung strikter Wechselseitigkeit. Um das freie Individuum zu der legitimitätsstiftenden Selbsteinschränkung und Herrschaftsbilligung, also zur Aufgabe seiner natürlichen Freiheit zu motivieren und damit das Theorieziel gerechtfertigter staatlicher Herrschaft zu erreichen, entwickelt die Vertragstheorie das Naturzustandstheorem. Es hat den Nachweis zu liefern, dass ein Zustand, in dem alle staatlichen Ordnungs- und Sicherungsleistungen fehlen und jeder seine Interessen auf eigene Faust und mit allen ihm geeignet erscheinenden und verfügbaren Mitteln verfolgen würde, zu einem virtuellen Krieg eines jeden mit einem jeden führen müsste und daher für jedermann untragbar sein würde. Das Naturzustandsargument zeigt folglich, dass es für jedermann von Vorteil ist, den vorstaatlichen Zustand der Herrschaftsfreiheit zu verlassen und eine koexistenzverbürgende und friedenssichernde politische, machtbewehrte Ordnung zu etablieren. Die zur Einrichtung des staatlichen Zustandes notwendige individuelle Freiheitseinschränkung ist nur unter der Rationalitätsbedingung der Wechselseitigkeit zumutbar, ist also nur möglich auf der Basis eines Vertrags, in dem die Naturzustandsbewohner sich wechselseitig zur Aufgabe der natürlichen Freiheit und zu politischem Gehorsam verpflichten. Der Vertrag, der diese naturzustandstheoretische Einsicht, dass der Übergang von einem herrschaftsfreien Zustand in eine staatliche Ordnung notwendig sei, verwirklicht, ist in einem Gesellschafts- und Herrschaftsvertrag. Die abstrakte Vergesellschaftung rationaler Egoisten ist nur möglich bei gleichzeitiger Etablierung einer mit unwiderstehlichen Machtmitteln ausgestatteten Herrschaftsordnung, die als Vertragsgarantiemacht fungiert.

Das kontraktualistische Motto lautet: volenti non fit iniuria – „dem willentlich Zustimmenden kann aus dem Zugestimmten kein Unrecht erwachsen“. Wenn jemand mit anderen eine vertragliche Vereinbarung trifft, gibt er seine Zustimmung zu Rechten und Pflichten, die ihm und den anderen aufgrund dieser Vereinbarung zugeteilt werden. Sofern seine Zustimmung freiwillig erfolgt ist, hat er kein Recht, sich über die aus dieser vertraglichen Vereinbarung folgenden normativen Konsequenzen zu beklagen, und muss sie als bindend akzeptieren. Die Rechtfertigung von Rechten und Pflichten durch vertragliche Zustimmung stützt sich auf die Annahme, dass jemand, der freiwillig, also ungezwungen und nicht erpresst, einen Vertrag schließt, seine wohlbedachten Interessen wahrt und sich auf nichts einlässt, das für ihn nachteilig sein könnte.

Der staatsphilosophische Kontraktualismus liefert so eine vertragstheoretische Legitimation staatlicher Herrschaft in Gestalt einer rationalen Rekonstruktion der Entstehung des Staates aus dem vereinten Willen der Bürger. Das kontraktualistische Argument betraut den Vertrag mit der Rolle der sichtbaren staatsgründenden Hand. Die Ausgangssituation der Vertragstheorie ist hier ein natürlicher, vorstaatlich-anarchischer Zustand. Die ihn charakterisierende und seine Unerträglichkeit bewirkende Konfliktträchtigkeit mag wie bei Thomas Hobbes in der Endlichkeit der Menschen und der Knappheit der Güter ihren Grund haben oder wie bei John Locke und Immanuel Kant auf der mangelhaften Handlungskoordinations- und Konfliktregulierungsleistung der Naturrechtsnormen bzw. des Vernunftrechts beruhen, immer ist der Naturzustand von der Art, dass nur die Etablierung staatlich organisierter Herrschaft eine Besserung der Situation verspricht.

1.2        Der gerechtigkeitstheoretische Kontraktualismus

Der Vertrag ist ein überaus flexibles Begründungsinstrument, das sich mit den unterschiedlichsten Ausgangssituationen, Problemstellungen und Konfliktszenarien verbinden lässt. Das kontraktualistische Theorieprogramm ist daher keinesfalls auf die klassische Problemstellung der Herrschaftslegitimation eingeschränkt. Die gegenwärtige politische Philosophie zeigt, dass man unter dem kontraktualistischen Argumentationsmodell auch die Aufgaben der politischen Prinzipien- und Verfassungsbegründung angehen kann. Leitend ist dabei die Grundidee, im Zuge einer angemessenen Verallgemeinerung die ganze Gesellschaft mitsamt all ihren verschiedenen institutionellen Strukturen und Arrangements als Vertragsverhältnis zu interpretieren und die Verbindlichkeit der gesellschaftlichen und politischen Institutionen, der sozialen und politischen Verfassung auf eine universale Zustimmung aller Gesellschaftsmitglieder qua Vertragspartner zurückzuführen. Wie ein Vertrag zwischen zwei Personen unter der Bedingung ihrer beiderseitigen Freiheit und Gleichberechtigung die wechselseitige normative Gültigkeit der vereinbarten Rechte und Pflichten begründet, so könnte eine vertragliche Übereinkunft, in der sich alle Gesellschaftsmitglieder unter der Voraussetzung gleicher Freiheit einmütig auf eine normative Ordnung des Zusammenlebens einigen würden, die allgemeine Verbindlichkeit dieser Moral- und Gerechtigkeitsverfassung begründen.

1.3        Moralischer Kontraktualismus

Während der gerechtigkeitstheoretische Kontraktualismus als Theorie der normativen Grundordnung individualistischer Gesellschaften verstanden werden kann, die die klassische Aufgabenstellung der Herrschaftslimitation aufgreift, aber von dem Problem grundsätzlicher Herrschaftslegitimation unabhängig macht,3 verlässt der moralische Kontraktualismus den politikphilosophischen Problembereich von Herrschaftsbegründung und gerechtigkeitsethischer Prinzipienbegründung und verwendet den Vertrag zur Rechtfertigung moralischer Grundsätze überhaupt.4 Auch hier ist die begründungstheoretische Grundidee dezidiert anti-hermeneutisch. Nicht durch Anknüpfung an bestehende moralische Überzeugungen wird die Gültigkeit moralischer Grundsätze erwiesen, sondern durch den Nachweis, dass diese moralischen Grundsätze in einer Ursprungskonstruktion von rationalen, ausschließlich an der Verwirklichung ihrer Präferenzen interessierten Personen einstimmig gewählt würden. Der moralische Kontraktualismus ist die avancierteste und theoretisch am weitesten ausgearbeitete Version rationaler Moralbegründung. Er rekonstruiert Moral als rationales Optimum innerhalb des theoretischen Rahmens der Rational-Choice-Theorie. Er geht von Gefangenen-Dilemma-Situationen aus, in denen der rationale Akteur in ein Rationalitätsdilemma gerät, weil aufgrund des in ihnen herrschenden Vorrangs kompetitiven Verhaltens der Rationalitätsgewinn kooperativen Verhaltens nicht eingestrichen werden kann. In der Moral wird nun dieses Defizit kompensiert. Die Lektion des Gefangenendilemmas besteht, allgemein gefasst, in der Einsicht, dass es vorteilhaft ist, die eigene Vorteilsmaximierungsstrategie Regeln zu unterwerfen, die einen für alle vorteilhaften Zustand ermöglichen und deren Aufrechterhaltung im langfristigen Interesse aller liegt. Normen dieser Art, die man als Gefangenen-Dilemma-Normen bezeichnet hat, sind Normen der Kooperationsrationalität. Und Kooperationsrationalität ist im Theorierahmen des moralischen Kontraktualismus Moral. Damit wird der Bereich moralischer Prinzipien auf die Grundregeln der zwangsfreien Kooperation eingeschränkt. Moralisch handeln die Individuen nach der rationalen Rekonstruktion des moralischen Kontraktualismus nicht, weil sie moralische Subjekte sind, die der Moral die Qualität einer eigenständigen Vernünftigkeit zubilligen, sondern weil sie rationale Nutzenmaximierer sind, die die rationale Vorzugswürdigkeit der Moral einsehen.

1     Zur Geschichte des Vertragsbegriffs vgl. Gough 1957; Kersting 1990; zur philosophischen Karriere des Vertragsmotiv in der politischen Philosophie der Neuzeit von Hobbes bis zur Gegenwart vgl. Kersting 1994.

2     Vgl. Kersting 22008; Kersting 42009.

3     Daher finden sich in der gegenwärtigen politischen Philosophie keinerlei kontraktualistische Argumente zur Herrschaftsbegründung; die staatliche Herrschaftsordnung gilt als nicht weiter begründungsbedürftiges Faktum. Von systematischem Interesse ist allein die Struktur der institutionellen Grundordnung, die Gerechtigkeitsgrammatik der Verfassung.

4     Die ausgefeilteste Durchführung des Theorieprogramms des moralischen Kontraktualismus hat bislang D. Gauthier geliefert; vgl. Gauthier 1985; andere Versionen kontraktualistischer Moralbegründung finden sich bei Scanlon 1998 und Stemmer 2000; zur Diskussion des moralischen Kontraktualismus vgl. Leist 2003.

2          Individualismus, Prozeduralismus, Kontraktualismus

Vertragstheorien stellen die systematische Ausarbeitung der modernitätstypischen Überzeugung dar, dass sich die gesellschaftlichen Rechtfertigungsbedürfnisse nicht mehr durch Verweis auf den Willen Gottes oder eine objektive natürliche Wertordnung decken lassen. Das Verblassen der theologischen Weltsicht, das Verschwinden der traditionellen qualitativen Naturauffassung unter dem nüchternen Tatsachenblick der modernen Wissenschaften, der Zerfall der festgefügten und wertintegrierten Sozialordnung unter dem wachsenden Ansturm der Verbürgerlichung und Ökonomisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse verlangten eine Neuorganisation der kulturellen Rechtfertigungspraxis, die mit den neuerschaffenen geistigen Grundlagen der Welt der Moderne, mit den neugeprägten Selbst- und Weltverhältnissen der Menschen in Übereinstimmung stand. Die objektivistischen Legitimationstheorien der Tradition, das stoisch-christliche Naturrecht, der theologische Absolutismus, die teleologische Ontologie hatten ihre Geltung eingebüßt und konnten nicht mehr herangezogen werden, um die gesellschaftlichen Begründungsgewohnheiten metaphysisch zu untermauern.

Protagonist der Vertragstheorie ist das aus allen vorgegebenen Natur-, Kosmos- und Schöpfungsordnungen herausgelöste, allein auf sich gestellte, autonome Individuum. Es ist vollständig dekontextualisiert, eine Metapher des Asozialen, eine methodologische Konstruktion, angemessen nur als modellhafter Gegenentwurf zum sozial eingebetteten Gemeinschaftsmenschen der Tradition, nur in Distanz zu allen vorgegebenen, von der vertrauten Lebenswelt bis zum allumfassenden Seinsgefüge reichenden Kontexten begreifbar. Der einzelne Mensch gewinnt nicht mehr durch Integration in übergreifende und von Natur aus frühere oder geschichtlich vorgegebene Gemeinschaften Wert und Sinn. Jetzt gilt umgekehrt, dass sich die gesellschaftlichen und politischen Einrichtungen nur dann rechtfertigen lassen, wenn sich in ihren Funktionen die Interessen, Rechte, Glücksvorstellungen der Individuen spiegeln.

Diese neuzeittypische individualistische Fundierung aller gesellschaftlichen und politischen Organisationsformen krempelt das traditionelle Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft gründlich um. Nicht mehr die Gemeinschaft, sondern das Individuum ist jetzt das von Natur aus Erste. Von ihm haben alle Argumentationsketten auszugehen; ihm kommt rechtfertigungstheoretische Absolutheit zu. Es wird dem Bereich des Besonderen entzogen und jenseits aller geschichtlich entwickelten und kulturell formierten Gemeinschaftlichkeit verortet. Von allen gesellschaftlichen Bedingtheiten unabhängig wird es zum rechtfertigungsmethodologisch unbewegten Beweger, der alle Legitimationsargumentation unmittelbar aus sich heraus entwickelt. Nur als entweder naturalisiertes oder universalisiertes Individuum, nur als Bewohner einer vor-sozialen Natur oder einer gesellschaftsjenseitigen Vernunftallgemeinheit vermag es die Rolle zu übernehmen, die ihm eine Rechtfertigungstheorie zuweist, die den Glauben an die Leistungskraft der traditionellen objektivistischen Legitimationsinstanzen verloren hat, gleichwohl aber an dem Allgemeingültigkeitsziel festhalten will. Als gerechtfertigt können gesellschaftliche und politische Institutionen daher nur gelten, wenn sie generellen Präferenzen der menschlichen Natur oder universellen normativen Bestimmungen menschlicher Persönlichkeit entsprechen.

Diese individualistische Fundierung der Rechtfertigungstheorie führt zur Auszeichnung des Legitimationstyps des prozeduralen Konsentismus. Da menschliche Individuen unterschiedliches normatives Gewicht nur im Rahmen vorgegebener normativ verbindlicher Ordnungen besitzen können, diese aber rechtfertigungstheoretisch nicht mehr in Betracht kommen, zählt ein Individuum so viel wie jedes andere, hat jedes Individuum also gleiches Recht, im Legitimationsdiskurs gehört, am Entscheidungsverfahren und Gesetzgebungsprozess beteiligt zu werden. Die rechtfertigungstheoretische Absolutsetzung des Individuums führt also notwendig zum Egalitarismus; und dieser wiederum verlangt, die fällige Rechtfertigung konsensgenerierenden Verfahren zu übertragen. Das erklärt die nicht nachlassende Attraktivität des Kontraktualismus in der modernen praktischen Philosophie, denn der Vertrag ist das konsensgenerierende Verfahren schlechthin.

Der neuzeitliche normative Individualismus stattet das Individuum mit moralischer Autonomie aus und ersetzt die gesetzgebenden Traditionsautoritäten Gottes und der Natur durch das Recht jedes Individuums, nur durch solche Gesetze in seiner Freiheit eingeschränkt zu werden, auf die es sich mit allen anderen im Rahmen fairer Verfahren und Diskurse und auf der Grundlage gleichberechtigter Teilnahme – gleichsam vertraglich – geeinigt hätte. Wie der Konjunktiv signalisiert, steht im Zentrum der kontraktualistischen Begründung ein argumentativ aufwendiges Gedankenexperiment, dessen rechtfertigungstheoretisches Grundmuster folgendermaßen aussieht: X – und X kann sein: die Etablierung staatlicher Herrschaft, eine Rechtsordnung oder eine Verfassung, gesellschaftliche Institutionen und Wirtschaftsformen, Prinzipien der sozialen, politischen, und ökonomischen Gerechtigkeit oder auch moralische Regeln – kann immer dann als legitimiert, begründet, gerechtfertigt gelten, wenn X auf argumentativ einsichtige Weise als Ergebnis eines Vertrags entwickelt werden kann, auf den sich die Betroffenen in einer ganz bestimmten Problemsituation unter bestimmten wohldefinierten und allgemein akzeptierten Bedingungen vernünftigerweise einigen würden.

3          Die drei Dimensionen des Vertrags

Um die Logik des kontraktualistischen Arguments verstehen und seine rechtfertigungstheoretischen Stärken und Schwächen erfassen zu können, müssen drei Bedeutungselemente des Vertragskonzepts klar unterschieden werden: die Normativität des Vertrags, die Moralität des Vertrags und die Rationalität des Vertrags. Wird in der Normativitätsperspektive die interne obligationstheoretische Struktur des Vertrages sichtbar, so gerät in der Moralitätsperspektive die externe geltungslogische Struktur des Vertrages ins Blickfeld. Zur Normativität des Vertrages gehört all das, was den Vertrag als normatives Ereignis, als Quelle normativer Wirkungen definiert. Auf die Normativität des Vertrages bezieht man sich, wenn man den Vertrag als Grund freiwilliger, selbstauferlegter Pflichten und genau korrespondierender Rechte anführt. Zur Moralität des Vertrages hingegen gehören die Gültigkeitsbedingungen des Vertrages, die zugleich auch die Bedingungen seiner normativen Wirksamkeit sind, denn der Vertrag muss die Bedingungen seiner Gültigkeit erfüllen, damit die ihn definierenden normativen Eigenschaften, nämlich neue Rechte und Pflichten erzeugen zu können, überhaupt zur Wirkung gelangen. Die dritte Vertragsdimension hat die Rationalität des Vertrages zum Thema. Mit dem Interesse an der Rationalität des Vertrages rücken die Motive und Erwartungen der Vertragsparteien und die von ihnen gewählten Erfolgsstrategien ins Zentrum, wendet sich die Aufmerksamkeit der Instrumentalität des Vertrages, seiner Zweckdienlichkeit zu.

3.1        Normativität des Vertrags

Wenn die gesellschaftliche Handlungskoordination weitgehend durch objektive Normen geleistet wird, schrumpft der Bereich der autonomen Gestaltung des sozialen Lebens durch individuelle freiwillige Selbstverpflichtungen. Wird jedoch das Netz der objektiven Normen ausgedünnt, nimmt die Bedeutung autonomer Handlungskoordination, und damit des Instrumentariums der freiwilligen Selbstbindung beträchtlich zu. Dieses spannungsreiche Ausschlussverhältnis zwischen normativem Objektivismus und normativem Voluntarismus erklärt auch die außerordentliche Attraktivität des Vertrages für die normative politische Philosophie der Neuzeit und der Gegenwart. In dem Maße, in dem die Philosophie ihr traditionelles Vertrauen in den normativen Objektivismus verloren hat, nicht mehr an die Existenz objektiver Normen glaubt, weil sie diese objektive Normenwelt weder im teleologischen Naturbegriff der Tradition noch im Begriff Gottes länger überzeugend begründen kann, in dem Maße muss der verbleibende andere Quell normativer Handlungskoordination, muss die Klasse der freiwilligen Selbstverpflichtungen in den Mittelpunkt der philosophischen Aufmerksamkeit rücken. Wenn der normative Objektivismus kollabiert, das traditionelle Naturrecht den Begründungsbedürfnissen der Philosophie nicht mehr genügen kann, muss die Philosophie ihren Begründungsbedarf mit Hilfe des normativen Voluntarismus stillen und das sich selbst bindende Individuum zum Protagonisten des Rechtfertigungsarguments machen. Wenn Natur und Gott als Normativitätsspender ausfallen und die ehemals deskriptiv-normativ marmorierte, immer schon als in sich sittlich verfasst angesehene Wirklichkeit rein deskriptiver, allein durch die modernen Wissenschaften vermessener Tatsächlichkeit weicht, wenn Normativität also nicht länger vorgefunden wird, muss sie eigens durch die Menschen eingeführt werden, muss sie zu einer Schöpfung des menschlichen Willens werden. Somit avancieren Versprechen, Vertrag und Zustimmung zu normativitätstheoretischen Grundbegriffen der modernen Legitimationstheorie. Die dem modernen sozialen Leben vertrauten Instrumente der beweglichen gesellschaftlichen Koordination, die Institutionen des Vertrags, des Versprechens und der Zustimmung rücken in den Rang begründender Begriffe des sozialen Lebens überhaupt.

Allerdings ist die Konzeption legitimationsstiftender Selbstbindung nicht im mindesten geeignet, die Begründungslasten zu tragen, die ihr der Kontraktualismus aufbürdet. Denn Vertragstheorien, die den Vertrag als Quelle selbstauferlegter Verpflichtungen nutzen wollen, müssen notwendigerweise von empirischen Verträgen ausgehen: nur wirklich abgeschlossene Verträge, wirklich abgegebene Versprechen können binden. Die Verträge der Gesellschaftsvertragstheorie sind jedoch keine geschichtlichen Ereignisse. Nie ist jemals ein Staat durch einen Vertrag seiner Bürger gegründet worden. Immer ist die Geschichte der Staatsentstehung eine Geschichte der Gewalt. Diese Überlegung führt zu dem paradoxen Ergebnis, dass der Kontraktualismus gerade die Normativitätsdimension des Vertrages argumentativ nicht verwenden kann. Der Vertrag als Ort selbstauferlegter Verpflichtung kann in der normativen politischen Politik- und Moralphilosophie keine Rolle spielen, denn genau so wenig wie der Begriff Hund selbst bellt und man mit eingebildeten 100 Euro schwerlich seine Rechnung begleichen kann, vermag ein gedachter Vertrag zu verpflichten.

Die Verträge des Kontraktualismus, des klassischen staatsphilosophischen wie des zeitgenössischen gerechtigkeitstheoretischen und moralphilosophischen, sind also hypothetisch. Sie finden ausschließlich in den Köpfen der Philosophen statt. Wie aber, so lautet jetzt die entscheidende Frage, können hypothetische Verträge wirkliche Verbindlichkeiten erzeugen? Wie können Verträge, die sich allein in Gedanken ereignen, Auskunft geben über die Berechtigung des Gerechtigkeitsanspruchs wirklicher Gesellschaftsordnungen oder über die Legitimität wirklicher staatlicher Herrschaft oder den Verbindlichkeitsanspruch moralischer Prinzipien? Wir können doch die Rechte und Pflichten, die wir aufgrund gerechtfertigter Prinzipien haben, nicht dadurch herausfinden, dass wir uns fragen, welche Rechte und Pflichten wir haben würden, wenn wir uns mit allen anderen in einer eingebildeten Situation auf bestimmte normative Gerechtigkeitsgrundsätze geeinigt hätten?

Offenkundig müssen wir die Perspektive wechseln. Nicht weil die Verbindlichkeit dieser Grundsätze durch eine vertragliche Übereinkunft aller Betroffenen begründet werden könnte, kann die Vorstellung eines hypothetischen Vertrages als Modell der Rechtfertigung von sozialen und politischen Verfassungsprinzipien dienen, sondern allein deswegen, weil es gute Gründe für die Behauptung gibt, dass die beteiligten Parteien eine derartige Vereinbarung vernünftigerweise hätten treffen sollen und dass sie darum die aus dieser Übereinkunft hervorgehenden Grundsätze betrachten sollten, als hätten sie ihnen zugestimmt. Der Rechtfertigungszweck der kontraktualistischen Begründungstheorie hat nichts mit der Bindewirkung von Verträgen zu tun, die sich wie bei Versprechen immer nur im Fall wirklich vollzogener Selbstverpflichtungen einstellt. Rechtfertigungstheoretisch relevant sind allein die Gründe, die in der Theorie für den Vertragsschluss angeführt werden. Vielmehr geht es um die Gründe, die die Theorie für den Vertragsschluss anführt. Sind diese Gründe überzeugend, dann ist konsequenterweise auch das Vertragsergebnis überzeugend. So setzt sich die Bereitschaft, die Gründe zu akzeptieren, in der Bereitschaft, das Vertragsergebnis zu akzeptieren, fort und das heißt für den staatsphilosophischen Kontraktualismus: die rational begründete staatliche Herrschaft als legitim, und für den gerechtigkeitstheoretischen Kontraktualismus: die Verfassungsgrundsätze als gerecht anzuerkennen. Denn nur solche Prinzipien sind eben allgemein verbindlich, auf die sich Menschen unter bestimmten fairen Bedingungen einigen würden, oder anders formuliert: die von jedermann gegenüber jedermann öffentlich gerechtfertigt werden können.

3.2        Die Moralität des Vertrags

Freilich ist eine erfolgreiche begründungstheoretische Verwendung des Vertragskonzepts von Voraussetzungen abhängig. Der Vertrag des philosophischen Kontraktualismus lebt nicht aus sich selbst, ist nicht autark, lebt legitimatorisch aus zweiter Hand, denn er ist verbindlichkeitstheoretisch von vertragsexternen Gegebenheiten abhängig. Seine interne obligationstheoretische Struktur kann nur dann wirksam werden, wenn er sich in den externen obligationstheoretischen Rahmen seiner moralischen Gültigkeitsbedingungen einfügt. Wir stoßen auf diese moralischen Bedingungen vertraglicher Einigungen, wenn wir uns fragen, ob es sittliche Einwände gegen vertragliche Übereinkünfte geben kann und wie diese gegebenenfalls gerechtfertigt werden können. Es zeigt sich dann, dass wir überhaupt nicht bereit sind, das voluntaristische Motto volenti non fit iniuria ohne zusätzliche moralische Qualifikationen zu akzeptieren, dass wir bestimmte vertragsmoralische Überzeugungen haben, denen Verträge gerecht werden müssen, um die ihnen begrifflich innewohnende Normativität entfalten zu können.

Da ist einmal die Bedingung der Freiwilligkeit. Freilich ist nicht zu erwarten, dass eine genaue und alle möglichen Zweifelsfälle klärende Grenzziehung zwischen freiwilligen Zustimmungen und unfreiwilligen Zustimmungen möglich ist. Hier ist nur wichtig, zu vermerken, dass die Vertragsmoral allgemeine Zumutbarkeitsbedingungen formuliert, die in der Verhandlungssituation – und das heißt im Theoriekontext des philosophischen Kontraktualismus: im Natur- oder Ausgangszustand – erfüllt sein müssen, damit die Zustimmung zum Vertrag auch als freiwillig geleistet bewertet werden kann, und deren Verletzung – beispielsweise durch Zwangsanwendung und Erpressung oder durch eine die persönliche Entscheidungsfreiheit drastisch einschränkende und somit eine Freiheits- und Machtasymmetrie zwischen den Vertragspartnern bewirkende Notlage – eine sittliche Ungültigkeitserklärung des Vertrages legitimieren.

Da ist zum anderen die Bedingung einer hinreichend symmetrischen Ausgangsposition der Vertragspartner und eines fairen Austauschs der vertraglichen Leistungen. Beide Bedingungen sind Varianten des Reziprozitätsprinzips. In ihnen artikuliert sich gleicherweise die Überzeugung, dass ein sittlich gültiger Vertrag fundamentale Gerechtigkeitsauflagen zu erfüllen hat. Die Moralität des Vertrags prägt nicht nur die vertraglichen Einigungen in der Gesellschaft und die vertragsrechtlichen Entscheidungen ihrer Gerichte, sie bestimmt auch die Argumentation des philosophischen Kontraktualismus. Die Philosophie des Gesellschaftsvertrages muss beiden vertragsmoralischen Bedingungen gerecht werden; nur ein Vertrag, der beide Bedingungen zusammen erfüllt, kann die ihm von der Theorie übertragene rechtfertigungstheoretische Rolle spielen.

Die Moralitätsdimension des Vertrages hat entscheidende Auswirkungen sowohl auf das Darstellungs- als auch auf das Begründungsprogramm des philosophischen Kontraktualismus. Hinsichtlich des Darstellungsprogramms und das meint: der Darstellung der Situation, in der der Vertragsschluss stattfindet, verlangt die Moralitätsdimension Naturzustandskonstruktionen, die vertragsmoralisch zulässig sind, in denen die Gültigkeitsbedingungen von Verträgen als konstitutive Zustandsmerkmale verkörpert sind. Dabei stehen der Theorie grundsätzlich zwei Konstruktionswege offen, ein indirekter und ein direkter. Der indirekte Konstruktionsweg verbirgt die Gültigkeitsbedingungen hinter deskriptiven, pseudo-natürlichen Bestimmungen. Dieser Weg wird von Thomas Hobbes beschritten. Der direkte Konstruktionsweg führt die Gültigkeitsbedingungen ausdrücklich als moralisch qualifizierte Konstruktionselemente ein. Dieses Verfahren wählt John Rawls in seiner Fairnesstheorie der Gerechtigkeit.